121
VOLKER BIERBRAUER Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert Versuch einer Bilanz „Eine Wanderung muß sich ja nicht unbedingt im archäologischen Fundgut abzeichnen, und selbst das historisch ganz Unwahrscheinliche bleibt immerhin noch möglich." (Rolf Hachmann, Die Goten und Skandinavien, 1970, S. 465) Vorbemerkung» S. 51. - 1. Kontinentale Ethnogenese oder Einwanderung aus Skandinavien? Die Oksywie- Kultur der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, die Wielbark-Kultur der älteren römischen Kaiserzeit und benachbarte Kulturgruppen, S. 52; 1. Die Wielbark-Kultur während der älteren und zu Beginn der jüngeren römischen Kaiserzeit (Bl-B2/Cl-Cla; etwa Anfang des l.Jhs. - 220/230 n.Chr.), S. 53; 2. Kontinentale Ethnogenese oder Einwanderung über See?, S. 75. II. Die Verlagerung der Wielbark-Kultur aus Pommern und Großpolen in die Gebiete östlich der mittleren Weichsel (1. Expansionsraum), S. 87. - III. Die gotische Landnahme in Wolhynien, der Ukraine und Moldavischen Republik: die Cernjachov-Kolrur (2. Expansions- raum), S. 98. IV. Das Ende der ternjachov-Kultur, S. 117. V. Die gotische Landnahme in der rumäni- schen Moldau, in Muntcnien, der Walachei und in Siebenbürgen: die Sintana de Mureg-Kultur (2. Expan- sionsraum), S. 121. - VI. Das Ende der Sintana de Mure§-Kultur, S. 133. - VII. Die Ostgoten nach dem Ende der £ernjachov-Kultur bis zur Einwanderung in Italien, S. 134. VIII. Die Ostgoten in Italien, S. 140. DL Westgoten im 5.-7, Jahrhundert, S. 152; 1. Westgoten zwischen 376 und 418, S. 152; 2. Westgoten im tolosanischen Reich (418-507), S. 153; 3. Das spanische Westgotenreich (507-711), S. 155. VORBEMERKUNG* Zu einzelnen Aspekten und Problemen dieses Themas gibt es eine Fülle von Literatur, Monographien und Einzelstudien, sowohl von Althistorikern und Mediävi- sten als auch von Archäologen mit seit alters her wechselnden zeitlichen, inhaltlich- thematischen und regionalen Schwerpunkten. Auf die Darstellung dieser mehr als 100jährigen Forschungsgeschiente wird einleitend dennoch verzichtet; wollte man diese ausreichend informierend und methodisch kritisch und fair zugleich referieren, käme ohne Zweifel eine Monographie zustande. Da mit Ausnahme des historischen Standardwerkes von Herwig Wolfram (ohne die spanischen Westgoten) 1 ohnehin keine weiteren zusammenfassenden Monographien oder längere Einzelstudien zur Ge- Vorbemerkung zur Ziticrwcwe: Aufsätze in polnischer Sprache sind dann in Deutsch oder fremdspra- chig zitiert, wenn eine entsprechend betitelte Zusammenfassung beigefügt oder im Untertitel so angege- ben ist; dies mit Blick auf den Leser, der dadurch besser den Inhalt dieser Studie erkennen kann. HLKVIC WOLFKAM, Die Goten, Von den Anfangen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts, München 3 1990; dazu interdisziplinär in polnischer Sprache: JFKZV STKZIJJCZYK, Guci - Rzcczywistoia I legenda, War- schau 1984; für Polen (historisch): JAN CZAKNECKI, The Goths in ändern Poland (Univendty of Miami Frau) Carol Gable«, Florida 1975.

Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

VOLKER BIERBRAUER

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. JahrhundertVersuch einer Bilanz

„Eine Wanderung muß sich ja nicht unbedingtim archäologischen Fundgut abzeichnen, undselbst das historisch ganz Unwahrscheinlichebleibt immerhin noch möglich."

(Rolf Hachmann, Die Goten undSkandinavien, 1970, S. 465)

Vorbemerkung» S. 51. - 1. Kontinentale Ethnogenese oder Einwanderung aus Skandinavien? Die Oksywie-Kultur der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, die Wielbark-Kultur der älteren römischen Kaiserzeit undbenachbarte Kulturgruppen, S. 52; 1. Die Wielbark-Kultur während der älteren und zu Beginn der jüngerenrömischen Kaiserzeit (Bl-B2/Cl-Cla; etwa Anfang des l.Jhs. - 220/230 n.Chr.), S. 53; 2. KontinentaleEthnogenese oder Einwanderung über See?, S. 75. — II. Die Verlagerung der Wielbark-Kultur aus Pommernund Großpolen in die Gebiete östlich der mittleren Weichsel (1. Expansionsraum), S. 87. - III. Die gotischeLandnahme in Wolhynien, der Ukraine und Moldavischen Republik: die Cernjachov-Kolrur (2. Expansions-raum), S. 98. — IV. Das Ende der ternjachov-Kultur, S. 117. — V. Die gotische Landnahme in der rumäni-schen Moldau, in Muntcnien, der Walachei und in Siebenbürgen: die Sintana de Mureg-Kultur (2. Expan-sionsraum), S. 121. - VI. Das Ende der Sintana de Mure§-Kultur, S. 133. - VII. Die Ostgoten nach demEnde der £ernjachov-Kultur bis zur Einwanderung in Italien, S. 134. — VIII. Die Ostgoten in Italien, S. 140. —DL Westgoten im 5.-7, Jahrhundert, S. 152; 1. Westgoten zwischen 376 und 418, S. 152; 2. Westgoten imtolosanischen Reich (418-507), S. 153; 3. Das spanische Westgotenreich (507-711), S. 155.

VORBEMERKUNG*

Zu einzelnen Aspekten und Problemen dieses Themas gibt es eine Fülle vonLiteratur, Monographien und Einzelstudien, sowohl von Althistorikern und Mediävi-sten als auch von Archäologen mit seit alters her wechselnden zeitlichen, inhaltlich-thematischen und regionalen Schwerpunkten. Auf die Darstellung dieser mehr als100jährigen Forschungsgeschiente wird einleitend dennoch verzichtet; wollte mandiese ausreichend informierend und methodisch kritisch und fair zugleich referieren,käme ohne Zweifel eine Monographie zustande. Da mit Ausnahme des historischenStandardwerkes von Herwig Wolfram (ohne die spanischen Westgoten)1 ohnehin keineweiteren zusammenfassenden Monographien oder längere Einzelstudien zur Ge-

Vorbemerkung zur Ziticrwcwe: Aufsätze in polnischer Sprache sind dann in Deutsch oder fremdspra-chig zitiert, wenn eine entsprechend betitelte Zusammenfassung beigefügt oder im Untertitel so angege-ben ist; dies mit Blick auf den Leser, der dadurch besser den Inhalt dieser Studie erkennen kann.HLKVIC WOLFKAM, Die Goten, Von den Anfangen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts, München 31990;dazu interdisziplinär in polnischer Sprache: JFKZV STKZIJJCZYK, Guci - Rzcczywistoia I legenda, War-schau 1984; für Polen (historisch): JAN CZAKNECKI, The Goths in ändern Poland (Univendty of MiamiFrau) Carol Gable«, Florida 1975.

Page 2: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

52 Volker Bierbrauer

schichte einerseits oder Archäologie andererseits der Goten vom 1.-7. Jahrhundert ineiner westlichen Sprache vorliegen2, wird der Forschungsstand zu beiden Disziplinenerst in den einzelnen Kapiteln möglichst angemessen berücksichtigt. Eine interdiszi-plinäre, zeitlich übergreifende und überregionale Aufarbeitung gibt es bislang nicht;Ziel dieser Arbeit ist also vor allem der Versuch, die Archäologie der Goten erstmalszusammenhängend und dennoch ausreichend detailliert in ihren einzelnen Etappendarzustellen3 mit dem Bemühen, die archäologisch gewonnenen Ergebnisse auch inter-disziplinär einzuordnen und zu bewerten, soweit dies dem Autor als Archäologenmöglich ist.

jfI. KONTINENTALE ETHNOGENESE ODER EINWANDERUNG AUS SKANDINAVIEN?

DIE OKSYWIE-KULTUR DER JÜNGEREN VORRÖMISCHEN EISENZEIT, DIEWIELBARK-KULTUR DER ÄLTEREN RÖMISCHEN KAISERZEIT UND

BENACHBARTE KULTURGRUPPEN

Unbestritten lassen sowohl die Origo gentis' (Jordanes, Getica 1,9 und 25 f.;XVII,94 f.) als auch und vor allem die ältesten Nachrichten antiker Autoren über dieGoten (Strabo, Plinius d. Ä., Tacitus, Ptolemaios; s. unten) deren kontinentale Wohn-sitze in der älteren Kaiserzeit ganz allgemein im östlichen bzw. nordöstlichen Mitteleu-ropa erkennen, nach Strabo bereits 5/6 n. Chr. (terminus ante quem), und zwar ver-mutlich als östlichster germanischer Stammesverband mit den aistischen (westbalti-schen), also wohl nichtgermanischen östlichen Nachbarn (dies trotz Tacitus, Germania45-46; Aestorutn gmtts, hie Suebiaeßnis\ s. unten). Ein detaillierteres Eingehen auf dieseSchriftquellen soll an dieser Stelle noch bewußt unterbleiben; diese grobe regionaleUmschreibung genügt vorerst vollkommen, um mit archäologischen Quellen und Me-thoden die älteste Geschichte der Goten untersuchen zu können. Erst nach einemgeklärten archäologischen Sachverhalt wird dieser mit den dann näher darzustellendenund zu bewertenden Schriftquellen und den daraus abgeleiteten Meinungen der histori-schen Forschung in Beziehung gebracht und verglichen; diese Vorgehensweise, alsodie strikte Trennung zwischen archäologischer und historischer Beweisführung undderen Ergebnissen als selbstverständliches methodisches Postulat (keine gemischte Ar-'gumentation), wird auch die Strukturierung der folgenden Kapitel bestimmen.

Es empfiehlt sich - auch mit Blick auf die bereits kurz erwähnten ältesten Schrift-quellen zu den älterkaiserzeitlichen Wohnsitzen der Goten ganz allgemein im örtlichenbzw. nordöstlichen Mitteleuropa —, sich zunächst mit den Kulturgruppen der älterenKaiserzeit in diesem Räum, also in Nord- und Mittelpolen, zu befassen: Wie sind siestrukturiert, und vor allem inwieweit sind sie eigengeprägt, wo sind sie verbreitet,

2 Zwei sogenannte Sachbücher, die sich auch an einen weiteren Leserkreis wenden wollen, können natur-gemäß wissenschaftlich nicht voll ausreichend informieren: PEDRO DE PALOL-GISELA RIPOLL, Die Go-ten. Geschichte und Kunst in Westeuropa, Stuttgart-Zürich 1988 und MICHEL KAZANSKI, Les Goths(Icr-VHc siecle apres J.-C), Paris 1992.

3 Erste kurze Darstellung bei: VOLKER BIERBRAUER, Die Goten vom 1-7. Jahrhundert n.Chr.: Siedelge-biete und Wanderbewegungen aufgrund archäologischer Quellen, in: ELDRID STRAUME-ELLEN SKAR(Red.), Peregrinatio Gothica III. Symposium Frederikstad, Norway, 1991 (Universitetets OldsaksamlingsSkrifter, Ny rekke 14) Oslo 1992, S. 9-43.

Page 3: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom l .-7. Jahrhundert 53

kurzum: lassen sich auf dieser Grundlage schon gesicherte archäologische Kriterienfinden, die erste Hinweise auf eine Verbindung mit der schriftlichen Überlieferung,also schon erste ethnische Interpretationen zulassen? Die archäologische Kulturgrup-penforschung ist unter nahezu allen relevanten Gesichtspunkten im Osten der 'Ger-mania libera' bereits sehr weit fortgeschritten (s. unten), jedenfalls weiter als im We-sten4, auch— und dies ist wichtig für jedwede kulturgeschichtliche Interpretation — infei n chronologischer Hinsicht Wie deutlich werden wirdj hat hier die polnische For-schung Vorbildliches geleistet. Im Zentrum der Ausführungen steht die Wielbark-Kultur der älteren (und jüngeren) Kaiserzeit, da sie schon seit alters her und nun erstrecht durch eine erheblich verbesserte Quellenlage und ausreichende Publikationslagegenügend Anlaß gab und gibt, in ihr auch Goten-Gutones der Schriftquellen zu sehen,warum?

Befassen wir uns also zunächst mit der Wielbark-Kultur der älteren Kaiserzeit(= Phase Lubowidz), sodann kurz mit ihren Nachbarkulturen und schreiten dannzurück zu der der Wielbark-Kultur zeitlich und regional vorangehenden Oksywie (=Oxhöft)-Kultur der schriftlosen jüngeren vorrömischen Eisenzeit, um die Ethnoge-nese der Wielbark-Kultur verstehen zu können; hierbei ist man eo ipso mit dem Pro-blem konfrontiert, das so alt wie die Forschung ist: der angeblichen Herkunft derGoten aus Skandinavien.

1. Die Wielbark-Kultur während der älteren und zu Beginn derjüngeren römischen Kaiserzeit (Bl—B2/C1—Cla; etwa

Anfang des 1. Jhs.-220/230 n.Chr.)5

Sie bildet sich am Übergang von der jüngeren vorrömischen Eisenzeit zur älterenKaiserzeit heraus und ist als eigenständige Kulturfazies (Kulturgruppe) spätestens in

Zusammenfassend und methodisch korrekt und vorsichtig zugleich, weil Quellen und Aussagemöglich-keiten nicht überfordernd, immer ooch: RAFAEL VON USLAR, Bemerkungen zu einer Karte germanischerFunde der älteren Kaiserzeit, in: Germania 29,1951, S. 44-47 mit Abb. 1; DERS., Archäologische Fund-gruppen und germanische Stammesgebiete vornehmlich aus der Zeit um Christi Geburt, in: Histori-sches Jahrbuch 71,1952, S. 1-36 (mit Kartenbeilagc); DERS., Zu einer Fundkarte der jüngeren Kaiserzeitin der wesdichen Germania libera, in: Prähistorische Zeitschrift 52,1977, S. 121-147 (mit Karte Beilage5); GERHARD MILDENBERGER, Sozial- und Kulturgeschichte der Germanen, Stuttgart 21977, KartenAbb. 1-2 S. 22 ££Zur relativen und absoluten Chronologie des kaiserzcidichen Fundstoffcs in der 'Germania libera*,insbesondere in deren östlichen Regionen (Wiclbark- und Przcworsk-Kultur), vgl. die Arbeiten vonKazimicrz Godlowski (s. unten); sie sind methodisch gut begründet und feinchronologisch mittlerweilewen entwickelt: Stufe Bl (mit den drei Substufcn Bla, Blb und Blc): ca. Anfang des 1. Jahrhunderts-80 n.Chr.; B2 (mit B2a und B2b): ca. 8<M60 (= ältere Kaisccseit); B2/Cl/Cla: ca. 160-220/30 (=Fruhphase der jüngeren Kaiserzeit); B2/C1 io der fortgeschrittenen 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts, starkverzahnt noch mit den jüngsten Leitformen von B2 einerseits und andererseits auch mit Cla, im Bereichder Wielbark-Kultur auch als eine Übergangsphase zwischen älterer und jüngerer Kaiscrzeit; Clb: ca.220/230-260/70; C2: ca. 260/70-300; C3: ca. 300-370/80 (= jüngere Kaiserzcit); Dl: ca. 370/80-410/20 (» älterer Abschnitt der Völkenvandcrungsjxit). - Zuletzt (jeweils mit Verweis auf ältereArbdicn): KAZIMICRZ GOPLOWSKI, „Supcriores Barbari** und die Markomannenkricge im Lichte archao-Jogifcchcr QueUee, in; Slovenski Archcoloßia 32, 1984, S, 327-350; DERS,, Zur Chronologie der römi-schen Kiu*erzeit, in; MAKÜK GI.W. (Red.)» Scripta Archaeologica, Warszawa-Krakow 1988. S 27-49;DO&, Germanisdie Wanderungen im 3. Jh. v.Chr. bis 6. Jh. n.Cht und ihre Widerspiegelung in denhurorachen und archa^jogiftchco Qtidlctt, iru STRAUMK~$KAR (Red.) (wie Anm. 3) S. 53-75; DEKS., Die

Page 4: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

'/·

;-,iut<. #-J.· i. ! / Vkitffi .4^ ' · JUtekuridati. i»/;hr.r#k 'V^^

Wi*-i»v/urj·; {VV

-(/u»· [hiW^ui^u <ib>u· Kultur £ ?54/M; i·.»« a!- cifla^ ^iftt· XuUu/f^/u^

jaut

wui

ifk l*,

l ' yVttxic/ lil

-jUid,s,U/iiUu;j) tuid j^i'iii/cu^^"^^ ^ilitfidii^iteM ώ

JUJ ^-/ yji/lj jMJ^^Mtf , ̂ ̂ U' ^S X&.'

, /Juttt /Xu*· (.uvJ ^U^X^K ̂ ffaf^vfljf.jfftybrw.fr b. &§t j μΐ yyp fafofty W

1*1» «Y !·#··("/ /* l')^18·» i^Hlww »Wfwil»* -t r|,

^> inW Λ»Η*·ϊί»«Α JH

4*$

»; /«· ^M^l^r *)HMHyW W-J, l^tofy ^Φβ)^β/?ί i «ff'fjf W

|! I^^NJ ^iM»f^%'» tv^i ^niJFiiHK H? Hwtorityi KH MIW l Wi I?H«;I Ifefi !H» hti^HmM » W-j frl* HW: /) * M^H, S

Page 5: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 55

Waffenlosigkcit und auffallende Beigabenarmut in den Männergräbern, die mit ar-chäologischen Mitteln geschlechtsspezifisch also nur ausnahmsweise gesichert aus-gesondert werden können (vor allem durch Sporen in den Gräbern Berittener inder ausgehenden älteren Kaiserzeit)9; dies impliziert eine ungleiche Behandlungbeider Geschlechter in der Beigabensitte, da umgekehrt die Frauen im sog. normati-

81 B2a

*·" W'.J ; -

' ' ' . · "·.

Ü•• ·

. i/

\

JW l B2b-c

Fig, l Lage des Trachtzubchörs In Fraucngräbcrn der Wielbark-Kultur während der älteren Kaiserzeit undzu Beginn der jüngeren Kaiserzcit mit Fibeln, Gürtelschnalle (mit Gürtelbesatz und Riemenzunge)» Armrei-fen, Perlenkette (mit Schließhaken und birnenförmigem Anhänger). Nach TEMPELMANN-AI^CZYNSKA (wie

Anm. 11) S. 207 Abb. 1.

9 Zulem: PJOTK KACZANO«:MU~JAIU;» ZA&OKOWKI, Bemerkungen über die Bewaffnung der Bevölkerungder U'»ctt>ark'Kultur,, in: JAN Gu*AA~ANu*Zij KOKC«T>KI (RcA), Kulrura wielbarska w mlodszymukrettc mmskim 1, ttMr> 198K, S. 221-239.

Page 6: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

56 Volker Bierbrauer

Fig. 2 Kennzeichnendes Trachtzubehör und Schmuck der Wielbark-Kultur in Frauen- und Männergräbernwährend der älteren Kaiserzeit und der beginnenden jüngeren Kaiserzeit. Nach WOL^GIEWICZ, Kultury

oksywska i wielbarska (wie Anm. 6) S. 146 Taf. 23.

Page 7: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom l .—7. Jahrhundert 57

ven Bereich der Beigabensitte10 'komplett' ausgestattet sind* d. h. sie wurden inihrer Tracht (Mehrfibeltracht und Gürtelbesatz) und mit ihrem Schmuck, der teil-weise ethnographische Züge tragen kann (s. unten), beigesetzt (Fig. l—2)11. Gehör-ten drei Fibeln zur Tracht, so ist das dritte Exemplar meist von einem anderen Typund kleiner; Fibelpaar und 'Drittfiber bzw. Einzelfibel gehörten zu verschiedenenGewändern.

— Das Trachtzubehör und der Schmuck sind fast ausschließlich aus Bronze ge-fertigt.

Sicherlich nachgeordnet in der Wertigkeit zur Definition einer Kulturfazies sindVerbreitungsräume von Sachaltertümern, da sie zunächst nur Absatzgebiete von Werk-stätten und/oder Vorlieben für bestimmte Typen widerzuspiegeln brauchen; häufensich jedoch Verbreitungsschwerpunkte in jeweils übereinstimmenden Regionen unddecken sich diese ganz oder überwiegend mit dem Verbreitungsraum einer Kulturfa-zies, die mit höherrangigen Merkmalen definiert werden konnte (Grab- und Beigaben-sitte; Tracht), so kommt ihnen stützende Funktion zu, vor allem dann, wenn es sichum besondere Ausprägungen eines überregional bekannten und verbreiteten Typs han-delt; dies wird besonders deutlich bei den 'barocken' Ausführungen der Schildkopf-armringe (Fig. 3), aber auch bestimmten Fibelformen wie der Fibel Almgren 96 (Fig. 4)und bestimmten Tongefäßen mit spezifischem Dekor (Fig. 5 a—b)12; dies ist mehr oderweniger der Fall (vgl. die Verbreitungskarten zur Wielbark-Kultur: Fig. 6—7, 9).

Gut erforscht sind durch die polnischen Kollegen auch die Verbreitungsge-biete der Wielbark-Kultur in ihrer zeitlichen Tiefe, d. h. die siedlungsgeschicht-lichen Etappen und Veränderungen der älterkaiserzeitlichen Wielbark-Kultursind kartographisch gut erkennbar an der Aufschlüsselung der Wielbark-Siedlung aufdie Zeitstufen Bl, B2 und B2/C1—Cla; leider sind diese Karten nicht mit geomorpho-

10 Eng mit der Person verbundene Ausstattungselemente, bei der Frau eben das Trachtzubehör: vgl.hierzu HERMANN FRIEDRICH MULLER, Das alamannische Gräberfeld von Hemmingen, Stuttgart 1976,S. 127-136, bes. S. 133 f£

11 MAGDALENAltMPELMANN-M^czvNSiCA, Das Frauentrachtzubehör des mittcl- und osteuropäischen Bar-baricums in der römischen Kaiserzeit, Krakow 1989, S. 65-77; DIES., Die Frauentracht der Wielbark-Kultur und ihre Beziehungen zu den Nachbargebicten, in: GuRBA-KÖKOWSKi (Red.) (wie Anm. 9)S. 205-220; MALGORZATA SAJKCWSKA, An attempt of teconstructing the woman's cloths in die Wiclbarkculture during the cariy period of roman influences, in: MAUNOWSKI (Red.) (wie Anm. 6) S. 245-262;JERZY MAIK, The use of texoles in mc dress of the Wielbark culcure pcople, in: ebd. S. 217-233.

12 Z. B. KAZIMJERZ GODLÖWSKI, Gegenseitige Beziehungen zwischen der Wiclbark- und der Ptzeworsk-Kultur, Veränderungen ihrer Verbreitung und das Problem der Gotenwanderung, in: KMIECINSXI (Red.)(wie Anm. 7) S. 125-152» S. 128 f.; ferner: Fibel Almgren 96: GÄZEGORZ DOMANSKI, in: Przcglad Ar-cheologiczny 2t, 1973, S. 147 Abb. 6; Schildkopfarmringe: TADEUSZ WOJCIK, Pommerschc Formen derSchildkopfarmringe aus der römischen Kaisetzeit, in: Materiaiy Zachodniopomorskie 24, 1978,S. 35-113; Keramik: RYSZAKÜ WOLAGJEWICZ, Die Chronologie der Keramik der Wielbark-Kultur, in:GURBA-.KOKOWSKJ (Red.) (wie Anm. 9) S. 145-155; J. V. KUCHARENKP, Mogil'nik Brest-Triiin, Moskau1980, S. 30—43; TAUEUSZ GKARAKCZYK, Metajowe rzcmioslo artystyczne na Pomorzu w okresit rzym-skim, Wroclaw ... 1983. * Umgekehrt gibt «.· Trachuubehör, das von der VWelbark-Bevölkerung nichtübernommen wurde, aber von den Nachbarkukuren, und das wie ein Kranz die Wicllurk-Kuhur vonallen Seiten umtchliclit, so z, ß. die DoppeldornKhnaJlcn mit rechteckigem Rahmen: RENATA MADYIM-I-LCUTKO, Doppcldornschnailcn mit rechteckigem Rahmen Im europitiichcD Barbaricum, in; Germania68,1990, $. 551-585 mit Karte A4>b. 1.

Page 8: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

58 Volker Bierbrauer

CD-σcs<NCQ

lC/5

lf

Page 9: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 59

Page 10: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171
Page 11: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 61

00

ä

ls*u

Sl

f

Page 12: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171
Page 13: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 63

logischen bzw. bodenertragskundlichen Merkmalen unterlegt13. Dennoch sind dieseKarten für das Verständnis der Wielbark-Kultur insgesamt von entscheidender Bedeu-tung, und zwar unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten:

Der Verbreitungsraum in Bl (ca. Anfang 1. Jh.-80 n. Chr.):

Er ist beschränkt auf den küstennahen Bereich Nord- und Nordostpommernssowie im Landesinneren auf den westlichen Teil der krajenischen Seenplatte in Mittel-pommern südlich des Oberlaufes der Rega und sodann auf das untere Weichseltal bisöstlich von Elbing und einschließlich des westlichen Kulmer Landes (Fig. 6); siedelleerist noch der größere Teil von Mittel- und Südpommern sowie Großpolen im Bereichvon Netze und Warme. Die besiedelten Flächen beziehen sich somit weitgehend aufdie guten Alluvialböden und Lößbedeckungen im Weichseltal und auf Braunerden/Parabraunerden. Dieses sehr spezifische Siedelbild mit (weiterhin) besiedelten und(noch) unbesiedelten Landschaften ist in seiner Interpretation bedeutsam im Vergleichsowohl zum Siedelbild der vorangehenden Oksywie-Kultur während der jüngeren vor-römischen Eisenzeit (S. 76 ff.; Fig. 11) als auch zu den Nachbarkulturen in B l (Fig. 6).Mit Ausnahme der stark eibgermanisch geprägten Gustow- und Lebuser-Gruppe imunteren Odergebiet befindet sich die Wielbark-Kultur (noch) in einer Art Insellage,also ohne grenznachbarschaftliche Anrainersituationen zu den Nachbarkulturen imSüden, Südosten und Osten, was Grenzakkulturationen ausschließt: So liegen beträcht-liche siedelleere Zonen zwischen ihr und der Przeworsk-Kultur mit ihren nördlichenSiedelgebieten im südlichen Großpolen, in Kujawien und Nordmasowien14 (zur Prze-worsk-Kultur: S. 67 f£) und den westbaltischen Kulturgruppen (westbaltische Grabhü-gelkultur in Samland und Natangen und Bogaczewo-Kultur in Masuren)15 (Fig. 6). DieWielbark-Kultur kommuniziert somit nicht oder nur unwesentlich mit ihren Nachbar-kulturen, empfangt und gibt nicht von bzw. nach außen; dies ist wichtig, da entschei-dende Veränderungen in der sich herausbildenden Wielbark-Kultur in B l im Vergleichzur regional und zeitlich vorangehenden Oksywie-Kultur daher sinnvoll nicht durchEinwirkungen dieser kontinentalen Nachbarkulturen erklärt werden können.

