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A. Risse · Medizinische Klinik Nord, Städtische Kliniken, Dortmund Besonderheiten von Patienten mit diabetischem Fußsyndrom und ihren Therapeuten die Auslösung und Aufrechterhaltung von Therapieversagen (hohe Ampu- tation). Probleme im Umkreis des diabe- tischen Fuß-Syndroms lassen sich in den nachfolgenden Fragen zusammen- fassen: 1. Warum kann sich ein offensichtlich falsches Theorem – das der okkludie- renden, diabetischen Mikroangiopa- thie – in großen Denkstilgemein- schaften (Chirurgie, Innere Medizin, Angiochirurgie) über Dekaden un- hinterfragt etablieren, obwohl es seit nunmehr mindestens 10 Jahren als falsch erkannt wurde. 2. Warum kann es auf dem Boden eines solchen, falschen Theorems zu der flächendeckend fatalen Auffassung kommen, daß beim DFS „Salamitak- tik“ die notwendige Folge von Teilre- sektionen ist, und daß daher „beim diabetischen Fuß“ besser gleich hoch amputiert werden muß? 3. Warum wird eine große Zahl unnöti- ger hoher Amputationen pro Jahr bei Patienten mit Diabetes toleriert, wo doch bei jeder Anmutung einer Miß- empfindung im Herzbereich sofort EKGs geschrieben, Notärzte bewegt und Intensivbetten zur prophylakti- schen Überwachung belegt werden? 4.Wie kommt es zu den z.T. erhebli- chen Verzögerungen der Kranken- hauseinweisung auch bei schon weit fortgeschrittenen Fuß-Läsionen? Die in diesem Band zusammengetra- genen Ergebnisse der Therapie des dia- betischen Fuß-Syndroms zeigen das große Verdienst naturwissenschaftlich- reduktionistischer Techniken. Die so- ziale Durchsetzung, insbesondere im nicht diabetologischen Denkstil von Angiologie, Chirurgie und Angiochir- urgie bleibt dagegen schwierig, wie die immer noch unzähligen und unnötigen hohen Amputationen in Deutschland zeigen. Neben den Problemen des inter- disziplinären Wissenstransfers stellen sich hier die Übertragungs- und Ge- genübertragungsprobleme auf der in- teraktiven Ebene der Therapeuten als beharrlich und schwieriger lösbar dar. Die immer wieder beschworene inter- disziplinäre Arbeit scheint Ärzten auf Dauer verwehrt und ist auch beim dia- betischen Fuß-Syndrom nur gelegent- lich für bestimmte Zeiten vorzufinden. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Darstellung einer tiefer- liegenden Schicht medizinischer und ärztlicher Tätigkeit, die der wissen- schaftlichen Betrachtung bisher nahezu völlig entgangen zu sein scheint. Die ontologisch-anthropo- logische Dimension des diabetischen Fuß-Syndroms Zentrierungspunkt vieler ungelöster Probleme in der Behandlung des diabe- tischen Fuß-Syndroms ist die nicht aus- reichende bzw. fehlende Beachtung und Bewertung des symmetrischen, sensiblen Polyneuropathie-Syndroms. Häufig ist dies alleiniger Grund einer diabetischen Läsion. Aber auch dort, wo makroangiopathische Veränderun- gen belegbar sind, sind die neuropa- thiebedingten Störungen Ursache für Der Internist 10·99 | 1051 Übersicht Internist 1999 · 40:1051–1055 © Springer-Verlag 1999 Zum Thema Der Autor dieser Arbeit versucht, das Pro- blem des diabetischen Fuß-Syndroms über medizinische Gesichtspunkte hinaus unter philosophischen und psychologischen Aspekten zu sehen und zu behandeln. Das Theorem der okkludierenden diabetischen Mikroangiopathie – so wird vorgetragen – gelte im Bereich der naturwissenschaft- lichen Medizin unverändert, obwohl es seit wenigstens 10 Jahren als falsch erkannt sei. Verschleppte Erkennung diabetischer Fuß- läsionen, verspätete Krankenhauseinweisun- gen und unnötige hohe Amputationen seien Ausdruck dieses Irrtums. Ob die in dieser Arbeit angestellten Über- legungen neue Wege weisen und dem Ziel dienen, unsere Patienten möglichst effektiv zu führen und zu beraten und mit evalu- ierten Methoden konservativ und operativ optimal zu behandeln, bleibt dem kritischen professionellen Leser dieser Zeitschrift zur Entscheidung vorbehalten. Schlüsselwörter Diabetes, Komplikationen · Diabetischer Fuß, Therapie · Podopathie, diabetische Dr. A. Risse Medizinische Klinik Nord/Diabetologie, Städtische Kliniken, Münsterstraße 240, D-44145 Dortmund& / f n - b l o c k : & b d y :

Besonderheiten von Patienten mit diabetischem Fußsyndrom und ihren Therapeuten

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A. Risse · Medizinische Klinik Nord, Städtische Kliniken, Dortmund

Besonderheiten von Patientenmit diabetischem Fußsyndromund ihren Therapeuten

die Auslösung und Aufrechterhaltungvon Therapieversagen (hohe Ampu-tation).

