29
M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1 „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und Gottfried von Einem M a r z e n a K i n a l 1. Einleitung „Für mich ist schreiben komponieren“ 1 . Dies stellt Friedrich Dürrenmatt im Gespräch mit Dieter Fringeli fest. Komponieren bedeutet hier strukturieren, in 2 oder 3 Akte aufteilen, wie es auch bei der Alten Dame der Fall ist. Vielleicht ist es aber kein Zufall, weckt das Wort nicht Assoziationen mit der Musik? Das Gespräch stammt aus dem Jahre 1977, die Oper Der Besuch der alten Dame war schon längst entstanden. Von gewisser Opernerfahrung kann man bei Dürrenmatt wohl sprechen. Das Alte Dame- Libretto war die erste, aber nicht letzte Gelegenheit, bei der sich der Schriftsteller mit der Librettogattung beschäftigte. Er arbeitete auch am Libretto zu seinem eigenen Stück Ein Engel kommt nach Babylon, welches im Auftrag des Opernhauses Zürich von Rudolf Kelterborn in den Jahren 1975/76 vertont wurde 2 . 1 Dietrich Fringeli, Nachdenken mit und über Friedrich Dürrenmatt. Ein Gespräch, Breitenbach/Schweiz 1977, o.S. 2 Ebda, o.S. Dürrenmatt erwähnt die Mitarbeit am Libretto mit Rudolf Kelterborn. Er ist ein in Basel geborener Komponist von Opern (Die Errettung Thebens 1960-62, Kaiser Jovian 1964-66), Kantaten, Kammermusik usw.. Er wohnte 1953 dem Kompositionsunterricht bei Boris Blacher bei, was unmittelbar auf seine Vorliebe für Tonalität hinweist, obwohl er später auch die Zwölftontechnik „adaptiert“ hat. Vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg.von Stanley Sadie, Bd. 9, S.857. Die zweite Fassung des Stückes Ein Engel kommt nach Babylon, die schon an ein Opernlibretto erinnerte, entstand im Jahre 1957. Kelterborn hatte früher eine Aufführung der Urfassung am Basler Theater gesehen. Fast 20 Jahre dauerte es seit diesem Zeitpunkt, bis die Oper komponiert wurde. Dürrenmatt war für das Projekt, wie bei der Alten Dame, wieder nicht leicht zu gewinnen, hätte das Opernhaus Zürich die persönliche Vermittlung nicht ermöglicht, gibt Kelterborn zu verstehen. In seinem Artikel Anmerkungen zu meiner neuen Dürrenmatt– Oper befindet sich eine wichtige Bemerkung, die die Dürrenmattsche Kenntnis der Librettogattung und seine Veränderung am Stück unterstreicht: „Ein Vergleich des Opernbuches mit dem Schauspieltext zeigt, daß nicht einfach gestrichen und zusammengezogen wurde, sondern daß es sich um eine eingreifende Umgestaltung handelt. Selbstverständlich mußte der Text stark gekürzt, gelegentlich auch erweitert werden. Wesentlich indessen sind Umgestaltungen, die Dürrenmatt aufgrund seines profunden Wissens um die Erfordernisse einer wirklich operngerechten Dramaturgie vornahm - es sei hier nur auf das Problem des durch die Musik weitgehend fixierten Zeitablaufs hingewiesen. Aus der Einsicht heraus, daß dialektische Diskussionen, subtile Wortspiele und philosophische Gedankengänge kaum nachvollziehbar sind, wenn sie gesungen werden, haben wir vor allem im III. Akt spielerische Vorgänge (an Stelle von weltanschaulichen Auseinandersetzungen) eingeführt: die starke Umgestaltung der Rolle des Obertheologen zum Beispiel erfolgte unter dieser Perspektive. Damit werden zusammenhängende Vereinfachungen kompensiert durch die Musik, die zusätzliche Zusammenhänge und Schichten schafft, verborgene textliche Bezüge ausleuchten kann und durchaus auch Textinterpretationen zu leisten vermag. Bei der Neugestaltung des Opernbuches hat Dürrenmatt ferner zusätzliche Voraussetzungen für 1

„Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

  • Upload
    others

  • View
    17

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

„Besuch der alten Dame“ .

Friedrich Dürrenmatt und Gottfried von Einem

M a r z e n a K i n a l

1. Einleitung

„Für mich ist schreiben komponieren“ 1.

Dies stellt Friedrich Dürrenmatt im Gespräch mit Dieter Fringeli fest. Komponieren bedeutet hier

strukturieren, in 2 oder 3 Akte aufteilen, wie es auch bei der Alten Dame der Fall ist. Vielleicht ist es aber

kein Zufall, weckt das Wort nicht Assoziationen mit der Musik?

Das Gespräch stammt aus dem Jahre 1977, die Oper Der Besuch der alten Dame war schon längst

entstanden. Von gewisser Opernerfahrung kann man bei Dürrenmatt wohl sprechen. Das Alte Dame-

Libretto war die erste, aber nicht letzte Gelegenheit, bei der sich der Schriftsteller mit der Librettogattung

beschäftigte. Er arbeitete auch am Libretto zu seinem eigenen Stück Ein Engel kommt nach Babylon,

welches im Auftrag des Opernhauses Zürich von Rudolf Kelterborn in den Jahren 1975/76 vertont wurde2. 1 Dietrich Fringeli, Nachdenken mit und über Friedrich Dürrenmatt. Ein Gespräch, Breitenbach/Schweiz 1977, o.S.2 Ebda, o.S. Dürrenmatt erwähnt die Mitarbeit am Libretto mit Rudolf Kelterborn. Er ist ein in Basel geborener Komponist von Opern (Die Errettung Thebens 1960-62, Kaiser Jovian 1964-66), Kantaten, Kammermusik usw.. Er wohnte 1953 dem Kompositionsunterricht bei Boris Blacher bei, was unmittelbar auf seine Vorliebe für Tonalität hinweist, obwohl er später auch die Zwölftontechnik „adaptiert“ hat. Vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg.von Stanley Sadie, Bd. 9, S.857.Die zweite Fassung des Stückes Ein Engel kommt nach Babylon, die schon an ein Opernlibretto erinnerte, entstand im Jahre 1957. Kelterborn hatte früher eine Aufführung der Urfassung am Basler Theater gesehen. Fast 20 Jahre dauerte es seit diesem Zeitpunkt, bis die Oper komponiert wurde. Dürrenmatt war für das Projekt, wie bei der Alten Dame, wieder nicht leicht zu gewinnen, hätte das Opernhaus Zürich die persönliche Vermittlung nicht ermöglicht, gibt Kelterborn zu verstehen. In seinem Artikel Anmerkungen zu meiner neuen Dürrenmatt–Oper befindet sich eine wichtige Bemerkung, die die Dürrenmattsche Kenntnis der Librettogattung und seine Veränderung am Stück unterstreicht: „Ein Vergleich des Opernbuches mit dem Schauspieltext zeigt, daß nicht einfach gestrichen und zusammengezogen wurde, sondern daß es sich um eine eingreifende Umgestaltung handelt. Selbstverständlich mußte der Text stark gekürzt, gelegentlich auch erweitert werden. Wesentlich indessen sind Umgestaltungen, die Dürrenmatt aufgrund seines profunden Wissens um die Erfordernisse einer wirklich operngerechten Dramaturgie vornahm - es sei hier nur auf das Problem des durch die Musik weitgehend fixierten Zeitablaufs hingewiesen. Aus der Einsicht heraus, daß dialektische Diskussionen, subtile Wortspiele und philosophische Gedankengänge kaum nachvollziehbar sind, wenn sie gesungen werden, haben wir vor allem im III. Akt spielerische Vorgänge (an Stelle von weltanschaulichen Auseinandersetzungen) eingeführt: die starke Umgestaltung der Rolle des Obertheologen zum Beispiel erfolgte unter dieser Perspektive. Damit werden zusammenhängende Vereinfachungen kompensiert durch die Musik, die zusätzliche Zusammenhänge und Schichten schafft, verborgene textliche Bezüge ausleuchten kann und durchaus auch Textinterpretationen zu leisten vermag. Bei der Neugestaltung des Opernbuches hat Dürrenmatt ferner zusätzliche Voraussetzungen für

1

Page 2: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Haben Dichten, die Arbeit mit Worten, und Vertonen, die Arbeit mit Tönen, etwas gemeinsam? Wieso

treffen sich seit Jahrzehnten3 Dichter und Musiker, um ein Werk zu schaffen? Was hat ein vertontes

Sprechstück, das zum Libretto wird, der Musik zu verdanken, was die Musik dem guten dichterischen

Text? Wie verhält sich die Musik der Dichtung gegenüber? Erleidet das Wort Verluste oder bringt ihm die

Musik Gewinne? Hier knüpfen wir an das alte Kampffeld zweier Meinungen, die schon in vielen Werken

angesprochen worden sind, am deutlichsten bei der jahrelangen Zusammenarbeit Hugo von Hofmannsthals

mit Richard Strauss.

Musste Hofmannsthal zugunsten der Musik etwas vom literarischen Wert seiner Werke einbüßen?

Wie ging es dem Dürrenmattschen Stück? Sowohl Hofmannsthal als auch Dürrenmatt konnten das Libretto

ohne Schaden am Werk, das schon existierte, verfassen. In der letzten Oper des erfahrenen Strauss

Capriccio op. 85 ist dieses Problem zum Hauptthema geworden. Die Gräfin soll den Streit niederlegen,

indem sie zwischen Flamand, einem Musiker und Olivier, einem Dichter wählen soll. Es kommt zu keinem

eindeutigen Ergebnis, das Wort ist nämlich der Musik gleichwertig: „Trägt die Sprache schon Gesang in

sich oder lebt der Ton erst getragen von ihr? Eins ist im andern und will zum andern. Musik macht Gefühle,

die drängen zum Worte. Im Wort lebt ein Sehnen nach Klang und Musik“4.

Durch das Mitwirken zweier wichtiger Künstler entsteht eine Oper von Rang, von künstlerischer

Qualität, die Erfolge feiert, wie es eben bei Der Besuch der alten Dame der Fall war. In der folgenden

Arbeit versuchen wir zu entdecken, warum und wie es zur Vertonung gerade dieses Werkes kam, was den

Komponisten an diesem Theaterstück faszinierte? Wir beleuchten den wichtigen Hintergrund, also die

Entstehung des Sprechstückes selbst, um festzustellen, ob das Biographische dabei eine Rolle spielt, und

wenn ja, welche.

die Entwicklung musikalischer Formen geschaffen [...] und äußert präzise textliche Strukturierungen im Hinblick auf die kompositorische Gestaltung [...]“. Vgl. Rudolf Kelterborn, Ein Engel kommt nach Babylon. Anmerkungen zu meiner neuen Dürrenmatt – Oper, in: „Melos“, NZ, hrsg. von Carl Dahlhaus [u.a.], 3. Jahrgang 1977, S. 313-316. Vgl. auch Heinrich Goertz, Friedrich Dürrenmatt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 63.3 Diese Formulierung ist bewußt gewählt, denn die Erscheinung, daß die Dichter zum Libretto greifen ist die des 19. Jahrhunderts. Das prägnanteste Beispiel von der Zusammenarbeit eines Dichters mit einem Musiker ist das von Hofmannsthal und Strauss. Vorher gab es einen Beruf-Librettist (erst seit Beginn des 18. Jahrhunderts bezeichnet dieses Wort auch den Inhalt, die Operndichtung selbst. Unter Libretti verstand man erst Programmhefte mit Inhaltsangabe, Hinweise auf Inszenierung und Widmung. Sie wurden auch mehrsprachig gedruckt. Das Wort selbst wurde in die meisten Sprachen entlehnt, im Deutschen etablierte sich das Wort seit 1830). Librettisten haben viele Texte, aber oft ohne größeren dichterischen Wert produziert, außer solchen Ausnahmen, wie etwa Da Ponte, Eugen Scribe, Francesco Maria Piave. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich ein neuer Begriff für die Opern, deren Texte dichterische Stoffe sind, worüber in dieser Arbeit noch die Rede sein wird. „Solange der interessierte Zuschauer den Text Wort für Wort verfolgen kann, darf das Libretto (als Text) grundsätzlich gleichen literarischen Rang beanspruchen wie ein Sprechstück. Durch schlechte Übersetzungen haben Libretti wenig Achtung geerntet, sogar Abneigung des Publikums. Man muß sich nicht wundern, wenn Hofmannsthal beim Libretto-Schreiben Bedenken hatte und daß man ihn, ohne seine Libretti zu lesen, unterschätzte. Erst wenn sich ein Dichter daran gemacht hat, wurden sie Libretti von großem Wert“. Vgl. Albert Gier, Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikliterarischen Gattung, Darmstadt 1998.4 Vgl. Richard Strauss, Clemens Krauss, Capriccio. Ein Konversationsstück für Musik in einem Aufzug, Berlin 1942, S. 33.

2

Page 3: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Dürrenmatt als bekannter Experimentator, der oft seine Stücke immer wieder bearbeitet hat, hat

das Libretto selbst verfertigt. Wollte er diesmal die Wirkung der Musik an seinem Stück ausprobieren? Wir

wenden uns der literarischen Gattung des Librettos zu und vergleichen die Veränderungen, die Dürrenmatt

vorgenommen hat. Hat das Wort oder die Musik bei von Einem das Primat? Wie stand Dürrenmatt dazu?

Wie verlief die kurze Zusammenarbeit? Wir nähern uns schließlich kurz der musikalischen Analyse der

Oper. Die Untersuchung findet am Klavierauszug und an der Uraufführungsaufnahme vom 23. Juni 1971 in

der Wiener Staatsoper statt. Dabei hilft uns ein kurzer Blick in die anderen Opern von Einems. Mit welchen

Mitteln arbeitete der Komponist? Wie setzt sich die Oper mit dem Begriff "tragische Komödie"

auseinander? Wie sind Groteske und Parodie in der Musik widergespiegelt? Zuletzt beobachten wir die

Rezeption des Werkes durch das Publikum. Haben sich die Meister irgendwelche Ziele vorgenommen?

Wurden sie in diesem Werk verwirklicht? Es sind viele Fragen, für die wir in dieser Arbeit Antworten

suchen werden. Dabei erscheint die Interpretation des ganzen Sprechstückes nicht von großem Gewicht,

weswegen wir sie auslassen. Wir wenden uns vielmehr gezielt ausgewählten Stellen zu.