13 RyszARD WOLAGIEWJCZ, Stan badan nad okresem rzymskim na Pomorzu, in: KAZIMIERZ GODLOWSKI-RENATA MAITYDA-LECUTXO (Red.), Stan i potrzeby badan nad mlodszym okresem przedrzymskim iokresem -wplywow tzymskich w PoUce, Krakow 1986, S. 299—318, mit Karten als Beilagen (= Konfe-renz Krakow); GODLOWSKJ (wie Anm. 12) Karten 1-3; DERS., Germanische Wanderungen (wie Anm. 5)Karten 3-5; DERS., Przcmiany kulrurowe i osadnicze w poludniowej i srodkowcj Polsce w mJodszymokrcsie przedrzyraskim i w okrcsie rzymskim, Wrodaw ... 1985 mit Karten 3-5; DERS., Przeworsk-Kultur (wie Anm. 5) mit Karten 3—5; JERZY OKULJCZ-KOZARYN, Centrum kulturowe z pierwszychwtekow naszej ery u ujscia Wbty, in: JJEKZV OKUUCZ-KOZARYN-*WOJCIECH NCWAXOVC^KJ (Red.), Barbari-cum 2, Warszawa 1992, S. 137-155 mit Karte Abb. 1. - Berücksichtigung von Geomorphologie undBodengüte für ausgewählte Meine Zonen bei KRYSTYNA PRZEWOZNA, Strukrura i rozwuj zasiedieniarx>tudniowo»w&chodnic) strcfy aadbaltyckiej u schylku starozytnoici, Warszawa—Poznan 1974.

14 Woj^Acitvicz und GODLOWSKI (wie Anm. 13) mit dct iewciiigcn Karte für Bl.15 WojCirjqH NOVAKOWSKI, Wielbark-Kultur und wcstbiüti»cher Kuharkreis, in: JAN GüKhA-ANDRZtj Kc>-

»· » (Rai.}, Kauliitta wielbafsk» w mkxfezym okresie rzymikim 2, Lüblin 1989, S. 143-159 mitAbb. 1; D&KS., Baltcs et proto-Siave» dans fAnriquite, Textes et archcologie, ia· DiaJogucs d*h»toircancienne 16,1, 1990, S. 359-402. S. 364 ff; DMA. J^idy na poJnocnc^wscnodnich skrajach Barbaric**.„Germania** Tacyta w iwieüe onaüzy zrt"xitJ archw>logicxnych, in: Meandcf 2-3, 1990, S. 75-96; JtkzvOKUUCZ, MritgoAA\> and VJ^gorzirwr» <^f tbe West-Bait Cultuic groups and thtr problem of„Galindaj*4 and M&udifti>i** triben. ißi Roznik Bialo«tpcki 14.1981, S. 151-167 mit Kartr 1.

Page 14: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

64 Volker Bierbrauer

Der Verbrcitungsraum in B2 (ca. 80-160 n.Chr.):

In diesen Zeitabschnitt fallen - außer Siedelverdichtungen in den in Bl besetztenRäumen - bemerkenswerte Erweiterungen des Siedlungsraumes der Wielbark-Popula-tionen. Er erstreckt sich nun in die zuvor siedelleeren Gebiete Mittel- und Südpom-merns (pommersche Hochebene und Seenplatte mit Pommerellen und TucheierHeide) bis in das nördliche Großpolen (Netze-Warthe-Raum), östlich der Weichsel biszur Passarge und im Südosten bis in das Gebiet zwischen Dwerenz und Wkra (ZiemaDobrzynska) (Fig. T)16; in Pommern werden nun erstmals auch weniger gute Bödenmit Eisen-Humuspodsol in Heide- und Sanderflächen besetzt, wobei jedoch extremschlechte Böden weitgehend bzw. ganz ausgespart bleiben.

In Zeitstufe B2 ist - wie oben schon erwähnt - die neue Bestattungsform mitGrabhügeln vom Typ Odry-We.siory-Grzybnica (Fig. 8) und mit Steinkreisen voll aus-gebildet; bemerkenswert ist, daß beides, Grabhügel und Steinkreise, bei einer Aus-nahme im Kreis Slupsk (Stolp) an die erst in B2 erweiterten Siedelgebiete gebundensind (Fig. 8, im Vergleich zu Fig. 6)17. Abgesehen von der Frage, wie diese erheblicheSiedlungsverdichtung und Siedelerweiterung erklärt werden kann, was noch offen ist(demographische Gründe, Zuwanderungen?), bedarf auch die auffallende zeitliche undräumliche Koinzidenz zwischen dem Aufkommen dieser neuen Sitte und der Sied-lungserweiterung nach Mittel- und Südpommern einer Erklärung; da die Grabhügelund Steinkreise seit altes her mit Einwanderungen (von Goten) aus Skandinavien inVerbindung gebracht wurden, sei auf diese Frage erst weiter unten im entsprechendenKontext näher eingegangen (S. 85 ff.).

Das in B2 erweiterte Siedelgebiet brachte die Wielbark-Kultur - abgesehen vonder unveränderten Situation ganz im Nordwesten - nun erstmals in einen unmittelba-ren Kontakt zu ihren Nachbarkulturen (Fig. 7). Die in B2a entstehende westbaltischesamländische-natangische Kulturgruppe von Dollkeim/Kovrovo und auch die Boga-czewo-Kultur in Masuren, letztere mit nahezu unveränderter Westausdehnung gegen-über Bl, sind nun unmittelbare Nachbarn vor allem im Bereich der Passarge, was auchzu einer beachtlichen 'Wielbarkisierung' der Dollkeim-Kovrovo-Kultur führte (vonder Übernahme von Sachgütern des Trachtzubehöres, Schmuckes und Keramik biszur Bestattungssitte, d. h. der Übernahme der Körperbestattung); diese grenznachbar-schaftliche Situation wirkte sich in umgekehrter Richtung wesentlich schwächer aus18.

16 WOLAGIEWICZ und GODLOWSKI (wie Anm. 13) mit den jeweiligen Karten für B2; für Ziemia Dobrzynska:KRYSTINA HAHULA, Die Wielbark-Kultur in der Region Ziemia Dobrzynska, in: GURBA-KOKÖWSKI(Red.) (wie Anm. 9) S. 87-103.

17 Grabhügel zuletzt: WOLAGIEWICZ, Kre.gi kamienne (wie Anm. 8) mit Karte Abb. 40; DERS., Die Goten(wie Anm. 8) S. 98 Abb. 17; Steinkreise zuletzt: ANDRZEJ KOKOWSKI, Zur Frage der Steinkreise in derMittelzone von der Pommerschen Seenplatte, in: Folia Archaeologica 8, 1987, S. 63-79 mit KarteAbb. 6. - Kritische Anmerkungen zur Aussagekraft der Verbreitungskarten (zerstört in landwirtschaft-lich stark genützten Gebieten wie z. B. im unteren Weichseltal) bei GODLOWSKI, Germanische Wande-rungen (wie Anm. 5) S. 62; dem ist aber u. a. entgegenzuhalten, daß Grabhügel und Steinkreise auchweiter östlich im westpreußischen Seengebiet am Oberlauf der Passarge und der Dwerenz nördlich undsüdwestlich von Osterode fehlen, dort auch Wielbark-Gräberfelder in B2,

18 Zuletzt ausführlich: NÖWAKOWSKI, Wielbark-Kultur (wie Anm. 15) S. 143 ff. mit Abb. 2-3; DERS., Kul-turowy krag zachodniobaltycki w okresie wplywow rzymskich, in: Archeologia bahyjska, Olsztyn 1991,S. 42-66, bes. S. 52 f£ (= Konferenz Olsztyn); DERS., Baltes et Proto-Slaves dans l'Antiquite (wieAnm. 15) S. 359-402, bes. S. 370 ff.

Page 15: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171
Page 16: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171
Page 17: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 67

Nur noch gering sind nun auch die Abstände der Wielbark-Kultur zur Przeworsk-Kultur, deren nördlicher Siedlungsbereich gegenüber B l ebenfalls nahezu unverändertbleibt; in Kujawien 'trennt* nur noch die Weichsel beide Kulturen19. Im Südostenentsteht in der Stufe B2b (ca. 120-160) die Luboszyce-Kultur beidseits der mittlerenOder (Lebus-Land, ein Teil Niederschlesiens, die Lausitz und das östliche Branden-burg: Burgunder?), die eng mit der Przeworsk-Kultur verbunden ist, bei deren Ethno-genese aber wohl auch die Wielbark-Kultur beteiligt war20.

Der Verbreitungsräum in B2/Cl-Cla (ca. 160-220/230 n. Chr.):

Den Kulminationspunkt dieser beschriebenen und von der polnischen Forschungvorzüglich aufbereiteten Entwicklung bildet der Übergang von der älteren zur jüngerenKaiserzeit bzw. die beginnende jüngere Kaiserzeit mit einer weiteren Siedlungsverdich-tung in den alten Räumen und einer nochmaligen, wenn auch geringfügigen Siedeler-weitefung in jene noch verbliebenen schmalen siedelleeren Zonen zu den Nachbarkul-turen (Fig. 9). So schiebt sich die Wielbark-Siedlung nun direkt an die Westgrenze derbeiden westbaltischen Kulturgruppen in Samland und Natangen sowie in Masuren(Dollkeim/Kovrovo- und Bogaczewo-Kultur) vor21 und im Süden sehr nahe an diePrzeworsk-Kultur mit einer Gemengelage beider Kulturen in Kujawien (Fig. 9)22; dieDarstellung der am Ende von B2 und in B2/C1 einsetzenden BesiedlungsVeränderun-gen im Bereich der Wielbark- und Przeworsk-Kultur erfolgt weiter unten (Kapitel II),da diese schon Teil der (gotischen) Südostwanderung von Trägern der Wielbark-Kultursind.

Die Nachbarkulturen:

Die Umschreibung der Wielbark-Kultur durch kulturimmanente Determinantenwährend der älteren und beginnenden jüngeren Kaiserzeit erfolgte bereits oben(S. 53 ff.); genauso wichtig zu ihrer Kennzeichnung als eigenständige unverwechselbareKulturfazies ist aber auch ihr Vergleich mit den Nachbarkulturen, die schon mehrfachbei der Darstellung der Siedelgebiete erwähnt wurden: die westbaltischen Kulturgrup-pen im Osten und die Przeworsk-Kultur im Südosten und Süden; deren Kennzeich-nung erfolgt nur kurz und insoweit, als deren grundsätzliche Verschiedenartigkeit zumVerständnis der Wielbark-Kultur unbedingt nötig ist.

Die Przeworsk-Kultur: Sie ist gut erforscht, vor allem durch Kazimierz God-iowski23; von der deutschen Vorkriegsforschung als „wandalische Kultur" bezeich-net24, ist die von der polnischen Forschung schon früh benützte Benennung Prze-

19 Zuletzt GODUWSW, Przcmiany (wie Anm, 13) S. 53 ff, mit Karte Beilage 4; DERS. (wie Anm. 12) S. 128mit Karte 2; DEKS.» Przcworsk-Kultur (wie Anm. 5) S, 29 £ mit Karte 4.

20 GfcZEOQKZ DOMANSKI, Die Luboszyce-Kulrur und die Wiclbark-Kuitur, in: GURUA-KQKOWSKI (Red)(wie Anm. 15) S. 127-141 (mit alteret Literatur),

21 V$. Anm, 18, besonders: NOVAKDWSKJ, Kulturowy kc?.g, Abb. 1.22 Vg|, Anm. 19.21 vgf< vor allem seine zuletzt erschienene und vorläufig abschließende* umfangreiche Studie: Pr*cwon>k-

Kultur (wie Anm. 5).24 KUKT TACKUKUEKC, Die Wandalen in Niederschrien, Leipzig 1925; JAHN, Die Wandalen, in:

VorgcKhichte' der deutschen Stämme, Leipzig 1940, S. 943-1032.

Page 18: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Fig. 9 Wielbark-Kultur (ausgefüllter Kreis) der Stufen B2/C1 und Cla mit Nachbarkulturen; zu den Signatu-ren: vgl. Fig. 6; dazu Luboszyce-Kultur: Balken (Kartierung nur bis Oder). Wielbark-Kultur und odergerma-nische Gruppen: WOLAGIEWICZ (wie Anm. 13) Karte 4; GODLOWSKI, Przeworsk-Kultur (wie Anm. 5) S. 32Karte 5; Przeworsk- und Luboszyce-Kultur: GODLOWSKJ, Przeworsk-Kultur, S. 32 Karte 5; DERS., Germani-sche Wanderungen (wie Anm. 5) S. 65 Karte 5; DERS., Przemiany (wie Anm. 13) Karte 5; westbaltische

Kulturgruppen: NOWAKOWSKI, Kulturowy krag (wie Anm. 18) S. 44 Abb. 1.

Page 19: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 69

worsk-Kultur h^ute allgemein gebräuchlich, dies nach dem großen Gräberfeld vonGac, nahe der südostpolriischen Stadt Przeworsk. Die Genese dieser Kultur vollziehtsich am Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit (zu Beginn von Stufe AI) etwa inder 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. sehr wahrscheinlich auf der demographischenGrundlage der autochthonen Bevölkerungsgruppen (Pommersche Kultur bzw. Glok-kengräberkultur) bei einem beträchtlichen Anteil eingewanderter Germanen aus demBereich der Jastorf-Kültur im Westen und Nordwesten sowie unter starkem Einflußder keltischen Latenekultur25; das Verbreitungsgebiet dieser Kulturgruppe erstrecktsich in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit zwischen mitderer Oder im Westen undmittlerer Weichsel im Osten, reicht dann östlich der Weichsel bis Kujawien und Maso-wien und im Buggebiet bis nach Podiasien, im Süden bis weit nach Schlesien immittleren und teilweise noch oberen Odergebiet sowie an der oberen Weichsel bis indie Gegend von Krakau, die Nordausdehnung liegt etwa auf der Höhe von Warthe-Thorn26. Abgesehen von zeitlich und regional unterschiedlichen Siedlungsreduktionenund Siedelverdichtungen und vor allem vom gänzlichen Ausfall der Besiedlung imWestteil der Przeworsk-Kultur in Niederschlesien und im nördlichen Großpolen amEnde der Stufe A2 bzw. am Übergang zur Stufe A3 um 50 v. Chr. (mit Abwanderungennach Westen im Gefolge der Sueben-Expansionen)27, deren Darstellung hier entbehr-lich ist, und abgesehen von tiefgreifenden Veränderungen im Verbreitungsgebiet öst-lich der mittleren Weichsel verbunden mit Süd- und Südostexpansionen am Ende derälteren Kaiserzeit, die weiter unten wesentlicher Teil unserer Thematik sein werden(S. 87 ff.), ändert sich am Siedelbild in den Kernräumen zwischen Oder und Weichselwährend des gesamten Bestehens der Kultur in der jüngeren vorrömischen Eisenzeitund römischen Kaiserzeit (AI—C3) nur wenig (Fig. 6^7, 9)28. Zudem verläuft dieEntwicklung der Przeworsk-Kultur — abgesehen von ihren zeitbedingten Ausfor-mungen — in ihren grundsatzlichen Determinanten kontinuierlich, ohne entscheidendeBrüche, wie sie in anderen Kulturen in vergleichbar längen Zeiträumen eher die Regelsind; dies ist bemerkenswert angesichts der 600jährigen Geschichte dieser Kultur.

Die Eigenständigkeit im Kulturgefiige beruht im wesentlichen auf folgendenMerkmalen, die sie auch von den Nachbarkulturen, insbesondere von der Wielbark-Kultur, regelhaft scharf abgrenzen; sie betreffen die Grab- und Beigabensitte, Trachtei-gentümlichkeiten und deren Typen, Schmuck und andere Sachgüter: a. reine Brandgrä-berfelder (meist Brandgrubengräber; dann Brandschüttungs- und Urnengräber, diebeiden letzteren in der älteren Kaiserzeit ansteigend), b. WafFenbeigabe beim Mann,c. Beigabe von Gerätschaften, d. reichhaltige Geschirrsätze, e. die Anfertigung desTrachtzubehörs und des Schmucks aus Eisen aus Eisenverhüttungszentren im Bereichder Przeworsk-Kultur, f. spezifische Formen und Ornamentik der Tonware und g.das weitgehende Fehlen von Typen des Trachtzubehörs und Schmucks, die in den

25 Zuletzt mit älterer Literatur: TERESA D^BROTSKA, Bemerkungen über die Entstehung der Przeworsk-Kuitur, in: Prihiston&che Eilschrift 63, 1988, S. 53-80; DIES.» Frühe Einflüsse der Pnxworsk-Kulturauf die Jastorf-KulouE, in: Zeitschrift für Archäologie 23,1988, S. 191-210; DIES., Wczc&ne fazy kulturyprzeworsloq. Chroncilogia-zasieg-powifzania, Warszawa 1988; CoDtowSKi, Przeworsk-Kultur (wieAnro. 5) S. 10-14.

*<* Zutoi GODIX>*'$JU, Przcwottk-Kultur (wie Arun. 5) S. 12-22,** Goouwsu, ebd. S. 17-19.** Gou{x>«'&fcit ebd. paftsim mit Karten 1-7.

Page 20: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

70 Volker Bietbrauer . :

Nachbarkulturen (auch in der Wielbark-Kultur) - oft sogar als interregionale Typen —verbreitet sind29. j

Trotz Verlust und Zugewinn von Territorien an der Peripherie dieser Kultur ;sind die mehrhundertjährige Siedelkonstanz in den Kerngebieten und das Bündel an '.hochrangigen kulturdefinierenden, stabilen Merkmalen von so grundsätzlicher Bedeu-tung, daß die Przeworsk-Kultur als eine in sich auffallend geschlossene Kulturfaziesbegriffen werden darf; ihr Verbreitungsgebiet war „von einer Bevölkerung bewohnt,die gemeinsame Sitten und religiöse Vorstellungen besaß und durch mannigfaltige, .stabile Bande wirtschaftlicher ... Natur verknüpft war"30.

Trotz aller Einheitlichkeit im Grundsätzlichen bestehen dennoch lokale Beson-derheiten, und zwar im östlichen Zweig der Przeworsk-Kultur, also östlich der Weich-sel (Fig. 6—7), besonders in der sog. Nidzica-(Neidenburger)Gruppe im nördlichenMasowien, die - wie oben schon erwähnt - in B l nahezu unmittelbar an die Wielbark-Kultur grenzt; vor allem wegen der fehlenden Waffenbeigabe weist die Nidzica-Gruppe Züge der Wielbark-Kultur auf31, was sich in Stufe B2, in der die Nidzica-Gruppe schon verschwindet (S. 90), noch verstärkt (Fibeln, Keramik vom Wielbark- jTyp)32 (Grenzakkulturation; Wielbarkisierung); obgleich sich dieser Wielbark-Einfluß j.;fauch sonst in Nordmasowien auswirkt, ist an der Zugehörigkeit Masowiens zur Prze-worsk-Kultur wegen des Gesamthabitus dennoch nicht zu zweifeln. Diese östlichelokale Variante der Przeworsk-Kultur wurde deswegen erwähnt, und es ist weiter untennochmals darauf zurückzukommen, da Rolf Hachmann in dieser masowischen Gruppeder jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der älteren Kaiserzeit das kontinentale Sie-delgebiet der Goten glaubte nachweisen zu können33.

Die westbaltischen Kulturgruppen: Auch diese sind — vor allem was ihrebeiden westlichen Kulturgruppen betrifft, die sowohl an die Wielbark- als auch anPrzeworsk-Kultur angrenzen - gut erforscht, insbesondere durch die Arbeiten vonJerzy Okulicz und Wojciech Nowakowski: die Dollkeim/Kovrovo-Kultur in Samlandsowie in Natangen (zwischen Pregel, Passarge und Alle) und Nadrauen (am Unter-und Mittellauf der Pissa) und die Bogaczewo-Kultur in Masuren (Fig. 6-7, .9).

Die Dollkeim-Kultur entsteht am Anfang der Stufe B (B2a) in den letzten Jahr-zehnten des 1. Jahrhunderts n.Chr. auf der Grundlage der autochthonen eisenzeit1

liehen westbaltischen Hügelgräberkultur34 mit sehr spezifischen unverwechselbarenMerkmalen: a. als gebräuchlichste Bestattungsart Urnengräber, daneben auch Brand-

29 GODLOWSKI, ebd. S. 50-52.30 GODLOWSKI, ebd. S. 52.31 Zuletzt JERZY OKULICZ, Gravefields from roman period on „Lysa Gora" and „Zwierzyniec" in Grodki,

Ciechanow Voievodship, in: Rocznik Olsztynski 14/15,1983, S. 172-178 und S, 183.32 TERESA DABROWSKA, The cultural changes of Masovia and Podlasia in the roman influences, in: Wiado-

mosci Archeologiczne 54, 1980, S. 45-58; DIES., The eastern border of the Przeworsk-Culture in theLate-La-Tene and the Early Roman Periods, in: Materialy Starozytne i Wczesnosredniowieczne 2,1973,S. 127-253.

33 ROLF HACHMANN, Die Goten und Skandinavien, Berlin 1970, S. 251-279, S. 432 ff., S. 444 ff.; dazu die.Rezension von KAZIMIERZ GODLOWSKI, in: Sprawozdania Archeologiczne 24,1972, S. 538-541; ferner:GODLOWSKI (wie Anm. 12) S. 130 f. und weitere Reaktionen — vor allem von historischer Seite - aufdieses wichtige Werk zusammengestellt bei JERZY STRZELCZYK (wie Anm. 38) S. 5 Anm. 12.

34 L. OKULICZ, Kultura kurhanow zachodniobaltyjskich we wczesnej epoce zelaza (The West Balt BarrowCulture in the Early Iron Age], Wroclaw-Warszawa-Krakow 1970.

Page 21: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—1. Jahrhundert 71

grubengräber sowie Grabhügel und Steinkreise, Grabsitten also, die in der lokaleneiseozeitlichen Tradition wurzeln (vor allem Hügelgräber), ferner auch Körpergräber,die als Sitte aber aus der Wielbark-Kultur übernommen wurden; b. Pferdebestattun-gen; c. Männergräber mit Waffen (wenn auch selten), mit Sporen und mit Zaumzeugund cL Frauengräber mit einer sehr spezifischen Frauentracht und Typen (vor allemGürtel), einschließlich der Haubentracht?5.

Die Herausbildung der Bogaczewo-Kultur erfolgte bereits in der jüngeren vor rö-mischen Eisenzeit (AI—A3) und ist in A3 in der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts v, Chr.voll ausgebildet, auch unter starker Prägung durch die Przeworsk-Kultur, die bis in dieältere römische Kaiserzeit fortwirkt; dies und die bemerkenswerte Unterschiedlichkeitzur Dollkeim/Kovrovo-Kultur äußern sich im Fehlen der Hügelgräber, Steinkreiseund der Körpergrabsitte (üblich flache Brandgräberfelder), in der regelhaften Waffen-beigabe und auch in von der Dollkeim-Kultur stark abweichenden Sachgütern36.

Zusammenfassend ergibt sich für die ältere und beginnende jüngereKaiserzeit im östlichen Mitteleuropa und Osteuropa somit ein klares Bild der Kul-turgruppengliederung, in jenem Raum also, in dem auch bei vorsichtigster Wertungder Schriftquellen ganz ohne Zweifel die kontinentalen Wohnsitze der Goten-Gt/tonesgelegen haben müssen. Drei Kulturgruppen lassen sich also methodisch ausreichendgesichert erkennen und voneinander absetzen: die Wielbark-Kultur, die Przeworsk-Kultur und die beiden östlich benachbarten sog. westbaltischen Kulturgruppen (Doll-keim/Kovrovo und Bogaczewo); ihre Verbreitungsräume (Fig. 6—7, 9) wurden obenbeschrieben samt ihren wesentlichen Veränderungen während der älteren Kaiserzeit.Dieser durch die weit fortgeschrittenen und vorzüglichen Ergebnisse der polnischenForschung voll geklärte archäologische Sachverhalt kann nun interdisziplinär mit denSchriftquellen bzw. mit den Ergebnissen der historischen Forschung verglichen undkonfrontiert werden; dies ist merkwürdigerweise nach Reinhard Wenskus (196l)37, derin den 50er Jahren sich freilich noch nicht auf einen auch nur annähernd vergleichbarguten archäologischen Forschungsstand beziehen konnte, von Seiten der historischenForschung kaum versucht worden38, wohl aber immer wieder durch die archäologischeForschung. Ohne auf die verzweigte Diskussion ausreichend differenziert eingehen zukönnen, hat sich in den beiden letzten Jahren auf Seiten der Archäologie ein For-schungskonsens zur ethnischen Interpretation der genannten Kulturgruppen herausge-bildet; trotz der zum Teil vagen und auch widersprüchlichen Angaben in den Schrift-quellen (s. unten) ließ sich vorsichtig wertend folgendes gut begründetes interdiszi-plinäres ethnographisches Bild entwickeln.

™ Zuletzt NOTAKCWSKI (wie Anm. 18);DERS.f Das Samland in der römischen Kaiscrzeit und seine Verbin-dungen mit dem römischen Reich und der barbarischen Welt, Bonn (im Druck).

36 /.ulcm NOWAKOWSKJ (wie Anm, 18) und DKRS., Die Bogaczcwo-Kultur in Masurcn vom Ende derjüngeren vorrömischen Eisenzeit bis zum Beginn der spätrömischcn Kaiscrzeit, in: Material)- Starozytnei Wc2esnosredniowiecznc 7,1993 (im Druck).

3~ RFJNHAKU Vii.NSKU^ Stammesbildung und Verfassung, Das Werden der frühmittelalterlichen gentcs,Koln-Gra* 1961, S. 398 £, 462-4S5.

** Von polnischer Seite vgL jedoch die informative interdisziplinäre Studie von JEKZY STRZtxczYH, KinigcBemerkungen zur Diskussinn über die Frühgeschichte der Goten, in: KIAUS-DETI.LV GKDTMUSI.N-Kuuu* ZiJiNAC* ( | ). Europa Slavica - Europa Orkmafo. i?e$tschrift fiir Herbert Ludat, Berlin 1980,S. 1-29; v$. DERS, (wie Anm. 1); ferner kurz: * S. Bimw«, Pcrsuing the carly gothic rnigrations,in: Ac» Archaeoiogica Academiae Scicndarum Hungaiicae 31.1979, S. 189-199.