Probleme im Umkreis des diabe-tischen Fuß-Syndroms lassen sich inden nachfolgenden Fragen zusammen-fassen:

1. Warum kann sich ein offensichtlichfalsches Theorem – das der okkludie-renden, diabetischen Mikroangiopa-thie – in großen Denkstilgemein-schaften (Chirurgie, Innere Medizin,Angiochirurgie) über Dekaden un-hinterfragt etablieren, obwohl es seitnunmehr mindestens 10 Jahren alsfalsch erkannt wurde.

2. Warum kann es auf dem Boden einessolchen, falschen Theorems zu derflächendeckend fatalen Auffassungkommen, daß beim DFS „Salamitak-tik“ die notwendige Folge von Teilre-sektionen ist, und daß daher „beimdiabetischen Fuß“ besser gleich hochamputiert werden muß?

3. Warum wird eine große Zahl unnöti-ger hoher Amputationen pro Jahr beiPatienten mit Diabetes toleriert, wodoch bei jeder Anmutung einer Miß-empfindung im Herzbereich sofortEKGs geschrieben, Notärzte bewegtund Intensivbetten zur prophylakti-schen Überwachung belegt werden?

4. Wie kommt es zu den z.T. erhebli-chen Verzögerungen der Kranken-hauseinweisung auch bei schon weitfortgeschrittenen Fuß-Läsionen?

Die in diesem Band zusammengetra-genen Ergebnisse der Therapie des dia-betischen Fuß-Syndroms zeigen dasgroße Verdienst naturwissenschaftlich-reduktionistischer Techniken. Die so-ziale Durchsetzung, insbesondere imnicht diabetologischen Denkstil vonAngiologie, Chirurgie und Angiochir-urgie bleibt dagegen schwierig, wie dieimmer noch unzähligen und unnötigenhohen Amputationen in Deutschlandzeigen. Neben den Problemen des inter-disziplinären Wissenstransfers stellensich hier die Übertragungs- und Ge-genübertragungsprobleme auf der in-teraktiven Ebene der Therapeuten alsbeharrlich und schwieriger lösbar dar.Die immer wieder beschworene inter-disziplinäre Arbeit scheint Ärzten aufDauer verwehrt und ist auch beim dia-betischen Fuß-Syndrom nur gelegent-lich für bestimmte Zeiten vorzufinden.

Die vorliegende Arbeit beschränktsich auf die Darstellung einer tiefer-liegenden Schicht medizinischer undärztlicher Tätigkeit, die der wissen-schaftlichen Betrachtung bisher nahezuvöllig entgangen zu sein scheint.

Die ontologisch-anthropo-logische Dimension desdiabetischen Fuß-Syndroms

Zentrierungspunkt vieler ungelösterProbleme in der Behandlung des diabe-tischen Fuß-Syndroms ist die nicht aus-reichende bzw. fehlende Beachtungund Bewertung des symmetrischen,sensiblen Polyneuropathie-Syndroms.Häufig ist dies alleiniger Grund einerdiabetischen Läsion. Aber auch dort,wo makroangiopathische Veränderun-gen belegbar sind, sind die neuropa-thiebedingten Störungen Ursache für

Der Internist 10·99 | 1051

ÜbersichtInternist1999 · 40:1051–1055 © Springer-Verlag 1999

Zum Thema

Der Autor dieser Arbeit versucht, das Pro-

blem des diabetischen Fuß-Syndroms über

medizinische Gesichtspunkte hinaus unter

philosophischen und psychologischen

Aspekten zu sehen und zu behandeln. Das

Theorem der okkludierenden diabetischen

Mikroangiopathie – so wird vorgetragen –

gelte im Bereich der naturwissenschaft-

lichen Medizin unverändert, obwohl es seit

wenigstens 10 Jahren als falsch erkannt sei.