2. Friedrich Dürrenmatt und Gottfried von Einem – Genese einer Zusammenarbeit

Von Einem ist ein Komponist von 106 Opus-Nummern, Orchester- und Kammermusik (Quartette,

2 Klavierkonzerte, 4 Symphonien, Violinkonzert), Bühnenmusik, Ballette, über 100 Lieder, Oratorien, aber

besonders ein Dramatiker mit Vorliebe für die Gattung Oper. Seine Opern behandeln sehr unterschiedliche

Themen und Bereiche. Bei allen Opern von Einems handelt es sich um ein literarisches Sujet, sie sind aber

von den Gattungen her unterschiedlich. Von Einem wollte sich nicht wiederholen: „Ich habe alle

Möglichkeiten durchgespielt, weil ich Doubletten nicht mag“5. Dantons Tod op. 6 (Uraufführung 1947) frei

nach Georg Büchner und Der Prozeß op.14 (1953) nach Kafkas Roman nähern sich der Gattung des

Wagnerschen Musikdramas, wie die großen Musiklexika feststellen6, Der Zerrissene op.31 (1964) nach

Nestroys Posse, ein Lustspiel (in der Tradition des Mozartschen Singspiels), Der Besuch der alten Dame

op. 35 (1971) eine tragische Komödie, Kabale und Liebe op.44 (1976), Jesu Hochzeit op. 52 (1980) eine

Mysterienoper und Tulifant op. 75 (1990) ein kammermusikalisches Opernwerk. Die Gestaltung der

Libretti verdankt der Komponist seinem Lehrer und Freund Boris Blacher, den nach seinem Tod im Jahre

1975, Lotte Ingrisch, die künftige zweite Ehefrau von Einems, vertritt. Der Besuch der alten Dame, mit der

Grundtonart e-moll, ist die vierte Oper von Einems, entstanden zwischen Der Zerrissene (E-Dur) und

Kabale und Liebe (D-Dur). Zwischen diesen drei Opern lassen sich leicht Zusammenhänge feststellen; in

allen zeigt er die verlogene Gesellschaft, Unstetigkeit der menschlichen Beziehungen, Verrat. Auch bei

Der Zerrissene hat von Einem die Sprache interessiert (der leichte Wiener Sprachakzent). Entscheidend in

5 Vgl. Gottfried von Einem, Ich hab’ unendlich viel erlebt. Eine Autobiographie Wien 1995, S. 313. Im folgenden kurz vE gennannt.6 Vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd.6, S. 84. Ebenso: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd.3, hrsg. von Friedrich Blume, Kassel, Basel, London, München 1989, S. 1198f.

3

Page 4: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

diesen Opern, ist die Figur der Frau. Der Zerrissene ist „hauptsächlich wegen Kathi componiert worden“7,

die Luise aus Kabale und Liebe ist diejenige, die lieben kann. Über Claire Zachanassian wird noch die

Rede sein. Alle drei Opern sind auch Nummernopern8.

Warum neigt man dazu, sich das Biographische anzuschauen? Um Zusammenhänge zu finden?

Um das Werk besser zu verstehen? Die in der Zeit zwischen den Kriegen heranwachsende Generation zeigt

ein grundlegend verändertes Verhältnis von Leben und Schaffen als bei den großen Vorläufern. Das

Verhältnis von Biographie und Werk ist komplizierter geworden, undurchsichtiger. Dürrenmatt wies jedoch

selbst auf seine eigene Biographie hin, indem er in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold sagte: „[...],

daß ich alle meine Motive auf wirklich Erlebtes, Erlebbares zurückführen kann. Das ist unheimlich“9. Für

ihn ist die Zeit der Kindheit und der Jugend besonders wichtig, als eine Zeit, in der sich alles kristallisiert

und reift. Alles, was Dürrenmatt schreibt, beruht also auf seinen wirklichen Erlebnissen, nun muß er sie

aber erst vergessen, in sich tauchen lassen, bis sie in verwandelter Form wieder hervorkommen. Der

Pfändungsbeamte hat z.B. seinen wirklichen Prototypen, einen Advokaten, der im Auftrag des Verlages das

Geld für die versprochene Geschichte, die jedoch nicht entstand, und dementsprechend nicht geliefert

wurde, zurückforderte10.

In Dürrenmatts Bericht über seine Kindertage in Konolfingen erfahren wir: „Stoffe jedoch sind

verwandelte Eindrücke“11. Der Schriftsteller beobachtete, am Bahnhof sitzend, die vorbeifahrende Züge

„mit einer Mischung von Sehnsucht und Abscheu“12. Der Bahnhof und die Züge waren später die Ursache

für eine Bühnenidee des Autors. Dürrenmatt war der Auffassung, daß, um aus den Schulden

herauszukommen, in die er während der Krankheit seiner Frau geraten war, es rentabler wäre, Die

Mondfinsternis13 in ein Theaterstück zu verwandeln. Diese Bühnenidee bestand darin: „daß auch die

Schnellzüge Bern-Neuchatel in Ins und Kerzers anhalten, wodurch man gezwungen ist, die beiden kleinen

trostlosen Bahnhöfe zu betrachten, ungeduldig über die Unterbrechung, wenn er auch nur ein, zwei

Minuten dauert; Minuten, die sich für mich lohnten, kam ich doch durch sie wie von selbst auf die erste

Szene. Und wie von selbst verwandelte sich im Weiterdenken das Bergdorf in Güllen und Walter Lotcher

in Claire Zachanassian“14. Ihre Entstehung ist also reinem Zufall zu verdanken. Die Alte Dame ist

bühnenwirksamer als die Erzählung Die Mondfinsternis. In Stoffe I-III schildert Dürrenmatt seinen

7 Vgl. vE, S. 221.8 Auf die Ausführung der Biographie von Friedrich Dürrenmatt wurde in der folgenden Arbeit verzichtet. Der Autorin scheint es, wegen reicher vorhandenen Literatur, überflüssig zu sein. Die biographischen Elemente des Schriftstellers erscheinen jedoch im Laufe der Arbeit. Die Gestalt des Musiker Gottfried von Einem ist dagegen weniger geläufig.9 Vgl. Heinz Ludwig Arnold, Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt, Zürich 1976, S. 59.10 Ebda, S. 33f. Der Name Gentz wird im Stück zu Glutz (S.11), Diese Bosheit des Autors soll dem Advokaten sehr peinlich gewesen sein.11 Vgl. Dokument, in: Theaterschriften und Reden, Zürich 1966, S. 30.12 Ebda, S.32.13 Die Mondfinsternis entstand in zwei Fassungen. Die Idee zur Erzählung, 1941 nach mehrwöchigem Aufenthalt in einem kleinen Bergdorf vor Studienbeginn, (Dürrenmatt ist fasziniert von dem urtümlichen Aberglauben der Bergbauern) blieb als erste Fassung unvollendet. 1954 griff Dürrenmatt den Stoff erneut auf. Vgl. Friedrich Dürrenmatt, Stoffe I-III, Zürich 1981, S. 239ff 14 Ebda, S. 248.

4

Page 5: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Gedankengang15. Es sei an dieser Stelle eine kurze Rekapitulierung erlaubt. Der Bahnhof schafft die innere

Form des Stückes und gewisse Erwartungen auf eine Ankunft. Die Ankunft einer wichtigen Persönlichkeit

setzt das Städtchen in Bewegung, besonders, wenn der Gast noch zu früh kommt. Da nur Personenzüge in

Güllen anhalten, wird das Erstaunen um so größer, wenn ein Schnellzug durch die Benutzung der

Notbremse hält. Wieso fährt die reiche Frau nicht mit dem Auto, wie Lotcher mit seinem Cadillac? Sie

wird wegen ihren, durch Unfälle bedingten Prothesen in der Sänfte getragen. Es sind dies alles theatralische

Effekte, die es in Die Mondfinsternis nicht gibt. Im Dorf konnte es keine Industrie geben, deswegen kommt

die alte Dame in das Städtchen, mit dem festen, lebenslang geplanten Entschluß, sich zu rächen. Die

Forderung des Todes von Lotcher ist – situationsbedingt – nur einer Person mitgeteilt und nicht der ganzen

Gemeinde. Der in Amerika reich gewordene Locher (auch den Namen hat er geändert) wollte ursprünglich

dem Dorf finanziell helfen. Das ganze Städtchen ist durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch

korrumpiert. In Die Mondfinsternis sind nur Bauern Verschwörer. Sie entschließen sich, die Lehrerin, den

Pfarrer und den Polizisten aus dem Spiel zu lassen. Während sie morden, predigt der Pfarrer in seiner

leeren Kirche, die Lehrerin spielt Orgel und der Polizist trinkt die Flaschen Schnaps, die ihm der Bärenwirt

mitgebracht hatte. Die Alte Dame zeigt, daß Geld und Wohlstand die Vertreter aller Gesellschaftsschichten,

sowohl die Intelligenz, als auch einfache Leute, verlocken und verderben kann. Schließlich ist die

versprochene Summe geringer, 14 Millionen in Bar, verglichen mit einer Milliarde per Scheck! Klara spielt

eine sekundäre Rolle in der Novelle. Sie hat zwei Söhne, einen bewußt gewählten Mann. Sie trifft sich mit

Lotcher nur einmal nach dem getanen Mord. Sowohl Lotcher wie Klara sterben am Ende, er bekommt

Herzschlag, sie erfriert, während sie auf den Zug wartet. Es sind die wichtigsten Unterschiede zwischen

dem Sprechstück und der Erzählung.

Zurück zum Biographischen. Dürrenmatt schildert das Dorf als „[...] häßlich, eine Anhäufung von

Gebäuden im Kleinbürgerstil [...]“16, als einen Ort, wo alle alles über die anderen wissen, wo er als Sohn

des Pfarrers Spott und Verfolgung durch die Dorfburschen erleben mußte. In jedem Werk Dürrenmatts

befinden sich eine oder mehrere Leichen. Kann man diese Tatsache nicht auf die Kindheitserlebnisse

zurückführen, wenn man weiß, daß der kleine Dürrenmatt oft und unbefangen auf dem Friedhof spielte?

Als Kind hat er schon gesehen, wie man Tiere schlachtet: „Das Dorf kennt keine Geheimnisse, und der

Mensch ist ein Raubtier mit manchmal humanen Ansätzen, beim Metzger müssen die fallengelassen

werden“17. Sind die Güllener nicht solchen Raubtieren ähnlich?

Bei Gottfried von Einem beginnt seit der Oper Der Prozeß, sich die Diskrepanz zwischen dem

Schaffen und dem Leben zu verringern, was in von Einems Jugendwerk der Fall war. Damals war ihm die

Musik eine Zuflucht vor der Einsamkeit. Die komponierten Werke spiegelten Freude und nicht Traurigkeit

wider. Man darf wohl sagen, daß die Zeit des Dritten Reiches, des Zwanges, des inneren Gebots, dem die

Künstler verpflichtet waren nachzugehen, die Stillelosigkeit, einen Einfluß auf den sich erst etablierten

15 Ebda, S. 249.16 Vgl. Dokumente, S. 25.17 Ebda, S. 26.

5

Page 6: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Geist des jungen Komponisten, seinen Konservatismus18, wie Boris Blacher später sagte, Einfluß ausübte.

Von Einem gesteht selbst, das die Thematik der Grausamkeit, die fast in allen seinen Opern vorkommt, auf

den Krieg zurückzuführen sei. Er hatte seine eigene (1938) und die zweimalige Verhaftung seiner Mutter,

die den Leuten mit falschen Dokumenten geholfen hatte, erlebt19. Später fängt die Wiener Umgebung an,

einen wesentlichen Einfluß auf von Einem auszuüben. Dem Wiener Theaterleben mag das Verdienst

zugeschrieben werden, von Einems Aufmerksamkeit auf Nestroy geweckt zu haben. Der Komponist hatte

1961-64 Der Zerrissene komponiert. Man denke dabei an Dürrenmatts Worte im Nachwort zur Alten

Dame: „Man inszeniere mich auf die Richtung von Volksstücken hin, behandle mich als eine Art bewußten

Nestroy [Hervorhebung M.K.], und man wird am weitesten kommen. Man bleibe bei meinen Einfällen und

lasse den Tiefsinn fahren [...]“20. War vielleicht die unmittelbare Nähe zum alten Wiener Komödianten

auch eine Verlockung zur Vertonung der Alten Dame gewesen?

Von Einem war entzückt von dem Dürrenmattschen Werk, obwohl er es vorher nicht auf der

Bühne gesehen hatte. Er sah sich fast nie die Stücke, die er vertonen mochte, im Theater an, weil er die

Vorstellung der Phantasie allein überlassen wollte21. Ziemlich früh kaufte er sich den Text. Bei der späteren

Suche nach einem Opernstoff, ist dem Komponisten dieses Werk wieder eingefallen22. Von Einems Bitte

nach der Möglichkeit der Vertonung wurde von Dürrenmatt schroff abgelehnt, schreibt der Komponist in

seiner Autobiographie. Zum ersten mal griff von Einem nach einem Stoff eines noch lebenden Autoren.

Blacher hatte ihn vor den Schwierigkeiten gewarnt. „Dürrenmatt wollte mich ursprünglich gar nicht

empfangen“. (236) Erst telephonische Interventionen des Schauspielers Ernst Schröder, eines Mitglieds der

Kunstakademie, hatten geholfen, und von Einems Zielstrebigkeit hatte gewonnen23. Als Dürrenmatt endlich

zugestimmt hatte, sich mit von Einem treffen zu wollen, wurde der Komponist mit Skepsis und „äußert

ungnädig“ (237) empfangen. Der Schriftsteller war von der Oper als einer musikalischen Gattung nicht

beeindruckt. Er liebte die Oper an sich nicht. Mit Unzufriedenheit erzählte er von seinen Opernbesuchen:

Beethovens Fidelio und Mozarts Cosi fan tutte. Die Aufführungen haben ihm nicht gefallen. Ganz im

Gegenteil. Dürrenmatt verlangte mißtrauisch, eine Oper von Einems zu sehen. Es gab Schwierigkeiten,

denn alle Operntheater hatten ihren festen Plan und wollten sich zur Veränderung nicht überreden lassen.

Erst ein Freund von Einems, der Direktor der Wiener Staatsoper Egon Hilbert, ersetzte die geplante Oper

Don Giovanni mit Dantons Tod mit Eberhard Wächter in der Titelrolle. Wächter spielte später den Ill. Von

einer Zusammenarbeit, wie sie zwischen dem Bühnenbildner Caspar Neher und dem Komponisten von

18 Vgl. Dominik Hartmann, Interview mit Boris Blacher, in: Gottfried von Einem. Eine Biographie, Wien 1976, S. 6.19 Vgl. vE, S. 132f. 20 Vgl. Nachwort, in: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie, Zürich 1956, S.102.21 Vgl. vE, S. 325.22 Vgl. vE, folgende in Klammern angegebenen Seitennummern stammen aus dem Kapitel: Meine Begegnung mit Friedrich Dürrenmatt, S. 235-246.23 Das Bespiel Ionescos Die Nashörner zeigt welch erstaunliche Mühe sich der Komponist gab, um die Rechte an dem Stoff zu erhalten. Er fuhr vom Paris nach London, flog nach New York, besuchte Menschen in San Francisco, Los Angeles, um nachher zu erfahren, das die Reise unnötig war. Vgl. von Einem, S. 322-324.

6

Page 7: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Einem existierte, kann keine Rede sein. Die Begegnung war herzlich24, wenn auch am Anfang mißtrauisch.

Eine unbewiesene, grundlose Verleumdung eines Dritten, von Einem habe Dürrenmatt „mit irgendeinem

krummen Manöver betrogen“ hat die Künstler getrennt. Was mag von Einem zur Vertonung des

Dürrenmattschen Stückes angespornt zu haben?

