Upload
christof-lossin
View
221
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
8/7/2019 Bibliothekarisches Blitzlicht Nr. 3
1/2
8/7/2019 Bibliothekarisches Blitzlicht Nr. 3
2/2
Trauung. So geht Stanislaw Wyspianski gleich nach der Predigt in die Bibliothek des Joachim Jungius,
die sich praktischerweise gerade in unmittelbarer Nhe zur Kirche befindet. Als Stanislaw Wyspianski
zur nahe gelegenen S-Bahn-Haltestelle hinber blickt, berlegt er sich, ob er nicht einfach mal spontan
mit der S7 nach Marzahn fahren sollte, um einen Abstecher bei seiner geliebten Cindy zu machen.
In diesem Kontext beginnt er eifrig nachzudenken, welche Beitrge zum Vereinigungsprozess und zur
Hauptstadtdiskussion er persnlich liefern kann. Man kann sagen: Historiker betrachten Deutschland,
Stanislaw Wyspianski betrachtet Cindy. Angesichts dieser betrchtlichen Besinnlichkeit widmet er sich
in der Bibliothek den schwer zu entziffernden Niederschriften eines Kulturnomaden und trumt bereits
nach wenigen Augenblicken von vergessenen Frauen an der Ruhr von Herrscherinnen und Hrigen,
Hausfrauen und Hexen, von Heiligen und Huren, Hschen und Hynen. Er versinkt unaufhaltsam in
diesen lieblichen Trumen, bis eine weniger liebliche Stimme ertnt: "Hallo, jenau Sie da! Hrn'se ma!
Nchste Woche knn'se hier weiter trumen. Jetz heit et aber Aus die Maus, Schicht im Schacht, wa!"
So endet fr ihn auch der zweite Akt in einem herben, ja geradezu retraumatisierenden Lebensgefhl.
----------
Stanislaw Wyspianski, der ganz in Gedanken verloren auf der Strae steht, wird auf knallharte Weisemit der krass-konkreten Realitt des Alltagslebens konfrontiert und mehrere Male von beraus erbos-
ten Verkehrsteilnehmern auf den Straenverkehrsfall in der praktischen Abwicklung hingewiesen, vor
allem als er auf dem Zebrastreifen seinen frheren Arbeitskollegen Volker Kluge antrifft, der ihm allerlei
Neuigkeiten ber das deutsche internationale Steuerrecht anvertraut. Ein wenig spter betritt ein junger
Mann den Zebrastreifen und fragt in einem eindringlich-forschenden Tonfall: "Na, kennen Sie Herzberg?
Mein Name ist Richard Kerler und ich frage Sie: Kennen Sie Herzberg?!". Aber niemand ahnt bei die-
ser etwas berraschenden Frage, dass dieser Richard Kerler Management-Klassikern auf der Spur ist.
Stanislaw Wyspianski kann nicht anders als ein Stck seiner persnlichen Lebenserfahrung mit ihm zu
teilen. So spricht er zu ihm in einem patriarchalisch-frsorglichen Tonfall: "Jetzt hr mal, mein Junge!Shne wollen Vter. Shne wollen sich selbst behaupten wider die weibliche Umklammerung."
Der ungeplante Aufenthalt auf dem Zebrastreifen entwickelt inzwischen gewisse Zge von Erlebnis-
pdagogik, sptestens als mehrere Schaulustige auf einer nahe gelegenen Verkehrsinsel stranden und
immer deutlicher den Nutzen von Gedchtnistraining fr ein Altern mit lebenswerter Zukunft erkennen.
Durch solche revolutionren Erkenntnisse inspiriert, kramt Stanislaw Wyspianski mitten auf der Strae
aus seiner Umhngetasche einen Notizblock hervor und beginnt einen Text zu schreiben, dessen Titel
"Mein Weltleben" eine ausgeprgte Umfnglichkeit vermuten lsst. Unablssig schreibt er vor sich hin
und schreibt und schreibt, whrend der hinkende Gott alias Stefan Andres ein abendlndisches Lied
von Georg Trakl singt und in seinem Gesangsvortrag ungefragt von dem permanent umher schlurfen-den Hausierer begleitet wird. Natrlich ist auch wieder dieser schaulustige Peter Handke zur Stelle
vor allem als Stanislaw Wyspianski whrend einer kurzen Verschnaufpause von seiner unermdlichen
Schriftstellerei vor der zahlreich versammelten Verkehrsgemeinde sich selbst das Ja-Wort gibt.
----------
Direkt nach diesem dritten und letzten Akt wechselt der Schauplatz des Geschehens. Nun spielt alles
pltzlich in Limburg. Stanislaw Wyspianski schaut verdutzt aus der Wsche, whrend Regula Venske
gensslich das Verschwinden des Mannes in der weiblichen Schreibmaschine beobachtet. Nachdem
sowohl Peter Handke mit seinem Hausierer als auch Stanislaw Wyspianski gnzlich in der weiblichen
Schreibmaschine verschwunden sind, ist es endlich so weit: Nach unzhligen Jahren systematischer
Ungewissheit darf nun Dora Linds Geheimnis gelftet werden: In weiser Voraussicht, dass Stanislaw
Wyspianski sich selbst das Ja-Wort geben wrde, hatte sie ihm nmlich damals ihr Nein-Wort gegeben.