Page 22: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

72 Volker Bierbrauer

a. Die Wielbark-Kultur

In ihrem Bereich siedelten die Gutones-Goten und sehr wahrscheinlichauch die Lemovier und (Ulmi-)Rugier, dazu noch die Gepiden nach Jordanes; da dieWielbark-Kultur nach möglicherweise existierenden Regionalgruppierungen vorerstnoch nicht untersucht ist, läßt sich eine Lokalisierung dieser Populationen (vor allemLemovier und Rugier, auch Gepiden) (noch) nicht vornehmen (zu den Gepiden:S. 96 ff.). Klar ist aber immerhin, daß sie sich in ihrer kulturellen Ausprägung kaumoder gar nicht voneinander unterschieden haben dürften, da — wie ausgeführt — dieWielbark-Kultur eine in allen grundsätzlichen Determinanten sehr eigene und homo-gene Kulturfazies bildet. Für die nähere Lokalisierung der,Goten im Bereich der Wiel-bark-Kultur ergeben sich gleichwohl archäologisch begründete und gesicherte Anhalts-punkte, dies aber - wie noch gezeigt werden kann - erst rückschließend durch dieeinschneidenden Siedlungsveränderungen ab der Stufe B2/C1 und Cla am Übergangvon der älteren zur jüngeren Kaiserzeit bzw. zu Beginn der jüngeren Kaiserzeit: Ge-meint sind die Aufgabe älterkaiserzeitlicher Siedelgebiete in Pommern und Großpolen,also im mitderen und westlichen Verbreitungsraum der Wielbark-Kultur, und die damitverbundene Verlagerung ihrer Siedelgebiete in den 1. Expansionsraum östlich der mitt-leren Weichsel (Fig. 16) und sodann in den 2. Expansionsraum in Wolhynien undin der Ukraine; mit dieser Südostbewegung kann dann ein weiterhin voll geklärterarchäologischer Sachverhalt mit einem erstmals auch voll geklärten historischen Be-fund verbunden werden (S. 106); dieser zeitlich rückschreitende Weg ist ohnehin dasüberzeugendste (interdisziplinäre) methodische Instrumentarium, ethnische Interpreta-tionen für die Wielbark-Kultur der älteren Kaiserzeit zu erreichen. Demnach sind —dies bereits als Vorgriff auf noch folgende Beweisführungen - die Siedelgebiete derGoten in der älteren Kaiserzeit in Pommern und im nördlichen Großpolenzu lokalisieren, also etwa zwischen Rega im Westen bis nach Pommerellen im Osten(unter Ausschluß des unteren Weichseltales) und Netze/Warthe im Süden (wobei inKüstennähe wohl noch die Rugier anzunehmen sind, dies mit Blick auf die Schriftquel-len, aber noch ohne archäologische Evidenz). Auch die Siedelgebiete der Gepidenlassen sich auf ähnliche Weise ab B2/Cl-Cla zurückschließend mit guten Gründenim unteren Weichseltal und östlich der unteren Weichsel bis zur Passarge vermuten(S. 96 ff.). Dies ist alles nicht neu und entspricht weitgehend dem Konsens in derjüngeren polnischen Forschung39.

b. Die Przeworsk-Kultur

Sie wurde und wird mit mehr oder minder großer Bestimmtheit mit den Lugiernder älteren Kaiserzeit identifiziert40; unabhängig von dem nach wie vor nicht überzeu-

39 Zuletzt GODLOWSKI (wie Anm. 12) S. 131 ff.; DERS., „Superiores Barbari" (wie Anm. 5) S. 339; DERS.,Germanische Wanderungen (wie Anm. 5) S. 59, 64 f.; ANDRZEJ KOKOWSKI, Die Wielbark-Kultur in derjüngeren römischen Kaiserzeit, in: GURBA-KDKOWSKI (Red.) (wie Anm. 9) S. 15-31, S. 16 ff.

40 Zuletzt GODLOWSKI, Przeworsk-Kultur (wie Anm. 5) S. 53 ff.; DERS., Przemiany (wie Anm. 13) S. 135 f.und 210; inwieweit noch andere Stämme oder Stammesgruppen im Bereich der Przeworsk-Kulturgesiedelt haben, ist unklar (Burer, auch Burgunder?).

Page 23: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 73

gend gelösten und aufgrund der Schriftquellen wohl auch nicht lösbaren Problem, obsich hinter den Lugiern eine Gruppe von mehreren Stämmen — etwa im Sinne einerKultgemeinschaft — verbirgt, was umgekehrt in derselben Problematik genauso für dieVinM- *Vandtö (Plinius, Hist Nat IV,99-100) bzw. die Vandaliiaes Tacitus (Germa-nia 2,2) gilt41, stehen beide Stämme oder besser Stammesgruppen in einem offenbarengen, vermutlich weitgehend synonymen Verhältnis zueinander. Für die Lokalisierungder älterkaiserzeitüchen Goten ist dieses Problem jedoch ohne größere Bedeutung,und es genügt die Bezeichnung der Przeworsk-Kultur als lugisch-wandalisch.

c. Die westbaltischen Kulturgruppen

Klar unterscheidbar in ihren Kulturdeterminanten und vor allem in ihrer lokaleneisenzeitlichen Tradition von der Wielbark- und Przeworsk-Kultur sind die beidenwestlichen Kulturgruppen des westbaltischen Kulturkomplexes: die Dollkeim/Kovro-vo- und Bogaczewo-Kultur. Sie können mit großer Sicherheit mit den Acstü des Taci-tus (Germania 45) gleichgesetzt werden42, hinter denen dann die Fenni (Germania 46)zu lokalisieren sind; ob man im Sinne von Tacitus: Hie Suebiaeßnis die Aestii noch alsöstlichsten germanischen Stamm bezeichnen darf43, ist eine andere Frage, die in unse-rem Kontext jedoch ohne große Bedeutung ist.

Trotz der Kargheit und Widersprüchlichkeit in den antiken älterkaiserzeitUchenSchriftquellen über die Wohnsitze der Goten läßt sich deren oben schon kurzskizzierte interdisziplinäre Lokalisierung im Bereich der Wielbark-Kultur, vor-nehmlich durch die archäologischen Fachvertreter (S. 57), somit auch bei einer näherenPrüfung vollauf rechtfertigen44:

Der Grieche Strabo ist der erste antike Geograph, der die Goten kannte undnannte (Geographia ,l,3); seine Nachricht ist jedoch nur aus chronologischenGründen wichtig, da als terminus quo oder ante quem kontinentale Wohnsitze derGoten bereits für 5/6 n. Chr. belegt sind, in der Nachbarschaft u. a. von Lugiern, alsozweifelsohne im östlichen bzw. nordöstlichen Mitteleuropa. Territorial eingrenzend istebensowenig bei dem Älteren Plinius (Hist. Nat. IV,14,99) um die Mitte des I.Jahrhun-derts zu erfahren, außer daß er Goten (und Burgunder) als Teile der Vmdlli — * Vandalinennt. Ein geographisches Bezugsgeflecht — und dies ist wichtig — ist erstmals beiTacitus um die Jahrhundertwende zu finden mit der berühmten Reihung: Trans LugtosGofones regnantur, ... Protinus deinde ab Oceanu Rugü et Lttnovn (Germania 44,1), immerhinGoten jenseits = nördlich der Lugper und offenbar - legt man die Quelle im strengsten

41 2, B. HACHMANN (wie Anm. 33) S. 131 £, 241; WENSKUS (wie Anm. 37) S. 464,503 f.; LUDWIG SCHMIOT,Geschichte der Wandalen, München 21942, S. 4 ff.

47 Zuletzt Now'Axowsiu (wie Anm, 18 und 35).4 WojcitcK NowAfcCwsKi, „Hie Sucbiae Ftnis** - Conccpt of the Border of die Barbarous World at the

liast Bälde Coasr in the Romin Period, in: OKUUCZ-KOZAKYN-NCWAKOWSKI (Red.) (wie . 13)S. 218-230.

44 Die Qudlen zulmt alle zusammengestellt bei HACHMANN (wie Ancru 33) S. 498 f., ferner ebd. S. 135-140, 240 ft% 453 Ä; v$. auch WOLFKAM (wie Anm, 1) S. 30 ff. mit Anm. 8-12 und zuletzt JERZV OKU·ucz, Dss GrahtrfcJd von Wekhce. Zur Befcicdlungsgc&chichtc dei Weichxeldeitaraumes in der römischen

, in: Arche*>lo#w 40, 1989, S. 115-127, & 115-117.

Page 24: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

74 Volker Bierbrauet

Sinne wörtlich aus, was man so nicht muß45 - keine Anrainer an die Ostsee undferner: Die Nachbarschaft von Goten und Lugiern (Strabo) wkd bestätigt. NichtsNeues bietet die letzte älterkaiserzeitliche Schriftquelle, Ptolemaios um die Mitte des2. Jahrhunderts, da auch hier nur das durch Tacitus schon bekannte Bild bestätigtwird: Goten (vielleicht am linken Weichselufer) hinter Küstenstämmen, darunter wie-derum die Rugier im Westen (undAestii im Osten) (Geographia 11,11,16 und 111,5,80).Bei aller Kargheit der Quellen ergibt sich für die Siedelgebiete der älterkaiserzeitlichenGoten dennoch 1. gesichert nördlich der Lugier = Vandalii, 2. in Nachbarschaft zuRugiern und Lemoviern als Küstenanrainer (und vielleicht hinter diesen) und eben 3.5/6 n. Chr. bereits in kontinentalen Wohnsitzen. Dies ist hinsichtlich auch nur halb-wegs präziser Lokalisierungen von Stammes- bzw. Siedelgebieten natürlich wenig, zu-gleich aber viel in Verbindung mit dem archäologischen Befund: Interdisziplinärkann somit kein Zweifel sein, daß Goten (sowie Rugier und Lemovier) im Bereich derWielbark-Kultur siedelten, dazu die Gepiden nach der späten Überlieferung bei Jorda-nes (S. 96 ff.) und Lugier bzw. Wandalen im Bereich der Pzeworsk-Kultur sowie östlichanschließend die Aeistorum gentes (als westlicher Teil der westbaltischen Kulturgrup-pen)46. Dem widerspricht auch nicht die späte gotische Überlieferung in der Origogentis' beijordanes, der auf Cassiodor fußt (Getica IV,25—26) 47; die oben schon ange-sprochene nähere Lokalisierung der Goten im Bereich der Wielbark-Kultur (Pommern,nördlicher Teil von Großpolen) und ihre Abgrenzung von den Gepiden ist aber nichtmit den archäologischen Quellen für die ältere Kaiserzeit möglich (noch fehlendeMöglichkeiten einer Binnengliederung der Wielbark-Kultur), sondern erst möglich mitden am Übergang von der älteren zur jüngeren Kaiserzeit einsetzenden einschneiden-

45 Aus Tacitus ist m. E. nicht zu folgern, daß ausschließlich Rugier und Lemovier Küstenanrainer waren;vgl. STRZELCZYK (wie Anm. 38) S. 6.

46 Diese Zwischenbilanz zu den Goten des 1-2. Jahrhunderts weicht nur unwesentlich von der Analyseder Schriftquellen durch Rolf Hachmann (strikte Ablehnung gotischer Wohnsitze an der Küste) in seinerbeeindruckenden Goten-Monographie ab (wie Anm. 33, S. 135 ff.), jedoch von seiner archäologischenAnalyse: 1. die Lokalisierung der Goten in der (territorial sehr begrenzten!) „Masowischen Gruppe"(ebd. S. 251-279, 432 ff., 447 ff., 458 f., 464 ff.) läßt sich in keiner Weise mit dem oben geschildertenklaren Befund der Kulturgruppengliederung im östlichen Mittel- und Osteuropa während der jüngerenvorrömischen Eisenzeit und älteren Kaiserzeit vereinbaren, und 2. läßt sie sich nicht einfügen in dieSiedlungsveränderungen ab dem Ende der älteren Kaiserzeit bzw. zu Beginn der jüngeren Kaiserzeit(Südostexpansion der Wielbark-Kultur in den 1. und 2. Expansionsraum mit Folgen für die Przeworsk-Kultur östlich der milderen Weichsel, insbesondere in Masowien; vgl. hier S. 87 ff.). Die 'Gründe fürdiesen Irrtum liegen vermutlich teilweise in der Quellenlage und dem Forschungsstand zur Zeit derAbfassung dieses Buches und vor allem in der Nichtberücksichtigung der 2. Hälfte des 2.-4. Jahrhun-derts zur Archäologie und Geschichte der Goten, in der der eigentliche aussagekräftige 'Schlüssel'für die Bewertung des 1-2. Jahrhunderts liegt (archäologisch: kulturgenetisch zeitlich rückschreitendeArbeitsweise). Diese Kritik ändert nichts oder nur wenig an dem Gesamtinhalt dieses Werkes meinesSaarbrücker Lehrers, der die archäologische und interdisziplinäre Forschung auf vielfache Weise be-fruchtet hat (methodisch; überregionale Betrachtungsweise, siedlungsarchäologisch, Reflexion überWanderbewegungen etc.).

47 HACHMANN (wie Anm. 33) S. 140-143; ferner u. a. JOSEF SVENNUNG, Jordanes und die gotische Wander-sage, in: Studia Gotica, Uppsala 1970, S. 20-56, S. 28 (= Kongreß Stockholm), der im Gegensatz zuHachmann aus der Jordanes-Stelle auch küstennahe Wohnsitze nicht ausschließt. Der Auswertung derälterkaiserzeitlichen Schriftquellen durch CZARNECKI (wie Anm. 1) vermag ich nicht zu folgen: Gotenim 1. Jahrhundert n.Chr. im mittleren Odergebiet (ebd. S. 51-100) und im 2. Jahrhundert im KulmerLand und in Kujawien (ebd. S. 101-134).

1

Page 25: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 75

den siedlüngsgeschichdichen Veränderungen, auf die dann in Kapitel II näher einge-gangen wird48. Zuvor ist aber noch das seit alters her die Forschung beschäftigende(und faszinierende) Problem der 'Herkunft der Goten' zu behandeln.

2. Kontinentale Ethnogenese oder Einwanderung über See?

„Das Problem der festländischen Gotensitze ist der Angelpunkt für die Behand-lung und Beantwortung aller nun noch offenen Fragen. Davon hängt alles andere ab:Hat man erst die Sitze der Festlandgoten und kennt man ihre archäologische Kultur,so kann man diese auf Anzeichen einer Einwanderung hin untersuchen. Dann könnteman im Norden nach kulturellen Spuren der Vorfahren der Goten ... suchen."49 Nachden bisherigen Ausführungen - so denke ich - sind beide Postulate erfüllt: Wir kennenihre festländischen Wohnsitze und auch ihre archäologische Kultur. Trotz der Skepsisvon Rolf Hachmann zum Nachweis von Wanderungen (siehe sein Zitat, das dieserArbeit vorangestellt ist) soll dieser methodisch allein korrekte und zielführende Wegbeschritten werden.

Die Forschungsgeschichte zu dem Problem „Die Goten und Skandinavien" warund ist auch heute noch geprägt durch die Wandersage bei Jordanes: ,Von dieser InselScand^a, wie aus einer Werkstatt der Völker oder von einer Mutter der Nationen (offidnagentium, vagina nationum\ sollen also nach der Überlieferung die Goten (Gothi} mitihrem König Berig ausgefahren sein. Und sobald sie ihre Schiffe verließen und anLand stiegen, gaben sie dem Platz sogleich einen Namen (nomen). Denn noch heuteheißt, sagt man, der Platz Cothiscand^a. Von da (unde) rückten sie später (mox) vor insLand (ad seäes) der Ulmerugi, die damals an der Meeresküste (Oceani ripas) saßen, schlu-gen ein Lager auf, lieferten ihnen eine Schlacht und vertrieben sie aus ihren Wohnsit-zen (sedibus). Ihre Nachbarn, die Vandalen (victnos Vandalos}, unterwarfen sie schondamals und nötigten sie durch ihre Siege zum Anschluß* (Getica 25—26, hg. von Theo-dor Mommsen [MGH AA 5,1] Berlin 1882, S. 60). Nach dieser gotischen Eigenüber-lieferung (Origo Gothica) stammen die (amalischen) Goten also aus Skandinavien, wasdurch wichtige Indizien der Sprachwissenschaft noch gestützt wurde50: „Skandinavienist also die Urheimat der Goten."51

Dem ethnischen Interpretationsmodell von WOLAGIEWICZ, Die Goten (wie Anm. 8) S. 63—98 und DLRS.,Kultura wieibar&ka (wie Anm. 6) vermag ich aus unterschiedlichen Gründen nicht zuzustimmen; ergliedert den Verbreitungsbereich der Wielbark-Kultur in vier bzw. in sechs Bcsiedlungszoncn (A-Ound E—F), die er ethnisch interpretiert mit Goten und Gepiden in Zone C, wo die Gräberfelder miiGrabhügeln und Steinkreisen verbreitet sind (Typ Odry-WcViory-Grzybnjca), die frühestens am Endevon B l einsetzet) und in B2a» also erst in der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts, gesichert nachweisbar sind(vgL hier S. 85 f.). Dieses Modeil scheitert m. E. allein schon daran, daß Goten in kontinentalen Wohn-sitzen ja bereits um Christi Geburt aufgrund der Schriftqucllen bezeugt sind. Zur Ableitung dieserBe&tattungssiuc aus Skandinavien, auf die VCblagiewicz zu Recht hinweist (S. 65—69), und der damiteventuell verbundenen Problematik gotischer Zuwanderungen vgL hier S. 87, — Vgl. zu Wolagiewiczauch: GoiHXWSiu, Germanische Wanderungen (wie Anm, 5) S. 72 und OKÜUCZ (wie Anm. 44) S. J18 ff.HACHMAVN (wie Anm. 33) S. 240.

> Die IVtfsdkiung»gc&c&chte bei HACHMANN (wie Aam. 33) Kapitel 11-IU; ferner u. a. SVENNUNC (wieAnm. 47).NORJU.HT WACNI R, Geoca. Untersuchungen zum Leben de« jordane* und zur frühen Geschichte derGoten, Berlin 3967, S. 214 - Vgl. differenzierter NX-oi J-RAM (wie Anm. 1) S. 47-50, -* CZAKNIOJ (wie

Page 26: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

76 Volker Bierbrauer

Die Forschungsgeschichte ist in diesem Punkt von Anfang an gekennzeichnetdurch Interdisziplinär!tat, wogegen nichts einzuwenden ist; von Nachteil war aber dienicht zu verkennende gemischte Argumentation: Fachspezifisch nicht geklärte bzw.strittige Sachverhalte wurden zu früh miteinander vermischt, was vor allem auf diefrühgeschichtliche Archäologie zutrifft52; es wird deutlich, daß die (späte) Nachrichtbei Jordanes und die Ergebnisse der Sprachwissenschaft die archäologische Forschungvon Anfang an dominierten und einseitig lenkten, und man darf vermuten, daß ohneJordanes bzw. bei methodisch korrekter Trennung zwischen historischer und archäolo-gischer Quellenüberlieferung die archäologische Forschung anders verlaufen wäre53.Erst mit Jerzy Kmiecinski (1962) setzte die methodische Kurskorrektur in der frühge-schichtlichen Archäologie ein, indem er ohne den interdisziplinären 'Ballast' derSkandza-Überlieferung, die ja topos-Charakter haben kann, sich auf die eigenständigefachimmanente Analyse und den Aussagewert der archäologischen Quellen verließ54

und die Diskussion damit auch dorthin zurückführte, wohin sie angesichts der interdis-ziplinären Quellenlage und künftigen Atissicht auf Erfolg hingehört: nämlich wiederin die Fachkompetenz der Archäologie, deren Quellenlage quantitativ und qualitativsich stetig erweitert und deren Fachmethodik weiter verfeinert wurde und wird. DieseUmorientierung durch J. Kmiecinski wurde - außer durch R. Wolggiewicz55 (S. 82) -in diesem wichtigen Punkt, d. h. zur Ethnogenese der Wielbark-Kultur und derdamit verbundenen Frage möglicher Zuwanderungen aus Skandinavien, leider nichtmehr vertiefend weitergeführt; diese Zurückhaltung der polnischen Forschung - soist zu vermuten - liegt in der Publikationslage56, die mit der mittlerweile vorzüglichenQuellenlage aus verständlichen (ökonomischen) Gründen nicht Schritt halten konnte.Die von der polnischen Nachkriegsforschung erschlossenen großen Gräberfelder sindgrößtenteils noch unpubliziert bzw. nur in Vorberichten zugänglich. Es ist also wohlnicht die Quellenlage, sondern eher der Publikationsstand, der ein weiteres Aufgreifendieser Problematik (noch) nicht zuließ, denn das methodische Instrumentarium zumgenerellen Nachweis von Migrationen, namentlich die Koppelung der Befunde undFunde zwischen Auswanderungs- und Einwanderungsraum, ist mittlerweile weithinerprobt, weiterentwickelt und verfeinert worden. Angesichts dieser Publikationslageist somit nach wie vor Zurückhaltung geboten, besonders für einen außenstehende'nAutor.

Was läßt sich dennoch jetzt schon formulieren?

Bemerkenswert und hochrangig ist die Sepulturkontinuität in einer Vielzahlvon Nekropolen in bestimmten Gebieten, belegt von der Oksywie-. zur Wielbark-Kultur, also schon seit Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit (A1WV3; seit der

Anm. 1) S. 1-16 und 51-66 mit Auswanderung aus Västergötland in der 2. Hälfte des 1. Jahrhundertsv. Chr. in das mildere Odergebiet.

52 Die Forschungsgeschichte detailliert bei HACHMANN (wie Anm. 33) S. 221-432 (Kapitel III).« HACHMANN, ebd. S. 221-235.54 JERZY KMIECINSKI, Zagadniene tzw. kultury gocko-gepidzkiej na Pomorzu Wschodnim w okresie wczes-

norzymskim, Lodz 1962.55 WOLAGIEWICZ, Die Goten (wie Anm. 8).56 VgL etwa Anm. 7.

\

Page 27: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom l .—7. Jahrhundert 77

1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr.) (Fig. l O)57: im unteren Weichselraum bis insKulmer Land (= Besiedlungszone A nach Wolagiewicz)58 und im küstennahen Pom-mern einschließlich des Oberlaufes der Rega (= Besiedlungszone B); dem entsprichtsomit auch das fast deckungsgleiche Verbreitungsgebiet der Wielbark-Kultur in B l mitdem der Oksywie-JCultur (Fig. 6 und 11). Diese Übereinstimmung ist auch deswegenbemerkenswert, weil sich das Verbreitungsgebiet der Wielbark-Kultur in Bl deutlichvon dem dann expandierenden in B2 (Fig. 7) unterscheidet (S. 64)59.

Das methodisch geeignetste und zweifelsohne zielfuhrende Instrumentarium,eben die Strukturanalyse jener großen Gräberfelder mit Belegungskontinuität vonder jüngeren vorrömischen Eisenzeit (Oksywie-Kultur) bis zur römischen Kaiserzeit(Wielbark-Kultur) auf dem Hintergrund belegungschronologischer Analysen, ist der-zeit — wie schon angemerkt — wegen der schlechten Publikationslage (noch) nichtanwendbar. Das Wenige, was derzeit dennoch schon erkennbar ist, wurde von mirschon zusammengetragen: Es besteht nicht nur Sepulturkontinuität, sondern ebenauch Bevölkerungskontinuität (Gräberfeld von Pruszcz Gdanski/Praust-Danzig X);Brüche sind nicht feststellbar, jedenfalls keine Veränderungen, die auf Zuwanderungenvon außen schließen ließen60.

Mit Ausnahme des Gräberfeld-Typs Odry-Wesiory-Grzybnica (Grabhügel, Stein-kreise in B2; s. unten und Fig. 8) und mit Ausnahme von vereinzelter punktuellerMobilität von Personen (am Übergang A2/A3; s. unten) fehlen relevante Hinweise imKulturgefüge der Oksywie-Kultur und der Wielbark-Kultur, die mit umfangreichenZuwanderungen von außen verbunden werden könnten, weder kontinentaler nochskandinavischer Herkunft; dies gilt besonders für die Zeit einschneidender Verände-rungen in der Grab- und Beigabensitte am Übergang von der einen zur anderenKultur in der Zeit um bzw. kurz nach Christi Geburt (Aufgabe der Waffenbeigabeund Aufkommen der Körpergrabsitte), also auch zu jener Zeit, in der die überausstarken Gemeinsamkeiten der Oksywie-Kultur mit der (kontinentalen) Przeworsk-Kul-tur der Zeitstufen AI—A3 verlorengehen und mit der Wielbark-Kultur eine eigen ge-prägte und nunmehr von der Przeworsk-Kultur sehr unterschiedliche Kulturfazies ent-steht.

57 Zuletzt: WOL&CIEWICZ, Die Goten (wie Anm. 8) S. 70 f. mit Abb. 13; DERS., Kultura wielbarska (wieAnm. 6); DERS., Kultura pomorska a kultura oksywska, in: Problemy kuitury pomorskiej, Koszalin 1979,S. 33-67; DERS., Kuitury oksywska i wielbarska (wie Anm. 6); DERS., Der östliche Ausdehnungsbereichder Jastorf-Kultur und *cin siedlungsgeschichdiches Verhältnis zur pommerschcn Gesichtsurncnkulmrund der jüngeren vorrömischen Umerweichsclgruppe, in: Zeitschrift für Archäologie 2,1968, S. 178-191; DERS., Cultural and setdement changcs in the jastorf culturc area and its eastern boundary, in:PtzemJany ludnosciowc i kulturowc i tysiadeaa p. n. e. na ziemlich miedzy Odra a Dnieprem, Wroclaw1982, S. 83-106 mit Karte Abb. 5 & 105; D&BWJWSKA, Wczesne fazy kuitury przeworskiej (wie Anm. 25)S. 63 ff. m« Karte 2.

w WOL^CIEWICZ, Die Goten (wie Anm. 8) S 70 f£ mit Korrekturen für das Elbinger Gebiet bei OKUUCZ(wie Anm. 44) S. 118t; Dtxs. (wie Anm. 13) mit Karte Abb. 1-2; die Gräberfelder setzen hier nichtschon - wie sonst in Zone A - in der Oksywie»Kulrur, sondern erst mit dem Ende 4er Stufe 31(Widbark- Kultur) ein. womit auch entsprechende Korrekturen auf den Oksywic-Vcrbrcitungskarten förderen Ofctperiphcric anzubringen »int!.