2.1. Theatralik der menschlichen Erscheinungen

Erstens ist es bestimmt die „Theatralik der menschlichen Erscheinungen“25, wie sie Briner nennt,

gewesen, also eine gute Charakteristik der Gestalten: Claire Zachanassian, eine Dame von Welt, stolz,

unbeweglich, zynisch und verbittert. Durch den mächtigen dramatischen Sopran, fast schon Mezzosopran

Christa Ludwigs26 wird sie noch ernster, ihr Galgenhumor noch stichelnder, der Tonfall macht aus der

Hauptfigur eine Hochdramatische von großem Maß. Der Charakter der Milliardärin im Sprechstück wurde

sichtbar gemacht durch ein Ereignis, den Entschluß Dirne zu werden, unterstreicht Dürrenmatt selbst: „bei

der Zachanassian führt kein zwangsläufiger Weg von der Verurteilung zum Bordell. Ich sage: das kann

man gar nicht, das ist ihr Charakter, daß ein Mensch sagt: Also gut, wenn man mich zur Dirne stempelt,

werde ich auch eine“27, was sie auch nicht der Öffentlichkeit verheimlicht. Damals ein schönes rothaariges,

kokettes, armes Mädchen, jetzt eine alte, fette, kranke Milliardärin, durch ihr Geld mächtig und unbeugsam

geworden, aber mit Humor, eine „Rachegöttin“. Sie hat „einen bösartigen Charme“, „seltsame Grazie“,

„Distanz zu den Menschen als zu einer käuflichen Ware“28. Damals verstoßen, verspottet und

hochschwanger, ist sie jetzt gekommen, um ihre absolute Gerechtigkeit zu verlangen29. Ihre Schönheit,

sowie die Heirat mit dem Ölmagnaten Zachanassian und weitere Heiraten, haben sie reich gemacht aber

nicht glücklich: „Einen Mann hält man sich zu Ausstellungszwecken, nicht als Nutzobjekt“30, stellt Claire

spöttisch fest. Sie habe nur einen Mann geliebt, der hat jedoch ihre Liebe leichtgenommen und ‚verraten‘.

Im Konradsweilerwald, spricht sie zu Ill: „Deine Liebe ist gestorben vor vielen Jahren. Meine Liebe konnte

nicht sterben. Aber auch nicht leben. Sie ist etwas Böses geworden wie ich selber [...]“31. Die Liebe ist auch

ein sehr wichtiger Faktor in von Einems Opern32. Der Komponist betont ausdrücklich das „eindeutig

24 Ebda, S. 241: „Dürrenmatt hat mich offenbar sehr ins Herz geschlossen und hat mich oft während unserer Sitzungen porträtiert“. Die Zeichnungen befinden sich auf S. 234.25 Vgl. Andres Briner, Zu Gottfried von Einems Dürrenmatt-Oper „Der Besuch der alten Dame“, in: Views and Reviews of modern German Literature, München 1974, S. 253.26 Die Hauptrolle wurde Christa Ludwig zuteil, obwohl von Einem für Claire an Regina Resnik gedacht hatte, die jedoch aus Termingründen absagen mußte. Die sich zur Freude des Komponisten per Brief anmeldende Ludwig hatte die Rolle bekommen. Sie hatte schon von Einems Lieder interpretiert. Vgl. vE, S. 244.27 Vgl. H. L. Arnold, S. 26.28 Vgl. Nachwort, S. 102.29 Der Begriff „Gerechtigkeit“ ist bei Dürrenmatt von großer Bedeutung. Man denke an den Monstervertrag, in dem sich der Schriftsteller den Gleichnissen bedient, oder an Gestalten in seinen Werken, wie z. B. Herr Mississippi. Dieses Wort tritt auch im essayistischen und „rhetorischen“ Werk Dürrenmatts auf. In der Alten Dame stellt der Autor die Entlarvung des verlogenen Begriffs „Gerechtigkeit“ dar.30 Vgl. Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame, S. 86. Diese Ausgabe des Sprechstückes wird im folgenden kurz Besuch genannt.31 Ebda., S. 88.32 Vgl. vE, S. 266: Bei der Arbeit an Kabale und Liebe : „Am Stoff interessierte mich das zugespitzte Verhältnis zu einer verlogenen Gesellschaft und zu einer schwankenden Art menschlicher Beziehungen. Diese

7

Page 8: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

mythische Wesen der Hauptrolle“33, aber die Oper selbst scheint den Aspekt unterlassen zu haben, so gibt

es im Finale keine der griechischen Tragödie angenäherten Chöre: „Den Originalschluß mit dem

griechischen Abgesang konnte ich für die Oper nicht verwenden, denn so was geht nur beim Sprechtheater,

wie ich Dürrenmatt zu verstehen gab“34. Der Schriftsteller fand eine andere Lösung und meinte, daß die

Arie in den Herzen der Mörder zu Ende ginge35. Der Chor in der griechischen Tragödie hatte nicht nur

gesungen sondern auch getanzt36. Hat nicht diese Tatsache vielleicht Dürrenmatt auf diese Idee gebracht?

Auch die Stelle, wo der Lehrer im „Goldenen Apostel“ sich mit dem Bürgermeister und später auch mit

dem Polizisten unterhält, wurde weggestrichen. Er vergleicht Claire mit einer Parze, einer griechischen

Schicksalsgöttin und mit Klotho37, der Erynnie und mit der Hetäre Lais, die Lebensfäden spinnt (damit hat

er verhängnisvoll recht). Es ist verwunderlich, daß sich diese Bezeichnungen in der Oper nicht mehr

wiederholen. Dürrenmatt selbst meint im Nachwort zum Stück, Claire stelle: „weder Gerechtigkeit dar,

noch den Marshallplan oder gar die Apokalypse, sie sei nur das, was sie ist, die reichste Frau der Welt,

durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam,

wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten“38. Ein Vergleich zu Medea erfolgt nur einmal, in der „Peterschen

Scheune“, wo Lehrer und Arzt der Milliardärin ein Geschäft anbieten: „Sie verlangen absolute

Gerechtigkeit. Wie eine Heldin der Antike kommen sie mir vor, wie eine Medea“39. Die Symbolik der

vorklassischen Göttin-Heros-Struktur wird in dieser Arbeit jedoch nicht weiter analysiert40.

Gezielt gezeichnet sind auch andere Gestalten des Sprechstückes: der scheinheilige Pfarrer etwa,

der sich, wie alle, etwas Neues anschafft (eine zweite Glocke) und dadurch an der Ermordung Ills

teilnimmt. Er zeigt aber noch ein wenig Menschlichkeit in sich, indem er Ill zur Flucht rät. Eine

interessante Figur ist der Bürgermeister mit seinem bürgerlichen Stolz und der Einbildung, die perversen

Eunuchen würden adäquat zu ihrem Verbrechen bestraft, entmännlicht und geblendet nämlich, denn sie

haben geschworen mit Klara Wäscher geschlafen zu haben. Die Oper gibt den Gestalten eine neue

Dimension: die Eunuchen sind nicht ganz so, wie sie Dürrenmatt im Nachwort zum Stück beschreibt. Sie

sind nicht märchenhaft, gespenstisch, unwirklich, leise, sondern künstlich, kindisch, grotesk, und so klingen

sie. Dies spiegelt sich auch in ihren häufigen Wiederholung der einzelnen Sätze wieder. Diese Deutung des

Komponisten ist unserer Ansicht nach ein durchaus positiver Vorgang.

Grundeinstellung zeichnet viele meiner Opern aus: Die Liebe, die Liebe zu den Menschen, Anteilnahme an ihrem Schicksal, an ihren Hoffnungen und Leiden, Mittel mit ihrem Ausgeliefertsein gegenüber bösen Mächten und Gewalten“.33 Ebda, S.237.34 Ebda, S. 241.35 Vgl. vE, S. 241.36 Vgl. Hellmut Flashar, Die Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585-1990, München 1994, S. 24.37 In diesem Namen ist auch eine Parodie versteckt; die alte prothesentragende Milliardärin ist nicht mit der schönen Klotho zu vergleichen.38 Vgl. Nachwort zu Besuch, S. 102.39 Vgl. Besuch, S. 68.40 Vgl. dazu Marita Alami, Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt, Köln 1994

8

Page 9: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

2. 2. Wesen des Stückes

Ein zweiter Ansporn für von Einem mag das Wesen des Stückes als eine „tragische Komödie“ mit

ihrer Parodie, Groteske und unbarmherzigen Verstellung gewesen sein. „Uns kommt nur noch die Komödie

bei“41, stellt Dürrenmatt in seinen „Theaterproblemen“ fest. Keine tragischen Helden, sondern kleine Leute

geben besser die heutige Welt wieder. Sie ist für Dürrenmatt von der Macht geprägt, ungestaltet und

chaotisch. „Die Komödie [setzt] eine ungestaltete [Welt voraus, eine] im Werden, im Umsturz begriffene,

eine Welt, die am Zusammenpacken ist, wie die unsrige“ (120). Die Komödie schafft Distanz mit dem

Mittel des Einfalls (121). Die Groteske ist ein sinnliches Paradox. Die Komödie gibt dem Ungestalteten

Gestalt, das Konkrete. Dürrenmatt betont aber, daß das Tragische, jedoch nicht mehr die Tragödie, möglich

ist: „Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen

Moment, als einen sich öffnenden Abgrund [...]“ (122f). So ein schrecklicher Moment ist der Entschluß der

Gemeinde, Ill zu töten, sein Schuld-auf-sich-nehmen, in der heutigen Welt nur als „eine persönliche

Leistung, als religiöse Tat“ möglich (122). Die Oper besitzt, rechtfertigt und hebt hervor sowohl die

tragischen Elemente, als auch das Satyrspiel und das Komödienhafte. Tragisch ist auch das Unglück des

Mädchens, das einmal verraten wurde, Ills Wandlung, Vereinsamung, sein Leiden durch Verrat, der an ihm

verübt wird von den Menschen, mit denen er jahrelang gelebt hat, alles verheimlicht, im Stillen geplant.

Anscheinend will niemand Ills Tod, aber jeder will den Wohlstand, jeder macht Schulden, denn die

Verlockung ist zu groß. Mögen sich die Bürger mit Armut, hungernden Kindern entschuldigen, den Sinn

der Gerechtigkeit ausnützen und verkehrt interpretieren. Die Ermordung bleibt ein Verbrechen.

Parodistische und groteske Elemente und Situationen, die Verblüffung erzeugen, gibt es im Sprechstück in

Hülle und Fülle. Es sei uns erlaubt, an dieser Stelle einige Beispiele zu nennen. Komödiantisch sind: das

Verhalten der Güllener, Claires Sprechsweise, die Anspielungen auf die herannahende Gefahr, die im

Grunde nur die Wahrheit bedeutet. Klara als einzige spricht offen, wenn dies den Güllenern als

ausgelassene Witze scheinen mag. Ihre Andeutungen, wie zum Polizisten: „ich will niemand verhaften,

aber vielleicht wird sie Güllen nötig haben [...] Schließen sie lieber beide [Augen] „42, zum Pfarrer „Man

wird sie [die Todesstrafe] vielleicht wieder einführen“ (21), zum Arzt „Stellen sie in Zukunft Herzschlag

fest“ (29) werden entsprechend durch die Musik untermalt, z.B. durch die Flötentriller.

In dem Moment, wo wir wissen, daß Zachanassian sich scheiden ließ und neu heiratete, kommt die

Rede auf die biblische Stelle, der „Preis der Liebe“ aus 1. Kor., 13 (Szene in der „Peterschen Scheune“.

Gerade bei Claire, die ihre Gatten nie geliebt, sondern nur aus Spaß oder wegen Geld geheiratet hatte. Oder

auch die Anspielung auf die heilige Genoveva und deren Legende. Man hat der schuldlosen Königin den

Heiratsbruch angelastet, was auch nicht der Wahrheit entsprach. Sie mußte mit ihrem Kind fliehen und sich

in der Wildnis verstecken. Einen solchen Namen hat Claire ihrem gemeinsamen Kind gegeben, das nach

einem Jahr starb. Selbst die Szene im Konradsweilerwald, wo Zachanassian Ill die Fragen über das Kind

beantwortet, ist höchst parodistisch: „Ich danke dir für die Rosen, für die Chrysanthemen“ (Ill, 88). Er 41 Vgl. Theaterprobleme, S. 122. auch die folgende, in Klammern angegebene Zitate entstammen dem Aufsatz.42 Vgl. Besuch, S. 22 und die nächsten Seitenzahlen in Klammern.

9

Page 10: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

spricht mit der eigenen Henkerin über seinen Tod, sie verspricht ihm ein Denkmal auf dem malerischen

Capri nach seinem Tod. Ills schmeichelnde Worte „dieselbe kühle, weiße Hand“ werden gleich durch

Claires vernichtende Verneinung bestraft: „Irrtum, auch eine Prothese“, wonach Ill erschreckt die ‚Hand‘

fallen läßt. Die heuchlerische Haltung des Pfarrers bedeutet hier die Demaskierung der Kirche. Kurz bevor

Ill getötet wird, will ihn der Pfarrer belehren: „wie schon der Prophet Amos gesagt hat“. Es geht dabei um

die Gerichtstheophanie des Propheten Amos, die das nahe Kommen Gottes verkündet43. Gott wird das

Gericht halten. Solche Worte erscheinen während die Gemeinde das Gericht und das Todesurteil über Ill

ausspricht. Die Parodie auf bürgerliche Moral und Kultur findet sich in den Worten des Bürgermeisters, der

von Ill behauptet, die beliebteste Persönlichkeit des Städtchen zu sein, alles nur um der Tatsache willen,

daß Ill der Milliardärin hinterlistig das Geld entlockt. Die Musik zeigt die Lüge deutlich, indem sie den

Bürgermeister sehr schnell singen läßt: „Sie sind seit langem schon die beliebteste Persönlichkeit in

Güllen“ (13f). Die Heuchelei wird auch in der Rede des Bürgermeisters, durch sein Versprechen und sein

Notizbuch sichtbar: „Und gar Sie, gnädige Frau – als blond – Ill flüstert ihm etwas zu – rotgelockter

Wildfang tollten Sie durch unsere nun leider verlotterten Gassen – wer kannte sie nicht. Schon damals

spürte jeder den Zauber Ihrer Persönlichkeit, ahnte den kommenden Aufstieg zu der schwindelnden Höhe

der Menschheit“ (33). Claire läßt Stiftungen gründen, nicht aus Güte, sondern aus Spaß, wie es auch im

Falle des Zugbeamten war. Er bekommt „dreitausend für die Stiftung zu Gunsten der

Eisenbahnerwitwen“ (16), obwohl es sie gar nicht gibt, worauf Claire antwortet: „Dann gründen Sie

eine“ (17), dies klingt sehr spöttisch und bedrohlich, denn von dem Tod wird wieder die Rede sein. Claire

waltet über das Leben der Menschen, wie sich bald herausstellen wird. Selbst die Gefolgschaft der

Milliardärin wirkt verfremdend: zwei begnadigte Gangster aus Manhattan, Eunuchen, zahlreiche Zofen.

Sehr parodistisch gelungen ist die Schlußszene, wo der Urteil über Ill deutlich zweimal wiederholt wird.

Dies in dem Augenblick, wo über das Leben entschieden wird. Die Beispiele könnte man vermehren.

Daran ist wesentlich die Sprache beteiligt.