Verschleppte Erkennung diabetischer Fuß-

läsionen, verspätete Krankenhauseinweisun-

gen und unnötige hohe Amputationen seien

Ausdruck dieses Irrtums.

Ob die in dieser Arbeit angestellten Über-

legungen neue Wege weisen und dem Ziel

dienen, unsere Patienten möglichst effektiv

zu führen und zu beraten und mit evalu-

ierten Methoden konservativ und operativ

optimal zu behandeln, bleibt dem kritischen

professionellen Leser dieser Zeitschrift zur

Entscheidung vorbehalten.

Schlüsselwörter

Diabetes, Komplikationen · Diabetischer Fuß,

Therapie · Podopathie, diabetische

Dr. A. RisseMedizinische Klinik Nord/Diabetologie,

Städtische Kliniken, Münsterstraße 240,

D-44145 Dortmund&/fn-block:&bdy:

5. Warum gehen die Patienten so spätzum Arzt, bzw. bemerken ihre Läsionnicht als wichtig?

6. Warum stimmt das Alarm- und Kom-munikationssystem zwischen Arzt undPatient im Falle des diabetischenFuß-Syndroms nicht?

Immer wenn Fragen innerhalb eines(hier des diabetologischen, oder me-dizinisch-naturwissenschaftlichen) Dis-kurses nicht lösbar sind, hilft eineBestandsaufnahme unter geändertemStandpunkt. Somatologische Daten wer-den im Weiteren mit dem Instrumenta-rium der Neo-Phänomenologie bear-beitet. Die nachfolgenden Betrachtun-gen imponieren dem Ungeübten zu-nächst vielleicht als abstrakt oder zutheoretisch. Sie können aber denjeni-gen Therapeuten helfen, die häufig mitPatienten mit DFS umgehen müssen(oder wollen), sich und ihre Patientenbesser zu verstehen, operationale Über-forderung auf beiden Seiten zu vermei-den und die allerwegen vorherrschen-de Atmosphäre von Aggressivität mitSchuldzuweisung an den Patienten(„indolenter Patient“, „raucht immernoch“, etc.) abzumildern.

Anthropologische Grundlagen

„Naturwissenschaftliche“ Medizin:Primat der Körpermaschine gegenüberdem Leib

Abendländische Medizin versteht denMenschen als aus einer Seele (Bewußt-sein) und einem Körper zusammenge-setzt (sog. „Anthropologischer Dualis-mus“) [10],wobei dieser als komplizier-te Maschine aufgefaßt wird, die es mög-lichst vollständig zu beherrschen gilt [7,8]. Bestreben und Selbstwertschätzungmedizinischer Arbeit sind daher auf einemöglichst genaue Vermessung dieserKörpermaschine gerichtet. Dort, wo einrein somatologischer Ansatz offenkun-dig nicht ausreicht, wird dieser um dieDimension der „Seele“ zur „Psycho-So-matik“ erweitert. Obwohl hierdurch we-sentliche Fortschritte erreicht werdenkonnten, bleibt – so zeigt es schon derName der Disziplin – die Grundauffas-sung des anthropologischen Dualismuserhalten. Der in der vordemokritischen,vorplatonischen Ära habituelle Begriffdes „Leibes“ [10, 11, 16, 22] als der ontolo-gischen und anthropologischen Grund-

rung an dieses Phänomengebiet wirdauch für den Therapeuten durch eigen-leibliches Spürens möglich, wenn erversucht, an sich herunterzuspüren,ohne seine Sinnesorgane zu gebrau-chen. Hierbei wird jeder sofort feststel-len, daß der so erspürte Leib nicht kon-tinuierlich ausgedehnt ist (wie die ver-meßbare Körpermaschine), sondern in„Leibesinseln“ ohne festen Zusammen-hang zerfällt [10]. Konstante Leibesin-seln finden sich bei diesem Versuch als„orale“, „genitale“ und „anale“ Zoneund als die Leibesinseln der Füße. Allediese Leibesinseln haben einen un-scharfen Umriß und eine über die Zeit,unterschiedliche Ausdehnung [10]. Die-se Unschärfe macht es für die traditio-nelle Medizin schwierig bis unmöglich,sie zu erfassen, ist sie doch nur in derLage, aufgrund ihrer Forschungsme-thode, „an festen Körpern im zentralenGesichtsfeld“ zu messen [15] und, weilmeßbar, als real und wichtig anzuer-kennen (=radikale, artifizielle Redukti-on der Abstraktionsbasis).