** Weitere Nachweise bei 3 : » * (wie Anm. 3) S. 10.*' BiuuMAUMt (wie Anm. 3) S. U f.

Page 28: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

1. NOWI OOBRA2.WIEL3. SKOWAHCZ. NOWVTAM

5. ClCPtE6. LASY7. KROSNO». IUKOWIEC

. START TARO40. PRUSZCZ

12. PRUSZCZ1». BYSTRZEC1 . ELBLAjQ P0l£ NOWOM.15. WIEKUCE

1l. RUDZIENICE1T. TOMARYNY1 . PIEBZCHAIV19. ZWIERZEWO20. PO4.OW1TE11. BORNICE

2ZOSIEK25 OKSYWIE2% ZUKCZYN2% OUWA26. RUMIA27. MACIEJEWO2». GRUBNO29. RZAD230. CHEtMNO3V POOWIESK32. GOSTKOWO FOtSAG95.RÖZEVf. Z BOWO39. JANOWO30. POOWIESK 4

HINTERPOMM.MEERESKÜSTE Q

KASSUBISCHENUND

KRAJENISCHENSEENPLATTE

U N ONORDGROSSPOLEN

93. LUTOMM. SiOPANOWO55. POZNAN-S2EUG56. KO.SCIELNIA JANIA57. OSIE5 . BABIMOST59. BROJCE

60. MlCHAiKOWO61. KOZIOWKO6Z. KITKI63. WARSZAWA-KAWECZYNM. KiOCZEW63. NADKOLE60. BRUUNO-KOSK!67. CECELE68. OROHICZYN69. SARNAKI70. NIEDANOWO71. PAtUKI72. PAJEWO-SZWEUCE73. KLESZEWOT\. KOtOZAB75. TUCHUN78. STARA WlEi77. KRUPICE

. OPOKA

MASOWIEN

UNOPOOLACHIEN

n. BREST-TRISIN. UUBOML

1. OITYNICI82. BAJEV83. MAStOMECZ

- WIELBARK-KULTUR l±—D- PRZEWORSK-KULtUR VZZZZ2 - CERNJACHOUKULTUR

Fig. 10 Belegungsspanne der Gräberfelder der Oksywie- und Wielbark-Kultur von der jüngeren vorrömi-schen Eisenzeit bis zum Ende der römischen Kaiserzeit im Ausgangsräum (Besiedlungszonen -D) undder Wielbark-Kultur am Übergang von der älteren zur jüngeren Kaiserzeit und in der jüngeren Kaiserzeit im1. Expansionsraum (Besiedlungszonen E-F). Nach WOL^GIEWICZ, Die Goten (wie Anm. 8) S. 94 Abb. 13.

Page 29: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 79

Page 30: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

80 Volker Bierbrauer

Die immer wieder von der älteren archäologischen Forschung - eben wegender späten Jordanes-Überlieferung - (fast krampfhaft) gesuchten Verbindungen zuSkandinavien lassen sich für unseren Untersuchungsraum nicht nachweisen, abgese-hen von den erwähnten und noch zu behandelnden Ausnahmen, von denen die frühe-stens am Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. neu aufkommende Grabsitte (Grabhügelund Steinkreise) ohnehin erst in eine Zeit fällt, als kontinentale Wohnsitze von Gotendurch die Schriftquellen längst schon bezeugt sind. Es ist das Verdienst von RolfHachmann, diesen wichtigen Gesamtbefund, einschließlich fehlender gesichert nach-weisbarer Verbindungen in der Sachkultur zu Skandinavien, sehr ausfuhrlich und sorg-sam nachgewiesen zu haben61, woran sich auch bei inzwischen erheblich verbesserterQuellenlage nichts geändert hat. Seine Ausführungen brauchen hier nicht wiederholtzu werden, zumal sie — was die Sachformen betrifft — eine Auflistung im Sinne einerNegativbeweisführung wären. Zu ähnlichen Ergebnissen kam schon kurz zuvor JerzyKmiecinski, der zudem auch noch die autochthone Genese der WielbarUCultur be-tonte62. Dies gilt gleichermaßen für die älterkaiserzeitliche Wielbark-Kultur wie für dieZeit der Oksywie-Kultur der beiden Jahrhunderte vor Christi Geburt; letzteres istbesonders wichtig, da, mit Blick auf die Schriftquellen (terminus quo bzw. ante quem5/6 n. Chr.), eine gutonisch-gotische Einwanderung von außen - von Skandinavien -ja in die Zeit vor Christi Geburt fallen müßte; aus diesem Grund hatte Rolf Hachmannauf diese Zeit auch zu Recht seine Untersuchungen zentriert.

Wie steht es aber nun mit den erwähnten wichtigen Veränderungen in derGrabsitte am Übergang von der Oksywie- zur Wielbarkkultur, also der Auf-gabe der Waffenbeigabe einerseits und dem Aufkommen der Körpergrabsitte anderer-seits, wobei Skandinavien - vornehmlich Götaland, Väster- und Östergötland, auchGotland - aus den bekannten Gründen besondere Aufmerksamkeit verdient? DerBefund ist klar; an den Feststellungen von Hachmann hat sich auch bis heute - wiegesagt - nichts Grundsätzliches geändert:

Waffenbeigabe ist in Skandinavien in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit —also zur Zeit der Oksywie-Kultur in Pommern - nicht die Regel und kommt in Süd-schweden - im Gegensatz eben zu Mitteldeutschland, Mecklenburg und Dänemark(A1-A2) - erst in der Spätphase der jüngeren vorrömischen Eisenzeit (A3) auf undwird dann kennzeichnend für die römische Kaiserzeit63. Diese Entwicklung in Skandi-

61 HACHMANN (wie Anm. 33) S. 221-239, 389-431, 451-474, bes. S. 430 ff. (mit der Einschränkung, „daß(aufgrund der Sprachwissenschaft etc.] zwischen skandinavischen und festländischen Goten ein engerZusammenhang bestand, den die Archäologie offenbar nicht zu zeigen vermag" [ebd. S. 433]) undS. 466 ff. (mit ähnlichen [theoretischen] Einschränkungen). - Gleiches trifft auf Godand zu (ausfuhr-liche Hinweise verdanke ich W. Nowakowski, der während einer Godand-Reise dies - auch aufgrundvon unpubliziertem Material - nachprüfen konnte).

62 KMIECINSKI (wie Anm. 54) S. 154 f.; DERS., Die Bedeutung der Germanen östlich der Oder währendder ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt im Lichte der neueren Forschungen, in: Studia Gothica,Stockholm 1970, S. 72-80.

63 HACHMANN (wie Anm. 33) S. 233; DERS., Die Chronologie der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, in:Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 41, 1961, S. 1-276, S. 203, 218, 241 ff.; INGEGERDSÄRLVIK, Paths towards a stratified society. A Study of Economic Cultural and Social Formations inSouth-West Sweden during the Roman Age and the Migration Period, Stockholm 1982, S. 67-73 mitKarte 8 S. 74 f. und S. 103. Vgl. den weitgehend übereinstimmenden Befund auch in Öland, wo dieWaffenbeigabe ebenfalls erst in der Zeit um Christi Geburt mehr und mehr üblich wird und dann dieältere und jüngere Kaiserzeit (bis C3) bestimmt: Zuletzt: ULF ERIK HAGBERG—BERTA STIERNQVIST-

Page 31: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 81

navien, die von d6r kontinentalen Przeworsk-Kultur (und ihrer Schwester-Kultur Ok-sywie) mit Waffenbeigabe seit AI ausgeht64, hat in ihrer zeitlichen Andersartigkeit, jaGegenläufigkeit somit nichts mit der Aufgabe der Waffenbeigabe am Übergang vonder Oksywie- zur Wielbark-Kultur zu tun (A3/B1)65. Auch die kontinentalen Nachbar-kulturen können in diesem Sinne nicht auf die Wielbark-Kultur eingewirkt haben: Inder Przeworsk-Kultur werden weiterhin den Männern Waffen mit ins Grab gegeben,was ab Beginn von Bl auch dazu beiträgt, die Distanz zur Wielbark-Kultur im Ver-gleich zur Oksywie-Kultur zu vergrößern66; auch die westbaltischen Kulturgruppenscheiden aus, vor allem schon deswegen, weil in der fraglichen Zeit die räumlicheDistanz zur ausgehenden Oksywie- und sich herausbildenden Wielbark-Kultur zu großwar, um Grenzakkulturationsprozesse auszulösen (Dollkeim/Kovrovo-Kultur ='Phase Null* und Phase l nach Nowakowski sowie die Bogaszewo-Kultur = A3-B1),entsprechende Hinweise auf interkulturelle Kommunikation fehlen somit67.

Ohne Erfolg bleiben auch Bemühungen, die neu aufkommende Körpergrab-sit teinBl im Bereich der Wielbark-Kultur von außen abzuleiten: Körpergräber (mitBaumsärgen) sind in der Dollkeim/Kovrovo-Kultur erst ab B2 belegt, und zwar alsÜbernahme aus der Wielbark-Kultur68, sowie regelhaft Flachgräberfelder mit Brand-bestattung in der Bogaczewo-Kultur69 und in der Przeworsk-Kultur70; in Skandinavienspielte die Körperbestattung vor Christi Geburt gleichfalls keine Rolle71, ebenso wurdeim eibgermanischen Gebiet brandbestattet.

Beide bemerkenswerten Veränderungen in der Beigabensitte und im Grabritusder entstehenden Wielbark-Kultur lassen sich somit nicht mit Migrationen verbinden;man muß sich mit der Feststellung begnügen, daß beide indigene Prozesse sind, wobeidie Waffenlosigkeit in den Männergräbern künftig bis ins 6./7. Jahrhundert als beson-ders konservative Beigabensitte den gesamten gotischen Wander- und Siedelbereichkennzeichnen wird.

Dennoch läßt sich mit archäologischen Mitteln skandinavischer Zuzug zumeinen in den Verbreitungsraum der Oksywie-Kultur und zum anderen in den derWielbark-Kultur nachweisen. Im ersteren Fall (Oksywie-Kultur) betrifft dies Gürtelzu-behör und auch Fibeln aus vier Brandgräbern (Gräber 146, 148-149, 228) im großen,aber leider weitgehend unpublizierten Gräberfeld von Nowy Targ bei Elbl^g/Elbingöstlich der Weichselniederung (1974—1979: 509 Brand- und Körpergräber; belegt im7./6. Jahrhundert v. Chr. und sodann wieder ab der älteren vorrömischen Eisenzeit bis

MONIKA RASCH (Red.), ÖJaods järnalders-grafvalt 2, Stockholm 1991, S. 499 £ - Anders die Situationin Godand, jedoch dort mit abweichendem Grabritus (Mehrfachbestattung): HACHMANN (wie Anm. 33)S. 207 ff. - Abweichende Bestattungssitten (bis hin zur Ocrnjachov-Kultur) auch bei N. A. MOCIL'NI-KOVA in: E. A. SYMONOVIC (Red), Mogtf'niki cernjachovskoj kul-tury, Moskau 1979, S. 142-162.

64 DABROVSKA, Frühe Einflüsse (wie Anm, 25) S. 191 ff. mit Karte Abb. 1.·"·* HACHMANN (wie Anra. 33) S 233.<*· GoDtxwsiu Przeworsk-Kultur (wie Anm. 5) S. 15.<·7 NowAKOV'SKf (wie Anm. 18 und 35).'* WALÜNTA, FunctaJ ritcs in Late-Laten «nd Roman periods (wie Anm. 7) S. 78-92.< NOWAT^WSKJ (wie Anm. 18).'"" GoDixwsm, Przcwowk-Kultur (wie Anm, 5) S. 15."! HACHMANN (wie Anna. 33) S. 231 f.; Dtns. (wie Anm, 63) S. 218 f.; ferner: HACHLKC u. a. (Red.) (wie

Anm. 63) S. 500 (in Steinkisten); EKIJC , » Die jüogere verrämische Eisenzeit Godands, Unp»ala1955, & 588.

Page 32: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

82 Volker Bierbrauer j!.l

in die Zeit um 400 n. Chr.)72. Auf die klaren Beziehungen zu Gotland wies schon die jAusgräberin hin73; obgleich durch den Brandritus nur noch fragmentarisch erhalten j(Fig. 12), läßt sich das Trachtzubehör (aus Frauen- und Männergräbern?) am ehesten i-in die Stufe C nach der gotländischen Chronologie von Erik Nylen, d. h. in die späteMittelphase der jüngeren vorrömischen Eisenzeit nach Rolf Hachmann datieren, was jetwa dem jüngeren Abschnitt der Stufe A2 entspricht (etwa 1. Hälfte des 1. Jahrhun- jderts v.Chr.); eine Datierung in die gotländische Stufe D (etwa A3, 2. Hälfte des1. Jahrhunderts) ist jedoch nicht auszuschließen74 (Fig. 13). Da dieses gotländischeTrachtzubehör leicht als fremd im Bereich der Oksywie-Kultur zu erkennen ist undweitere ähnliche Befunde von der polnischen Forschung bislang auch nicht bekanntgemacht wurden, darf man annehmen, daß dieser einmal punktuell nachweisbareZuzug über See im 1. Jahrhundert v.Chr. sehr wahrscheinlich die Ausnahme sein |dürfte und keinen Rückschluß auf eine Einwanderung größeren Umfanges zuläßt. ;

Im zweiten Fall (Wielbark-Kultur) ist skandinavischer Zuzug nur zu vermuten, ;jedenfalls nicht auszuschließen und auch dort in Skandinavien regional nicht nähereingrenzbar; er ist verbunden mit der schon mehrfach angesprochenen Bestattungs- |sitte der Hügelgräber mit Steinkonstruktionen und mit Steinkreisen vom 'Typ Odry- fjjWesiory-Grzybnica' (Fig. 8), vielleicht schon am Ende von Bl in der 2. Hälfte des 1. ||Jahrhunderts einsetzend, jedenfalls in B2 regelhaft nachweisbar75. Das Aufkommen j| ,dieser neuen, in Pommern zuvor unbekannten Sitte fällt somit zweifelsohne in eine j<;Zeit, in der Goten auf dem Kontinent durch die Schriftquellen bereits längst bezeugt ^sind (5/6 n. Chr.)76; diese Hügelgräber und Steinkreise können wegen der Diskordanz ffzwischen archäologischem Befund und schriftlicher Überlieferung somit nicht als Be- «lege einer gutonischen Einwanderung in der Zeit um oder vor Christi Geburt gewertet twerden, zumindest nicht einer erstmaligen. Aus diesem Grund ist auch das schon . ;erwähnte ethnische Interpretationsmodell von Ryszard Wola.giewicz für die Wielbark-Kultur abzulehnen, der erste gotische Zuwanderungen nach Pommern mit dieserneuen Sitte verbinden will (Zone C; S. 75)77. Aus den kontinentalen Nachbarkulturenist diese neue und aufwendige Bestattungsform ebenfalls nicht ableitbar,-weder ausdem Eibgermanischen78 noch aus der Przeworsk-Kultur79, auch nicht aus den westbal-

72 EWA KAZIMIERCZAK, Burials from the late Latene and early Roman periods from Nowy Targ, provinceof Elblag, in: Sprawozdania Archeologiczne 32,1980, S. 135-159; zum Gräberfeld ferner: DIES.-EWE-LINA WICHROWSKA, in: Badania archeologiczne w woj. elblaskin w latach 1980-1983, Malbbrk 1987, -S. 289-338.

73 KAZIMIERCZAK, Burials (wie Anm.72) S. 151 ff.; ferner: NYLEN (wie Anm. 71) S. 382-388, 298 f. mitAbb. 273, S. 441 f£, S. 452 ff., 465 ff., 476.

74 NYLEN (wie Anm. 71) S. 388 ff., 400.75 WOLAGIEWICZ und KOKOWSKI (wie Anm. 17).76 Vgl. S. 74.77 WOLAGIEWICZ, Die Goten (wie Anm. 8) S. 70 ff.; ferner hierzu: GODLOWSKI (wie Anm. 12) S. 127 f.;

DERS., Germanische Wanderungen (wie Anm. 5) S. 72.78 Steinkreise hier nur in der frühen Jastorf-Kultur (6./5. Jahrhundert v. Chr.): ACHIM LEUBE, Eisenzeidiche

Steinsetzungen im nördlichen Mitteleuropa, in: Zeitschrift für Archäologie 13, 1979, S. 1-22.79 HELENA JANICZAK, Hügelgräber der Przeworsk-Kultur, in: Przeglad Archeologiczny 37, 1990, S. 121-

155 (die vergleichbaren Hügelgräber mit Steinkonstruktionen datieren hier später, ab B2/d, und sindaus der Wielbark-Kultur ableitbar); in der Nidzica-Gruppe der Przeworsk-Kultur am Ende von B2(OKULJCZ [wie Anm. 31]).

Page 33: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 83

b o

FJJ». 12 Gotlandi»cbe$ Trachccubtbor (Schnallen) in Grabern der Oksywic-Kuhur der jüngeren vorromi-sehen hkcnzen von Nowy Targ (oben: Grab 149; Mine: Gräber 79 und 146; unten: Grab 228). Nach

KAZJMIEHC2AX, BuriaJ* (wie Antn. 72} S. 154 Abb. 17, S. 150 Abb. 19.

Page 34: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

84 Volker Bierbrauer

Fig. 13 Grabausstattungen und Chronologieschema der jüngeren vorrömischen Eisenzeit auf Gotland (hierauch die Gürtelschnallen von Fig. 12). Nach NYLEN (wie Anm. 71) S. 399 mit Abb.

Page 35: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 85

dschen Kulturgruppen von Dollkeim/Kovrovo und Bogaczewo80. Die einzige über-zeugende Herleitung der Hügelgräber mit ihren spezifischen Steinkonstruktionen undauch der Steinkreise ist nach wie vor die aus Skandinavien, was durch Ryszard Woi^gie-wicz nunmehr außer Frage steht81; eine regionale Eingrenzung dieser Sitte dort istjedoch nicht möglich, da die verschiedenen Konstruktionsdetails, die in der Wielbark-Kultur vertreten sind, z, T. sehr unterschiedliche Verbreitungsschwerpunkte in Skandi-navien besitzen (z.B. Fig. 14). Bemerkenswert ist aber zweierlei: 1. daß diese neueSitte — wie schon erwähnt — in Pommern in B2 zeitlich zusammenfallt nicht nur miteiner Siedlungsverdichtung im alten Siedelraum in Bl, sondern auch mit einer erhebli-chen Siedlungsausweitung der Wielbark-Kultur in B2 nach Süden, also nach Mittel-und Südpommern bis hin nach Großpolen über die Netze/Warthe hinaus (Fig. 8 und7) und daß 2. diese neue Grabsitte fast ausschließlich auf diese neu gewonnenen undzuvor in B l noch siedelleeren Gebiete begrenzt bleibt (Fig. 6).

Sind also diese Grabhügel und Steinkreise mit ihren besonderen Konstruktionen,in denen ich — entgegen der Meinung der polnischen Forschung — 'Sippenbestattun-gen' und kein soziologisches Phänomen erkennen kann82, einleuchtend nur aus Skan-dinavien abzuleiten, so dürfte mit ihnen — so muß man folgern — auch eine Zuwande-rung verbunden sein; eine solche spezifische Sitte verbreitet sich kaum als Idee — dieswäre nur bei grenznachbarschafüichen Verhältnissen bzw. bei einer Grenzakkulturationdenkbar —, sondern doch wohl nur auf dem Hintergrund der Mobilität von Personen-gruppen; so ist es also logisch und verlockend, die erwähnte zeitliche Koinzidenzzwischen dem Aufkommen dieser neuen Sitte und der bemerkenswerten Siedelerweite-rung (B1/B2) auch aus vielleicht demographischen Gründen mit Neuankömmlingen(aus Skandinavien) zu verbinden. Dennoch eröffnen sich gravierende Probleme, diemit einer solchen Annahme nur schwer in Einklang zu bringen sind, denn: Nichtsunterscheidet die in diesen Grabhügeln bestatteten Männer, Frauen und Kinder vonden zeitgleichen Brand- und Körpergräbern in den sog. konventionellen Flachgräber-feldern, in die ja auch diese Hügel und Steinkreise83 ohne besondere Lagemerkmaleintegriert sind, insbesondere nicht in der oben beschriebenen Beigabensitte (unter-schiedliche Behandlung der beiden Geschlechter; Waffenlosigkeit) und im Grabritus(Brand- und Körpergräber), auch nicht in der Tracht und deren Typen, ein merkwürdi-ger Befund also, wenn man skandinavische Zuwanderer aber aufgrund der Grabbautenvermuten darf, ja muß! Auch die noch einzige denkbare theoretische Erklärung einersehr schnellen und dann eben archäologisch nicht mehr erkennbaren Akkulturation

** NOWAKOWSKJ (wie Anm. 35) (Hügelgräber in der Dollkeim-Kovrovo-KuJrur in B2 und B2/Cl-Cla»aber anders konstruiert; Bogaczewo-Kukur ohne Hügel).

** Woi^ciEwicz, Die Goten (wie Anm. 8) S, 65-69 mit Fundlisten 1-5 und Abb. 1-12; DCRS., Kregikamicnne (wie Anm. 8); KQKOW&KI (wie Anm. 17); ferner für Südwestschweden: SARLVIK (wie Anm. 63)S. 67 ff. mit Tabelle l (h für Öland: HACBKRG u. a, (Red.) (wie Anm. 63) S. 497; Tür Norwegen z. B. HEIDRLSI, Gravplas&en Hunn i Ostfold, Oslo 1086, S. 59.

** VouttR BirjuiKAULR, Ostgcrmanische Oberechichigräber der römischen Kaiscrzcit und des frühen Mit-tclaltcr*, irr JCÄZY KMIF.CIKSKI (Red.), Percgtinatio Gothica (Archaeologia BaJtica 8) ludst 1989, & 39-106, S. 52-55.

*" Kindcrgräbcr: CRZIIAKCNCS-KA, ChUdren burial ground of Widbark culture in Odry, in: AcraUmversiwm Ixxizicrai*. Folia Archaeotogica 12, 1991, S. 73-103. - Die Funktion der Stemkrttsc alsBcgrabnivplauee ist um*rrium-. z. B. Woi^Cftwicz, Kregi kamicrme (wie Anm* H) S. 57 ff,; INOOLI· EKICS-SO.N\ StanJaxasc in Asfccfctocp, Schweden, m: Oßa 38, 1981, S. 237-244.

Page 36: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

86 Volker Bierbrauer

0 50 100 150 200km1 l l l l . C

* ".I~^* 's.'/'-'^f\··. '" · -·~, ~' ·· ··' *all%^V <

Fig. 14 Grabhügel mit Steinkonstruktionen (mit äußerem Steinring) in der Wielbark-Kultur und in Skandi-navien. Nach WOL^GIEWICZ, Die Goten (wie Anm. 8) S. 88 Abb. 1.

\

Page 37: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 87

von Zuwanderern überzeugt nicht sonderlich84; auszuschließen ist skandinavischer Zu-zug, auch im Sinne Rolf Hächmanns, dennoch nicht (vgl. Motto). Will man diesenWiderspruch oder besser die über die Grabform hinausreichende fehlende archäologi-sche Evidenz für skandinavische Zuwanderer annähernd auflösen, so könnte alleinfolgende Hj'pothese weiterhelfen: Wie beim godändischen Zuzug in die Oksywie-Kultur in der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts vor Christi Geburt könnten es nur kleinePersonenverbände gewesen sein, die in Pommern einwanderten, die aber über die neueund auch aufwendige Bestattungssitte hinaus nicht prägend auf die längst existenteWielbark-Kultur einwirkten und deren archäologischer Nachweis (noch?) nicht mög-lich ist85; ich bezweifele aber sehr, ob auch bei künftig weiter verbesserter Quellenlagesich an diesem merkwürdigen Befund viel ändern wird, da die Quellenlage schon jetztvorzüglich ist. Als gesichertes Ergebnis bleibt somit nur, aber immerhin: eine ersteoder gar die gotische Einwanderung aus Skandinavien ist mit den Hügelgräbern undSteinkfeisen sicher nicht zu erweisen.

Alles zusammengenommen, besteht derzeit also kein Anlaß, mit umfangreichenEinwanderungen über See in den beiden Jahrhunderten vor und nach Christi Geburtzu rechnen, schon gar nicht in der Zeit um Christi Geburt, in die die erwähntenauffallenden Veränderungen in der Beigabensitte (Aufgabe der Waffenbeigabe) undGrabsitte (Aufkommen des Körpergrabes) von der Oksywie- zur Wielbark-Kultur fal-len; die Genese der Wielbark-Kultur verläuft prägend auf autochthoner Grundlage.Dies bedeutet zugleich aber auch, daß die Überlieferung in der gotischen Wandersagebei Jordanes mit einer Einwanderung der bzw. aller Goten von der Insel Skandza imarchäologischen Befund keine Stütze findet, sie sehr wahrscheinlich — wie auch beiden Langobarden — als topos zu begreifen ist86.

IL DIE VERLAGERUNG DER WIELBARK-KULTUR AUS POMMERN UNDGROSSPOLEN IN DIE GEBIETE ÖSTLICH DER MITTLEREN WEICHSEL

(1. EXPANSIONSRAUM)

Bereits am Ende der älterkaiserzeitlichen Stufe B2a bzw. am Übergang zu B2b,also noch vor der bzw. spätestens um die Mitte des 2, Jahrhunderts, machen sich dieersten, freilich räumlich noch sehr begrenzten Siedlungs- und Kultur Veränderungenim Bereich der Wielbark-Kultur bemerkbar, da zu dieser Zeit ein Teil der Nekropolenin Zicmia Chehninska (Kulmer-Land; im Weichsel-Knie östlich des Flusses: z. B.Rz^dz-Rondsen, Cheimo-Kulm, Podwiesk; vgl. Fig. 10 Nr. 29-31) endet, Gräberfelderalso, die bereits seit der jüngeren vor römischen Eisenzeit (Oksywie- Kultur) belegtsind; andere Friedhöfe — wohl die Mehrzahl — kontinuieren jedoch (Fig. 9—10 und 15).

In Pommern, westlich der Weichsel und in Großpolen - also überregional -brechen die Nckropolen (und Siedlungen) hingegen erst im Zeitraum von der ausge-henden älteren Kaiscrzeit bis zum Beginn der jüngeren Kaiserzeit ab (ausgehende

M JFR/Y OKUUCZ, Sriulia nad precmianami kulturowymi i osadniczymi w okresic tzym*kim na PomorzuWvchodnim, Mazowmi i ftxUa&iu, in; Ajchcologiä Maki IS, 1970, S 419-492, S. 489-491; seine The-sen - g. a. v<m der Ableitung aus der Ja*tojf-KuJtur — sind nicht richtig (vgl. hier Anm. 78).