2. 3. Sprache

Von Einem sucht Dichtungen44 zu Stoffen eigener Opern. Der Komponist meint: „Seine Stücke

[Dürrenmatts] sind sehr wirkungsvoll, dem Stil nach und der Art, wie er ihn bearbeitete“. Der Schriftsteller

bevorzugt beim Schreiben die Knappheit: „Schreiben ist: den kürzesten und genauesten Weg finden, einen

Gedanken auszudrücken [...] für mich ist das Schreiben etwas Lineares“45. Diese Knappheit charakterisiert

auch das Libretto. Von Einem führt seine tonale Melodie auch linear. Jedes Wort hat bei Dürrenmatt

Bedeutung, so z. B. die Namensgebung. Die Handlung der Alten Dame spielt im eigentlich

abgeschlossenen Raum einer Kleinstadt irgendwo im Mitteleuropa. Sie heißt Güllen. Es ist eine pejorative

Bezeichnung, es bedeutet Ansammlung von Jauche, flüssigem Stalldünger, aus Kot und Harn. Die blinden 43 Vgl. Karl Schmidt, Erläuterungen und Dokumente: Der Besuch der alten Dame, Stuttgart 1975, S. 1144 Dürrenmatt selbst mag das Wort nicht: „Ich habe das Wort Dichtung nicht gerne, das Wort Dichter auch nicht“. Vgl. D. Fringeli, o.S.45 Ebda, o.S.

10

Page 11: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Eunuchen erkennen das Städtchen nach dem Geruch: „Wir sind in Güllen, wir riechen’s wir riechen’s“46.

Es ist ein besonderer Hinweis darauf. Claire Zachanassian, klingt vornehmer und fremder als Kläri

Wäscher. Ihr Name könnte eine Kontamination aus Onassis, Zacharoff und Gulbekian sein47. Die

Milliardärin wurde von dem Oberrichter Hofer (Boby, der Butler)48 die Klägerin genannt. Das Wort

„Klägerin“ weist im Klang Ähnlichkeit zum französisch gefärbten Namen Claire (Claire hat auch ihrer

Tochter einen französisch klingenden Namen gegeben Genoveva). Der Name Ill assoziiert das englische

Wort für „krank“, Claires Gefolgschaft und Ehegatten tragen Namen wie Boby, Koby, Loby, Moby, Roby,

Toby, Zoby, im Sprechstück kommt noch Hoby hinzu. Vielsagend ist der Name, obwohl er nur einmal

auftritt: Annettchen Dummermuth, damals die Klassenerste, den Claire spöttisch verniedlicht, oder Frau Ills

Mathildchen Blumhard (Blumeschön, hardhartnäckig, beide schließen sich aus). Auch Namenlosigkeit

ist in gewissem Sinne zu beobachten: Bezeichnung der gesellschaftlichen Stufe, des Berufs oder des Titels

werden anstelle von Eigennamen benutzt: der Lehrer, der Doktor, der Pfarrer, der Bürgermeister, im

Unterschied etwa zu Die Mondfinsternis, wo Bauer dialektgefärbte Eigennamen besitzen.

2. 4. Musikalität

Die Sprache des Sprechstückes zeichnet sich durch ihre Musikalität aus. Einige Szenen besitzen

opernhafte Züge, was von Einem bewundert: In Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame finden sich

Aussagen, die Töne und Klänge vorschreiben: das Bimmeln der Bahnhofsglocke, in Bahnhof I und

Bahnhof II; die Türglocken in Ills Geschäft – erst eine armselige, dann eine voluminöse, denn dazwischen

ist Ill reich geworden; der Chorgesang der Bäume im Konradsweilerwald I und II [„Wir sind Fichten,

Föhren, Buchen“, 25]; die tiefe, neue und teuere Glocke der Kirche in Güllen“49. Außerdem sollen vom

Publikum Gitarrenklänge wahrgenommen werden, Volkslieder gespielt von Roby, dem „begnadigten

Raubmörder“(21). In der gestrichenen Szene „Claire auf dem Balkon“ ist es besonders deutlich. In der

Regieanweisung lesen wir Folgendes: „Auf den Balkon im Hintergrund kommt Claire Zachanassian, im

Morgenrock. Bewegt die rechte Hand, das linke Bein. Dazu vielleicht einzelne auf der Gitarre gezupften

Klänge, die in der Folge diese Balkonszenen begleiten, ein wenig wie beim Rezitativ einer Oper, je nach

dem Sinn der Texte, bald Walzer, bald Fetzen verschiedener Nationalhymnen“50. Es gibt auch eine

armenische Volksweise. In der ebenfalls gestrichenen Szene des Gespräch Ills mit dem Polizisten

vernehmen sie vom Radio Die Lustige Witwe (48) Als Zachanassian von dem Tod ihres schwarzen

Panthers erfährt, läßt sie Roby den Trauermarsch spielen (57).

46 Vgl. Besuch, S, 22.47 Vgl. K. Schmidt, Erläuterungen und Dokumente, S. 3.48 Vgl. Besuch, S. 32 und die weiteren in Klammern gefassten Seitenzahlen.49 Vgl. vE, S. 240.50 Ebda, S. 4 und die nächsten Seitennummern.

11

Page 12: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

3. Das Libretto

Die Gestaltung des Librettos ist formbewußt und dramatisch effektvoll, dicht, verknappt, verkürzt,

um zu intensivieren. Umstellungen einzelner Stellen verursachen die Modifizierung des Inhalts. Von

Einem nennt in seiner Autobiographie manche Grundzüge dieser wichtigen literarischen Gattung, die noch

im 19. Jahrhundert stark unterschätzt wurde. Das Libretto hat ein zusätzliches Ziel, das den anderen

Gattungen fehlt – es ist für die Musik geschrieben, muß also vieles mit ihr teilen: die Zeit (Kürze), die sich

erzeugende Spannung der dramatischen Handlung. Die Sprache des Textes, der zum Libretto wird, muß

schon musikalische Züge an sich besitzen. Solch kleine Elemente wie Vokale und Konsonanten spielen

eine große Rolle. Die dramatische Struktur muß so klar wie möglich hervorgehoben werden: „Wenn ein

Wort für den Gesang vertont wird, erfährt es eine Veränderung nicht nur in seiner Dauer, sondern auch

inhaltlich; es erhält eine neue Dimension“51. Die Musik braucht Räume zwischen den Zeilen, die sie

ausfüllen kann, denn: „Die durchschnittliche Dauer eines Sprechsatzes in der Musik ist ziemlich genau um

die Hälfte länger als im gesprochenem Stück (wobei natürlich Variationen im Sprachtempo keine völlig

zuverlässige Basis bieten)“52. Die Information fließt anders, nicht vom Hören zum Denken, wie beim

Stück, sondern vom Hören zum Fühlen.

Obwohl der Komponist den Begriff „Literaturoper“ in seiner Autobiographie nirgendwo gebraucht

und der Terminus noch mangelnde Trennschärfe zu besitzen scheint, kann die Zugehörigkeit der Oper Der

Besuch der alten Dame zu den Literaturopern nicht abgesprochen werden, weil sie, wie die Forschung von

Albert Gier zeigt, wie Claude Debussys Pelleas et Melisande sich ähnlichen Mitteln bedient53.

Literaturoper ist ihrem Begriff nach ein Operntypus des 20. Jahrhunderts. Die Sprechstücke, die per

definitionem nicht zur Komposition bestimmt sind, werden mehr oder weniger stark gekürzt, aber sonst

weitgehend unverändert vertont54. Die Alte Dame erfüllt alle diese Bedingungen. Das Libretto besteht aus

„größeren oder kleineren Bruchstücken“ eines Schauspiels, wo jedoch viele Erscheinungen in neuem Licht

gezeigt werden.

Wenden wir uns an dieser Stelle den Veränderungen Dürrenmatts zu, die er an seinem Schauspiel

durchgeführt hat. Sie beruhen auf der Erkenntnis, die er nach der Oper Dantons Tod gewonnen hat, daß

man manches vom Text gar nicht verstehen dürfe, weil die Musik der absolut legitime Sinnträger sei. Nur

muß das Fortschreiten der Handlung für den Zuhörer klar sein, in welchem Fall die Musik zurückzutreten

habe55. Der Schriftsteller war mit von Einem darüber einig, daß der Grundzusammenhang einer Oper

stärker durch die Musik als durch die Worte enthüllt werde, es gäbe sogar Augenblicke, in denen ein Zuviel

an Wortgenauigkeit sogar störend sein könnte. Dies ist auch die Meinung von Einems56. Dürrenmatt hat

auch gleich eingesehen, daß diese musikdramatische Gattung ein zur Komposition bestimmter Text ist,

51 Vgl. Ebda, S. 239.52 Vgl. A. Briner, S. 253.53 Vgl. A. Gier, S. 201.54 Ebda, S. 6.55 Vgl. vE, S. 241.56 Ebda, S. 246.

12

Page 13: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

dessen Inhalt und Form entscheidend durch die Rücksicht auf die Bestimmung geprägt werden und verfuhr

mit dem Stück erbarmungslos, schnitt vieles weg, strich manche Figuren oder verkürzte ihre Rollen. Und

dies binnen kurzer Zeit durch gemeinsame Telefongespräche und Besuche57. Er ging damit so vor, als ob

diese literarische Gattung ihm nicht fremd wäre. Von Einem war mit der neuen Fassung sehr zufrieden,

verglich sie mit den Verkürzungen von Blacher: „Bevor ich mit der Vertonung begann verglich ich

Dürrenmatts Version mit der von Blacher und war fasziniert von den Übereinstimmungen und

Ähnlichkeiten im formalen Aufbau. Der Hauptunterschied lag überraschenderweise einzig und allein darin,

daß der Autor sein Werk radikaler bearbeitet hatte und ohne Nachsicht und Eitelkeit wunderbare Passagen

strich, auch wenn sie auf der herkömmlichen Theaterbühne äußerst effektvoll waren“58.

Trotz der Veränderungen und radikalen Kürzungen ist die Essenz des Sprechstückes geblieben,

mehr noch, es bekam eine neue Qualität. Das argumentativ Diskutierende, das die Spannung hemmt und

die Handlung anhält, wurde weggestrichen. Dadurch wurde die Geradlinigkeit der Dramatik

hervorgehoben, die Konzentration auf das Wesentliche hat dem Stück Schärfe gegeben.

3. 1. Veränderungen der literarischen Vorlage

Die erste Ausmerzung betrifft schon die erste Szene. Es fehlt das Gespräch des Bürgermeisters

mit dem Pfändungsbeamten, das die Armut der Stadt noch stärker akzentuiert. Eine paradoxe Situation

bleibt uns in der Oper verhüllt, daß dieses verwahrloste, arme Städtchen sich mitten im blühenden Staat

befindet und ganz gepfändet sein muß. Dürrenmatt zeigt im Sprechstück nicht, wie es zu diesem Zustand

kam, den Stadtbewohnern ist dies selbst ein Rätsel. Die Güllener sind nur auf groteske Weise betroffen.

Keiner ist, wie manche in Die Mondfinsternis, ausgewandert. Sie fingen schon an, eigene Geschichte zu

verkaufen (Heimatmuseum)59.

Die inhaltlichen Wiederholungen werden vermieden zugunsten der Textwiederholung für die

Musik: das parodistisch gemeinte Sammeln von Details aus Claires Vergangenheit, durch das krampfhaft

versucht wird, der Milliardärin irgendwelche positiven Eigenschaften abzuringen, oder welche

Vergnügungen man zu ihrer Ankunft als Willkommen vorbereitet. Wir bekommen sie später in der Szene

der Versammlung im Goldenen Apostel zu hören. Das Streitgespräch mit dem Zugführer wird ebenfalls

gestrichen. Seine Entrüstung ist in der Oper mäßiger. Er traut sich nicht, die fremde Dame frech zu

beschimpfen, belehrt sie nicht, wie sie handeln soll, sondern mahnt dienstbeflissen. Claire, eine Dame von

Welt, läßt sich nicht herab zu Gesprächen mit solchen Leuten, sie hat Ehre und Stolz, Charakterzüge, die

die Oper verschärft. Es gibt keine verbindlichen Normen und Ordnungen für die Milliardärin. Mit den

Tausendern macht sie alles wieder gut. Der Oper fehlt auch seine schmeichelhafte Legalisierung ihres

Vorgehens.

57 Von Einem hatte sich gerade in dieser Zeit die Gelbsucht geholt und lag im Krankenhaus in Bern, seinem Geburtsort, Vgl. vE, S.239.58 Ebda, S. 243.59 Vgl. Besuch, S. 11.

13

Page 14: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Die schon erwähnte Szene im Goldenen Apostel, wo sich Bürgermeister und Lehrer über die

neuesten Geschehnisse unterhalten, über den frei laufenden schwarzen Panther. Es fehlt damit der groteske

Assoziationsvergleich zu Ills Liebesnamen und zur Metapher des Ill im Käfig, wo er von Männern mit

Gewehren verfolgt und getötet wird. Grotesk sind Ills und des Bürgermeisters Aussagen: einmal „Ill hat sie

im Sack“ und einmal „Ich habe sie im Sack“. Von der Szene in der „Peterschen Scheune“ braucht der

Polizist in der Oper nicht zu berichten. Wir bekommen es in der Szene Konradsweilerwald direkt

dargestellt. Die Liebesorte erinnern den Lehrer an Shakespeares Romeo und Julia. Noch einmal wird

dieser Titel auftauchen, und zwar in bezug auf Zigaretten, die Claire raucht (9. Szene, 86). Wiederum eine

groteske Situation.

Im Sprechstück werden die Bäume und die Natur von den Schauspielern nachgeahmt und gespielt:

„[...] um die etwas peinliche Liebesgeschichte, die sich in diesem Walde abspielt, der Annäherungsversuch

eines alten Mannes an eine alte Frau nämlich – in einen poetischen Bühnenraum zu stoßen, und so

erträglich zu machen“60. Dürrenmatt vermeidet damit die poetische, romantische Stimmung, um das Bloße,

Existenzielle, Parodistische ein wenig zu mildern. Es soll eine schauspielerische Leistung sein, die wieder

Illusion erzeugt, um sich etwas einbilden zu können, im Gegensatz zu Brecht, mit dem sich sowohl

Dürrenmatt als auch von Einem beschäftigt haben61. Die Oper besitzt nur einen Baum mit dicken Ästen, mit

eingeschnitztem Herzen und den Initialen der Vornamen Klaras und Alfreds. Die Musik macht die

Stimmung der Szene aus. Hier erfährt Ill von Claires Männern (6/8-Takt, a-moll, Allegretto). Es ist eine

Kompilation der Informationen, die im Sprechstück auf einzelne Balkonszenen verteil sind. Der II. Akt

wird dadurch einheitlicher, auf die Kunden im Laden konzentriert. Damit wächst die Spannung langsam

aber ununterbrochen gradlinig. Zachanassian ist nicht mehr zu sehen. Sie hat sich zurückgezogen und

wartet.

In der Oper ist die Rede von 8 Ehemännern, im Sprechstück von 9, auch die Reihenfolge ist

anders: im Libretto: Zachanassian, Tabakplantagenbesitzer, Lord Ismael, Modeschöpfer, Chirurg,

Westernrailway-Besitzer, Filmstar und Nobelpreisträger; im Sprechstück: Zachanassian, Railway-Besitzer,

Graf Holk, Lord Ismael, Modeschöpfer, Chirurg, Tabakplantagenbesitzer, Filmschauspieler und

Nobelpreisträger. Claire geht nicht so höhnisch, parodistisch abwertend mit ihren Gatten um wie im

Sprechstück.