Das diabetische, symmetrische,sensible Polyneuropathie-Syndrom

Die diabetische Polyneuropathie zeigtsich auf der Ebene der Körpermaschineals Störung der Nervenleitgeschwindig-keit, als Alteration der ableitbaren elek-trischen Potentiale [1, 5] und ggf. als Al-teration klinischer Zeichen (Areflexie,Anhidrose, Hyp- und Allästhesie etc.).Alle Versuche, auf diesem Niveau Ver-ständnis für die Beschwerden des Pati-enten zu bekommen oder Therapieop-tionen hieraus abzuleiten müssen, sindgescheitert. Ein augenfälliges Symptom

lage menschlicher Existenz wird kom-plett vernachlässigt [22]. Die Erfassungder Körpermaschine wird nahezu aus-schließlich über eine möglichst er-schöpfende Sammlung ihrer Meßdatengesucht. Zwischen den Patienten undsich selbst, hat der Arzt immer eine Ma-schine gestellt, die ihm zwar solcheMeßdaten liefert, den Zugang zum Pati-enten aber verwehrt [7, 8].

Leibliche Phänomene [16] sindaber gerade solche, die dem Patientenwesentlich näher und realer sind als dieMeßdaten, die an seinem Körper erho-ben werden können. Hier entsteht Ver-ständnis- und Sprachlosigkeit zwischenArzt und Patient. Treten diese auf, ver-sucht die sich als Naturwissenschaftmißverstehende Medizin, durch Ver-mehrung der Meßdaten näher an denPatienten heranzukommen („Panma-thematismus“:=„Wuchern des Berech-nungs- und Vermessungsgeistes“ [9]).

Annäherung an den vergessenen Leib

Mit dem Begriff „Leib“ wird ein Phäno-menbereich ins Auge gefaßt der nebendem sichtbaren und tastbaren Tier-und Menschenkörper (der Medizin) inerster Linie das beschreibt, was jemandvon sich in der Gegend seines Körpersohne Beistand der fünf Sinne (Sehen,Hören Tasten, Fühlen, Schmecken)spürt, wie z.B. Schmerz, Hunger,Schreck, würgende Angst, Ekel, odermüde Beine [19]. „Leib“ beschreibt so-mit ein phänomenales Gegenstandsge-biet, das jedem Menschen unmittelbarzugänglich ist, sich den naturwissen-schaftlichen Meßversuchen modernerMedizin aber entzieht. Eine Annähe-

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Übersicht

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Tabelle 1

Beschwerdeschilderungen

Polyneuropathie

Stumme Form

„wenn ich über den Teppich laufe, habe ich das Gefühl, als würde ich über Kieselsteine laufen“Konsequenzen für das Körperschema und die Gesamtbefindlichkeit„durch die Gefühlsstörung habe ich immer Angst, daß ich hinfalle, obwohl ich den Stock benutze;dadurch ist mein Körper die ganze Zeit verkrampft – das merke ich richtig“

Prominente Form:

„Gefühl, als ob trockener Zement in den Füßen wäre“

Mischform:

„Dieses tote Gefühl und (beginnt zu weinen) dieses schmerzhafte Kribbeln im Arm (weinend):schneiden Sie ihn ab“

dieses falschen Ansatzes ist der Jahr-zehnte währende Versuch mit Säureap-plikationen, die Störungen zu beein-flussen. Das Beharren auf einer Sicht-weise, die allein die Körpermaschineund physikalisch-naturwissenschaftlichverkürzte Daten als real (im trivial-wis-senschaftlichen Jargon: „hart“) berück-sichtigt, erklärt das Phänomen, daßsich die Auffassung von einer „diabeti-schen Mikroangiopathie“ als okklusiveMikroangiopathie so lange im Ver-ständnis der Behandler halten konnte(mit der Konsequenz unnötiger hoherAmputationen (s.o.), erklärt ggf. auchdie erhebliche Latenz, bis Patienten mitdiabetischem Fuß-Syndrom einer ad-äquaten Behandlung zugeführt werdenund ist der Grund dafür, das somatolo-gisch orientierte Behandler, dem Phä-nomen mangelnden affektiven Betrof-fenseins der Patienten so hilflos, z.T. mitheftigem aggressivem Gegenagieren(„indolenter Patient“, „schlechte Com-pliance“) gegenüberstehen.

