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Bibliothek der Träumer

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Richart · Atelier Dibbern · [email protected]

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Die Bibliothek der Träumer von Richart

In einem kerzenerleuchteten Raum finden sich allabendlich die Träumer zusammen. Es ist eine lange Zeit weiter von heute. Der Geruch von Digitaltechnik, Fixiersalz, Kohle auf Papier, Öl auf Leinwand, der von frischen Prints, eben alle Formen der bildhaften Darstellung, prägen das geistige Ambiente. Medien haben eine neue Aufgabe in der Gesellschaft bekommen und beschäftigen sich ausschließlich mit der Aufbereitung und dem Sichern des vergangenen Wissens, der Gedanken und Visionen. Das alte Tagesgeschehen ist verstummt. Religiöse und Machtdiskussionen sind fremdwortartig. Übertragungen in die

Öffentlichkeit sind Mangels Interesse eingestellt. Menschen haben ihren Lebenssinn im eigenen Dasein wieder gefunden, ein für sie realeres Weltbild lebt den Vorzug. Schwarz und weiß sind zu Farben erklärt. Die Wissenschaft hat es geschafft mit minimalistischen Mitteln alles Wissen jederzeit und jedem zur Verfügung zu stellen. Dazu trägt der Mensch einen Zeitring am Mittelfinger der rechten oder linken Hand oder entsprechend dem Zeh am Fuß. Das bevorzugen hier die Männer. Die Öffentlichkeit hat schrankenfreien Zugang zu allem Wissen dieser Welt und ist in der Lage, mit leichter Intuition entscheidend zu fühlen.

Ein Teil bereichernder Freizeitbeschäftigung ist das Denken. Träumen hat beruflichen Status erhalten. Die Einsicht ist gefunden, dass der Realwert der Träume von höchstschätzbarem Wert ist, und so sind alle Träume gesammelt und von den Medien sicher aufbewahrt. In der Bibliothek erscheinen die Träumer dem Gegenüber als freundliches Gesicht. Blondhaarlocken, Kopftücher, Turban, Glatze, schütteres Grauhaar, Schwanzhaarfrisur, Echtschwarz, - orange-weißer Bubenkopf, alles nebensächlich, wertfrei.

Ideen funkeln über Köpfen, sprenkeln goldfarbenes Materieloses. Das Haar glitzert kurz auf, das feine Ideenpulver versetzt alle in den Wissenstand der Anderen, nur so - durch das unbedachte, leichte Einatmen. Das menschliche Gehirn ist in weltweiter Breite mit 87 % Ausnutzung mühelos zur Höchstform ausgereift. Kinder besuchen mit Freude Fühlschulen, lernen in der Nähe der Alten das Lernen. Der Weg einer Wissensaufnahme ist frei von Filterungen, Paragraph 3, einem der fünf erhaltenen Weltgrundgesetze. Schulabschlüsse, sind gegenstandslos, an Abitur denkt keiner mehr. Augenhöhe in Wissen und Kultur versetzen alle in die Lage zu Denken und Auszuträumen.

So lässt sich hier mühelos ein früher verhärteter Konflikt im Ansatz zu einer sich in das Nichts auflösende Freiraumsituation entwickeln. Simulation gibt es nicht mehr, mit dem Gedanken folgt die Handlung, alles greift ineinander, gedacht, liebevoll und in einem hohen Grad an Achtung und Wohlwollen. Die Kunst hat die bescheidene Daseinsberechtigung eine Idee aufzuzeichnen und die Bereitstellung von Gefühlserlebnissen anzubieten. Galeristen pflegen die Kunstwerke, führen sie vor und über es mit den Kindern in den Fühlschulen.

Missgunst ist das Thema einer Komödie im Theater der Bibliothek… ein Lacherfolg der letzten Jahre. Ein Dauerbrenner, der Sitze füllt und die Menschen herzhaft lachen lässt, ähnlich wie das Einpersonenstück Caveman vor 270 Jahren auch ein Kassenschlager war. So nannte sich das damals. Kassenschlager. Über dem Eingang, unter dem goldenem Bildschriftzug „Bibliothek“ ist in feiner gravierter weißer Darstellung, „Träume sind Treibstoff der Visionen“ zu erkennen. Bildschrift ist Normalität, Analphabeten sind keine mehr.

Das Projekt der KI, künstlichen Intelligenz des letzten Megarechners Goliath, einst millionenschwer beforscht, ist gescheitert. Die Überzeugung, dass Gedanken darstellbare Bilder sind, ist erkannt. Jeder Bibliotheksbesucher bringt seine Bilder und Gedanken mit. Als erstes stellt er sie in die Regale der Träume. Träumer waren immer so. Sie haben sich nur nicht erkannt. Die Fähigkeit des Träumens ist im Laufe der Jahre gewachsen, erforscht und jedem zugänglich, und so kann, der die Bibliothek betritt, alles bildhafte Wissen aus den Regalen mühelos aufnehmen. Dies geschieht im Scanwalk, dem Durchwandern der

Räume, ohne Anstrengung. Wir machen das auch Mal so, - als kleinen Mittagssnack, ganz leicht, ohne Anstehen und Warten. Schweigen ist in unserer Bibliothek zu quirligem Murmel gewachsen. Die Zeit des Lesens ist vorbei. Intuition, jetzt Aufnahme- und Kommunikationsmittel. Die Besucher finden sich wortlos im Interesse und diskutieren ihre Gedanken zu neuen Visionen. Es geht ziemlich drunter und drüber hier, es wird debattiert, mit hoher Streitkultur gestritten, Ergebnisse gefunden, in achtsamer Form kritisiert, ausschließlich den Nutzen des Neuen zu verbessern.

Zwischendurch regieren Pausen zur Förderung der Intuition, die mittlerweile restvoll erforscht ist. Das Denkmenue wird gemeinsam eingenommen. Vom Denken allein kann man nicht visionieren! Bei diesem geistigen Speisen wird kein Thema weitergeführt. Die Einsicht der Pause ist vergegenwärtigt. Nach eben diesen Erfrischungen finden sich neue Träumer, die das Aktuelle weiterträumen. Unsere Bibliotheken haben andere Bedeutung bekommen. Das Träumen ist anerkannte lustvolle Form des Denkens, beruflich anerkannt, sozial notwendig erachtet, grundlegend. Sie befähigt alle Menschen, Worte aus dem Wortschatz zu streichen und Überzeugungen neu zu erdenken.

Das erste offiziell gestrichene Wort war das Wort „Flugbanane“. Die nichtsnutzige Vorsilbe „un“ ist aus der Mode gekommen, die es auch nicht mehr gibt. Das Wort „werden“ und das Wort „wohl“ in Kombination mit Gedanken ist ausgestorben. Die Äußerung „Nicht schlecht“ als Scheinbewunderungsausdruck aus oberflächlicher Zeit gewinnender Dummheit früher eingesetzt, bringt schallendes Gelächter dem Zeitgeistzitierenden entgegen. Keiner kann sich heute an derlei Inhalte erinnern.

Der Reflex „ …weiß ich nicht“ existiert nicht mehr. Er musste nicht einmal gestrichen werden.

Richart · Atelier Dibbern [email protected] richart©art.work 2006 Urfassung 16.11.2006 read.&.improved · Nicole Terstappen Greece 2009

– Heike Baumann - Fotografie