In der Szene der Oper im „Goldenen Apostel“ fehlen Zachanassians an den Turner gerichteten

Worte: „Haben Sie schon jemand erwürgt mit ihren Kräften“62, so muß auch die Vermutung ausfallen, daß

Ill am Ende von dem Sportler erwürgt wurde, obwohl er auch in dem Kreis der Mörder erscheint. Es ist

eigentlich nicht so wichtig, wer diese Tat begangen hat. Das ganze Städtchen wurde zum Henker. Aus

dieser Szene wurden auch kleine Fragmente aus der Rede des Bürgermeisters herausgeschnitten, was das

60 Vgl. Nachwort zu Besuch, S. 101.61 Vgl. vE, S. 181-199.62 Vgl. Besuch, S. 29.

14

Page 15: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

ganze runder, aussagekräftiger macht. Die Schulden werden größer, Ill unruhiger, die Situation

zugespitzter.

Der nächste Strich betrifft die Szene, in der Ill angsterfüllt den Polizisten und den Bürgermeister

besucht, seine Befürchtungen zur Sprache bringt und zur Intervention aufruft, jedoch heuchlerisch

abgewiesen wird. Von dieser Prozession, dem Leidensweg eines einsamen hilfesuchenden Menschen

durch die Institutionen eines Rechtsstaates, ist nur die Szene des Gespräches mit dem Pfarrer in der

Sakristei geblieben. Alle Repräsentanten der Macht verraten ihn, da sie selbst korrumpiert sind, es kann

ihm nicht geholfen werden. Alle Amtspersonen sind bewaffnet, auch der Pfarrer, um den Panther zu

erschießen. Im Sprechstück ist dies ein Hinweis darauf, daß sie sich auch auf der Jagd nach Ill befinden:

„Mich jagt ihr, mich“63. In der Oper gibt es darüber keine Rede, deswegen erscheint das Gewehr des

Pfarrers, umgehängt und dann gegen die Wand gestellt, unerklärt und unmotiviert. Es gibt auch keine

schleichenden Gewehrmänner und keine Schüsse. Darin besteht eine Inkonsequenz, eine kleine

Vernachlässigung.

Die Abkürzungen in der Szene „Ills Flucht“ erzeugen größere Spannung. Die Handlung spielt sich

schneller ab, bis zur traurigen, verzweifelten Feststellung Ills: „ich bin verloren“(61). Dies stimmt mit

Zachanassians Worten in der 9. Szene überein: „Nun bist du umsponnen, nun bist du verloren“. (88)

Weggelassen wurde auch die Szene im Ills Laden, im III. Akt, wo sich Ill in sein Zimmer

zurückgezogen hat und von den Güllener bewacht wird. Es gibt in der Oper auch keine Journalisten im

Gespräch mit Frau Ill und den Güllener, die Theater spielen, um die Aufdeckung des wahren Sachverhalts

zu verhindern. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß sich Frau Mathilde Ills Abbildung kauft: „Alfred wird

alt. Da weiß man nie, was passiert und ist froh, eine Erinnerung zu haben“ (71). Von großer Bedeutung

scheint hier die Haltung des Lehrers zu sein, der versucht, die Mordtat zu verhindern, dadurch daß er die

Öffentlichkeit über die wahren Umstände informiert. Ill verhindert dies selbst und läßt sich noch mit der

Axt, die er jemandem überreicht, fotografieren. Für das Sprechstück ist die Szene sehr wichtig, denn der

Lehrer, der als einziger den künftigen Vorgang erkannt hat, fürchtet, daß auch er, der menschlichen

Schwäche zufolge, zum Mörder wird. Als Humanist – derjenige der am Anfang solche Witze gemacht hat

wie „der Gott zahlt nicht“ (12), „mit einer Kinderkrippe ist uns nicht gedient“ (13), der eine feierliche Rede

im Finale halten wird, fühlt er sich verpflichtet, Ill die Wahrheit zu sagen (78). Ill wird sein Leben als

Garantie des Wohlstands einbüßen müssen. Von der kleinen Selbstaufopferung des Lehrers ist in der Oper

nur die oben erwähnte Szene in der „Peterschen Scheune“ geblieben, wo der Lehrer samt dem Arzt eine

innige Bitte mit der Hoffnung ausrichtet, daß Zachanassian ihre Meinung ändert. Es wird auch eine sehr

wichtige Passage gestrichen, eine fürchterliche Voraussage des Lehrers: „Noch weiß ich es, daß auch

einmal zu uns eine alte Dame kommen wird, eines Tages, und das dann mit uns geschehen wird, was nun

mit Ihnen geschieht, doch bald, in wenigen Stunden, werde ich es nicht mehr wissen“ (78). Dies bleibt

natürlich in der Sphäre der Zukunft. Goertz erlaubt sich folgende Analyse: jeder Güllener erhält 100.000

Franken. Sie sollen bei dem neuen Lebensstil schnell ausgegeben werden (Wirtschaftswunder) und das

63 Vgl. Ebda, S. 50. und weitere in Klammern stehende Seitenzahlen.

15

Page 16: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Elend von vorne beginnen, nur noch schmerzlicher empfunden64. Auch in Die Mondfinsternis warnt Klara

vor einer solchen Menge Geld, die im Dorf Unruhe stiften wird. Man könnte noch spekulieren, daß sich der

Pfändungsbeamte ins Spiel mischt. Ill nimmt auf sich nicht nur eigene Schuld, sondern auch die Schuld des

ganzen Städtchens, das eigentlich kein Recht hat ihn zu verurteilen. Es grinste Klara nach, als sie es

verlassen hatte, durch den Meineid brachte man sie in Verruf. Noch jetzt spottet Mathilde zu Ill: „Klärchen

geht nicht aufs Ganze, ich kenne es, da hat es ein zu gutes Herz“ (79). Wird das Städtchen nicht das nächste

Glied in der Kette der Bestrafungen von Claire sein, was auch der Lehrer vermutet? Damit der Lehrer in

der Oper seine Erkenntnis und Selbsterkenntnis aussprechen konnte, hätte er, wie sehr treffend Briner

unterstreicht: „selbst einen ausgesprochenen, musikalischen Charakter erhalten und als solcher immer

wieder in das Gesamtgeschehen eingreifen [müssen]65“. Ill ist zwar auch in der Oper ein „verschmierter

Krämer“, was er selbst zugibt, aber nicht dumm („gedankenloses Mannsbild“66), nicht ruhig, sondern stolz,

mutig, seine Angst ist mehr nach innen gerichtet, er hat sie allein überwunden, dies ist die schöne

Baritonstimme Eberhard Wächters, die der Figur mehr Ehre erteilt. Ill wird zum Helden, sein Tod ist

monumental. Er erkennt nicht demütig seine Schuld, sondern unterwirft sich der Gemeinde aus

Ausweglosigkeit. In der Oper fehlt sein Geständnis der Schuld dem Lehrer gegenüber. „Ich habe Klara zu

dem gemacht, was sie ist und mich zu dem, was ich bin, ein verschmierter Krämer. Was soll ich tun, Lehrer

von Güllen? Den Unschuldigen spielen? Alles ist meine Tat, die Eunuchen, der Butler, der Sarg, die

Milliarde. Ich kann mir nicht mehr helfen und auch euch nicht mehr“ (77). Klarer scheint jetzt zu sein,

warum die Szenen mit dem Polizist und dem Bürgermeister fehlen. Seine Angst ist mehr innerlich als

öffentlich. Die Kirche soll die Intimität des Menschen bewahren. Er ist in der Oper nur zum Pfarrer

gekommen wie zur Beichte, um sich Rat zu holen, seelische Erleichterung zu erhalten. Als eine natürliche

Folge kommt Ill nach dem Gespräch mit dem Bürgermeister, der ihn zum Selbstmord überreden will,

siegreich. Er tut der Gemeinde kein Gefallen damit. Sie werden ihn öffentlich verurteilen müssen. In dieser

Szene findet sich ein kleines Fragment von der gestrichenen Szene „Ills Besuch beim Bürgermeister“.

Gestrichen wurde auch die Szene der Autofahrt, währenddessen die ganze neureiche Familie schön

gekleidet, im neuen Mercedes die Stadt bewundert. Besonders Ill sieht den herankommenden Wohlstand,

den er in seinem ganzen Leben nicht erreichen konnte, ihn freut die gedeihende Stadt, die er zugleich zum

ersten und letzten Mal sieht. Zumindest wird seine Familie gut leben können.

Es gibt auch kleinere jedoch wesentliche Veränderungen in der Oper: es gibt keinen Maler (diesen

Vorschlag macht Dürrenmatt selbst im Nachwort67), kein Fräulein Luise, keinen Radioreporter, der in der

Schlußszene die Handlung verkehrt kommentiert, keinen Pressemann II. Es gibt keine einzelnen Bürger,

diese Rolle hat der gemischte Chor übernommen. Manche Figuren sind stumm, wie der Pfändungsbeamte

oder der Küster. Ill erfährt erst im Laden, daß die Medien bei der Versammlung sein werden und nicht

64 Vgl. H. Goertz, S. 75f.65 Vgl. A. Briner, S. 255f.66 Vgl. Nachwort, S. 102.67 Vgl. Nachwort, S. 103.

16

Page 17: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

durch die gestrichene Szene mit dem Bürgermeister, wie es im Sprechstück der Fall ist. Die Vorstellung der

Enkelkinder des Bürgermeisters scheint nicht so wichtig zu sein.

Das Finale wurde ganz gestrichen, doch diesen Aspekt besprechen wir bei der musikalische Analyse.

4. Musikalische Analyse der Oper

Die Oper braucht einen langen Weg, bis sie entsteht. Es dauert manchmal sehr lange, bis der

Komponist den richtigen Stoff gefunden hat, durch eigene Überlegungen oder Anregungen der Freunde,

wie es bei von Einem fast immer der Fall war68. Selten gestaltet der Komponist eigene Libretti, wie z. B.

Richard Wagner oder auch Boris Blacher. Solche Librettodichter im Sinne Hugo von Hofmannsthals gibt

es in der Musikgeschichte nur selten. Die Urheberrechte auf den Text müssen noch geregelt werden, was

auch nicht selten Schwierigkeiten bereitete, z.B. im Falle Ionescos Nashörner, obwohl ein fertiges Libretto

von Blacher und von Einem schon vorbereitet wurde69. Bei lebenden Autoren schien die Sache noch

schwieriger zu sein, wovor auch Blacher von Einem bei der Alten Dame gewarnt hatte. Erst dann machte

sich die Phantasie des Komponisten ans Werk. Von Einem mußte die Gestalten, ihr Aussehen - den Blick,

ihre Gebärden, ihr Verhalten und ihr Äußeres erst sehen und hören. Er beobachtete z.B. auch gerne das

Publikum im Theater oder im Konzert: „Alle meine Opern entstanden aus der Anschauung der Menschen

und aus ihrem Gestus“70. Der Text muß gründlich durchdacht werden, ein paar Skizzen über Taktarten,

Tempi und Tonarten für die ganze Oper gesetzt, bis er anfängt zu komponieren71. Dürrenmatt geht es

ähnlich: „Schreiben ist gespenstisch: Es nützt gar nichts, eine gute Seite zu schreiben, man muß immer das

Ganze vor sich haben72“. Manchmal bedrohen oder helfen dem Werk künstlerische Pausen, sogar bis zu

einem halben Jahr bei von Einem, die dieser als „Perioden der Unproduktivität“73 bezeichnete. Die Musik

übernimmt die Funktion des Wortes (322), obwohl der Komponist das Libretto nicht geringschätzt: „Eine

Oper ist so gut wie ihr Text“ (312). Für von Einem ist auf jeden Fall die Musik wichtiger (246), obwohl

nach seiner Meinung der Text ein entscheidender Faktor für das Bestehen oder Nichtbestehen einer Oper

sei (239). Oft hatte den Komponisten eine bestimmte Gestalt zur Vertonung angeregt, wie Robespierre

(125), Joseph K. (203), Giordano Bruno (312), Kathi (221), Claire Zachanassian (237), Luise (266), oder 68 Vgl. vE, S. 124, 200, 217, 297, 311. 69 In seiner Autobiographie erwähnt von Einem mehrere Stoffe, die nie zu Opern werden konnten. Darunter Romeo, angeregt durch das gleichnamige Stück von Heinrich Suttermeister, aufgeführt in Berlin, von Einem spielte dabei Celesta. (321) Blacher hat jedoch in der Nacht ein Liebesduett daraus komponiert. Mit Brecht sprach von Einem über Von den Freunden und Leiden der größeren und kleineren Seeräuber (322), aber die Meinungsunterschiede trennten die beiden. Brecht war dafür, daß alle Worte verstanden sein müssen, von Einem jedoch gar nicht. Ebenfalls konnten auch folgende Stücke nicht zu Opern werden: das schon erwähnte Stück von Ionesco (322f), Der Drache von Jewgenij Schwarz, wegen des Schlusses mit dem erscheinenden Schwan. Nach Wagner wäre dieser Eingriff nicht mehr möglich. (324f) Weiter war es Carl Zuckmayers Bellmann, dies hatte, wie von Einem bemerkt, Zuckmayers Frau Alice Herdan verhindert, und Der Rattenfänger von Hameln. Zu diesem Stück entstand nur die Bühnenmusik, die jedoch, bei der Aufführung in Zürich von einem tschechischen Regisseur ganz herausgeschnitten wurde.(326f)70 Vgl. vE, S. 267.71 Ebda, S. 218.72 Vgl. D. Fringeli, o.S. 73 Vgl. vE, S. 272 und weiteren die in Klammern angegebenen Seitenzahlen.

17

Page 18: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

ein bestimmter Klang. Dann kommt es zur Uraufführung, an der das ganze Team eines Opernhauses

gearbeitet hat74. Erfolg oder Mißerfolg entscheidet über die Zukunft des Stückes. Oft sind es Kritiker,

Rezensenten und Medien, die die Meinung des Publikums prägen. Dieser Sachverhalt gilt nicht nur für

musikalische Werke, sondern für alle künstlerischen Schöpfungen. Manchmal sind die Absichten des

Autors nicht wahrgenommen, oder verkehrt interpretiert, wie z.B. bei Jesu Hochzeit (294-303). Das harte

Leben eines Opernkomponisten – wie schon damals Mozart, von Einems größtes Vorbild.

Die „Alte Dame“ ist Dr. Erwin Thalhammer, dem damaligen Leiter der Bundestheaterver- waltung

gewidmet. Alle Werke von Einems tragen eine Widmung: Dantons Tod ist Boris Blacher gewidmet, Der

Prozeß dem Gymnasialdirektor von Ratzeburg Carl Christian Jensen und Dr. Oskar Pfister, dem Zürcher

Psychoanalytiker und Theologen, Der Zerrissene Frau Lianne von Bismarck, von Einems erster, 1962

verstorbener Frau.

4. 1. Primat der Musik

Die Musik begleitet nicht, sie ist oft mit den Figuren und dem Geschehen verzahnt. Rhythmik und

Harmonik entwickeln sich aus dem Tonfall der Sprechmelodie. Sie weiß mehr als das Wort, kennt schon

die ganze Handlung, daher kann sie die motivische Arbeit schon im 1. Bild des I. Aktes bedeutungsvoll

gestalten. Sie drückt das Unbewußte aus – das Phänomen, das Hofmannsthal erkannt und bewundert hatte,

so daß er an Strauss schrieb: „Nur gibt mir ihre Musik dann noch etwas sehr Schönes dazu, etwas, was

natürlich weit mehr ist, als Schauspieler und der Dekorationsmaler mir jemals dazugeben können“75. Von

Einem verwendet keine absoluten Formen, weil es T h e a t e r m u s i k ist, wie er selbst unterstreicht76.