Auf der Ebene des Leibes, die demPatienten durch „subjektive Tatsäch-lichkeit“ [13, 16, 18] wesentlich näher istals die dem Arzt so wichtigen „harten“Meßdaten, entsteht durch die diabe-tische Polyneuropathie „Leibesinsel-schwund“ [6], ein Phänomen, das dieUmkehrung der an Amputierten er-hobenen Phantomgliederlebnisse [10]darstellt. Besteht bei diesen „Leib ohneKörper“, findet sich bei Patienten mitdiabetischer Polyneuropathie „Körperohne Leib“ [6, 7, 8]. SomatologischeTherapie zielt in ihrem Bemühen aufden Körper, die Patienten aber leben inder Welt des Leibes. Ärzte bemühensich somit auf einer Ebene der Ver-gegenständlichung, die für Patientenmit Polyneuropathiesyndrom ohneBeschwerden nicht mehr relevant ist.Behandler (intakte leibliche Ökonomie)und Patienten (defizitäre leibliche Öko-nomie) leben somit in unterschiedli-chen Welten.

Entsprechend der oben geschilder-ten Überbetonung einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Vergegenständ-lichungsweise in der abendländischenMedizin bleibt sowohl die neurologi-sche als auch die diabetologische Lite-ratur bis ins letzte Jahrhundert hineindiletantisch bis stumm, wenn es um Be-schwerdeschilderungen von Patientenmit Polyneuropathie geht: Immer wie-derkehrende Beschwerden („Gefühl des

Zeichen der Polyneuropathie, die aufdie Eingangsfrage: „Haben Sie Be-schwerden in den Füßen“? mit „Nein“geantwortet hatten, näher befragt. Siewurden gebeten, über ihre Empfindun-gen an den Füßen eingehendere Aus-kunft zu geben.

Tabelle 1 gibt eine selektionierteÜbersicht über die geäußerten Be-schwerden. Zu beachten ist hier, daßPatienten bei phänomenologisch indu-ziertem Nachfragen auch positive Sym-ptome äußerten.

Die Ebenen der Interpretationvon Patientenbeschwerden

Neben der menschlich anrührendenDimension der geschilderten Beschwer-den, die auf der rein meßtechnischenEbene nicht erfaßt werden, lassenneophänomenologische Gesichtspunk-te verschiedene Deutungen zu, die nä-her an die Patientenrealität herankom-men und möglicherweise therapeuti-sche Optionen bieten, die bisher nichtgenutzt werden konnten.

zu engen Strumpfes“, „Ameisenlaufen“,„Brennende Füße“, „TonnenschwereBettdecke“,„Totes Gefühl“) werden ver-mischt mit medizinischen Fachtermini,die bereits wieder weit von der Patien-tenrealität entfernt sind (Hypästhesie,Analgesie, Pallhypästhesie etc.). DasProblem des Patienten mit fehlendenBeschwerden – in phänomenologischerDiktion: mit „reinem Leibesinsel-schwund“ [6] – findet keine oder wenigBeachtung. Der einzige, der diesemSymptomenkomplex zumindest pro-topathisch nahegekommen ist, istBoulton mit seinem Begriff des„painful-painless leg“ [3].

Annäherung an die Patienten:Der Neo-phänomenologischeZugang

Die diabetische Polyneuropathie istphänomenologisch wie gesagt gekenn-zeichnet durch „Leibesinselschwund“(„Körper ohne Leib“). Auf dem Bodender Hypothese gestörter Leiblichkeitwurden Patienten mit neurologischen

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Tabelle 2

Interpretationsniveaus der Diabetischen Polyneuropathie

Beispiel 1

Beschwerde:

„I feel as though I’m walking on stumps“, or „I feel there is a layer of something over my skin“ [2]

Panmathematisch:

„Negative symptoms (...) include reduction of cutaneous touch-pressure sensivity and hypalgesia [2]„Both large and small fiber modalities may be involved (...) a disproportionate loss of large fiberfunctions ... [4]

Phänomenologisch:

„Hier scheint ein Entfremdungserleben im Spiel zu sein, das nicht den ganzen Leib oder, wie beiDepersonalisation und Derealisation, den ganzen Menschen betrifft, sondern nur die einzelne, neuro-pathisch gestörte Leibesinsel. (...) Die Chancen taktiler Einleibung oder, wie man volkstümlichersagt, des Aufnehmens von Kontakt in der Berührung, dürften durch eine solche Störung im Sinneeines partiellen Entfremdungserlebens beeinträchtigt sein“ [17]

Beispiel 2

Symptom:

Pallhypästhesie

Panmathematisch:

„(...) vermutlich mit der Unfähigkeit geschädigter, insbesondere entmarkter Nervenfasern,Impulsserien frequenzgetreu zu leiten, zusammen“ [5]

Phänomenologisch:

Schwer gestört dürfte dagegen der vitale Antrieb auf den betreffenden, neuropathisch affiziertenLeibesinseln sein; fruchtbar wird hier die Hypothese, daß es einen vitalen Antrieb nicht nur für denLeib im ganzen gibt, sondern auch für die einzelnen Leibesinseln (...) vielleicht besonders im Bereichder rhythmischen Schwingung, wofür der öfters hervorgehobene Ausfall des Vibrationsempfindenssprechen könnte [17].