H > > Vf>L auch die (hypothetischen) Ausführungen von Goi>mWi»Kj, Germanische Wanderungen (wieAnm. 5} S. 5' -64.

*· Vgl auch HACHMANN feie Anm. 33) S. 451-474.

Page 38: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Volker Bierbrauer

Fig. 15 Besiedlungsveränderungen im Oder-Weichseigebiet an der Wende von der älteren zur jüngeren Kai-serzeit; A Gräberfelder der Przeworsk-Kultur mit Abbruch im älteren Abschnitt von B2; B Gräberfelderder Przeworsk-Kultur mit Abbruch gegen Ende von B2; C Gräberfelder der Przeworsk-Kultur mit Beginngegen Ende von B2 oder in B2/C1; D Gräberfelder der PrzeworskKultur östlich der mittleren Weichselnoch mit Fundstoff der Stufe Cl; E Gräberfelder, gemeinsam benutzt von Wielbark- und Przeworsk-Kultur;F Gräberfelder der Wielbark-Kultur mit Abbruch im älteren Abschnitt von B2; G Gräberfelder $ler Wiel-bark-Kultur .mit Abbruch gegen Ende von B2 oder in B2/C1; H Gräberfelder der Wielbark-Kultur mit "Beginn in B2/C1; I Gräberfelder der Luboszyce-Kultur mit Beginn gegen Ende B2 oder in B2/C1. Nach

GODLOWSKI, „Superiores barbari" (wie Anm. 5) S. 330 Abb. 1.

Stufe B2, sodann B2/C1 und Cla; ca. Mitte des 2. bis zum 2. Viertel des 3. Jahrhun-derts), jedoch mit einem territorial sehr unterschiedlichen und daher bemerkenswertenBefund: Im Weichseltal westlich des Flusses trifft dies nur teilweise zu (Fig. 10, Besied-lungszone A), hingegen ausnahmslos im übrigen Pommern und in Großpolen (Fig. 10,Besiedlungszonen B-C und Fig. 15-16)87. An ihre Stelle tritt hier in Mittel- und

87 WOL^GIEWICZ, Kultury oksywska i wielbarska (wie Anm. 6) S. 138 ff., 165 ff.; DERS., Relative Chronolo-gie (wie Anm. 5); GODLOWSKI, „Superiores Bärbarj" (wie Anm. 5) S. 329 f.; DERS. (wie Anm. 12) S. 134;DERS., Germanische Wanderungen (wie Anm. 5) S. 65 f. (jeweils mit Literaturverweisen).

Page 39: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 89

Page 40: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

90 Volker Bierbrauer

Wesrpommern (bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts) ab Clb dann die völlig andersgeartete und teilweise eibgermanisch geprägte De.bczyno-Gruppe (Fig. 16)88.

Mit diesem klaren Befund ist der generelle Vorgang der Verlagerung von Wiel-bark-Populationen aus Pommern und Großpolen verbunden; da hier die Wielbark-Kultur erlischt und sie auch keine Fortsetzung in der De.bczyno-Gruppe findet, muß jdie Wielbark-Bevölkerung in Gänze abgewandert sein, ein totaler Abwanderungsvor- |gang also, der aber nicht kurzfristig erfolgte, sondern sich - wie erwähnt - über knapp [drei Generationen erstreckte (ca. 150-220/230 n. Chr.). Pommern westlich des unterenWeichseltales und Großpolen sind somit als Abwanderungsraum zu bezeichnen. i'

Wohin diese Abwanderungen erfolgten, ist von der polnischen (und russischen)Forschung mittlerweile gut geklärt, nämlich nach Südosten in die Gebiete östlich der lmittleren Weichsel: Masowien, Podiasien und Polesien einschließlich der Gegend umBrest am (oberen) Bug-Knie sowie im Süden bis in den Lubliner Raum (Fig. 15-16), |wo wiederum bemerkenswerte Siedlungs- und Kulturveränderungen im Bereich der |Przeworsk-Kultur eben in diesem Zeitraum stattfinden (s. unten); beides ist kausal 'unmittelbar miteinander verknüpft89. Diese Gebiete östlich der mittleren Weichselmöchte ich somit als 1. Expansionsraum der Wielbark-Kultur bezeichnen. ,,j

Seit der jüngeren vorrömischen Eisenzeit gehörte dieser Raum östlich der mittle- ;;:''.ren Weichsel zur Przeworsk-Kultur (Fig. 11, 6-7, 9)90, dies trotz lokaler Eigenheiten - 'Vbesonders in der schon erwähnten Nidzica-Gruppe im oberen Flußgebiet der Wkra '(Soldau) und Orzyc (Orschütz) im Neidenburger Land91. Hier im Bereich der Nidzica- . ·Gruppe brechen die Gräberfelder überwiegend bereits am Ende des älteren Abschnitts .j . i i jder älteren römischen Kaiserzeit (B2a) und Übergang zu B2b ab, nur wenige weisen · ·*'Belegungskontinuität auf (Fig. 15), diese dann — wie auch neu angelegte — im Habitusder Wielbark-Kultur; im gesamten übrigen Bereich der östlichen Przeworsk-Kulturöstlich der mittleren Weichsel enden die Gräberfelder erst später, meist am Ende derStufe B2, teilweise auch noch in B2/C1 (Fig. 7, 9, 15-16). Wie in Pommern undGroßpolen beim Abbruch der Wielbark-Gräberfelder kann auch dieser klare Befundnur mit Abwanderungen von Przeworsk-Populationen erklärt werden.

Wie oben schon kurz angemerkt, ist das weitgehende Erlöschen der Przeworsk-Kultur in diesen Gebieten östlich der mittleren Weichsel kausal aufs engste verknüpft

88 KAZIMIERZ GODLOWSKI, s. v. D^bczyno (Denzin), in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 5,3-4, Berlin-New York 1983, S. 266-271; HENRYK MACHAJEWSKI, Aus den Studien über Siedlungsfor-men von dem 3. bis zu den Anfängen des 6. Jh. in Mittelpommern, in: Fontes Archaeologici Ppsnanien-ses 33,1982-1984, S. 26-60, S. 46-54; DERS., Siedlungsformen in Debczyno bei Bialogard (Mittelpom-'mern) aus dem 3-6. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Archäologie 20,1986, S. 39-50.

89 GODLOWSKI, „Superiores Barbari" (wie Anm. 5) S. 329 ff.: DERS., (wie Anm. 12) S. 134 ff.; DERS., Prze-miany (wie Anm. 13) S. 67-88; DERS,, Przeworsk-Kultur (wie Anm. 5) S. 31 ff.; DABROWSKA, The culturalchanges (wie Anm. 25); DIES., Kultura przeworska a kultura wielbarska na Mazowszu i Podlasiu, in:MALINOWSKI (Red.) (wie Anm. 6) S. 117-125; JERZY ANDRZEJOWSKI, Die Probleme der Kontinuität derGräberfelder in der Ostzone der Przeworsk-Kultur, in: GURBA-KOKOWSKI (Red.) (wie Anm. 9)S. 103-125; JERZY OKULICZ, Les aspects demographiques des migrations de la population de la civilisa-tion de Wielbark en Mazurie, en Mazovie et en Podlasie, in: KMIECINSKI (Red.) (wie Anm. 82) S. 135-158; ANDRZEJ KOKOWSKI, Lubelszczyzna w mlodszym okresie przedrzymskim i w okresie rzymskim,Lublin 1991; DERS. (wie Anm. 39) mit Karte Abb. 2 und Fundstellennachweis; DERS., La genese deselements culturels sur la territoire de la Pologne sud-est et de l'Ukraine ouest dans la periode desinfluences romaines, in: KMIECINSKI (Red.) (wie Anm. 7) S. 153-173.

90 Vgl. S. 69; GODLOWSKI, Przemiany (wie Anm. 13) S. 64 f.91 Vgl. Anm. 32 und S. 70.

Page 41: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 91

mit der Landnahme von Wielbark-Populationen, vor allem aus Pommern westlich derunteren Weichsel und aus Großpolen; beide Vorgänge sind generell gut geklärt92.Es handelt sich also überwiegend nicht um einen Kulturwechsel, sondern um einenBevölkerungswechsel, bei dem durch Wielbark-Einwanderer der größte Teil der Prze-worsk-Bevölkerung verdrängt wurde und nur ein wohl kleinerer Rest verblieb, derdann wielbarkisiert wurde; dies äußert sich in einer Reihe klarer Anhaltspunkte.

a. Zunächst ist dies die zeitliche Koinzidenz zwischen beiden Vorgängen: einer-seits am Ende der Stufe B2 einsetzend, dann vor allem in B2/C1 und Cla Abwande-rungen der Wielbark-Populationen westlich des unteren Weichseltales (= Abwande-rungsraum) mit Anlage neuer Gräberfelder der Wielbark-Kultur östlich der mittlerenWeichsel in B2/C1 (= 1. Expansionraum; Fig. 15—16) und andererseits das mehrheit-liche Abbrechen der Przeworsk-Gräberfelder am Übergang von der älteren zur jünge-ren Kaiserzeit am Ende von B2, vereinzelt noch in B2/C1. So gehören zu den jüngstenFunden in den Przeworsk-Gräberfeldern als Leitformen des jüngeren Abschnittes derStufe B2 vor allem die Fibeln der Serien 8 und 10 der Gruppe V nach Almgren(A 123-128,148-149), ferner Almgren 132 sowie frühe Formen der östlichen Rollen-kappenfibeln (A 49) und späte stark profilierte Fibeln der Almgrenschen Gruppe IV;die ältesten Leitformen in den neu angelegten Wielbark-Gräberfeldern markieren dieB2/C1-Typen der genetisch-typologisch noch älterkaiserzeitlichen Fibeln mit den spä-testen Varianten der Gruppe V nach Almgren, nämlich die Dreisprossenfibeln A 96(Fig. 17,5.10.12) und späte gedrungene Formen der Kopfkammfibeln A127-130 (Fig.17,2.9.13.16-17), ferner auch die späten Formen der Rollenkappenfibeln A 40/41 (Fig.17,1.3—4.6—8.11.14—15), d. h. die jüngsten Formen im Abwanderungsraum (Fig. 2) unddie ältesten im Einwanderungsraum (= 1. Expansionsraum) entsprechen sich93. Diesekultur- und siedlungsgeschichtlichen Veränderungen am Übergang von der älteren zurjüngeren Kaiserzeit betreffen den gesamten 1. Expansionsraum der Wielbark-Kulturöstlich der mitderen Weichsel, d. h. im Süden bis in den Nord- und Ostteil des Lubli-ner Gebietes (im Westteil erst ab C2) mit der sog. Maslom^cz-Gruppe, die in denletzten Jahren intensiv von Andrzej Kokowski erforscht wurde und noch weiter wird94,

92 Diskrepanzen nur darüber, wie lange dieser Prozeß in etappengeschichtlich-regionaler Hinsicht dauertebzw. wann er östlich der mittleren Weichsel seinen Höhepunkt erreichte und wie stark der verbleibendeRest der Przeworsk-BevöJkerung war (z. B. GODLOWSKI und ANDRZEJEWSKI: vgl. Anm. 89).

'n Auf einen näheren formenkundlich-chtonologischen Nachweis wird verzichtet; Belege in der inAnm. 89 zitierten Literatur (mit Weiteren Verweisen); vgl. ferner: GODLOWSKI (wie Anm. 12) S. 137.

04 Trotz auffallender Jnbumationsriten {nichtanatomische, aber komplette Bestattung; Teilbestattung) weistdie Maslome.cz-Gruppe vor allem in ihrer älteren Phase (C1-C2) alle wesentlichen Merkmale der Wiel-bark-Kultur bis hin zu Übereinstimmungen in der handgemachten Keramik auf, ebenso dann in ihrerjüngeren Phase (C3) Übereinstimmungen zur Ccrnjachov-Kukur Wolhynicns und der Ukraine; in derjüngeren Phase dann auch sarmatisch geprägte Gräber: zuletzt KQKOWSKJ (wie Anm. 89); Dtas., DieMaslomccz-Gruppc als Ausdruck der Kulturwandlungen im Raum von Lublin in der späten Kaiscrzeit,in: Archacologia Polona 28, 1988, S, 149-169; DEHS., Moslomexz-Gruppc - Stand und Perspektivender Forschung, in: ^Archaeologia Imerrcgicmalis". Intcrrcgional Cultural Relations Between PoJish Ter-ritoriei and Adjaccnt Region» of Central and Eastcrn Europe, Krakow-Warszawa 1990, S. 153-169(jewwl» mit weit. Literatur}; D{;J&, Auf den Spuren der Goten. Die Gräber der Maslomccz-Gruppe,in: Da* Altertum 38,1992, S. 81—93; DERS., Neue Materialien aus dem oberen Buggcbict, iru

MAtftm-LLGUTKö (Red,)* Probleme der relativen und absolut «MI Chrunulo&ic abb« zum ftühmittctalter. Symposium Krakow - Karniowicc 1990, Krakow 1992, S. 213-

226.

Page 42: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

92 Volker Bierbrauer

11

12

Fig. 17 Fibeln der Stufen B2/C1 im 1. Expansionsraum: l Rostohy, 2-3Cecele, 4-5Paluki, 6-13 Brest-.Trisin, HLuboml, ISMasev, 16-17 Velickovici. lJASKANIS (wie Anm.95) S.236 Abb. 13a; 2-3DERS. in:Rocznik Bialostocki 12,1974, S. 432 Abb. 2; DERS. in: Sprawozdania Archeologiczne 24,1972, S. 93 Abb. 9;4-5 W? LA BAUME, Altpreußen 1943, l, S. 3 Abb. 2, if m.; 6-15 KUCHARENKO (wie Anm. 12) passim; 16-17

Kratkie SoobScenija 119,1969, S. 82 Abb. 39.

Page 43: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten -vom 1.-7. Jahrhundert 93

und im Osten bis in das Gebiet um Brest am (oberen) Bug-Knie; siedlungsgeschicht-lich voll stabil ist der 1. Expansionsraum erst ab Gib.

b. Wegen der Übereinstimmung in allen wesentlichen Determinanten der kultu-rellen Erscheinungsformen zwischen dem Auswanderungsraurn — wie sie oben be-schrieben wurden (S, 54 ff.) — und dem 1. Expansionsraum steht außer Zweifel, daßdie Einwanderer Wielbark-Populationen waren. Dies äußert sich besonders in der sospezifischen Sitte der Grabhügel mit ihren Steinkonstruktionen, die im 1. Expansions-raum neu auftreten, und zwar schon ab B2/C1 bzw. Cla, also — da vorher hier unbe-kannt — ein besonders eindrucksvoller Beleg für diesen WanderungsVorgang sind95

(Fig. 8) und nicht nur dies: Diese Sitte ist es auch, die es — außer dem generellenAbbruch der Wielbark-Gräberfelder in Pommern und Großpolen — zusätzlich erlaubt,die Auswanderungsgebiete der im 1. Expansionsraum einwandernden Wielbark-Bevöl-kerung im weiten Verbreitungsraum der Wielbark-Kultur näher einzugrenzen, nämlichmehrheitlich westlich des unteren Weichseltales (Fig. 8); im unteren Weichseltal undöstlich des Flusses ist diese Sitte nämlich nicht verbreitet.

Abwanderungen aus Pommern und Großpolen in B2/C1 erfolgten aber wohlauch ins untere Weichseltal und in den weiter östlich gelegenen Verbreitungsraum derWielbark-Kultur, da hier zu dieser Zeit bemerkenswert viele Gräberfelder neu angelegtwerden (Fig. 15)96.

c. Neu angelegte Gräberfelder (und Siedlungen) der Wielbark-Kultur liegen inunmittelbarer Nachbarschaft zu in B2/C1 aufgegebenen Przeworsk-Gräberfeldern(und Siedlungen), so z. B. in der Mikroregion des Flüßchens Wilga um Gozdzik undGarwolin97 und an der Mündung des Liwiec in den Bug mit Kamienczyk und NadkoleI und H98.

d Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Przeworsk-Gräberfelder wird in die jüngereKaiserzeit hinein kontinuierlich weiterbelegt, wobei Grabsitte, Beigabensitte und Ty-pen zunehmend und dann ganz die Merkmale der Wielbark-Kultur tragen; hierbeihandelt es sich also um die im Lande verbliebene und wielbarkisierte Przeworsk-Bevolkerung".

Der l. Expansionsraum (Fig. 16) bleibt durch die Träger der Wielbark-Kultur bisan das Ende der jüngeren römischen Kaiserzeit (C3) und vereinzelt(?) noch bis in diefrühe völkerwanderungszeitliche Stufe Dl (370/80-400/10) besetzt; mit Siedelreduk-

95 Leicht abweichende Konstrukdonsdctails (Typ Rostolty) ändern nichts an dieser grundsätzlichen Bewer-tung: zuletzt JAN JASKANJS, Kurhany typu rostoickicgo, in: GODLOWSW (Red.) (wie Anm. 6) S. 215—251.

9A GODLOVSKJ, „Superiores Barbaxi" (wie Anm. 5) S. 330 Abb. 1.97 AKDRZEJ NIEVIGLOWSKI, Two cemeteries of die roman period at Gozdzik, Commune af Borowie,

Province of SiedJcc, in: Sprawozdania Archeologicznc 35» 1985, S. 131-159; DEK»., Cmemarzysko kul-tury przeworskiej w Gaxwolinie, woj. sicdleckie, Warszawa 1991; fernen DEI&, Rcchcrches sur h periodede la Tcne II! et sur la periode romaine en Mazovie moridionalc, in: Archacologia Polona 7/8, 1964/65, S 149-161.

** DAkKuw&KA (wie Anm, 89); DJES.-ANNA POZARZVCKA^UKBANSKA, in: Sprawuzdania Archeologiczne 30,1978, S. 151-174 (Kamicrkzyfc); ANÖWO^JÜWSKJ (wie Anm. 89) S. 124; GOI>LCWSW (wie Anm. 12) S. 135mit Anm. 56. Und freundliche Mitteilungen und Materialcriäuterungcn von Frau Teresa Dabniwska(VCarschau).

99 & (wie Anm. 89); Dits. in: Vftadomasci Archcologicznc 43* 1978, S. 62-81 (Graberfdd vonKozariVwka); Dos. in: esixt 37, J972, S. 484-503 (Gräberfeld von Stara Wie«); Amnw JGWSKI (wieAnm. 89); GuuuatftKJ, Prascrruany (wie Anm. 13) S, 76 ff.; D*J& (wie Anm. 12) S. 135.

Page 44: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

94 Volker Bierbrauer

tionen im 4. Jahrhundert (C3) ist zu rechnen, doch ist dies systematisch feinchronolo-gisch und siedlungsarchäologisch noch nicht aufgearbeitet100.

Vor allem durch die Forschungen von Kazimierz Godiowski wissen wir, wohindie von der Wielbark-Bevölkerung aus ihren angestammten Wohnsitzen verdrängtePrzeworsk-Bevölkerung abgewandert ist: zum einen vermutlich in seit alters her be-setzte 'Kern'-Siedelgebiete der Przeworsk-Kultur zwischen Weichsel und Oder^ dahier auffallend viele Gräberfelder gegen Ende der Stufe B2 und in B2/C1 (ca.150-220/230) neu angelegt werden (Fig. 15)101, und gesicherter zum anderen in neugewonnene Gebiete im Süden und Südosten, wohin die Przeworsk-Kultur etwa zurselben Zeit expandierte (Ende B2-Cla): nach Südpolen ̂ ind vor allem in das obereTheißgebiet südlich der Karpaten (Karpatoukraine, östliche Slowakei, Nordostungarn)sowie in das obere Dnjestr-Gebiet und in das südwestliche Wolhynien, wo die Prze-worsk-Kultur an die hier ebenfalls schon in B2/C1 weiter südostwärts expandierendeWielbark-Kultur grenzt (Fig. 16; S. 116)102.

Archäologisch ist also die Abwanderung von Wielbark-Populationen im wesentli-chen aus Pommern westlich der unteren Weichsel und aus Großpolen und derenLandnahme im 1. Expansionsraum östlich der mittleren Weichsel in Grundzügen ge-klärt: Wie deutlich wurde, handelte es sich l. nicht um einen einmaligen kurzfristigenWandervorgang, sondern um eine Verlagerung der Siedelgebiete im Verlauf von etwadrei Generationen, deren Höhepunkt, wenn der gegenwärtige chronologische For-schungsstand nicht trügt, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts liegt (B2/C1), und2. um einen totalen Abwanderungsvorgang aus dem beschriebenen Auswanderungs-räum, da hier alle Wielbark-Gräberfelder abbrechen. Es wanderte also - wie sichnoch weiter aus dem interdisziplinären Befund des 3./4. Jahrhunderts methodischrückschreitend zeigen läßt (S. 106) - der gesamte Stamm ab103, nämlich der derälterkaiserzeitlichen Goten. Die Gründe, die zur Abwanderung führten, lassen sichgegenwärtig, vor allem wegen noch fehlender ausreichend detaillierter Kenntnis sied-lungsarchäologischer Prozesse in der Mikro- und Makroregion, archäologisch (noch)nicht befriedigend beschreiben. Auch die Schriftquellen vermitteln keine konkretenHinweise; nur in der 'späten' Wandersage des Jordanes klingt an, daß es demographi-sche Gründe gewesen sein könnten: ,Als nun die Zahl des Volkes immer mehr zunahm

100 Für das Lubliner Gebiet noch am besten: vgl. KOKOWSKI (wie Anm. 89) S. 202 ff. mit Karte Abb. 92(C3-D) im Vergleich zu C2 Abb. 90 und sonst z. B. die Karten bei GODLOWSKI, Przemiany (wieAnm. 13) Karten 6 (Clb-C2) und 9 (D); WOL&GIEWICZ, Kultury oksywska i wielbarska (wie Anm. 6)S. 178-189.

101 Dies kann jedoch - wie im Bereich der Wielbark-Kultur - auch demographische Gründe haben; vgl.GODLOWSKI, „Superiores Barbari" (wie Anm. 5) S. 331 f. mit Karte Abb. 1.

102 GODLOWSKI, ebd. S. 332 ff. mit Karte Abb. 2; DERS., Przemiany (wie Anm. 13) S. 81 ff. mit Abb. 5-6und Karten 5-6; DERS., Germanische Wanderungen (Wie Anm. 5) S. 66; V. V. KROPOTKIN, Denkmälerder Przeworsk-Kultur in der Westukraine und ihre Beziehungen zur Lipica- und Cernjachov-Kultur, in:Symposium: Ausklang der Latene-Zivilisation und Anfänge der germanischen Besiedlung im mittlerenDonaugebiet, Bratislava 1977, S. 173-193; D. N. KOZAK, Psevors'ka kul'tura u Verchn'omu Podnistrov'ii Zachichnomu Pobuzzi, Kiev 1984.

103 Anders WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 52 f., dabei mit falschem Verweis auf die Archäologie: ebd. Anm. 4S. 391 („daß nicht alle Gräberfelder [im Abwanderungsraum] abbrechen"); die 'totale Auswanderung'wird als topos eingestuft; vgl. auch GODLOWSKI (wie Anm. 12) S. 147, der eine Rückkehr der Gepidenin das alte Siedelgebiet im unteren Weichseltal und östlich der Weichsel für wahrscheinlich hält.

\

Page 45: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 95

(M rnro magiapoputi numerositate crescente} und ungefähr (pew) der fünfte König nachBerig herrschte, nämlich Filimer, der Sohn des Gadarich, faßte dieser den Entschluß(consilio sedit\ in bewaffnetem Zug mit Weib und Kind auszuwandern (/// exinde wm

famitiis Cothorum promöveref exemtus}'' (Getica 26—27 [MGH AA 5,1] S. 60); aber daskann — nicht nur hier — ein topos sein. Möglich ist die von Jordanes genannte 'Überbe-völkerung* gleichwohl, und zwar wegen der stetigen Verdichtung der Siedlung und derSiedelerweiterungen in der älteren Kaiserzeit (Fig. 6-7, 9).

Die genannte Quelle ist dennoch bedeutsam genug, da sie immerhin von einemoffensichtlich totalen Abwanderungsvorgang berichtet und dann auch noch dessenRichtung und Zielgebiete nennt: ,Als er [Filimer] nach geeigneten Wohnsitzen undpassenden Orten (aptissitHas sedes locaque) suchte, kam er in die Lande von Skythien(Skythias terras), welche in ihrer Sprache Oium heißen. Die fruchtbaren Gegenden (ma-gna übertäte regonum} gefielen dem Heer'; nach der Episode über die eingestürzteBrücke in einer ,Gegend, die, wie erzählt wird, von einem Abgrund mit unsicheremMoor umgeben ist,* fährt Jordanes fort: ,Der Teil der Goten also (ergo pars Gothorum\der unter Filimer über den Fluß setzte und nach Oium kam, bemächtigte sich desersehnten Bodens. Gleich darauf (nee mora ilico) kamen sie zu dem Volk der Spaler,lieferten ihnen eine Schlacht und gewannen den Sieg. Im Siegeslauf gelangten sie dann(exinde} bis an den entferntesten Teil Skythiens (ad extremam Scythiae partem), der anden Pontus grenzt (Ponto man viana)' (Getica 27 f., S. 60 f.). Diese Quelle und nochandere jüngerkaiserzeitliche, also zeitgenössische Schriftquellen ab 238 n. Chr. werdenfür die ethnische Interpretation archäologischer Befunde in Wolhynien, der Ukraineund Teilen Rumäniens von Belang sein (2. Expansionsraum: Cernjachov- und Sintanade Mure§~Kultur, Kapitel III-VL

Mißlich ist nun, daß die einzige Nachricht, die über die gotische Wanderungberichtet, eben die bei Jordanes, zeitlich nicht einzuordnen ist, da sie nur eine relativeAbstands-Chronologie enthält fünf (Königs-)Generationen nach Berig, bezogen aufdie angebliche Übersiedlung aus Skandinavien (Skandza) auf den Kontinent (Gothi-skandza)104. Archäologisch und damit auch interdisziplinär stellt sich nun die Frage,ob die 'Wanderung' der Goten nach O/tfw/Skythien schon auf den Abwanderungsvor-gang aus Pommern und Großpolen in die Gebiete östlich der mittleren Weichsel zubeziehen ist oder erst - auch wegen der Gleichsetzung von Oium mit Skythien beiJordanes — auf das weitere Vordringen der Wielbark-Goten nach Wolhynien und indie Ukraine/Moldau»

Die Quelle bei Jordanes läßt eine eventuelle etappengeschichtliche Zweiteilungdieser 'Wanderung* oder des „Zuges zum Schwarzen Meer" (H. Wol&am) nicht klarerkennen, weder die Episode um die eingestürzte Brücke an jenem Fluß, den (dann?)angeblich nur noch ein Teil der Goten überschritten habe, noch das zeitlich vielleichtnachgeordnete (jxinde\ also vielleicht weitere Vordringen der Goten in den ,cntfcrnte-sten Teil Skythicns, der an den Pontus grenzt* (s. oben); dies kann im Sinne eines

Vg). hierzu z. B. zuletzt die nur etwas mehr als eine Druckseite langen Ausführungen bei WOLFRAM(wie Anm. 1) S. 52 f,, bei denen mehrheitlich ohnehin auf die Archäologie verwiegen wird, und GOIÄOW-&KI (wie Anm. !2) $. 143 f.; ferner WOLFRAM. S 49. Unergiebig» da durcheinander geraten, Jordanes,Gates» 39~42 VgJ, aocfc* Hie interdisziplinäre Stwiie de* Histufi&crii BUKNS (wie Anm. 38), archäologischjedoch mit vielen Feldern«

Page 46: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

96 Volker Bierbrauer

Nacheinanders so sein, muß es aber nicht, da eine zeitliche Staffelung allein aus exindenicht gesichert abgeleitet werden kann.