Sie bringt das Leben auf der Bühne zum Blühen. Diese Art der Musik kann gut mit dem bühnenwirksamen

Dürrenmattschen Stück korrespondieren, was bei „Die Mondfinsternis“ bestimmt nicht möglich gewesen

wäre. Der musikalische Konservatismus von Einems zeichnet sich durch die Einheit schaffende

T o n a l i t ä t aus. Bei Blacher erlernte der Komponist den regelrechten klassischen Kontrapunkt

(Formen- und Harmonielehre, 95). Die Zwölftontechnik hatte er im Prozeß ausprobiert, aber dann doch

gelassen. Geblieben ist davon die Zwölftonreihe im ersten Bild der Oper (205). Von Einems Vorliebe für

Mozart zeichnet sich durch einen durchsichtigen Orchestersatz, vielgestaltig kunstvolle thematische Arbeit

aus, ist aber keine Nachahmung des großen Meisters. Sie ist allmählich eingetreten, nachdem Der Prozeß

komponiert war. „Einems Musik wirkt nun ausgeglichener, freundlicher und freudiger; ihre Diktion

erscheint flüssiger und leichter, ihre rhythmische Vitalität beginnt sich zu entspannen und verliert das

Ungestüme, manchmal etwas Verkrampfte der früheren Werke. Das Subjektive des Ausdrucks weicht mehr

und mehr einem besinnlichen Moment, in den langsamen Sätzen tritt das Meditative stark hervor“77. Es

74 Von Einem arbeitete oft mit der gleichen Besetzung: als Bühnenbildner Caspar Neher, nach seinem Tod Günther Schneider-Siemssen, Inszenierung von Otto Schenk oder Günther Rennert, Kostüme von Leo Bei. Nur unter oft wechselnder musikalischer Leitung: O.F. Schuh, Otto Klemperer, Karl Böhm, Horst Stein, Ferenc Fricsay, Wolfgang Sawallisch, Christoph von Dohnány, Giancarlo del Monaco.75 Vgl. Hofmannsthal-Strauss Briefwechsel, hrsg. von Willi Schuh, 5.erw. Aufl. Berlin 1978, S. 35.76 Vgl. vE, S. 242. Die folgenden Seitenzahlen stammen ebenfalls aus diesem Werk.77 Vgl. D. Hartmann, S. 37.

18

Page 19: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

bedeutete auch ein bewußtes Hinwenden zu klassischen Formen, z.B. der Symphonie. Tonalität und das

klassischen Sprechstück passen zueinander. Alle Opern von Einems sind tonal. In der Oper sind sowohl

Akustik (Sprache, Musik), als auch Visuelles (Mimik, Gestik, Choreographie, Bühnenbild, Kostüme) von

großer Bedeutung. Regieanweisungen werden zum Bildhaften. In von Einems Opern ist die Beziehung

zwischen dem Bild und der Musik sehr wichtig. Das Unsichtbare wird sichtbar, das Drama, das für die

Bühne bestimmt ist, in ein anderes Medium transponiert, in die der Musik.

4. 2. Primat des Gesangs und die Rolle des Orchesters

Von Einem kennt die Möglichkeiten der Stimmen, obwohl er nie Gesangstunden genommen hat,

aber vielen Gesangunterrichtsstunden beiwohnte78. In der Oper werden die Stimmen hervorgehoben, die

Melodik der Singstimmen ist durchaus selbständig, das Orchester begleitet sie ruhig, weich und

ausgewogen. Die Stimme darf nicht zugedeckt werden durch das Orchester. Deswegen achtet von Einem

darauf, sich bei der Instrumentierung beherrschen zu müssen. Orchesterklänge dürfen nicht dominieren.

Horst Stein führt das Orchester sehr gut, gedämpft und leicht. Der Komponist hat seine

Lieblingsinstrumente, Holzblasinstrumente insgesamt, darunter besonders die Klarinette79. Er bevorzugt

ebenso gedämpfte Trompeten, was möglicherweise seinem Interesse am Jazz zugeschrieben werden kann.

In der Oper sind auch viele und schöne Stellen, wo die Blasinstrumente dominieren. Die Besetzung der

Stimmen ist interessant. Von Einem räumt den niedrigeren oder charakteristischen Stimmlagen wichtige

Rollen ein: es gibt zwar 7 Tenöre, darunter aber nur zwei von großer Bedeutung für die Oper, ein

Spieltenor (Butler) und ein Heldentenor (Bürgermeister), dann aber 3 Bässe und 6 Baritone (Ill, der Arzt,

der Lehrer), darunter 3 Baßbaritone (der Polizist, der Pfarrer), ein Mezzosopran in der Hauptrolle, und 4

Soprane, darunter ein lyrischer. Im Chor sind alle 4 Stimmlagen vertreten.

Orchester ist ebenfalls wichtig, weil sich die Hauptmelodie in ihm befindet. Es ist die texttragende

Melodie als Stimme unter Stimmen. Von Einem ist es wichtig, das Orchester zu kennen, für das er das

Werk schreibt80. Alle seine Opern sind Auftragswerke81. In allen Opern verwendet von Einem eine ähnliche

Orchesterbesetzung (in der Alten Dame: 2 Flöten, Piccolo, Oboen, 2 Klarinetten in B, 2 Fagotte, 4 Hörner

in F, 3 Trompeten in C, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Streicher, als charakteristisches Merkmal für diese

Oper: reiches Schlagwerk: Militär-, Rühr-, und Große Trommel, Tam-Tam, Becken, Tamburin, Triangel,

dann Glocken: Bahnhofsglocke, Feuerglocke, Kirchenglocke und Gitarre. Meisterlich werden die

Zuggeräusche vom Orchester erzeugt, so daß die parodistischen Elemente durch die Musik verstärkt

werden, z.B. die erste und zweite Rede des Bürgermeisters, die durch bremsende Schnellzüge unterbrochen

werden.

Zu den Merkmalen der Opernmusik von Einems zählt auch eine vorherrschende Syllabik, wobei

oft sogar auf einer einzigen Note viel Text gesungen wird, z.B. Clara in der 3. Szene: „Ich will die 78 Vgl. vE, S. 207.79 Ebda, S.387f.80 Ebda, S. 123 und 211.81 Die Alte Dame wurde im Auftrag der Wiener Staatsoper geschrieben. Vgl. vE, S. 244.

19

Page 20: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Bedingung nennen“ mit kleinen Abweichungen um eine kleine Sekunde oder der Butler in derselben

Szene: „Ich weiß nicht, ob mich noch jemand erkennt“ und sehr viele andere Bespiele. Von Einem

unterläßt „billige“ musikalische Assoziationen, z.B. in der 1. Szene, in der über Brahms’ Quartett

gesprochen wird, oder in der 7. Szene Bachs Matthäuspassion, von deren Aufführung im Dom berichtet

wird, werden nicht nachgeahmt. Keine Volkslieder werden durch das Orchester untermalt und

wiedergegeben, etwa in der 9. Szene, wo Roby Gitarre spielt: „Im afrikanischen Felsental marschiert ein

Bataillon“ und „O Heimat süß und hold“.

Die Anordnung der Anfangstöne erzeugt einen gewissen Bezug. Es ist ein thematisches sowie ein

Form- und ein Kompositionsproblem82. Aus der harmonischen und variationsfähigen Grundlage wurde eine

thematische Basis für das ganze Stück. Die Tonarten der Oper bilden einen fast regelmäßigen Gang

abwärts in Terzen: a (D, As, Es) F D (a, F) H g Es. Die Tempi sind ebenfalls charakteristisch.

Es sind überwiegend spannungshaltende Allegri in Schattierungen, Allegro-Adagio. Am mannigfaltigsten

variieren sie im III. Akt: Allegro-Moderato-Andante-Adagio. Das schnelle Tempo unterstreicht die

spannende Handlung und führt zu dem Haupthöhepunkt der Oper, Ills Ermordung, die nur bei der

Begleitung des Schlagwerks vollbracht wird, und mündet ins wirre Allegro der Tanzszene.

Die „Alte Dame“ ist in 3 Akte und 10 Szenen geteilt. Der I. und II. Akt bestehen aus 3 Szenen, 2

Zwischenspielen und einer Einleitung, der III. aus 4 Szenen, einer Einleitung und 3 Zwischenspielen. Die

Akte und Szenen sind von unterschiedlicher Größe. Ihre Konstellation ist sehr symmetrisch. Die Szenen

sind betitelt, korrespondieren miteinander inhaltlich und musikalisch: (1. Szene) Bahnhof I mit (6.)

Bahnhof II, (2.) Konradsweilerwald I mit (9.) Konradsweilerwald II, (3.) „Goldener Apostel“ mit (10.)

Theatersaal im „Goldenen Apostel“, (4.) Spezereihandlung I mit (8.) Spezereihandlung II, (5.) Sakristei

und (7.) „Petersche Scheune“ bilden eine Art Verbindung, die den dramatischen Höhepukt steigert. Damit

wurde der Oper eine gute, sichtbare Struktur gegeben. Dantons Tod und Der Prozeß sind ebenfalls

Nummernopern. Die Alte Dame wurde in 10-taktige Phrasen geteilt. Eigene Phrasen besitzen die

Zwischenspiele (jeweils 2, Zwischenspiel II. 3), eigene auch jede Szene und Einleitung (jeweils 2). Die

erste Szene besitzt 61 Phrasen, die zweite 34, die dritte 73. Der I. Akt zählt also 174 Phrasen. Die vierte

Szene hat 32 Phrasen, die fünfte nur 9, die sechste 18, so daß der II. Akt 66 Phrasen zählt. Der III. Akt ist

am umfangreichsten, 180 Phrasen: für die siebte Szene 23, für die achte 49, für die neunte 35, und die

zehnte 65. Charakteristisch ist ein häufiger Metrumwechsel, sogar innerhalb derselben Phrase, wo

verschiedene Stimmen ihre Partien singen. Die Bilder werden durch kurze Instrumentalintermezzi

voneinander abgegrenzt. Es gibt insgesamt sieben Zwischenspiele, von unterschiedlicher Länge. Sie

beruhen auf dem Rhythmus des fahrenden Zuges 1/4, 2/8, 2/8, 1/4. Im V. Zwischenspiel kommen

symphonische Sätze noch dazu. Es ist eine heitere, lustige Melodie, als ob sie schweben würde, denn einen

richtigen Schluß gibt es nicht. Im VI. Zwischenspiel sind die Blechbläser (auch Hörner) in As-Dur (im 3/4-

Takt) charakteristisch, dies ist auch das längste Zwischenspiel. Beachtung verdient das VII. Zwischenspiel

82Von Einem bezeichnet diesen Vorgang als seine alte Technik, S. 243.

20

Page 21: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

(Allegro ma non troppo), mit großer Beteiligung der Blechbläser. Der Rhythmus ist synkopisch (ein wenig

an das Zugmotiv erinnernd), das in ihr präsentierte, melodische Motiv, war schon vorher erwähnt. Dieses

Zwischenspiel übernimmt die Rolle der melodischer Szeneneinleitung, die wiederum nur rhythmisch ist.

Die Zwischenspiele sind selbständig konzertant aufführbare, sehr kurze Instrumentalstücke,

obwohl sie in gewissem Bezug zu den jeweiligen Szenen stehen, auch in der Tonart und im Tempo. Die

anderen Nummern sind auch sprachlich und musikalisch in sich geschlossen. Wozu ist ein Zwischenspiel

nötig? Es schafft Einheit und Verbindung beim Themenwechsel oder beim Umzug des Geschehens.

Die die Oper eröffnende Einleitung im Sinne einer Ouvertüre ist der absolute Rhythmus, der sonst

in der Oper eine sehr wichtige Rolle spielt, es beteiligen sich daran solche Schlagzeuge wie Rühr- und

Große Trommel und Pauken, dann treten allmählich die anderen Schlagwerke hinzu: Tamburin, Becken,

Trommel, Tam-Tam. Alles fängt in pp an, crescendiert jedoch, wird mehr akzentuiert, bis die

Bahnhofsglocke ertönt. Der Vorhang ist inzwischen schon oben. Die Szenen wechseln durch Verdunkelung

des Bühnenlichtes.

Die zweite Einleitung ist sehr kurz, im 3/2-Takt und Allegro. Charakteristisch ist die tiefe

Begleitung des Basses auf ‚es‘, nur durch Schlaginstrumente gespielt (Pauken, Becken, Tamburin, Militär-

und Große Trommel), ganz in pp bis ƒ. Sie spiegelt die stille, zunehmende Verschwörung gegen Ill wieder.

Die Einleitung zum III. Akt (ebenfalls Allegro im 4/4-Takt) beginnt im ƒƒ an und diminuiert in ein pp, alle

Schlagwerke sind beteiligt.

Die Alte Dame ist eine Nummernoper, jedoch keine im Sinne der alten Nummernopern. Es gibt

keine Arien, dafür jedoch Solopartien: Claires „Das Leben geht noch weiter, aber ich habe nichts

vergessen“ (in F-Dur und 4/4) in der 3. Szene endet mit nur einem Schlag der Großen Trommel. Dadurch

schwebt die Stimme der rachsüchtigen Milliardärin, die die grauenvolle Wahrheit enthüllt, allein noch

durch den Saal. Wie kontrastreich ist dann die lyrische, resignierte, langsame Partie des Bürgermeisters

(3/4-Takt, D-Dur), der im Namen des Städtchen das Angebot ablehnt. Diese bewußten Brüche sind für die

Oper charakteristisch, man könnte die Nummern noch in kleinere teilen, als sie jetzt sind. Clara erwidert

entschlossen ihr eintöniges: „ich warte“ auf ‚f²‘. Die Szene endet auf der Tonika D-Dur. Daß die Szenen

entweder auf der Tonika oder Dominante enden, ist ebenfalls charakteristisch für die tonale Alte Dame.