Tabelle 2 zeigt zunächst ein Litera-turbeispiel einer Patientenbeschwerde(Beisp. 1), anschließend ein die Pati-entenbeschwerden verkürzend zusam-menfassendes neurologisches Zeichen(Beisp. 2). Beide Begrifflichkeiten wer-den dann auf den beiden unterschiedli-chen Interpretationsniveaus, dem pan-mathematischen auf der Ebene der„Körpermaschine“, und anschließenddem neo-phänomenologischen auf derEbene des Leibes beleuchtet.

Während der panmathematischeZugang, wenngleich wesentliche Deu-tungen zur Pathogenese bietend, diePatientenrealiät außer Acht und dietherapeutischen Konsequenzen demZufall der ärztlichen Charakterorgani-sation überläßt, bietet der neo-phäno-menologische Zugang Ansätze zu einersystematischen Deutung der geänder-ten leiblichen Ökonomie und somit zueinem vertieften Verständnis der Situa-tion des Patienten [20, 21].

Unabhängig vom philosophischenHintergrund zeigen die Patientenschil-derungen, daß es sich bei diabetischerPolyneuropathie – auch bei fehlendenprominenten Symptomen – um einschweres Krankheitsbild handelt, daszu weiterer phänomenologischer For-schung Anlaß geben sollte, wenn wirunsere Aufgabe ärztlichen Handelns,also Leiden zu lindern, nicht überdem Faszinosum technischer Beherr-schung von Detailproblemen vergessenwollen.

Konsequenzen

Als erste Konsequenz schlagen wir vor,bei Beleg neurologischer Zeichen(Pallhypästhesie,Areflexie etc.),Patientenintensiver zu befragen („Können Siebitte ihre Empfindungen an den Füßennäher beschreiben?“; „Wie fühlt sichdas an,„nichts“ zu spüren?“ etc.).

Angesichts der schweren Be-einträchtigung der Patienten, insbe-sondere auch der tiefgreifenden Stö-rung des „In-der-Welt-Seins“ bestehtdie zweite Konsequenz darin, auchbei fehlenden faßbaren Beschwerden,bewußt und aktiv auf das Problem derSuizidalität einzugehen: Viele Pati-enten fühlen sich durch das aktiveAnsprechen der möglichen Suizid-gedanken entlastet und – erstmalig –auch in der Schwere ihres Leidensverstanden.

mit konsekutiver Umorganisation derje individuellen leiblichen Ökonomie)[10, 16, 21, 22], Ansätze sowohl der Hy-pothesengenerierung, als auch einersystematischen Betrachtungsweise derArzt-Patient-Interaktion. Zusätzlich wer-den z.B. bisher nur schwer erklärbareund die somatologische Forschung un-kontrolliert verzerrende „Plazebo-Ef-fekte“ wissenschaftlich exakt eingrenz-bar. Ein Umdenken in der Forschungs-methodologie, die allerdings auch eineUmverteilung der derzeit betoniert ka-nalisierten Forschungsgelder und Spon-sorressourcen impliziert, scheint so-wohl aus neo-phänomenologischerSicht, als auch durch die sich raschändernden sozio-ökonomischen Be-dingungen dringend angeraten.

Auch ohne diese weitreichendenUmstrukturierungen des Denkstils unddes gesamten Diskurses, zeitigt die Be-schäftigung mit neo-phänomenolo-gischen Aspekten der Polyneuropathieindividuelle Änderungen im Umgangdes Therapeuten mit den Patienten unddes therapeutischen Settings:

Diese können sein:

1) Annäherung an den Patienten überdie Beschwerdeschilderungen,

2)besseres Verständnis der Schwere derErkrankung durch Vorrangstellungdes subjektiven Erlebens des Patien-ten vor sog. objektiven Meßwerten(„abgeschälte“, also schwächere Rea-lität),

3)Vermeidung von Frustrationen derTherapeuten, mit Reduktion über-triebener Erwartungen (Aggressi-onsabbau),

4)differenziertere und engagierterestrukturierte Wundbehandlung durchgeänderte Wertschätzung der Erkran-kung und des Patienten,

5) „leibnähere Therapie“ mit Änderungder Arzt- (Therapeuten-) Interaktionund Reduktion des aggressiven Po-tentials auf beiden Seiten.