Bleibt also die Frage, ob die Rekonstruktion des 'Wander'-Vorganges durch dieArchäologie diese und noch andere offene Fragen beantworten kann, was den Fach-vertretern der Alten Geschichte und Mediävistik wegen der dürftigen, weil allzu vageund summarisch gehaltenen Quelle bei Jordanes verwehrt ist. Möglich ist dies, jedochnur unter Einbeziehung Wolhyniens, der Ukraine und der Moldau, was in Kapitel IIIversucht werden soll. Die Antwort auf die Frage, ob mit der 'Wanderung' nach Qium/Skythien schon die Abwanderung aus Pommern und Großpolen und die Landnahmeöstlich der mittleren Weichsel gemeint ist, wird also wesentlich davon abhängen, obdie Inbesitznahme der weiter südöstlich gelegenen Räume zur selben Zeit und auchin derselben Intensität erfolgte wie jene östlich der mittleren Weichsel. Die oben ge-brauchte Bezeichnung 1. Expansionsraum für Masowien, Podiasien bis ins LublinerGebiet läßt schon erkennen, welcher Auffassung der Autor in diesem noch nichtausreichend behandelten Problem zuneigt; sie impliziert die Inbesitznahme eines 2.Expansionsraumes weiter südöstlich zu einem späteren Zeitpunkt.

Nicht konkret auf die Goten, aber allgemein auf germanische Stämme tief imInneren der 'Germania libera' beziehbar ist die bekannte zeitgenössische Quelle imZusammenhang mit der Auslösung der Markomannenkriege in den 60er Jahren des 2. j'jJahrhunderts, die von dort in Bewegung geratenen gentes bzw. deren Kettenreaktionund Druck auf in der Nähe der Reichsgrenze siedelnde Germanen berichtet: Vtctualiset Marcomannis cuncta turbantibus alüs etiam gentibus, quae pulsae a superioribus barbaris

fugerant, nisi redpmntur, bdlum inferentibus (Vita Marci 14,1 [Scriptores Historiae Augu-stae]). Diese Quelle über die supenons barbari wkd von der Forschung schon langeaußer auf andere germanische Stämme - z. B. Langobarden von der Niederelbe -auch auf Goten und Wandalen bezogen; dies entspricht gut dem oben beschriebenenBefund der nach Süden und Südosten expandierenden wandalischen Przeworsk-Kulturund der gotischen Abwanderung, vor allem in zeitlicher Hinsicht105. Aber auch ausdieser Quelle ist nichts über die offenen Fragen des gotischen Wandervorganges zuerfahren. Ebenfalls nur in zeitlicher Hinsicht (terminus post quem) von Interesse istdie jüngste der älterkaiserzeitlichen Quellen zu den Goten, die 'Geographia' des Ptole-maios, der die Goten um 150 noch an der Weichsel, also in ihren alten Wohnsitzennennt (S. 74). Die archäologisch gewonnene Chronologie über den Abwanderungszeit-raum am Übergang von der älteren zur jüngeren Kaiserzeit in der zweiten Hälfte des2. Jahrhunderts entspricht somit gut diesen beiden Schriftquellen.

Die Wielbark-Kultur und die Wohnsitze der Gepiden:

Zuvor sei aber die noch offene Frage in aller Kürze behandelt, wer in derälteren (und jüngeren) Kaiserzeit (Bl-B2/Cl/Cla) im unteren Weichsel-tal und östlich davon siedelte,, also dort, wo - wie oben dargelegt (S. 90) -offenbar keine Goten gesiedelt haben. Maßgebend hierfür waren der Abbruch der

105 Zuletzt GODLOWSKI, „Superiores Barbari" (wie Anm. 5); DERS. (wie Anm. 12) S. 139 f.; DERS., Germani-sche Wanderungen (wie Anm. 5) S. 66; WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 24; HORST WOLFGANG BÖHME, Ar-chäologjsche Zeugnisse zur Geschichte der Markomannenkriege (166-180 n.Chr.), in: Jahrbuch desRömisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 22,1975, S. 153-217, bes. S. 156.

Page 47: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 97

Wielbark-Nekropolen am Übergang von der älteren zur jüngeren Kaiserzeit westlichdes unteren Weichseltales bei Sepulturkontinuität in den östlich gelegenen Verbrei-tungsgebieten der Wielbark-Kultur (Fig. 9 und 16 im Vergleich) und das Fehlen derNekropolen mit Grabhügeln und Steinkreisen im unteren Weichseltal und weiter öst-lich (Fig. 8), beides Kriterien, die mit der abwandernden Wielbark-Bevölkerung =Goten in Verbindung gebracht werden konnten. Der abweichende archäologische Be-fund in der jüngeren Kaiserzeit im unteren Weichseltal bis hin zur Passarge im Ostenwurde schon in der deutschen Vorkriegsforschung, vor allem durch Reinhard Schind-ler106 mit den Siedelgebieten der Gepiden in Verbindung gebracht und zu Recht auchbis heute bei nun entscheidend verbesserter Quellenlage107. Die Argumentationen hier-für basieren derzeit aber weiterhin nur auf dem oben bereits beschriebenen Befund —sozusagen im Ausschlußverfahren zu den abwandernden Goten —, da bislang nochkeine gesicherten Kriterien erkennbar sind, die auf eine kulturspezifische regionaleSonderstellung des unteren Weichseltales bis hin zur Passarge im Osten im so einheitli-chen Kulturgefiige der Wielbark-Kultur der älteren Kaiserzeit hinweisen (Grabsitte,Beigabensitte; Keramik etc.). Die Annahme gepidischer Siedelgebiete ist dennoch dieeinzige sinnvolle Erklärung für diesen bemerkenswerten Befund und dies in Verbin-dung mit der bekannten Schriftquelle bei Jordanes, zwar spät aufgezeichnet, aber dieeinzige über die Gepiden, die auf Verhältnisse offenbar der älteren Kaiserzeit abhebt:die Erzählung über die drei Schiffe, mit denen auch die Goten von der Insel Skandzazum Diesseitigen Ufer des Ozeans nach Gothiskandza* gekommen seien, die Gepidenin dem dritten 'verspäteten' Schiff; abgesehen von den lästerlichen Bemerkungen überdie Eigenschaften der Gepiden, die Jordanes daran knüpft, vermittelt er dann sehrkonkrete Angaben darüber, wo die Gepiden siedelten: ,in Spesis auf einer Insel, dieringsum von den Untiefen der Weichsel (Vtscla) umgeben ist, die sie in ihrer SpracheGepidaios nannten* (fordanes, Getica 94—96), also dort, wo später die Vidivarier siedel-ten; diese topographischen Angaben werden weiter gestützt und präzisiert, da Jordanesan anderer Stelle im Zusammenhang mit den Vidivariern , der Küste des Ozeans,wo sich in diesen die Weichsel mit drei Mündungen ergießt* (Getica 36) spricht undferner davon, daß ,die Weichsel in drei Mündungen in den nördlichen Ozean fließt*(Getica 17). Wie Jerzy Okulicz kürzlich gezeigt hat108, lassen sich diese ohnehin schonkonkreten Angaben über das Weichselmündungsdelta durch die Beschreibung vonSpem-Gepiddios naturräumlich noch weiter präzisieren, nämlich auf die Elbinger Höhe(Elblag), die von allen Seiten durch versumpfte Niederungen eingeschlossen ist, einrelativ großes Gebiet, begrenzt im Westen und Süden durch Drauen-See und Elbinger-Fließ und im Osten durch das Sumpfgebiet an der Passarge (Pasl^ka) und Drewenz(Drw^ca), also ziemlich an der Ostgrcnze der Wielbark-Kultur.

Die erwähnte Uniformität der Wielbark-Kultur von Pommern im Westen bis zurPassarge im Osten in ihrem Gesamthabitus bedeutet aber auch, daß sich die Be-völkerungsgruppen westlich und östlich der unteren Weichsel - also Goten und

"* SCHINDLE* (wie Anm, 6) S. 104 f£lirr Zuletzt GouLOW'SKJ (wie Anm. 12) & 147; OKUUCX (wie Anm. 44); DEKS. (wie Anm. 13); Fundstellen-

Verzeichnis bei Woi^Git«rJC2 (wie Anm, 13) S. 299-317 und JEKZV ANDRZI:JCW$JU-*AL£KSAN£>£H BUK-scHt, Stan i potreeby badan nad okrcscm rzymskim na wschod öd dolnq Wisly, in:

. U.c>jTfco (wie Aora. 13) S, 319-342,»'* OKUUCS (wie Anm, 44) S. 117,119; DIAS, (wie Anm. 13) S. 139 ff.

Page 48: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

98 Volker Bierbrauer

Gepidcn - nicht oder nur wenig voneinander unterschieden haben; auch dies würdeden Angaben bei Jordanes gut entsprechen, der an der engen stammlichen Zusammen-gehörigkeit von Goten und Gepiden keinen Zweifel läßt: Gepidarum natio ... inparenti-bus; Getae Gepidas qm sunt parentes; nam sine dubio ex Gothorum prosapie et hi trahent originem(Getica 94-96 (MHG AA 5,1] S. 82).

Das Siedelgebiet der Wielbark-Kultur im unteren Weichselraum, den ich regionalerweiternd zu J. Okulicz ebenfalls noch mit den Gepiden verbinden möchte, und dieGebiete östlich der unteren Weichsel sind - mit Siedelreduktionen in C3, also im 4.Jahrhundert, deren Intensität noch nicht näher untersucht ist - bis an das Ende vonC3, vereinzelt noch bis D1/D2 in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts besetzt. DieseSiedelreduktionen können, ja dürften mit den Unternehmungen unter dem Gepiden-könig Fastida zusammenhängen, der - nachdem er die Burgunder ,fast bis zur Ver-nichtung* geschlagen hatte — 291 vom Brudervolk der Goten unter König OsthrogotaLand forderte; die Schlacht bei dem oppidum Galtis am Flusse Auha^ dessen Lokalisie-rung innerhalb oder außerhalb des Karpatenbogens umstritten ist, der in jedem Falleaber fernab von den angestammten gepidischen Siedelgebieten liegt, endete für dieGepiden verlustreich und: Fastida kehrte mit seinem Heer in seine Heimat zurück(Fastida rex Gepidarum properavit ad patnam] (Jordanes, Getica 97-100), ob wieder insuntere Weichselgebiet nach Gepidaios oder in ,das mit Waffen erweiterte väterlicheGebiet* oder in das gegenüber Osthrogotha beklagte schlechte Siedelgebiet, das ,schroffen Gebirgen eingeschlossen sei und von dichten Wäldern eingepfercht* (Getica98), ist aufgrund der Schriftquellen völlig unklar, ebenso deren Lokalisierungen109.Festzuhalten bleibt, daß die Siedelgebiete der Gepiden im unteren Weichseltal undöstlich davon - wie schon betont - auch noch im 4. Jahrhundert besetzt sind, alsokeinesfalls der gesamte Stamm vor 291 abgewandert sein kann; die jüngerkaiserzeit-liche Geschichte der Gepiden ist historisch und archäologisch aber nicht Gegenstanddieser Untersuchung.

III. DIE GOTISCHE LANDNAHME IN WOLHYNIEN, DER UKRAINE UNDMOLDAVISCHEN REPUBLIK: DIE CERNJACHOV-KULTUR

(2. EXPANSIONSRAUM)

Die Situation am Übergang von der älteren zur jüngeren Kaiserzeit und zu Beginnder jüngeren Kaiserzeit: 'Exploratores' und die formative Phase d«r Cer-njachov-Kultur

Wie oben schon formuliert, hängt die Rekonstruktion des Wandervorganges nach0/#////Skythien entscheidend davon ab, wann die weiten Räume östlich, südlich und

109 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 68 mit Änderungen gegenüber der 1. Auflage des Gotenbuches wegen derKritik des ungarischen Archäologen ISZTVÄN BONA, der die gotisch-gepidische Auseinandersetzung von291 „wahrscheinlich irgendwo im Tal des Szamos" lokalisiert und gepidische Siedelgebiete am mittlerenMure§ und im Some§-Becken im 4. Jahrhundert annimmt (Artand-Gruppe; Acta Archaeolögica Acade-miae Scientiarium Hungaricae 23,1981, S. 363-371, bes. S. 367), dies auch wegen der Beschreibung beiJordanes: indusum se montium asperitaie, die nur auf die Gegend innerhalb der Karpaten passe; DERS.,Völkerwanderung und Frühmittelalter, in: BELA KÖPECZI (Hg.), Kurze Geschichte Siebenbürgens, Buda-pest 1990, S. 66 f. mit Karte 4.

Page 49: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vorn l .—7. Jahrhundert 99

südöstlich des nördlichen oberen Bug, also Wolhynien, die Ukraine und MoldaUj vonWielbark-Goten in welcher Siedlungsintensität erreicht und besetzt wurden.

Der sog. 1. Expansionsraum reichte in B2/C1 bzw. Cla — wie schon ausgeführt —im Osten bereits bis in die Gegend von Brest am (oberen) Bug-Knie mit dem bekann-ten Brandgräberfdd von Brest-Trisin (75 Gräber) und z. B. dem Fundort Velickovici110

(Fig. 17) sowie im Süden bis in den Nord- und Ostteil des Lubliner Gebietes, alsounmittelbar bis zum westlichen Oberlauf des (oberen) Bugm (S. 90 ff.; Fig. 17.16-17);zu diesem 1. Expansionsraum gehörten auch die beiden Sepulturen von Luboml undMasev, in der Nord-Süd-Traversale wenig östlich des Bug in der Höhe von Lublin undauch naturräumlich getrennt von Polesien und den Pripjat-Sümpfen und dem südlichanschließenden Wolhynien, beide Fundorte ebenfalls schon mit B2/C l-Materialien(Fig. 16-17.14-15)112.

Die Situation in Wolhynien, der Ukraine und Moldau ist chronologisch derzeitnur schwierig zu beurteilen, obgleich die Quellenlage — im Gegensatz zum Publika-tionsstand (trotz eines umfangreichen Schriftrums) — gut ist. Der entscheidende Grundfür diese Schwierigkeiten liegt vor allem in der feinchrönologisch so schwer beurteilba-ren handgemachten Keramik (s. unten), ein Umstand, der auch auf die Wielbark-Kulrur der älteren (und jüngeren) Kaiserzeit zutrifft113. Tatsache ist, daß das feinchro-nologisch so wichtige Trachtzubehör am Übergang von der älteren zur jüngeren Kai-serzeit und zu Beginn der jüngeren Kaiserzeit (B2/C1—Cla) fast vollständig fehlt,besonders die Fibeln, und auf ihm basierten fast ausschließlich ja auch die etappenge-schichtlichen Ergebnisse zur Wielbark-Kuhur während Bl-B2/Cl/Cla (z. B. Fig. 4).Da die russischen und ukrainischen Archäologen — gut vertraut mit dem Wielbark-Fundstoff dieser Zeit — auf diesen besonders achten114, ist daher kaum vorstellbar,daß dieses Trachtzubehör in nennenswertem Umfang unerkannt oder unpubliziertnoch in den Museumsmagazinen liegt, wie gelegentlich angenommen115. Das weitge-hende Fehlen dieses frühen Trachtzubehörs kann auch nicht mit einer sich zu dieserZeit verändernden Grab- und vor allem Beigabensitte erklärt werden; hiergegen spre-chen eindeutig die Verhältnisse im 1. Expansionsraum, wo dies nicht der Fall ist, undauch die Bestattung in Tracht in den folgenden Stufen C2 und C3 in Wolhynien undder Ukraine (Cernjachov-Kultur; s. unten) die Regel ist, auch wenn man diese Tracht

110 KÜCHARENKO (wie Anm. 12); V. C BARAN-Ü. A. GEJ, Chronologija mogU'riika Brest-Trisin, in: GLTRBA-KDILOWSKI (Red.) (wie Anm. 9) S. 183-193; GODLOWSKI, Przcmiany (wie Anm. 13) S. 70 ff. mit Karte5; KOKCWSKJ (wie Anm. 39) mit Karte 2 (beide Arbeiten mit Fundstellenverzeichnis); M. B. SZCZUKJN,/Cabytki wielbarskie a kultura czerniachowska, in: MAUNOWSKI (Red.) (wie Anm. 6) S. 135—144 (mitweiterer Literatur); erstmals j, V. KUCHAKENKQ, Lc probleme de la civilisation „Gotho-gepide" en Po)c-sie et cn Woihynk, in: Acta Baltica-Slavica 5t 1967, S. 19-40.

111 KOKOVSKI (wie Anm. 89 und 94).112 KUCHARCNKO (wie Anm, 12) S. 77 ff. mit Taf. 27 und 28,1V; SZCZVKJN (wie Anm. 110) S. 142£ mit

Abb. 4.11 * fcszAJO» WOLAC&WICZ, Die Keramik-Chronologie der Wjelbark-Kdrur im Lichte des bisherigen Stan-

des der Forschungen, in: AtcheologMi Poiski 32,1987, S, 169-208; DJ;K&., Die Chronologie der Keramikder Wtdbark-JCuitur, in: Guiu^Kpxowso (Red.) (wie Anm. 9) S, 145-155.

114 V$- *- & Anm. 110 und 112 oder auch Gotodok am Gorym V. V. KROPOTIÜN, iru Sweukaja Archeolo-KÜa 1972 (2), S. 255i.;ftrju*AgcK <wie Anm. 3) S 2S.

u* GOOLOWS.KI (wie Anm, 32) S. 145,

Page 50: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

100 Volker Bierbrauer

'reduziert' bezeichnen mag116, Fibelpaare an den Schultern bleiben nach wie vor kenn-zeichnend. Gut in B2/C1 und Cl datierbares Fundgut - besonders Trachtzubehör -aus den tausenden germanischen Gräbern und von Hunderten von Siedlungen imBereich der Cernjachov-Kultur, das wie im 1. Expansionsraum östlich der mittlerenWeichsel so sicher mit den aus Pommern und Großpolen auswandernden Goten ver-bunden werden kann, ist nur sehr, sehr vereinzelt nachweisbar, so in der wolhynischenSiedlung von Lepesovka (raj. Chmelnickij) einmal eine Fibel vom Typ Almgren 129(B2/C1)117 (Fig. 18.18).

Dieser Befund ist auch deswegen real und aussagekräftig, da besonders Wolhy-nien — wegen seiner Verbindungen zur Wielbark-Kultury— vergleichsweise gut er-forscht ist118. Im Vordergrund der Datierungen des frühen Wielbark-Fundstoffesstand und steht hier - wie in der Ukraine (S. 102 ff.) - daher die handgemachte Ware,die sich mit jener der Wielbark-Keramik während B2-B2/C1-C1 verbinden läßt; sieist an den meisten Fundstellen mit z. T. erheblichen Mengenanteilen vertreten, so z. B.in der Siedlung von Lepesovka mit 39 Prozent119 (z.B. Fig. 18.1-6). Das Problem istaber - wie schon erwähnt -, daß sie sich in den Gräbern - vorwiegend Brandbestat-tungen - wegen fehlenden Trachtzubehörs nicht ausreichend scharf datieren läßt,ebenso und erst recht nicht in den Siedlungen, und feinchronologisch für diese Wareund ihre verschiedenen Typen nach der Klassifikation von Reinhard Schindler120 auchim Bereich der Wielbark-Kultur noch Datierungsschwierigkeiten bestehen121. Im Rah-men dieses interdisziplinär ausgerichteten Beitrages macht es wenig Sinn, auf dieseProblematik allzu detailliert einzugehen; kurz zusammengefaßt ergibt sich folgenderBefund: Von den 18 durch Schindler (1940) für die Wielbark-Kultur herausgearbeite-ten Keramik-'Gruppen' der älteren und jüngeren Kaiserzeit auf der Grundlage vonimmerhin 1100 Gefäßen mit chronologisch bereits eindrucksvollen Ergebnissen, die

116 MAGDALENA TEMPELMANN-MACZYNSKA, Das „reduzierte" Trachtmodell der gotischen Frauen und seineUrsprünge, in: KMIECINSKI (Red.) (wie Anm. 82) S. 203-230; ferner DIES, (wie Anm. 11)..

117 M. A. TICHANOWA, Raskopi poselenija u s, Lepesovka, in: VI1C Congres International des SciencesPrehistoriques et Protohistoriques, 1966, Prag 1970, S. 1061 Abb. 2,18; KUCHARENKO (wie Anm. 12)S. 68 f. - Zu diesem Fibeltyp, am häufigsten in der Przeworsk-Kultur belegt, zuletzt KAZIMIERZ GOD-LOWSKI, Jakuszowice, eine Siedlung der Bandkeramik, älteren Bronzezeit, jüngeren vorrömischen Eisen-zeit, Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit in Südpolen, in: Die Kunde N. R 37,1986, S. 103-131, S. 116 mit Verbreitungskarte Abb. 8 S. 115.

118 Zuletzt D. KOZAK, Vielbarska kul'tura na Volyni, in: GURBA-KDKOWSKI (Red.) (wie Anm. 9) S. 116-136(mit weiterer Literatur); DERS., Poselenie wielbarskoj kul'tury Boratyn I na Volyni, in: Sovetskaja Archeo-logija 1989 (2), S. 169-181; ferner P. J. CHAVIJUK, ebd. S. 136-144; ferner J. V. KUCHARENKO, Volynskajagrupa pol'ej pogrebenij, in: Sovetskaja Archeologija 1958 (4), S. 219-226; M. SMISKO-J. SVE§NIKOV,Mogilnik II1-1V stolit' n. c. u s. Ditinici, Rovenskoj oblasti, in: Materialy i doslidzennja z archeologiiPrikarpattja ta Volini 3, Kiev 1961, S. 89-106; M. A, HCHANOVA, E§ce raz k voprosu o proischozdeniicernjachovskoj kul'tury [= Nochmals zur Frage der Entstehung der Oernjachov-Kultur], in: KratkijeSoobscenija 121,1970, S. 89-94; E. B. MACHNO, Pam'jatniki tipa Ditinici u Kompanivs'kogo mogil'nikä,in: Archeologia (Kiev) 19, 1976, S. 95-102; SZCZUKIN (wie Anm. 110) S. 145 ff. (mit ausführlichemLiteraturnachweis).

119 M. B. , Poselenie Lepesovka: Wielbark ili £erniachov?, in: GURBA-KOKOWSKI (Red.) (wieAnm. 15) S. 195-216; immerhin sind aus Lepesovka insgesamt rund 100000 Scherben von Hand- undDrehscheibenware bekannt, dazu 7000 zu Gefäßen rekonstruiert: vgl. TiCHANOVA (wie Anm. 118) S. 89.

120 SCHINDLER (wie Anm. 6).121 WoLAGiEWicz(wieAnm.ll3).

Page 51: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7, Jahrhundert 101

17

Fig. 18 FundsiotT aus d<?r Siedlung von Lcpcsovka (VCblh)iiien); gerastert: der ältere Fundstoff mit T)*pender Wiclbark-Kulrur, Nach TßcHANcWA (wie Anm, 117) S. 1061 Abb. 2.

Wol^giewicz bei wiederum deutlich verbesserter Quellenlage (2200 Gefäße) neubeurteilt werden konnten122, sind mehrere in Wölhynien vertreten. Diese sind in ihrerBcnüuungszeit mit ihren jüngsten Vorkommen aber nicht sicher in B2/C1 und Clacingrcnzbar, auch wenn sie gehäuft in dieser Zelt bclegbar sind; dies trifft auf dieeiförmigen großen Gefäße mit gerauhtem Unter- und Mittelteil (Fig. Sa; Formen

>ie Anm, 115).

Page 52: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

102 Volker Bierbrauer

und D), auf die zweihenkligen Töpfe der Formen II-IV (Fig. 5 b; Form III), auf dietrichterartigen Gefäße XB und auf die kleinen Fußbecher XIIIB zu, die alle auch nochwährend der gesamten Stufe Cl vorkommen können123, und: die Mehrzahl der in derälteren Kaiserzeit gebräuchlichen Typen wird bis in die Stufe C2 benützt, so z. B. dieTassen mit weit abstehendem Henkel (Fig. 19; Form XV)124. Unabhängig von diesenDatierungsproblemen ist diese Wielbark-Keramik natürlich prinzipiell wichtig für dieInbesitznahme Wolhyniens durch Wielbark-Goten.

An dieser grundsätzlichen Bewertung ändert auch nichts, daß in der Literaturumstritten ist, wie man kulturspezifisch den Fundstoff der jüngeren Kaiserzeit in Wo-Ihynien - die sog. wolhynische Gruppe (Volynskaja grupa) - bewerten soll: als Wiel-bark-Kultur mit Cernjachov-Elementen, als Cernjachov-Kultur mit Wielbark-Traditionoder als Cernjachov-Denkmäler vom Typ Danceny/Lepesovka? Diese Diskussionwird pointiert deutlich in der jüngst erschienenen Studie von M. B. Scukin zur wichti-gen Siedlung von Lepesovka (S. 109 ff.) mit dem bezeichnenden Titel „Wielbark oderCernjachov?"125. Trotz aller Diskussionen um den polyethnischen Charakter der Cer-njachov-Kultur und deren Herausbildung (S. 114 ff.) hat M. B. Scukin sicherlich recht,wenn er diese Beurteilungsprobleme unter den russischen und ukrainischen Kollegenmit der Formulierung kennzeichnet: „Derzeit redet man mehr über Terminologienund weniger über ihren Inhalt"126, und er fügt sehr zu Recht hinzu, daß man sichdabei vor allem auch um eine verbesserte Chronologie der Cernjachov-Kultur bemü-hen sollte, vor allem eben der Keramik, sowohl und insbesondere der handgemachtenals auch der dann in der Cernjachov-Kultur neu hinzukommenden Drehscheibenware.Scukin hat recht: Diskussionen dieser Art fuhren weg vom Kern des Problems, sinddoch diese und ähnliche Bewertungen nichts anderes als zwei Seiten ein und derselbenMedaille; sie spiegeln chronologische und regionale Entwicklungsstadien ein und der-selben Kultur wider, die man weiter nördlich sich angewöhnt hat 'wolhynischeGruppe' und weiter südlich und südöstlich 'Cernjachov-Kultur* zu nennen (S. 105 ff.).Zurück zum chronologischen Aspekt: Nach meiner Meinung gibt es derzeit keinegesicherten Anhaltspunkte, handgemachte Ware vom Wielbark-Typ der älteren Kaiser-zeit und vom Beginn der jüngeren Kaiserzeit feinchronologisch und formenkundlichklar in ausreichenden Mengenanteilen zu verifizieren, die eine vergleichbare Beurtei-lung Wolhyniens mit dem 1. Expansionsraum erlauben.