Eine weitere meisterhafte Solopartie des Mezzosoprans finden wir in der 7. Szene „Es war Winter

einst“ (im 3/2- und 2/2-Takt). Ill singt in der 8. Szene, nachdem er seine Angst überwunden hat: „Ich bin

durch die Hölle gegangen“, der Bürgermeister in seiner Rede an die Güllener in der 3. Szene und der

Pfarrer in der Sakristeiszene „Flieh!“. Es gibt keine Rezitative, außer kleinen gesprochenen Stellen, die den

Inhalt verdeutlichen und damit einen stärkeren Eindruck machen: Claire im I. Akt im „Goldenen Apostel“:

„Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet“, im III. Akt der Arzt: „Das ist doch

ungeheuerlich“, der Bürgermeister: „Wer reinen Herzens die Gerechtigkeit verwirklichen will, erhebe die

Hand“ begleitet vom Triangel, und der Pressemann: „Was ist denn hier los“. Die Oper besitzt keine

Ensembles, außer einem kurzen Duett zweier Frauen und einem ebenfalls kurzen Quartett (Variation des

21

Page 22: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

am Anfang der Szene durch das Orchester vorgestellten Motivs im 6/8-Takt) der Kunden in Ills Geschäft

(4. Szene): „wir stehen zu unserem Ill felsenfest“. Es gibt jedoch Chöre. Der Chor verkörpert die

korrumpierte Gesellschaft. In der 1. Szene (Bahnhof I) besteht er aus Tenören und Bässen. Der Chor führt

uns in die Situation des Städtchens ein. Alles ist ruiniert, das Leben ist für seine Bewohner reines

Vegetieren. Es gibt oft anhaltende Töne auf ‚e‘, oder chromatische Gänge auf- und rückwärts in den

Singstimmen und im Orchester, staccato und legato abwechslungsweise. Streicher und Flöten folgen dem

chromatischen, schnellen Abgang, bei den Worten „höchste Zeit, daß die Milliardärin kommt“ erklingen

die Bläser im nervösen staccato. Direkt bei der Ankunft des Zuges verstärken sich die chromatischen,

schnellen Bewegungen der Streicher und die Akkorde der Bläser. Oft hat der Chor der Güllener reine

Wiederholungsfunktion, wie in der „Fluchtszene“ und im Finale. In Konradsweilerwaldszenen haben wir

einen Frauenchor und Tenöre mit Summen. Es ist eine einfache, lyrische Melodie. Die Alte Dame ist der

Form nach eine gemischte Oper, allerdings dem Text gemäß aufgeteilt83. Die beide Bahnhofszenen sind

Scherzi, beide im Metrum 4/4, einmal a-moll, einmal G-Dur, beide Allegro, in beiden ist die

Bahnhofsglocke hörbar, in beiden erscheint das Zugmotiv durch Blasinstrumente – Trompeten, Posaunen,

mit ‚e‘ im Violinschlüssel (die Dominante der Oper, die sich gerne zur Tonika ‚a‘ entwickelt) und ‚f‘ im

Baßschlüssel, bei noch andauerndem Klang der Bahnhofsglocke und des vorbeirasenden Expresszuges

gespielt. Die Güllener schauen zu: im Baßschlüssel erscheint ein kleines melodisches Motiv dis-e-f-e „das

einzige Vergnügen“ der Stadtbewohner. Mit den Zügen kommt von außen eine höhere Macht und das

Verhängnis des Städtchens. Diese Szene ist im ƒƒ notiert und besitzt viele crescendi. Es gibt chromatische

Bewegungen, z.B. das f-fis-g-gis im Baßschlüssel, das dann weiter das Register wechselt und im

Violinschlüssel a-ais-h-c-cis-d-dis-e-f zur Oktave höher weitergeführt wird. Das Leitmotiv der Oper f-e-

dis-c-h-ais-f-e erscheint auch variiert: f-es-c-h-gis-g, oder h-gis-g-fis-f-d-cis. Die Musik erlaubt die

Gleichzeitigkeit. Sie vermag es, Texte übereinander zu schichten. Man kann verschiedene Personen sich

gleichzeitig ausdrücken lassen, wie in der 1. Szene der Chor. Es ist eine Zeitersparung in der Handlung, ein

weiterer Vorteil des Librettos.

4. 3. Die Motive

Die Motive entsprechen dem Thema, den Personen und den Ereignissen. Sie werden zu Themen,

diese großen musikalischen Komplexe ähneln den symphonischen Sätzen. Die Melodie in allen Opern von

Einems ist ein dichtes Motivgewebe durch Analogie und Spiegelungen aufgebaut84. Das vom Tenor mit

starkem Vibrato gesungene „Güllen“ nennen wir das Motiv des Kondukteurs oder das der Ankunft. Das

durch eine Fermate verlängerte, ‚dis‘ erzeugt einen gespenstischen Eindruck. Dieses Motiv finden wir in

der 1. Szene bei der Ankunft Claires, in der 6. Szene, wo Ill zu fliehen versucht und in der Schlußszene, wo

der Lehrer zur Versammlung spricht. Immer beim Auftritt des Bürgermeister erscheint ein

charakteristisches Motiv im wechselnden staccato, unterstrichen noch durch den Heldentenor von Heinz

83 Vgl. vE, S. 268.84 Die Benennungen der Motive stammen von der Autorin [M.K.]

22

Page 23: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Zednik: „Millionen, das ist genau die richtige Auffassung“. Die Musik spiegelt sehr deutlich den Spott

wider. Besonders schön sind die lyrischen Stellen der Oper. Sie spiegeln Momentaufnahmen der

psychische Verfassung der Figur wider, wie z.B. das Erinnerungsmotiv, oder auch Clairemotiv

(Intervallfolge der Streicher kl. 7. gr 2. gr. 6 im 9/8-Takt, As-Dur, Adagio)85. Man darf aber nicht

vergessen, daß diese Stellen stark parodistische Züge besitzen, wie im Stück von Dürrenmatt. Der Lyrismus

ist spöttisch gemeint und bedeutet eine Falle für den Zuhörer. Man darf sich von ihm nicht verführen

lassen86. Schauen wir uns näher die 5. Szene, die Sakristei an, ebenfalls sehr lyrisch in g-moll, Adagio und

im 4/4-Takt, sogar ins Pathetische übergehend. Die langsame 32stel-Bewegung war schon in der

vorherigen Szene vorhanden (gr. 7). Diese Szene wirkt, durch die Musik belebt, viel stärker als im

Sprechstück. Der Baß-Bariton des Pfarrers donnert abwechselnd mit der neuen riesigen Glocke des

Münsters. „Flieh!“ im ƒƒ klingt gefährlich und pathetisch. Erinnert dies nicht an die Ankunft des Komturs

während des Abendessens im Don Giovanni? Droht Ill nicht der nahende Tod? Auch die Hölle wird in der

Oper mehrmals erwähnt: „Ich bin durch die Hölle gegangen“, sagt Ill im Gespräch mit dem

Bürgermeister87, und in der 1. Szene im Konradsweilerwald wendet sich Ill an Claire: „Ich lebe in einer

Hölle, seit du von mir gegangen bist“, worauf sie aufgeregt erwidert: „Und ich bin die Hölle geworden“88.

Unübersehbar ist das „amerikanische“ Motiv – als Kommentar zu den zwei Gangstern aus

Manhattan, die von Claire vom elektrischen Stuhl freigekauft wurden. Es gibt in der Oper nur ein einziges

mal ein hervortretende Jazzelement, das ja auch, wie die Gangster, aus Amerika stammt.

In der Oper gibt es wenige synchrone Partien. Ein Meisterstück ist der syllabisch synchrone

Zwiegesang der beiden Eunuchen – Tenöre in Terzen. Dieses Eunuchenmotiv wird im Orchester folgend

durch die Flötenbegleitung angedeutet g-fis-g-a-g-fis, was einen fröhlichen, leicht spöttischen Eindruck

macht. In der Szene in der „Peterschen Scheune“ taucht ein kurzer Gesang des Lehrers und des Arztes

(Baritone) auf, in kleinen Sekunden und Terzen gesungen, und in der Spezereihandlungszene der

Zwiegesang des Hofbauers mit Helmesberger (Tenor und Bariton).

Ein wichtiges Motiv, als ein dramaturgisches Moment, das in allen Opern von Einems erschient, ist

das Gerichtsmotiv, z.B. Danton wird zum Tode verurteilt, Josef K. zur Kastration, Ill zum Tode, Jesus zur

Kreuzigung, Bruno zum Scheiterhaufen. Ein Gericht gliedert sich in drei Vorgänge: Anklage, Verteidigung

und Verurteilung. Das in der Alten Dame vorgestelltes Gericht ist besonders, weil sich Ill weder verteidigen

kann noch will, es gibt auch keinen Verteidiger, außer dem warnenden Lehrer, den es ohnehin in der Oper

nicht gibt. Die öffentliche Anklage Ills ist durch den düsteren, die Spannung steigernden Klang der

Streicher in a-moll und im 3/4-Takt im Wechsel mit dem 2/4-Takt begleitet, a-d-c-h-a in

Sechzehntelbewegung und dem Akzent auf dem ‚a‘, der ersten Note. Für von Einem ist das häufige

Auftreten dieses Motivs „ein wunder Nerv“89. Der Komponist gesteht: „Ich schrieb nie eine Oper, die nicht 85 Vgl. vE, S. 26.86 Die Beispiele findet der Leser auf Seite 12f. dieser Arbeit. 87 Vgl. Besuch, S. 88.88 Ebda, S. 2689 Vgl. vE, S. 201. Vgl. S. 8 dieser Arbeit.

23

Page 24: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

ihren direkten Bezug zur Zeit gehabt hätte [...] insofern sind meine Opern Notate der Zeit“,

Widerspiegelung der Kriegserlebnisse, es ist auch eine Kritik der beobachteten Gesellschaft.

4. 4. Die korrespondierenden Szenen

Wenden wir uns den Ähnlichkeiten der korrespondierenden Szenen zu. Die 2. und 9. Szene spielt

jeweils im Konradsweilerwald. Beide sind Adagios, beide in Allegro moderato, beide im 4/4-Metrum,

einmal F-Dur, einmal Es-Dur. Dem Ort entsprechend erklingt oft in beiden Szenen das Waldmotiv durch

die Waldhörner, wie es schon in der romantischen Bedeutung der Ton- und Stimmungsmalerei war, und die

Tuba beteiligt sich melodisch. Beide Instrumente klingen gedämpft, lieblich und ruhig. Dem am Anfang

vorgestellten Waldmotiv schließt sich der weibliche Chor mit der einfachen, lyrischen, an die Volksweise

erinnernden Melodie. Auch Tenöre unterstützen den leisen, echohaften Gesang des Chores im Summen auf

‚c‘. Die Szenen bekommen durch Anfangs- und Schlußakkorde auf Dominante Subdominante Tonika

einen musikalischen Rahmen. Das Waldmotiv begleiten die Vogelrufe von Kuckuck und Specht. Sie

werden nicht so transparent künstlich von den Schauspielern nachgeahmt wie im Dürrenmattschen Stück,

sondern vom Orchester sehr gelungen und natürlich imitiert. In der 9. Szene erscheinen im 9/8-Takt a-moll

Gitarrenklänge. Die Allegretto-Ballade wird vom Fagott begleitet, während Claire von Genevieve erzählt.

Bald ertönt ein neues Gitarrenspiel im 3/2-Takt (Es-Dur, Andante), während Ill sagt: „Ich danke Dir für die

Kränze, für die Chrysantheme“. Das lyrische Gitarrenthema wird durch die Trompeten wiederholt. Von

Einem arbeitet mit Kontrasten, schon wieder ändert sich völlig die Stimmung der Szene, nachdem Claire in

Zorn ausgebrochen war. „Der Nobelpreisträger kommt von seiner Ruine“90. Nun spielen die Trompeten

wieder ihr heiteres Allegro, damit Ill und Claire sich wieder lyrisch verabschieden können. Ähnliche

Bezüge kann man in der 4. Und 8. Szene (Spezereihandlung I und II) erkennen. Beide Allegro, 3/4, einmal

in H-Dur, einmal in A-Dur. In beiden ist das staccato oft präsent. Beide Szenen erfahren eine Steigerung

der Spannung vom p bis zum ƒƒƒ, was die Verdichtung der Streicher zur Folge hat. In der ersten der beiden

Szenen wird sie durch die neuen Schuhe Helmesbergers ausgelöst. Ill fühlt sich bedroht und gerät

allmählich in Aufregung: „Womit wollt ihr zahlen“91. Die zweite Szene beginnt heiter, Ill beschäftigt sich

mit der neuen Kasse, bevor die Familie sich auf die gemeinsame Autofahrt begibt. Erst im Laufe des

Gespräches mit dem Bürgermeister, der Ill den Selbstmord aufzwingen wird, spricht Ill von seinem

Entschluß, sich der Gemeinde unterzuordnen. Wieder verdeutlicht die Musik die Parodie der Szene. Die

lächerlichen Worte des Bürgermeisters „Ein gewisses Ehrgefühl glimmt noch in Ihnen“92 werden durch die

spöttisch klingenden Sechzehnteltriolen der Blechbläser (Posaunen), das wechselnde Metrum von 4/4- auf

3/4-Takt in L’istesso tempo und wieder 4/4-Takt begleitet. Ill wird noch die letzten Stunden seines Lebens

nutzen. Der Bürgermeister geht zornig weg: „Schade. Sie verpassen die Chance sich reinzuwaschen, ein

90 Vgl. Besuch, S. 89.91 Ebda, S.45.92 Vgl. Besuch, S.81.

24

Page 25: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

halbwegs anständiger Mansch zu werden. Doch das kann man ja von Ihnen ja nicht verlangen“93.

Wiederum kommt es zum Stimmungswechsel. Die Familie ist schon auf die Autofahrt vorbereitet. Auch

diese Szene hat ihr durch das Fagott und die Flöte leicht gespieltes Motiv.

Bevor wir uns der Finalszene zuwenden, schauen wir uns die 7. Szene in der „Peterschen Scheune“

an. Die Es-Dur-Szene gehört zu den wenigen Szenen mit langsamem Tempo (Moderato molto, 4/4, pp).

Vieles wird eintönig gesungen, dies hat etwas Verhängnisvolles an sich. Auch lyrische Stellen sind

vorhanden. Im Mittelpunkt steht die Bitte des Lehrers und des Arztes an die Milliardärin, sie möge ihr

Vorhaben ändern, ein Geschäft wird ihr angeboten, das sie jedoch nicht annehmen kann, weil ihr ohnehin

schon alles gehört. Die Szene fängt im ppp an, heimlich 3/4- und 4/4-Takt abwechselnd, bis zu den stark

und expressiv wirkenden Worten Claires in 2/2- und 3/2-Takt. Auf die Worte des Lehrers „Wir sind nur

Menschen“ fallen starke Akkorde in großen Sexten. Ist das wieder in Musik verwandelter Spott? Auch dem

darauf folgende letzten, traurigen Versuch des Lehrers (6/4-Takt, Ancora un poco piu meno) wird boshaft

im 4/4-Takt widersprochen: „die Gerechtigkeit ist für die Börse der Millionäre geschaffen“94. Es erscheinen

staccato-Akkorde der Piccolo-Flöten. Dieser Versuch bildet den Höhepunkt der Szene, denn nachher

werden die Güllener ihre Ausweglosigkeit begreifen und den Entschluß zum Mord fassen. Arzt: „Was

sollen wir tun“, Lehrer: „das, was uns das Gewissen vorschreibt“.