6)Verlängerung des intentionalen Bo-gens der therapeutischen Maßnah-men mit therapeutischer Bescheiden-heit anstelle von medizinischen (aka-demischen) Allmachtsphantasien.

Zusammenfassung

Der naturwissenschaftlich fundierteZugang zum organmedizinischen Pro-blem des diabetischen Fuß-Syndroms

Die dritte Konsequenz besteht indem Vorschlag, die diabetischen Poly-neuropathien zusätzlich neo-phäno-menologisch zu klassifizieren, um ei-nen systematischen Zugang zum Pati-enten zu gewinnen:

Klassifikation der DiabetischenPolyneuropathien:

1. Phänomenologisch stumme Form:Neurologische Zeichen ohne „Positi-ve“ Beschwerden (*Reiner Leibesin-selschwund: Störung des vitalen An-triebs, Entfremdungserlebnisse)

2. Phänomenologisch prominente Form:Neurologische Zeichen+Beschwerden(*Dissoziierte Leibesinselbildung; Stö-rung der leiblichen Ökonomie derbetroffenen Leibesinsel)

3. Mischform: Neurologische Zeichen+Beschwerden+Anzeichen des Lei-besinselschwundes (* Störung des vi-talen Antriebs+Dissoziation der leib-lichen Ökonomie)

(*: Neo-phänomenologische Deutungin Bezug auf die Kategorialanalyse derleiblichen Ökonomie)

Schlußfolgerungen

Anthropologische Dimensionen

Das diabetische Polyneuropathie-Syn-drom stellt unabhängig von den quanti-fizierbaren Parametern, eine schwereBeeinträchtigung des Patienten nichtnur seines Wohlbefindens, sondernauch seiner gesamten Personalität, dar.Ohne hier näher auf die anthropologi-schen Dimensionen des Problems oderseiner therapeutischen Optionen ein-gehen zu können (weiterführende Lite-ratur bei Schmitz und Risse s.u.), kanndie vorgeschlagene Klassifikation hel-fen, eine größere Sensibilität für dasLeiden der Patienten zu entwickeln. Inder jetzigen Situation apparategesteu-erter Medizin ist es schon ein Fort-schritt, Fragen formulieren zu können,auch wenn spektakuläre Lösungennoch nicht in Sicht sind.

Therapeutische Optionen?

Zur Entwicklung therapeutischer Op-tionen bietet der neo-phänomenolo-gisch zentrale Begriff der „Einleibung“(=Bildung eines übergreifenden Leibes

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Übersicht

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hat in den letzten Jahrzehnten erhebli-che und beeindruckende Erfolge erzie-len können, allerdings nur dort, wo dieErkenntnisse auch angewandt wurden.Die deprimierende reale Versorgungs-situation entsteht zum einen durch ei-ne belangvolle Verzögerung adäquaterTherapie durch den Patienten und denPrimärbehandler, zum anderen durchein scheinbar nicht zu änderndes Theo-rem der okklusiven Mikroangiopathiebei Diabetes mellitus, besonders imchirurgischen und orthopädischenDenkstil. Ursache ist möglicherweisedie einseitige reduktionistische, biome-chanische Vergegenständlichungsweisederzeitiger Humanmedizin, die dieentscheidenden anthropologischen Di-mensionen des DFS übersieht. UnterBeibehaltung der verdienstvollen so-matologischen Techniken empfiehltsich hier eine Erweiterung der Diagno-stik, Therapie und sozialen Interventi-on durch das Instrumentarium derNeo-Phänomenologie, das einen Zu-gang zum „Leib“ des Patienten erlaubtund die tieferliegenden Dimensionender Erkrankung an diabetischem Poly-neuropathie-Syndrom entdeckt. Hier-durch werden möglicherweise auch diedenkstilbedingten Verzerrungen desreduktionistischen Paradigmas reversi-bel. Das diabetische Polyneuropathie-Syndrom wird in seiner ganzen Drama-tik und Bedrohung für den Patientendeutlich.