Gleiches gilt für den Wielbark-Fundstoff der Stufen B2/C1 und Cla in derUkraine und der Moldau, für die ebenfalls zahlreiche Veröffentlichungen vorliegen,sowohl Einzelstudien als auch Monographien (vor allem mit Gräberfeldediti&nen)127;

123 WOLAGIEWICZ, Keramik-Chronologie (wie Anm. 113) passim und S. 172 f., Abb. 5 nach S. 176 undS. 207 f.; DERS., Chronologie (wie Anm. 113).

124 V. V, KROPOTKIN, Mogü'nik cernjachovskogo tipa u s. Rizino, Cerkasskoj oblasti, in: Siavia Antiqua 18,1971, S. 197-205 mit Abb. 5 (hier in Fig. 19 als Punkt, dazu die Zweihenkeltöpfe der Gruppe II nachSchindler als Dreieck).

125 SCUKIN (wie Anm. 119) S. 212.126 Ebd. S. 213.127 Aus der Fülle der Literatur zur Cernjachov-Kultur sei nur genannt: M. A. TICHANOVA, Lokal'ny varianty

cernjachovskoj kul'tury, in: Sovetskaja Archeologija 1957 (4), S. 168-194; M. B. SOUKIN, Das Problemder Cernjachov-Kultur in der sowjetischen archäologischen Literatur, in: Zeitschrift für Archäologie 9,1975, S. 24-42; DERS., O nacal'noj date cerjachovskoj kul'tury, in: GODLOWSKI (Red.) (wie Anm. 6)S. 303-317; ALEXANDER HÄUSLER, Zu den sozialökonomischen Verhältnissen in der Oernjachov-Kultur,

Page 53: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 103

Page 54: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

104 Volker Bierbrauer

daß er vorhanden ist, ist auch hier unbestritten, wie die ausgewählten Verbreitungskar-ten zur Keramik (Fig. 5 und 19) dies verdeutlichen, auch eine Gesamtverbreitungskartevon 1975128, unklar ist aber aus denselben Gründen wiederum, wie dieser Fundstoff—eben die handgemachte Keramik — feinchronologisch zu interpretieren ist.

Wegen des nur höchst selten nachweisbaren Wielbark-Fundstoffes vom Über-gang der älteren zur jüngeren Kaiserzeit und zu Beginn der jüngeren Kaiserzeit (B2/Cl—Cla) und der angesprochenen Keramikproblematik muß man m. E. annehmen,daß nicht nur Wolhynien, sondern auch die Ukraine und Moldau nicht zeitgleich mitdem 1. Expansionsraum im Sinne einer als regekechte Landnahme zu bezeichnendenMigration besetzt wurden; zwar ist auch im 1. Expansionsraum eine Stabilisierung erstin Gib erreicht, dennoch sind die Unterschiede zwischen diesem und Wolhynien undder Ukraine in B2/C1 und Cla zu groß. Nachdem Quellen- bzw. Publikationslageund eine eventuell sich zu dieser Zeit verändernde Grab- und vor allem Beigabensittekeine hinreichenden Erklärungsmöglichkeiten für diese abweichenden Befunde bieten,sind diese auch nicht in dem denkbaren Erklärungsmodell zu suchen, daß sich eineEinwanderergeneration nur schwer nachweisen ließe; auch dem steht der Befund im1. Expansionsraum entgegen. In dieselbe Richtung weisen - außer dem weitgehendfehlenden Trachtzubehör - auch die Kämme, da B2/C1- und Cl-zeitliche Formenfehlen, ab C2 die Kammbeigabe aber regelhaft nachweisbar ist129.

Wie an anderer Stelle schon vertreten130, bin ich daher der Meinung, daß der sospärliche frühe Wielbark-Fundstoff in Wolhynien, der Ukraine und Moldau nicht miteiner mehr oder minder planmäßigen Landnahme zu verbinden sei, sondern nur mit(sehr?) kleinen Gruppen von Wielbark-Goten, die über den 1. Expansionsraum hinausschon weiter nach Süden und Südosten vordrangen und die man 'exploratores* be-zeichnen könnte; sie bildeten eine Art formativer Phase für die Cernjachov-Kultur.Dies bedeutet im Sinne der oben gestellten Frage, wie die 'Wanderung' nach Oium/Skythien Qordanes) zu interpretieren ist, einen zeitlich gestaffelten, also etappenge-schichtlich zu verstehenden Wanderungsvorgang: Mit der Inbesitznahme des 1. Expan-sionsraums in B2/C1 und Cla in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts und in der Zeitum 200 gelangten 'exploratores' auch schon bis nach O/#/ff/Skythien; eine Landnahmein Wolhynien und in der Nordmoldau (sowie sehr eingeschränkt auch in der Ukraine)erfolgte deutlich später, erst ab Ob, also etwa ab 220/230, Und ab C2 kurz vorder oder um die Mitte des 3. Jahrhunderts dann ausgeprägt auch in der Ukraine(S. 105 ff.)131. Aus diesen Gründen möchte ich Wolhynien und vor allem die Ukraineals 2. Expansionsraum der Goten bezeichnen. Ist diese Auffassung richtig, »so heißt

in: ebd. 13,1979, S. 23-65; V. D. BARAN, Öernajovska kul'tura, Kiev 1981; DERS., Siedlungen der Cernja-chov-Kultur am Bug und oberen Dnestr, in: Zeitschrift für Archäologie 7, 1973, S. 24—66. — Zumfrühen Wielbark-Fundstoff- außer Anm. 118 - noch die Beiträge von J. S. ViNOKUR-B. V. MAGOME-DOV, in: GURBA-KOKOWSKI (Red.) (wie Anm. 15) S. 218-247.

128 A. T. SMILENKO, Slov'jany ta ich susidy v Stepovomu Podniprov'i ( - st. n. e.), Kiev 1975, S. 31mit Abb. 6. .

129 G. F. NIKJTINA, Grebni cern'jachovskoj ktiTtury, in: Sovjetskaja A*cheolpgija 1969 (1), S. 147-159, bes.Abb. 1—3; M. B. SCUKIN, Sovremennoje sostojanie gotskoj problemy i cernjachovskaja kui'tura, in: Ar-cheologiceskij Sbornik 18, 1977, S. 79-91 mit Abb. 1.

130 BIERBRAUER (wie Anm. 3) S. 22.131 Anders GODLOWSKI (wie Anm. 12) S. 143, der von der 1. Welle von Wielbark-Goten spricht; vgl.

Anm. 115.

Page 55: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 105

dies zusammenfassend und vergleichend aber auch, daß die Inbesitznahme der beidenExpansiönsräutne unterschiedlich verlief: Handelt es sich bei der Inbesitznahme des1. Expansionsraumes um einen totalen AbwanderungsVorgang aus den alten Siedel-gebieten (Pommern und Großpolen) und wanderte der gesamte Stamm, so sind dieLandnahmevorgänge im 2. Expansionsraum anders zu interpretieren: Sie erfolgten imwesentlichen132 aus dem schon besetzten 1. Expansionsraum; da dieser bis an dasEnde der jüngeren Kaiserzeit (C3) und vereinzelt noch bis Dl, also bis in die zweiteHälfte des 4. Jahrhunderts und die Zeit um 400, von Goten besetzt blieb, wandertevon dort nur ein Teil der Goten ab. Eine gotische Migration eines den gesamtenStamm einschließenden und mehr oder minder kurzfristigen Wanderzuges — ein 'Zugzum Schwarzen Meer' im engeren Wortsinne — war es also nicht.

Der Vergleich dieser nur durch die Archäologie rekonstruierbaren gotischen'Wanderung' mit der Wandersage des Jordanes ist naturgemäß schwierig, da diese, wieoben ausgeführt, außer territorialen Angaben in den entscheidenden Fragen keinehinreichend präzisen Einsichten vermittelt. Ist — wie oben gefragt — mit dem Zugnach O//ws*/Skythien bereits die Abwanderung aus den älterkaiserzeitlichen Wohnsitzenin den 1. Expansionsraum gemeint133 oder erst die Überquerung der eingestürztenBrücke und des Flusses in sumpfig-moorigem Gelände (Pripjat?) nur noch durch einenTeil der Goten unter Filimer, die dann (exinde) bis in den »entferntesten Teil Skythiens,der an den Pontus grenzt* gelangten? Beides ist möglich, auch eine etappengeschicht-liche Zweiteilung, wie sie der archäologische Befund mit seinen von mir angenomme-nen beiden Expansionsräumen vermittelt; eine Entscheidung wäre aber spekulativ, dadie Schriftc[ueile eine sichere Übertragung des archäologischen Befundes nicht zu-läßt.

Die Cernjachov-Kultur

Wie oben dargelegt, erfolgte die zunehmend flächendeckende InbesitznahmeWolhyniens, der Nordmoldau und der Ukranine erst ab Gib (um 220/30) in Wolhy-nien134 und der Nordmoldau135 und ab C2 (um die Mitte des 3. Jahrhunderts) in der

132 BIERBRAUER (wie Anm. 3) S. 19 f.J33 GODLÖWSKI, Germanische Wanderungen (wie Anra. 5) S. 65 £; DERS. (wie Anm. 12) S. 143; vgL auch

Anm. 128.134 SZCZUKIN (wie Anm. 110) S 146 ff. mit Abb, 5 und 7 (stellvertretend das Gräberfeld von Dytmici, ebd.

S« 146 Anm. 62 und MACHNO (wie Anm. 118]); ferner das Oberschichtgrab eines Mannes von Rudkaba" Ternopol (Clb): ERNST PETERSEN, Ein reicher gepidischer Grabfund aus WoJhynien, in: Gothis-skandza 3, 1941, S. 39-52. dazu: BIERBRAUER (wie Anm. 82) S. 71 f.

1JS Stellvertretend das Gräberfeld von Daoceny (333 Gräber), allerdings schon im Mitteheil der RepublikMoldau bei Kisinev: J. A. RAFAtovia, Danccny, Mogfl'nik cernajochovskoj kultury l IM V w. n. e.,Kisinev 1986, mit einem Beitrag zur Chronologie des Gräberfeldes von M. B. SCUKIN S. 177-219;zuleorr. JOACHIM WFLKNJEÄ, Danccny und Brangstrup, Untersuchungen zur £ejrnjachov-Kulrur zwischenSercih und Dnestr und zu den 'Reichtums-Zentren* auf Pünen, in: Bonner Jahrbücher 188, 1988,S. 241-285 {zur Chronologie: S. 244 rT.). Nach Scuktn sem die Nekropolc bereits in B2/Cl-Cla ein(vgj. auch ebd. Tabelle 10), was nicht zutrifft: Aufgrund einer detaillierten formenkundlichen undbclc^ungschronologischen Analyse durch Annette Wagner im Rahmen einer Bonner Semesterarbeitund durch d«n Verfasser la$kcn sich dr«i Stufen ermitteln: Stufe I * Qb~C2, Stufe H ~ C2 und C3alt, Stufe III =? C3 alt-C3 jung; die vor allem im Norden und Soden nicht komplett gegrabene Nekro-polc entwickelt $ich wm einem kleinen Zentrum aus (I) über «inen umgebenden größeren Mittelteil{bh zu den Grabuegsgreiuen im Norticn und Süden; U) jcu <len jüngsten Teilen im Viferen und Osten,

Page 56: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

106 Volker Bierbrauer

Ukraine und übrigen Moldau136; diese Gebiete dürfen daher als 2. Expansionsraumder Wielbark-Kultur bezeichnet werden, der nun zweifelsohne im Sinne von Jordanesmit 0/>/w/Skythien gleichgesetzt werden darf. Diese Expansion ist verbunden mit derHerausbildung und Verbreitung der Cernjachov-Kultur, benannt nach einem großen,zwischen 1899-1901 ausgegrabenen Gräberfeld bei kiev137; sie ist mit mehr als 2500Fundstellen vor allem im Schwarzerdegebiet der Waldsteppe und im angrenzendenSteppenstreifen am Mitteldnepr und über diesen östlich ausgreifend bis Charkov (Do-nez) und Sumy sowie im Gebiet des (südlichen) Bug und des Dnjestr beheimatet(Fig. 20 a)138. Die Cernjachov-Kultur entwickelt sich in ihren kennzeichnenden Kultur-merkmalen aus der Wielbark-Kultur und ist mit dieser genetisch aufs engste verbunden(Grab- und Beigabensitte, Tracht etc.; S. 108 f.); trotz aller,polyethnischen Interpreta-tionsmöglichkeitert und 'lokaler Varianten' (S. 114 ff.) ist sie in ihrem Kern (ost-)ger-manisch, also mit Blick auf die Südostbewegung der Wielbark-Kultur und auf dieSchriftquellen (S. 119 f.) gotisch, was durch weitere hochrangige archäologische Merk-male (vor allem kultisch-religiöser Bereich: Amulette; Runen; Siedlungswesen; S. 108 ff.)verstärkt wird.

Die Chronologie der Landnahme fügt sich auch gut zu den in der jüngerenKaiserzeit wieder einsetzenden Schriftquellen zu den Goten, da ab 238 für mehr alseine Generation in regelmäßiger Folge die Balkanhalbinsel von verheerenden Goten-stürmen heimgesucht wird, Jahrgelder an die Goten gezahlt werden, was auf vertrags-ähnliche Beziehungen zum Imperium schließen läßt, und noch konkreter: ab 257n. Chr. setzten die gotischen Flottenunternehmungen ein; „die logistische Vorausset-zung dafür war die Gewinnung der Nord- und Nordostküste des Schwarzen Meeresdurch die Goten", 268 war Tyras (bei Odessa) gotisch139.

also im Prinzip kreisförmig. - Vgl. zur Moldau zuletzt auch: ION IONIJA, Die Fibeln mit umgeschlage-nem Fuß in der Sintana de Mure§-Cernjachov-Kultur, in: STRAUME—SKAR (Red.) (wie Anm. 3) S. 77—90, bes. S. 82 f. mit Abb. l. . .

136 Einzelnachweise — auch stellvertretend — können wegen der Fülle von Literatur, insbesondere Gräber-feldeditionen, nicht gegeben werden; übereinstimmend ergibt sich aber, daß die Nekropolen der Cernja-chov-Kultur regelhaft erst in C2 einsetzen: vgl. SCUKIN, O nacal'noj date (wie Anm. 127) S. 303-317mit Abb. 4 (dort Nachweise zu wichtigen Gräberfeldern); DERS., Das Problem (wie Anm. 127) S. 33;DERS., K voprosu chronologii cernjachovskich pamjatnikov Srednego Podneprovja, in: Kratkie Soobsce-nija!21, 1970, S. 104-113.

137 Zuletzt: V. P. PETROV, Cernjachovskij mogiTnik, in: Materialy i issledovanija po archeologii SSSR 116,1964, S. 53-117; Nachgrabungen: E. A. SYMONOVIC, in: ebd. 139, 1967, S. 5-27 und DERS.', in: Sovets-kaja Archeologija 1979 (3), S. 155-170.

138 Karten z. B. bei: TICHANOVA (wie Anm. 127) mit Abb. 1; E. V. MACHNO, Znovu pro lokal'ni varianticernjachovskoj kulturi, in: Archeologija 24, 1970, S. 49-58 mit Abb. S. 57; DERS: ähnlich in: KratkieSoobscenija 121, 1970, S. 60-64 mit Abb. 17 S. 62; E. A. SYMONOVIC, in: Materialy i issledovanija poarcheologii SSSR 116,1964, S. 7—43 mit Abb. 1; O. A. GEJ, £ernjachovskie pamjatniki severnogo pricer-nomor'ja, in: Sovjetskaja Archeologija 1980 (2), S. 45-50 mit Abb. S. 49; M. B. SCUKIN, Nekotorijeproblemy chronologii cernjachovskoj kuTtury i istorii rannich Slavjan, in: Rapport du IIP CongresInternational d'Archeologie Slave, Bratislava, 2,1980, S. 399-411 mit Abb. 5. - Für die Ostausdehnungbis in das Gebiet von Sumy vgl. zuletzt die 1973 entdeckte Nekropole von Sad: A. N. NEKRASOVA, in:Archeologija 50, 1985, S. 75-80.

139 ANDREAS SCHWARCZ, Die gotischen Seezüge des 3. Jahrhunderts, in: Die Schwarzmeerküste in derSpätantike und im frühen Mittelalter (Schriften der Balkan-Kommission, Antiquarische Abteilung 18)Wien 1992, S. 47-57, bes. S. 49 (Zitat); WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 53-65.

Page 57: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 107

Fig, 20 a £ernjachov- und Sintana de Mureg-Kultur. Nach O. A. GEJ in: Sovetskaja Archeologjja 1980 (2),S. 49 mit Karte.

In der Forschung war die ethnische Interpretation der Cernjachov-Kultur langeumstritten, in der sowjetischen Forschung z, T. aus durchsichtigen Gründen; von ganzwenigen Ausnahmen abgesehen, zeichnet sich im Prinzipiellen schon seit vielen Jahrenein immer deutlicher werdender Konsens ab140, dies trotz aller noch ungelösten Pro-

*** Z. B, zuletzt den wichtigen Beitrag von TftcHANOVA (wie Anm. 118) bes. S. 89 f. und 94; SCTUKIN (wieAnm. 127 und 129); DEK&, K predistoni cernjachovskoj kuTtury, m: Atcheologiceskij Sbornik (Peters-burg) 20, 1979» S. 66-89, bes. $.81 f£; GODIOWSKJ, Germanische Wanderungen (wie Aßm. 5) S. 68;$TRZi.iczYii (wie Anm. 38) $. 18£; zur Porschungsgeschidite: SCUKIN, Das Problem (wie Anm. 127);VCTJINF..R (wie Arun. 135) S. 246 mit Anm, 18; DEKS,, Zur Herkunft und Ausbreitung der Antcn undSklavenen, in: Actcs du VIII* Congrcs Iniernationiü des Sciences prchistoriques et protohistoriques l,Belgrad 1971, S 243-252, S. 245 f. (übersetzt ins Russische: Sovetskaja ArcheoJogija 1972. 4, S. 102-115, S. HK>f.) sowie die Beitrage in Kratkie Soob&cenija 121. 1970, S.3-113, darunter besonders]. V.KucHAttf.NKO, Vr>l\Tiv,kaja gnjppa polej pogrebenij i problcma tak nazyxracmoj goto-gcpidskoj kul'run;S. S7ff.; ferner OfRS. (wie Aam. l K» und 118). - Ferner TIOIANOVA (wie Anm. 127) und MACHNO,/In'.nu pro lokaTtii variand fu-ic Anm. 138), der hinsichtlich der lokalen Gruppen ethnische Interpreta-tionen — etwa im Srnn* von M. A, 'iichanova -*· ablehnt; fünf Lokalgruppen definiert Alachno auf derGrundlage der Keramik (Schcibcnwarc/Handwarc) in ihren Mcngcnanteäcn /ueinandct, zweifelt aberdennoch nicht ani „m^ndithi^heo'* Charakter 4ct ^>rniÄchov-Kultur mit ihren kennzeichnenden Elc-

(mit Karte S, 57); DUÄ. ähnlich in: Kratkie S*K>bSceniia 121, 1970, S. 6CHM,

Page 58: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

108 Volker Bierbrauer

bleme im einzelnen, vor allem der sog. lokalen Varianten. An der grundsätzlichenethnischen Interpretation dieser Kultur als im Kern germanisch-gotisch ist nicht(mehr) zu zweifeln. Diese Bewertung kann sich auf folgende Argumentationen stützen,die sie damit zugleich von anderen Kulturen absetzen, seien es Vorgänger, mit denensie vielleicht noch in Berührung kam, seien es Nachbarkulturen, an die sie grenzte(S. 114 ff.): 1. die Grabsitte mit birituellen Gräberfeldern (wie zuvor), meist zu Anfangder Belegung in Gib bzw. C2 mit einem Übergewicht oder sogar ausschließlich mitBrandgräbern141, die Bestattung im Hügel wird im Gegensatz zum 1. Expansionsraummerkwürdigerweise nicht weitergeführt; 2. die gegenüber der Wielbark-Kultur unver-änderte Beigabensitte, nämlich in der Regel waffenlose Männergräber und in Tracht(1—3 Fibeln, meist Fibelpaare und eine Drittfibel) sowie/mit Schmuck beigesetzteFrauen, einschließlich solcher Spezifika wie z. B. die Beigäbe von Kästchen (Schlüssel,Schloßbeschläge), ferner die Beigabe von Kämmen142, beinernen Nadelbüchsen, vonSpielsteinen143; 3. die Keramik vom Wielbark-Typ oder in dessen Tradition; 4. be-stimmte Sachformen wie beim Schmuck achterförmige Bernsteinperlen144, eimerför-mige Berlocken145, sog. Krückennadeln (Klöppelnadeln, 'Spindelhaken")146 und 5. imsymbolträchtigen, magischen Bereich: Eisenkämme147 und verschiedene Amulette, diedie Goten in der Cernjachov-Kultur auch mit Südskandinavien, besonders Fünen, inC2-C3 (in beiden Richtungen) verbanden148, ferner Donaramulette als prismatischeKnochenanhänger149, Cypräen150 und Gehäuse der Purpurschnecken151 und nicht zu-letzt Runeninschriften auf 'monströsen' Fibeln, wiederum mit auch personalen Verbin-dungen zu Skandinavien (und dem unteren Oderraum)152, und auch auf Keramik (inLepesovka) (Fig. 20 b)153. Mit Ausnahme der Keramik verbinden diese Sachformen die

141 Z. B. Ruzicanka in der Nordukraine, Budegti und Danceny in der Moldau: ION , Chronologieder Sintana de Mureg-Cernjachov-Kultur (I), in: KMIECINSKI (Red.) (wie Anm. 7) S. 295-351, S. 309 ff.;Danceny: vgl. Anm. 135.

142 Zur Tracht vgl. Anm. 110 und zur Kammbeigabe vgl. Anm. 129.143 E. A. SYMONOVIC, Igralno-scetnie zetoni na pam'jatnikach cernjachovskoj kuTtury, in: Sovetskaja Ar-

cheologija 1964 (3), S. 307-311.144 SCUKIN (wie Anm. 129) S. 85 Abb. 4.8.i« WERNER (wie Anm. 135) S. 263 mit Anm. 57.146 WERNER (wie Anm. 135) S. 253 f. mit Anm. 31-32.147 JOACHIM WERNER, Eiserne Wollkämme der jüngeren Kaiserzeitaus dem freien Germanien, in: Germania

68,1990,5.608-611.14» WERNER (wie Anm. 135) S. 262 ff. mit Abb. und Karten 14-19 und S. 281.149 JOACHIM WERNER, Herkuleskeule und Donar-Amulett, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentral-

museums Mainz 11,1964, S. 176—197; DERS., Zwei prismatische Knochenanhänger („Donar-Amulette'*)von Zlechov, in: Casopis Moravskeho Musea 57, 1972, S. 133-140.

150 WERNER (wie Anm. 135) S. 263 mit Anm. 58.151 MECHTHILD SCHULZE-ÜÖRLAMM, Gotische Amulette des 4. und 5. Jahrhunderts n. Chr., in: Archäologi-

sches Korrespondenzblatt 16, 1986, S. 347-355. .152 Zuletzt WERNER (wie Anm. 135) S. 247 ff. mit .Abb. 5 und S. 281.153 M. A. TICHANOVA, Starse runiceskie nadpisi, in: E. A. MELNIKOVA, Skandinavskie runiceskie nadpisi,

Moskau 1977, S. 133-139 und S. 140 f.; DIES., New finds of Scandinavian Runic Inscriptions from theUSSR, in: Runov och runinskrifter (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien, Konferenser15) Stockholm 1987, S. 163-173; SCUKIN (wie Anm. 129) S. 85 mit Abb. 4.7; KUCHARENKO (wieAnm. 12) S. 69 mit Abb. 17.

Page 59: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 109

Fig. 20 b Runeninschriften. Nach KUCHARENKO (wie Anrn. 12) S. 69 Abb. 17.

Cernjachov-Kultur mit der Germania libera154. Hinsichtlich der Beigabensitte trifft diesinsbesondere auf die Ausstattungsmerkmale der gotischen Oberschichtgräber zu155.

Wichtig für die kulturgeschichtliche (und ethnische) Interpretation der Cernja-chov-Kultur sind auch das Siedlungswesen und die Wirtschaftsweise, die gleich-falls eng mit der Germania libera verbunden sind. Obgleich eine Vielzahl von Siedlun-gen meist allerdings in nur sehr begrenzten Ausschnitten untersucht ist — dies ganzirn Gegensatz zur Wielbark-Kultur, in der Siedlungen bislang kaum erforscht sind —,erschwert die noch unbefriedigende Publikationslage eine schon umfassende Beurtei-lung; immerhin läßt sich in Grundzügen folgendes Bild erkennen156.

Die Siedlungen sind unbefestigt und liegen meist in leicht abfallender Hanglageoder auf Plateaus oberhalb eines Flusses oder Baches oder auch neben beiden; siesind oft langgestreckt angeordnet mit ihren Bauten in parallelen Reihen. Soweit be-kannt, scheinen die Siedlungen eine beachtliche Größe erreicht zu haben, zwischen10-35 ha; so erstreckt sich die Siedlung von Lepesovka in Wolhynien in zwei Reihenüber eine Länge von etwa 1000 m und über eine Breite von 180-200 m mit 12 Groß-häusern, 19 Herdstellen und zwei Töpferöfen (Ausschnitt: Fig. 21 a)157. Grundsätzlich

1 ** Für idlc genannten SachforrjKin hat Vferfl Vcrbrehungftkattcn erstellt, die aus Raumgründen jedoch nichtabgebildet u-crdcn können.