4. 5. Das Finale

Von Einem legt besonderen Wert auf den Schluß der Oper: „Der Schluß einer Oper aber ist für

mich wichtiger als die Ouvertüre“95. Das wesentlich veränderte Finale endet mit einem stampfenden,

wortlosen Tanz aller Güllener. Sie bewegen sich wie die Marionetten. Der Chor beendet seine jubelnden

Vokalisen mit einem ausgelassenen „Hei“. Horst Haller meint in seinem Aufsatz über die Alte Dame, wenn

das Stück, wie die Oper mit der Scheckübergabe enden würde, (was auch nicht geschieht, weil der Tanz

noch folgt), „wäre die Auswirkung des Mordes auf die Güllener nicht gezeig“"96. Ich bin anderer Meinung,

nämlich daß gerade diese Lösung noch stärker wirkt als im Sprechstück. Die heimliche Freude der

Güllener steigt allmählich schon während des Stückes, im „Goldenen Apostel“ wird nach Claires

Versprechung, der Stadt eine Milliarde zu schenken, getanzt und gejubelt. Auch Claires stichelnde, wilde

Aussage in der „Peterschen Scheune“ mit dem Lehrer und dem Arzt : „Wer nicht blechen kann, muß

hinhalten, will er mittanzen“ korrespondiert direkt mit dem Finale, wo im Theatersaal nach der

Scheckübergabe die Stadtbewohner vor Glück tanzen. Dies ist der Höhepunkt. Die Musik sagt noch mehr

als die Worte. In diesem Moment ist es nicht wichtig, daß sie für den Wohlstand getötet haben, sondern,

daß sich ihr Leben ändern wird. Der zum Tanz umgearbeitete Schluß erinnert an die Hofmannsthalsche

93 Ebda, S. 82.94 Ebda, S. 69.95 Vgl. vE, S. 325.96 Vgl. Horst Haller, Friedrich Dürrenmatts tragische Komödie "Der Besuch der alten Dame", in: Deutsche Dramen. Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Bd. 2 Von Hauptmann bis Botho Strauß, hrsg. von Harro Müller-Michaels, Königstein/Ts. 1981, S. 157.

25

Page 26: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

und von Strauss vertonte „Elektra“. In beiden Fällen ist es ein Triumphtanz, beide um der Gerechtigkeit

willen. In beiden Fällen erscheint dieser Begriff fraglich und umstritten zu sein. Elektra feiert den

ersehnten Tod von Klytämnestra und ihrem Geliebten Ägisth, mit dem die Mutter den Vater Agamemnon

ermordet hatte. Das Städtchen feiert das Erlangen von Geld, nach der Vollbringung des Mordes an Ill.

Elektra stirbt aus Freude und Erschöpfung, Ill wird der „Tod aus Freude“ zugemutet. In beiden Fällen hat

der Tanz keinen Namen, er ist sprachlos und glorreich. Elektra tanzt alleine, obwohl sie die anderen in

einem Reigen tanzen sehen will. Hier tanzen alle, Frauen und Männer. Die Szene im „Goldenen Apostel“

korrespondiert mit dem Finale, nicht nur wegen des ähnlichen Schauplatzes. Beide Szenen verlaufen im

schnellen Allegro, in beiden wird die Orchestrierung viel reicher und verdichteter als in anderen Szenen.

Auch die Tonarten sind verwandt, einmal h-moll, das andere mal A-Dur. Beide Szenen besitzen Stellen der

kurzen Stille, absolute Kontraste zum vorherigen Jubel, einmal nachdem Claire ihre Bedingung genannt

hat, ein anderes mal nach der Scheckübergabe (Molto Allegro), bevor das diebische, wirre Stampfen

beginnt. Die Oper endet in A-Dur.

Der Mord geschieht ohne Zeugen von außen. Die Eunuchen und der Butler werden bald in die

Opiumhölle geschickt. Die Raubmörder haben keine Wahl, entweder der elektrische Stuhl oder der Dienst

bei der Milliardärin. Güllen wird durch den Mord keine rechtlichen Folgen erleiden, ebensowenig die

mächtige und schlaue Milliardärin. Sie hat sich die Gefolgschaft so zusammengestellt, damit sie sie später

problemlos eliminieren kann. Wie das pathetische, gefährliche "Flieh!" des Pfarrers klingt jetzt das düstere

„Bleib!“ des Polizisten. Die Mordtat geschieht bei Mondlicht (vielleicht ein Überbleibsel von der

Mondfinsternis).

Diese Szene besteht aus dem Material der ganzen Oper. Es erscheinen ähnliche rhythmisch-

melodische Gruppen. Das gleiche musikalische Material wie an der ersten lyrischen Stelle, wo sich Ill

seiner Jugend erinnert („Wir waren die besten Freunde“) wird bei den Worten des Lehrers „Es geht nicht

ums Geld [...] es geht darum, ob wir Gerechtigkeit verwirklichen wollen“ wiederverwendet. Das

musikalische Motiv, das in der Partie des Bürgermeisters erscheint: „Ich werde natürlich nicht hemdärmlig

dastehen, wie jetzt [...]“ kommt wieder, wo die Herren von der Presse zum Imbiß eingeladen werden.

Ähnliche Entsprechungen beobachten wir im ersten Bild, wo der Pfändungsbeamte den Zug verläßt und

hinter der Tür mit der Aufschrift „Männer“ verschwindet, und wo Ill vom Pfarrer auf den Tod vorbereitet

wird.

Ferner gibt es auch wörtliche Ähnlichkeiten, z.B. die Identität der beiden Liebesduette und

Sinnbezüge in den Szenen der „Spezereihandlung“ I und II. Sowohl Klara, als auch Alfred wehren sich mit

den Worten: „Bitte nicht“, Ill gegen des Pfarrers moralische Belehrungen bezüglich des Propheten Amos,

Klara gegen den Chorauftritt, der vorhat, sie mit einem ukrainischen Volkslied zu begrüßen.

5. Schluß – Ziel und Rezeption des Werkes.

Die Entstehung der Oper wurde dadurch möglich, daß Dürrenmatt und von Einem viel

Gemeinsames besaßen, daß das Sprechstück durch die Vertonung eine neue interessante Dimension bekam.

26

Page 27: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Die beiden Künstler sind Theatermenschen gewesen. Dürrenmatt hatte Erfahrung mit der Bühne, war selbst

einige Zeit Regisseur gewesen, schrieb Stücke fürs Theater, mußte sich sogar vom Theater trennen, um

Distanz zu gewinnen, so gut kannte er es97. Von Einem wurde von seinem Zeitgenossen Dominik Hartmann

„Theatraliker par excellence“ genannt, der den „untrüglichen Instinkt des Theater-Menschen“ besaß, der

vom Berliner Theater der 30-er Jahre beeinflußt war98. Das mag dadurch bewiesen sein, daß z.B. Dantons

Tod 37 mal auf der Bühne gespielt wurde. Beide Künstler wollten das Extreme, nicht Alltägliche zeigen:

„In meinen Opern geht es immer um Menschen in Extremsituationen, und das geht gar nicht anders, weil

ich im Grunde an Konflikten meiner Figuren teilnehme“99. Die Zachanassian ist außergewöhnlich, und so

ist auch ihre Rache. Beide waren am Wesen des Menschen interessiert, an Begriffen wie Gerechtigkeit,

Wahrheit, Rache. „Die alte Dame ist ein böses Stück, doch gerade deshalb darf es nicht böse, sondern aufs

Humanste wiedergegeben werden, mit Trauer, nicht mit Zorn, doch auch mit Humor [...]“100. So ist auch die

Musik bei von Einem. Dürrenmatt war nicht enttäuscht von der Realisierung ihrer gemeinsamen Arbeit101.

Der Schriftsteller war bei einigen Proben und bei der Uraufführung dabei.

Von Einem will zum Publikum gelangen, Dialog mit ihm führen, verachtet es nicht, komponiert

für sich und für das Publikum, nicht für die Kritiker, spricht die Sprache, die das heutige Publikum

verstehen kann, ist also immer aktuell102. Von Einem richtet eine gewisse Hoffnung an seine Zuhörer. Nicht

nur der Genuß allein, sondern das „mitdenkende Empfinden“ ist für von Einem das Entscheidende, eine

höhere Art von Genuß: „Ich halte es nicht mit Schiller und dem erzieherischen Moment der Bühne, ‘das

Theater als Moralische Anstalt’, trotzdem habe ich es ganz gerne, wenn man durch ein Stück, das man

componiert, gesehen oder angehört hat, etwas bescheidener wird“. Durch die Oper wird der Zuschauer

nicht belehrt, soll aber eine Bereicherung erfahren, freundlicher und bescheidener zu sein versuchen103. Es

ist schon sehr viel, was sich der Komponist von den Menschen wünscht. Dürrenmatts Ziel ist in dieser

Hinsicht weniger anspruchsvoll. Der Schriftsteller will andererseits jedoch ans Ende des Denkbaren gehen:

„Ich will eigentlich nicht provozieren. Ich möchte Aufmerksamkeit erwecken – ich glaube, daß man heute

mit einem Stück sagen wir mal gewisse Warnungen, gewisse Zeichen geben kann, aber nicht daß ich das in

der Hoffnung mache, daß sich dann die Menschen ändern“104.

Die Alte Dame, sowohl als Sprechstück, als auch als Oper, wurde auf vielen Bühnen der Welt

gespielt. In Glyndbourne wurde die Oper sogar in englischer Sprache aufgeführt.

Als Ausgangspunkt dieser Arbeit diente uns die Untersuchung, in wie weit das Biographische das

Werk beeinflußt. Wir haben uns genauer die Veränderungen am Libretto angeschaut und sind dann zur

musikalischen Analyse übergegangen. Dieser Vorgang zeigte uns auch die Werkstatt des Musikers und des

97 Vgl. H. L. Arnold, S. 48.98 Vgl. D. Hartmann, S.26.99 Vgl. vE, S.126.100 Vgl. Nachwort zu Besuch, S. 103.101 Vgl. vE, S. 244.102 Ebda, 211.103 Vgl. vE, S. 243.104 Vgl. H. Goertz, S. 127f.

27

Page 28: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Dichters. Das Sprechstück hat durch die Vertonung viel gewonnen. Der in Dürrenmatts Stück angelegte

Pessimismus scheint durch von Einems Musik erst voll gerechtfertigt zu sein. Der Sarkasmus tritt noch

stärker hervor. Die Musik deutet den Text aus, macht die Nuancen deutlicher. Es wird außerdem ein sehr

wichtiger Sinn angesprochen, das Hören und die mit ihm verbundene Welt der Gefühle. Das Publikum

lacht bei dieser „tragischen Komödie“ nicht, das bedeutet, daß es mitdenkt und mitempfindet. Vielleicht

schämt es sich sogar. Damit ist das Ziel erreicht.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Arnold, Heinz Ludwig, Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt, Zürich 1976.

Dürrenmatt, Friedrich, Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Mit einem Nachwort, Zürich

1956.

Ders., Stoffe I-III, Zürich 1981.

Ders., Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht. Nebst einem Helvetischen Zwischenspiel (Eine kleine

Dramaturgie der Politik), Zürich 1969.

Ders., Theaterschriften und Reden, Zürich 1966.

Einem, Gottfried von, Der Besuch der alten Dame. Eine Oper in drei Akten, op. 35. Libretto Friedrich

Dürrenmatt. Klavierauszug, London 1971.

Ders., Aufnahme der Oper - die Uraufführung in der Wiener Staatsoper 1971, Dirigent: Horst Stein, alte

Dame: Christa Ludwig, Ill: Eberhard Wächter, Bürgermeister: Heinz Zednik, Soprane: Laurence Dutoit:

Ills Tochter, Emmy Loose: Ills Frau, Tenöre: Ewald Aichberger, Hans Beirer, Karl Terkal, Kurt Equiluz,

Bariton: Siegfrid Rudolf Frese, Baßbaritöne: Hans Braun, Hans Hotter: der Lehrer, Bässe: Manfred

Jungwirth, Alois Pernersdorfer, Harald Prölghof.

Ders., Ich hab’ unendlich viel erlebt. Eine Autobiographie. Aufgezeichnet von Manfred A. Schmid. Wien

1995.

Ders., Dantons Tod op.6 Eine Oper in zwei Teilen (sechs Bilder) frei nach Georg Büchner. Text

eingerichtet von Boris Blacher und Gottfried Einem - Klavierauszug, Wien 1947 .

Ders., Der Prozeß op.14. Nach dem Roman von Franz Kafka. Neun Bilder in zwei Teilen von Boris

Blacher und Heinz von Cramer - Klavierauszug vom Komponisten, Mainz 1953.

Hofmannsthal – Strauss – Briefwechsel, hrsg. von Willi Schuh, 5.erw. Aufl., Berlin 1978.

Kelterborn, Rudolf, Ein Engel kommt nach Babylon. Anmerkungen zu meiner neuen Dürrenmatt – Oper,

in: „Melos“, NZ, hrsg. von Carl Dahlhaus, [u.a.], 3. Jahrgang, Mainz 1977.

Strauss, Richard, Krauss, Clemens, Capriccio. Ein Konversationsstück für Musik in einem Aufzug, op.85,

Berlin-Grunewald 1942.

28

Page 29: „Besuch der alten Dame“ . Friedrich Dürrenmatt und

M u z y k a l i a IV · Deutsches Heft 1

Sekundärliteratur

1) Alami, Marita, Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt. Computergestützte Analyse und

Interpretation mythologischer und Psychologischer Bezüge, Köln, Weimar, Wien 1994 [Kölner

Germanistische Studien, 35].

2) Briner, Andres, Zu Gottfried von Einems Dürrenmatt - Oper „Der Besuch der alten Dame“, in:

Views and Reviews of modern German Literature. Festschrift for Adolf D. Klarmann, hrsg. von

Karl S. Weimar, München 1974 (Ürsprünglich Neue Zürcher Zeitung).

3) Flashar, Hellmut, Die Inszenierung der Antike. Das griechische Drama aus der Bühne der Neuzeit

1585-1990, München 1994.

4) Fringeli, Dieter, Nachdenken mit und über Friedrich Dürrenmatt. Ein Gespräch,

Breitenbach/Schweiz 1977.

5) Gier, Albert: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikliterarischen Gattung, Darmstadt

1998.

6) Goertz, Heinrich, Friedrich Dürrenmatt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei

Hamburg 1987.

7) Haller, Horst, Friedrich Dürrenmatts tragische Komödie „Der Besuch der alten Dame“, in:

Deutsche Dramen. Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart Bd.2 Von

Hauptmann bis Botho Strauß, hrsg. von Harro Müller - Michaels. Königstein/Ts. 1981, S.

137-162.

8) Hartmann, Dominik, Gottfried von Einem. Eine Biographie, Wien 1976.

9) Jens, Walter, Ernst gemacht mit der Komödie. Über Mord, Moral und Friedrich Dürrenmatt, S.

39-44, in: Friedrich Dürrenmatt Werkausgabe in 30 Bänder, hrsg. von Daniel Keel, in

Zusammenarbeit mit dem Autor. Bd. 30, Zürich 1980.

10) Klein, Rudolf, Von Einems Dürrenmatt-Oper „Der Besuch der alten Dame“, in: „Österreichische

Musikzeitschrift“ (Gegr. v. Dr. P. Lafite), Register 1971, 26. Jahrgang, S. 302-306.

11) Rutz, Hans, Neue Oper. Gottfried Einem und seine Oper „Dantons Tod“. Mit Beiträgen von

Caspar Neher, Bernhard Paumgartner, Wolfgang Schneditz und Oscar Fritz Schuh, Wien 1947.

12) Schmidt, Karl, Erläuterungen und Dokumente: Friedrich Dürrenmatt „Der Besuch der alten

Dame“, Stuttgart 1975.

13) Sotariki, Flora, Friedrich Dürrenmatt als Kritiker seiner Zeit, (Diss.) Frankfurt am Main, Bern

1983.

14) Wälterlin, Oskar, Der Besuch der alten Dame. S. 156-161, in: Friedrich Dürrenmatt Werkausgabe

in 30 Bänder, hrsg. von Daniel Keel, in Zusammenarbeit mit dem Autor. Bd. 30, Zürich 1980.

29