4. Brown MJ, Greene DA (1984) Diabetic neuro-pathy: pathophysiology and manage-ment. In: Asbury AK, Gilliatt RW (eds)

Peripheral nerve disorders – a practical

approach. Butterworth, London

5. Ludin HP,Tackmann H (1983)

Polyneuropathien. Thieme, Stuttgart

6. Risse A (1995) Die Bedeutung der Phäno-menologie für die Behandlung des dia-betischen Fuß-Syndroms. In: Chantelau E

(Hrsg) Amputation? – Nein Danke! Mainz

7. Risse A (1995) Phänomenologie undDiabetologie. In: Großheim M (Hrsg) Leib und

Gefühl. Berlin

8. Risse A (1998) Phänomenologische undPsychopathologische Aspekte in derDiabetologie. Berlin

9. Schmitz H (1964) Die Gegenwart, Systemder Philosophie, Band I. Bonn

10. Schmitz H (1965) Der Leib, System derPhilosophie, Band II, 1.Teil. Bonn

11. Schmitz H (1966) Der Leib im Spiegelder Kunst, System der Philosophie,Band II, 2.Teil. Bonn

12. Schmitz H (1967) Der leibliche Raum,System der Philosophie, Band III, 1.Teil. Bonn

13. Schmitz H (1969) Der Gefühlsraum,System der Philosophie, Band III, 2.Teil. Bonn

14. Schmitz H (1978) Die Wahrnehmung,System der Philosophie, Band III, 5.Teil. Bonn

15. Schmitz H (1990) Der unerschöpflicheGegenstand. Bonn

16. Schmitz H (1994) Neue Grundlagen derErkenntnistheorie. Bonn

17. Schmitz H (1994) Brief an den Autor. Kiel

18. Schmitz H (1995) Selbstdarstellung alsPhilosophie – Metarmorphosen der ent-fremdeten Subjektivität. Bonn

19. Schmitz H. (1996) Husserl und Heidegger.Bonn

20. Schmitz H (1997) Neo-PhänomenologischeInterpretation polyneuropathischerBeschwerden. In: Schmitz H, Chantelau E,

Risse A (Hrsg) Phänomenologie – Diabetischer

Fuß – Placebo. Gut Höhne, Düsseldorf

21. Schmitz H (1997) Neo-PhänomenologischeEpikrise. In: Schmitz H, Risse A (Hrsg) Phäno-

menologische Epikrise. Gut Höhne, Düsseldorf

22. Schmitz H (1997) Höhlengänge – Über diegegenwärtige Aufgabe der Philosophie.Bonn

Fazit für die Praxis

Die diabetische Polyneuropathie wirdin der vorliegenden Arbeit in 3 Formenklassifiziert, die

● phänomenologisch stumme Form mitneurologischen Zeichen ohne „positive“Beschwerden und mit reinem Leibes-inselschwund,

● phänomenologisch prominente Formmit neurologischen Zeichen undBeschwerden sowie dissoziierter Leibes-inselbildung,

● Mischform mit neurologischen Zeichen,Beschwerden, vitalen Antriebs-störungen und Anzeichen des Leibes-inselschwundes.

Den hier vorgetragenen Gedanken ist zuentnehmen, daß der Leib nicht kontinuier-lich ausgedehnt sei, sondern in sogenannteLeibesinseln ohne festen Zusammenhangzerfalle. Konstante Leibesinseln fändensich als orale, genitale und anale Zone so-wie als Leibesinsel der Füße.

Der Humanmedizin gegenwärtigerPrägung wird zum Vorwurf gemacht,sie verharre in biomechanischer Vergegen-ständlichungsweise, die entscheidendeanthropologische Dimensionen übersehe.Primat der „Körpermaschine“ und pan-mathematischer Zugang versus Begriffewie neo-phänomenologischer Zugang undgeänderte leibliche Ökonomie werdengegenübergestellt, gewissermaßen als ver-schiedene medizinische Denkstile.

Als absolut unstrittig darf immer wie-der der Appell für eine bessere ärztlicheZuwendung zum Patienten und seinemBeschwerdebild gelten. Diese Haltung istTeil der ärztlichen Ethik und kann nichtvon der neo-phänomenologischenRichtung im Gegensatz zur „naturwissen-schaftlichen“ Medizin für sich beanspruchtwerden.

Literatur1. Adams RD,Victor, M (1985) Principles of

neurology, 3rd. ed. McGraw Hill New York

2. Asbury AK, Gilliatt, RG (1984) The clinicalapproach to neuropathy. In: Asbury, AK,

Gilliatt, RW (eds) Peripheral nerve disorders –

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3. Boulton AJM (1991) Diabetic neuropathy.In: Frykberg RG (ed) The high risk foot in dia-

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