IW BfCLfcBRAUf.K (wie Anm. 82} S. 70-75,'**· Auf den Nachweis von Binxclbcfundcn — außer Lepespvka — wird verzichtet; vgl. zusammenfassend

in deutscher Sprache; HAUSUA (wie Anmu 127); & , Siedlungen {wie Anm, 127).K7 M. A. TICMANCWA, RaskopkJ na posderui 3-4 w. u,s. jwepcsovka v 1957-1959, in: Sovetskaja Arcbeolo-

gifa 1%3 (2), S. 178-191; DIEL, Dnesirov$fa>-vcjiyaska|a ük*pedicija *96(M961 g&, in: KratlcicSoobSce-nija 1112, 1964, S, 48*56; Dn$.9 Rasfcopk» iKwclcnjja i».$. Lepetovki, m: Doklady i Sfx>b&cenija wcheolo-f?ov SSvSR, ,Mo4:au 1964, S. 209-214; DIES, (wie Anm. 11T;.

Page 60: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

110 Volker Bierbrauer

sind zwei verschiedene Haustypen nachweisbar, nämlich eingetiefte Hütten und Gru-bcnhäuser einerseits und ebenerdige Wohnbauten andererseits.

Die zwischen 0,50-1,50 m in den Boden eingetieften Hütten mit Seitenwändenund Firstkonstruktion (Pfostenstellungen in den Ecken oder in der Mitte gegenüberlie-gender Wände) hatten in der Regel einen quadratischen Grundriß mit einer Flächevon meist nur 5—16 m2; die Wände bestanden aus Rutengeflecht mit Lehmverstrich,im Hausinneren mit einem Estrich aus Stampflehm fand sich die (hufeisenförmige)Herdstelle. Liegt das Wohnniveau tiefer, so handelt es sich um das sog. Grubenhaus(etwa 2,5 X 6 m) ohne aufgehende Wände aus Rutengeflecht, d. h. die Dachkonstruk-tion lag auf den Grubenwänden auf; diese Bauten waren in aller Regel Werkstatthäuserunterschiedlicher Funktion. >

Die ebenerdigen, meist rechteckigen Bauten (zweigeteilte zwei- oder dreischiffigePfostenbauten) waren beträchtlich größer (11—16x6-8 m; 65-120 m2) und dientenals Wohnhäuser, oft auch — besonders kennzeichnend für die Germania libera — alsWohnstallhäuser mit einem größeren Wohnteil im Osten (mit Lehmboden) ausgestat-tet sowie mit einem oder mehreren Öfen und einem kleineren Stall (mit Boxen) imWesten; die Wände bestanden aus lehmverstrichenen Ruten- oder Holzkonstruktionen,Pfostenlöcher an den Schmalseiten belegen die Firstkonstruktion des Daches, so auchin Lepesovka (Fig. 21 b)158. Des weiteren fanden sich noch Ställe, Scheunen und Vor-ratsgruben.

Wichtig ist, daß nicht nur die Analogien zu diesem Siedlungstyp — wie erwähnt —in der Germania libera beheimatet sind, sondern daß dieser im 2. Expansionsraumkeinerlei Vorläufer besitzt159.

Zahlreich und vielfaltig sind die Hinweise auf die Wirtschaftsweise; nachgewiesensind (auch) die gewerbliche Produktions- und Erwerbsgrundlage durch die erwähnteTöpferei (z. B. Lepesovka, Fig. 21 a)160 und teilweise auch Glasproduktion161, fernerdurch Kammacherwerkstätten (z. B. Velikaja Snitinka bei Kiev)162 sowie durch Leder-und Wollverarbeitung (Webgewichte) wie auch durch Metallverarbeitung (Eisenschlak-ken, Luppen; handwerkliche Geräte; Schmelztiegel und Guß formen). Die primäre Er-werbs- und Existenzgrundlage war aber in der Regel die Landwirtschaft (z. B. Pflug-scharen, Sicheln, Mahlsteine) und die Viehhaltung (hoher Anteil an Tierknochen, vorallem Rind, sodann Schwein und Schaf/Ziege)163.

158 TICHANOVA, Lepesovka 1957-1959 (wie Anm. 157).159 Hierauf wies M. A. TICHANOVA (wie Anm. 118) schon sehr deutlich 1970 hin: (S. 91-93); zur jGermania

libera vgl. BENDIX TkiER, Das Haus im Nordwesten der Germania libera, Münster 1969.160 M. A. TICHANOVA, Goncärnye peci na poselenii u.s. Lepesovka, in: Kratkie Soobscenija 133, 1973,

S. 129-137.161 Glas Werkstatt in Komarov am Oberlauf des Dnestr: M.J. SMISKO, Poselennja 3-4 st. n.e. iz slidami

skljanogo virobnictva bilja s. Komariv, £ernieveckoi öblasti, in: Materialy i doslidzennja z archeol.Prikarpattja ta Volini 5,1964, S. 67—80 (Tonmodel sog. optisch geblasener Glasbecher).

162 Ausgrabungen B. V. Magomedov 1988-1989.163 Z. B. E. A. RIKMAN, Cernjachovskoe selisce Delakeu, in: Materialy i issledovanija po Arch. SSSR 139,

1965, S. 165-196 (vor allem Grubenhäuser mit Webstuhl/Webgewichten: ebd. S. 120 ff. mit Abb. 12-13). - Nicht eingegangen werden kann im Rahmen dieser Studie auf die starken Einflüsse der nochweiterhin stark hellenistisch geprägten Zentren der Schwarzmeerküste auf die £ernjachov-Kultur, diesich auch und insbesondere bei der Produktion der nun neu aufkommenden Drehscheibenware mitbesonderen Formen, Ziertechniken und Mustern äußern, auch nicht auf die in dieser Hinsicht beson-ders bedeutsamen Keramikfunde in der weit entfernten Siedlung von Lepesovka in Wolhynien (dort

Page 61: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7, Jahrhundert 111

Fig. 21 a Siedlung von Lepesovka (Wolhynien). Nach TICHANOWA, ekspedicija 1960-1961 (wie Anm. 157)S. 49 Abb. 17.

2t 30 3« 32 JJ M )) )| )7 II ) «0 U U 43

Vig, 21 b SjcdJunß von ixpeiovka (V^ölhynicn), flat» i. Nach TICHANCWA (wie Anm. 117) $. 1060 Abb. 1.

Page 62: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

112 Volker Bierbtaucr

In kulturgeschichtlich-ethnischer Hinsicht bedeutsam für die Cernjachov-Kulturist auch die nach den Landnahmevorgängen weiterhin anhaltende Mobilität von Perso-nenverbänden im Verlauf der jüngeren Kaiserzeit in den Stufen C2-C3. Außer in denin der Verlaufsrichtung in C2 und C3 wechselnden Verbindungen zu Südskandinavien,auf die Joachim Werner hinwies164, äußert sich dies beispielhaft in dem Typ der sog.Doppelovalschnalle, einer sehr spezifischen und selten vorkommenden Form der Gür-telschnalle in Stufe C2 mit direkten Personenkontakten von Norden nach Süden: Wiel-bark, Grab 554 im unteren Weichselraum165 - Derevnoje in Wolhynien166 — Dancenyin der mittleren Moldau167 sowie Rakovec bei Ternopol und Cernjachov-Romaski(Nachgrabungen, Grab 43) in der Ukraine168. Ähnliches — also offene Räume - läßtsich auch an bestimmten länglichen, gerippten Eimerberlocken169 und wohl auch be-stimmter Drehscheibenware zeigen170.

Nicht behandelt werden in dieser Studie Fragen der inneren Chronologie derCernjachov-Kultur. Ihre Erforschung ist im Sinne einer Feinchronologie innerhalb derStufen C2-C3 - besonders in handwerklich-methodischer Hinsicht - noch längstnicht gelöst; richtungsweisend sind hierfür die Arbeiten von J. Tejral aus den letztenJahren (Fig. 22)171. Diese noch offenen Fragen sind für unsere Betrachtungen letztlichjedoch ohne großes Gewicht, obgleich chronologisch differenzierte Siedlungskartenwie für die Wielbark-Kultur der älteren Kaiserzeit deswegen leider fehlen. Weitgehendgeklärt ist jedoch die Chronologie für das Ende der Cernjachov-Kultur (Kapitel IV;S. 117 ff.).

Wichtig, weil unverzichtbar und ergiebig für die Zielsetzung dieser Studie, ist -vergleichbar zum 1. Expansionsraum - jedoch die Frage, ob die landnehmenden Go-

hergestellt: Töpferofen mit Inhalt), z. B. mit floralem Dekor und griechischen Inschriften, die die Aus-gräberin M. A. Tichanova zu Recht mit Verschleppten bzw. Gefangenen von der Schwarzmeerküsteverbindet (Sovetskaja Archeologija 1963 [2], S. 178 ff.); zur Drehscheibenware vgl. ferner: E. A. SYMO-NOVIC, Cernjachovska kerafnika Podneprov'ja [= Dneprgebiet], in: Archeologija (Kiev) 43,1983, S. 26—42 und generell: M. A. TICHANOVA, Zu Fragen des Austausches und Handels im Zeitabschnitt derCernjachov-Kultur, in: Symposium. Ausklang der Latene-Zivilisation und Anfange der germanischenBesiedlung im mittleren Donaugebiet, Bratislava 1977, S. 343-359.

164 Wie Anm. 135.165 SCHINDLER (wie Anm. 6) S. 86 Abb. 56.166 KUCHARENKO (wie Anm. 12) S. 121 Taf. 28,11.167 RAFALOVIC (wie Anm. 135) S. 182 Abb. 3.168 I. S. VINÖKUR-M. J. OSTROVSKIJ, in: Materialy i issledovanija po Arch. SSSR 139,1965, S. 150 Abb. 8,7;

E. A. SYMONOVIC, in: Sovetskaja Archeologija 1979 (3), S. 162 Abb. 6,12.169 BIERBRAUER (wie Anm. 3) S. 20.170 ANDRZEJ KOKOWSKI, Z studiow nad ceramika wykonana na kole w kulturze wielbarskiej, in: GURBA—

KOKOWSKI (Red.) (wie Anm. 9) S. 157-176.171 JAROSLAV TEJRAL, Fremde Einflüsse und kulturelle Veränderungen nördlich der mitderen Donau zu

Beginn der Völkerwanderungszeit, in: KMIECINSKI (Red.) (wie Anm. 7) S. 175-238; ferner: NIKITINA(wie Anm. 129) im Sinne einer Art von Kombinationsverfahren von Objekten^ die mit Kämmen verge-sellschaftet sind, sowie u. a. die Arbeiten von SZCZUKIN (wie Anm. 110), DERS., O nacal'noj date (wieAnm. 127) und DERS., K voprosu (wie Anm, 136); MICHEL KAZANSKI-RENE LEGOUX, Contribution al'etude des temoighages archeologiques des Goths en Europe Orientale a Pepoque des Grandes Migra-tions: La Chronologie de la culture de Cernjachov recente, in: Archeologie Medievale 18, 1988, S. 7—53; in wesentlichen Punkten kann ich die Ergebnisse von Kazanski-Legoux nicht teilen, so in derSynchronisierung der Phasen I-V mit der üblichen Stufeneinteilung, deren Inhalten (C2—C3) und derenabsoluter Chronologie, auch nicht deren Enddatierung in D2, also bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts(!).

Page 63: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 113

10 11

H& 22 a Pundsfoff der ftemjacbov· Kultur »u§ der Phase O alt; b Fundstoff der £ernjachov*KuIrur ausder Phase O jun& Nach TJ^RJUL <*ic Anrn. 1̂ 5) S 234 Abb. 5 und & 236 Abb, 6.

Page 64: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

114 Volker Bierbrauer

ten in / /Skythien in gänzlich siedelleere Räume einrückten, was wegen der Weitedes Verbreitungsgebietes der Cernjachov-Kultur prinzipiell höchst unwahrscheinlichist, und wenn nicht, auf welche Bevölkerungsgruppen sie stießen; fand hier ein ähn-licher Verdrängungsprozeß statt oder hat die 'Vorbevölkerung', falls sie in nen-nenswertem Umfang im Lande verblieb, auf die Kultur der Einwanderer eingewirkt?Diese Fragen haben auch Konsequenzen für die Art und Weise, wie die Cernjachov-Kultur sich herausbildete bzw. weiterentwickelte. Hierüber ist von der russischen undukrainischen Forschung seit vielen Jahren viel geschrieben und auch unterschiedlichgeurteilt worden. Das von M. B. Szukin 1977 sehr detailliert entworfene Bild der Sie-delverhältnisse vom 1.—4. Jahrhundert überzeugt am meisten (Fig. 23)172: Das weiteGebiet zwischen Dnepr im Osten (und darüber hinaus) und Dnestr bis hin zum Pruthim Westen - zuvor gesichert überwiegend von Sarmaten besetzt - scheint nicht mehrdicht besiedelt zu sein, da gesichert ins 3. Jahrhundert datierbarer, quantitativ relevan-ter Fundstoff offenbar fehlt (vielleicht mit Ausnahme von 'Rest'-Sarmaten an derSchwarzmeer-Küste bei Cherson; z. B. Gräberfeld von Gorodok-Nikolajewka). Zwei-felsohne gilt dies für die Zarubincy-Kultur, die am Mittellauf des Dnepr territorialnoch Cernjachov-Gebiet berührt; sie erlischt bereits um die Mitte des l. Jahrhundertsals Folge von sarmatischen Expansionen, so zum Beispiel nachweisbar am Mittellaufdes Dnepr um und südlich von Kiew, wo Sarmaten unmittelbar auf die Zarubincy-Bevölkerung folgten; chronologisch und inhaltlich nicht befriedigend geklärt sind diein der Literatur immer wieder auftauchenden 'Postzarubincy-Gruppen*173.

Trotz der noch unsicheren Feinchronologie des sarmatischen Fundstoffes scheintdie Masse der Sarmaten die von ihnen besetzten Gebiete in der Ukraine aber bereitsvor der Landnahme der Goten um die Mitte des 3. Jahrhunderts verlassen zu haben.M. B. Scukin nimmt zu Recht eine Siedlungslücke im Dnepr-Gebiet vom Ende des 2.bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts an (in Zeitstufe Cl, vor allem Gib)174, zu einer Zeitalso, als sich die Wielbark-Kultur in Wolhynien (hier jedoch ohne sarmatische Vorgän-ger) bereits ausgebildet hatte. Die an der Nordperipherie der Cernjachov-Kultur ent-stehende Kultur vom sog. Kiever Typ steht ebenfalls in keiner bislang chronologischund kulturspezifisch sicher nachgewiesenen Verbindung zur Cernjachov-Kultur undist nur für die slawische Ethnogenese von Belang175. Anders verhält es sich hingegenim Nqrdwesten der Wielbark-Cernjachov-Kultur, wo die (wandalische) Przeworsk-

172 SCUKIN, K predistorii (wie Anm. 140).173 Sarmaten-Zarubincy-Kultur: M. B. SCUKIN, Sarmatskie pamjatniki srednego Podneprov'ja Lieh sootno-

senije s sarubineckoj kulturoj, in: Archeologiceskij Sbornik 14,1972, S. 43-52, bes. Abb. 2 S. 49. Ferner:E. V. MAKSIMOV, Zarubineckaja kul'tura na territorii USSR, Kiev 1982; zuletzt: A. M. OBLOMSKIJ, in:Sovetskaja Archeologija 1987 (3), S. 68 ff.; K. V. KASPAROVA, Sootnosenija wielbarskoj i zarubineckojkultur v Pripjatskom, Polesje, in: GURBA-KOKOWSKI (Red.) (wie Anm. 15) S. 263-282, bes. Abb. 10 undS. 276. — 'Postzarubincy'-Gruppen: Zuletzt: MICHEL KAZANSKI, Les relations entte les Slaves et lesGoths du IIIC au Vc siede. L'apport de Tarcheologie, in: Revue des Etudes Slaves 65,1, 1993, S. 7-20,mit weiterer Literatur (= Veneter als Vorfahren der slawischen Kultur vom sog. Kiever Typ am Mittel-und Oberlauf des Dnepr).

174 SCUKIN, K predistorii (wie Anm. 140) S. 81. - Vgl. auch die Karten Abb. 1-2 bei BARAN, Cernjachovskakultura (wie Anm. 127) S. 4 und 16 (für den Sachverhalt kartographisch instruktiv; vgl. sonst Anm. 179).

175 SCUKIN, K predistorii (wie Anm. 140) S. 83; TICHANOVA (wie Anm. 163) S. 349 f. (Hiatus von „minde-stens 100 Jahren"); anders zuletzt KAZANSKI (wie Anm. 173) S. 10 ff. mit Abb. 3 mit einigen Cernjachov-Belegen, angeblich im Kontext mit der Kiev-Kultur,

Page 65: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 115

11

1'S z

Ja ES

s>

i -

ler

a l

Page 66: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

116 Volker Bierbrauer

Kultur ab B2/C1 am Oberlauf des Dnestr und am Oberlauf des (oberen) Bug durchZuzug nochmals eirie Siedlungsverdichtung erfährt; beide Kulturen grenzen in West-bzw. Südwestwolhynien unmittelbar aneinander, liegen z. T. in Gemengelage unddurchdringen einander auch176. Ebenso klar ist mittlerweile auch die lokale Varianteder Cernjachov-Kultur im nördlichen Schwarzmeergebiet durch B. V. Magomedov177;sie ist geprägt durch die starken Einflüsse der noch in 'hellenistisch-spätskythischer*Tradition stehenden 'graeco-römischen' Bevölkerung, namentlich in den Küstenstäd-ten, was sich vor allem im Siedlungswesen (Steinbauweise mit bestimmten Grundris-sen), in der Grabsitte und auch in der Wirtschaftsweise äußert. Trotz aller lokalenUnterschiede im Bereich der Cernjachov-Kultur, die Scukin m. E. zu stark für Wolhy-nien und oberes Dnestr-Gebiet einerseits und das Dn^pr-Gebiet andererseits be-tont178, besteht für ihn kein Zweifel, daß die Goten-Wanderung im Sinne des Jordaneszur "Entstehung der Cernjachov-Kultur' geführt hat und diese keineswegs als 'Summeder Vorgänger-Kulturen' zu verstehen ist, da deren Anteile quantitativ und qualitativwohl schwach waren, jedenfalls archäologisch nicht klar beurteilbar sind179, d. h.: Die

176 KROPOTKIN (wie Anm. 102); GODLOWSKI (wie Anm. 102); KOZAK (wie Anm. 102). - Vgl. z. B. die Ne-kropole von Oselivka bei Ternopol: G. F. , in: V. V. KROPOTKIN (Red.), Mogü'niki cernjachov-skoj kul'turi, Moskau 1988, S. 5-97, S. 67 (Grab 70 mit Waffenbeigabe).

177 B. V. MAGOMEDOV, Cernjachovskaja kul'tura severo-zapadnogo Pricernomor'ja, Kiev 1987; SCUKIN, Kpredistorii (wie Anm. 140) S. 83; Verbreitungskarte von Amphoren bei A. V. und V. V. KROPOTKIN, in:KROPOTKIN (Red.) (wie Anm. 176) S. 168 ff. mit Abb. 1.

178 SCUKIN, K predistorii (wie Anm. 140) S. 80 f., dies nicht nur bezogen auf das zeidiche Nacheinandervon etwa „60-70 Jahren" (Clb/C2).

179 Ebd. S. 83 f.; DERS. zuletzt: The balto-slavic forest direction in the archaeological study of the ethnoge-nesis of the Slavs, in: Wiadomosci Archeologiczne 51, 1986—1990, S. 3—30; GODLOWSKI, GermanischeWanderungen (wie Anm. 5) S. 68. — Hinzuweisen ist noch auf die anthropologischen Ergebnisse vonT. S. KONDUKTOROVA, die auf der Grundlage von 200 untersuchten Individuen keine sarmatischen Zügefeststellen kann, auch.keine lokalen Gruppen, in: E. A. SYMONOVIC (Red.), Mogü'niki cernjächovskojkuTtury, Moskau 1979, S. 163—204, bes. S. 164. — Zu den Ausnahmen von der Regel — als Hinweiseauf 'Rest'-Sarmaten — seien beispielhaft genannt Grab 9 von Kaborga IV und Ranzevoje Grab 21,diese im Kontext von Cernjachov-Nekropolen ( [wie Anm. 135] S. 80), und der wichtige Befundvon Cholmskoje am unteren Bug, wo eine särmatische Nekropole des 3. Jahrhunderts nur 400 msüdlich eines Cernjachov-Gräberfeldes liegt: A. V. GUDKOVA-M. FOKEEV, Zemledel'cy i kocevniki v.nizov'jach Dunaja I—IV w. n. e., Kiev 1984, S. 6-32, Lageplan Abb. l S. 6. — Ganz anders hingegenimmer noch als einer der wenigen Vertreter einer Gegenposition V. D. BARAN, Zur Frage nach demUrsprung der Cernjachov-Kultur, in: Archäologie als Geschichtswissenschaft. Festschrift Karl-HeinzOtto, hg. von JOACHIM HERRMANN (Schriften zur Ur- und Frühgeschichte 30) Berlin 1977, S. 309-315,der die Zeitgleichheit von Cernjachov-Kultur und den erwähnten Vorgängerkulturen betont (Sarmaten;Spätzarubincy-Kultur), wofür archäologisch — wie erwähnt — aber keine gesicherten Anhaltspunktebenannt werden können; außerdem trennt er in genetischer Hinsicht die Wielbark-Kultur in Wolhynienvon der Cernjachov in der Ukraine ab, was trotz aller lokalen Komponenten falsch ist. Die Cernjachov-Kultur sei demnach in ihrem Kern keineswegs als gotisch zu bezeichnen. Vgl. auch DERS., Cernjachov-ska kuTtura (wie Anm. 127). — Ähnliche Positionen wie Baran vertreten auch E. A. SYMONOVIC hinsicht-lich der Zeitgleichheit von Cernjachov-Kultur und der Kultur vom Kiever Typ: Cernjachovskaja kul'turai pamjatniki kievskogo i kolocinskogo tipov, in: Sovetskaja Archeologija 1983 (1), S. 91—102 und KAZAN-SKI (wie Anm. 173) mit Hinweis auf weitere Autoren, vor allem R. V. Terpilovskij. Vgl. hierzu WERNER(wie Anm. 140) und DERS., Bemerkungen zum nordwesdichen Siedlungsgebiet der Slawen im 4.—6.Jahrhundert, in: Arbeits- und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege. Festschrift fürWerner Coblenz (Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte 1) Berlin 1981, S. 695-701. - MICHEL KAZANSKIist schließlich der Meinung, daß die Goten „exerceraient une domination politique sur une populationen majorite non germanique": Contribution a retude des migrations des Goths a la fin du IV* et au

Page 67: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 117

gotische Landnahme in der Ukraine erfolgte sehr wahrscheinlich in bereits weitgehendsiedelleeren Gebieten, ein Verdrängungsprozeß (Sarmaten) ist nicht nachweisbar. Daein solcher im 1. Expansionsraum durch die Goten gut nachweisbar ist (wandalischePrzeworsk-Kultur) und auch die Kontinuität von (autochthonen) Vorgängerkulturenim Bereich der 'Schwester-Kultur* zur Cernjachov-Kuitur, der Sintana de Mure§-Kul-tur in Rumänien, ebenfalls mit archäologischen Mitteln klar nachweisbar ist (Geto-Daker, Karpen; Sarmaten; S. 127 ff.)> besteht kein Grund, an dem geschilderten Be-fund in der Ukraine zu zweifeln.

TV. DAS ENDE DER CERNJACHOV-KULTUR

Sind die Probleme der inneren Feinchronologie der Cernjachov-Kuitur nochnicht in wünschenswerter Klarheit gelöst180, so gilt dies nicht für das Ende dieserKultur. Schon lange vermutet, ist heute klar, daß — von sehr wenigen Ausnahmenabgesehen — die Nekropolen im Sinne der 'klassischen' Cernjachov-Kuitur relativ-chronologisch mit der Stufe C3-jung (C3b; Fig. 22 b), also am Ende der römischenKaiserzeit abbrechen; hiermit korrespondiert, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil derSiedlungen abgebrannt ist, belegt durch kompakte Brandschichten in ihrem gesamtenSiedlungsareal, so etwa in Budesti (Moldau)181, in Leski (Ukraine, mittlerer Dnepr)182,Ivankoviciy bei Zitomir (Wolhynien)183 und Lukasevka (III; Moldau; hier mit einemSchatzfund von 42 Münzen, t. p. 361—363)184. Nach den vor allem von Jaroslav Tejralerarbeiteten absolutchronologischen Ergebnissen kann kein Zweifel sein, daß die StufeC3-jung um 370/380 n.Chr. endet (mit einer maximalen Überlappung in Einzelfällenmit der folgenden Zeitstufe Dl; ca. 370/380-400/410 n.Chr.)185. Diesen Befund

Vc siedest les § ^ de l'archeologie, in: PATRICK PERIN (Hg.), Galle-Romains, Wisigoths etFrancs en Aquitanie, Septifnanie et Espagne. Actes des Vlle Journees Internationales d'ArcheologieMerovingienne Toulouse 1985, Roucn 1991, S. 11; ähnlich DERS., Les Goths et les H uns. A propos desreladons entre les Barbares sedeataires et les nomades, in: Archeologie Medievale 22, 1992, S. 191-229mit irrigen kulturhistorischen und chronologischen Einordnungen und Justierungen des archäologi-schen Fundstoffs (vgL auch DERS., Anm. 171).

i«" TK.JRAI, (wie Anm. 171) S. 185-195 und Anm. 185.181 E. A. RIKMAN in: Material}· i issledovanija po Archeobgii SSSR 82, 1960, S. 302-327, S. 307 ff., 313,

316-319,321 mit Abb. 2,3.i« A. T. BRAJCEVSKAJA-M.J. BRAJCEVSKIJ in: Kratkie Soob^enija 8,1959, S. 48-54 mit Abb. 2.i*3 L S. ViNotüR in: Matcrialy i issJedovanija po Archeologii SSSR 116, 1964, S. 176-185, S. 180ff. mit

Abb. 6 und 8,1.IW G. B. FEDEHOV in: Material)· i isslcdovanija po ArcbeoJogii SSSR 82, 1960, S. 254-301.'** TtjRAJ. (wie Anm. 171) S. 189f£, 194 fc, 211; DERS., Zur Chronologie und Deutung der südöstlichen

Kulturclemcme m der frühen Völkcrwanderungszcit Mitteleuropas, in: WILFRIED MENGHIN (Red,), DieVolkerwandeningszeit im Karpatenbecken (Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg1987) Nürnberg 1988, S. 11-46, bes. S. 12-20; DERS., Zur Chronologie der frühen Völkcrwanderungs-zeit im mittleren Donauraum, in: Archaeolpgia Austriaca 72, 1988, S. 223-304, bes. S. 225; DERS., zu-letzt: Einige Bemerkungen zur Chronologie der späten römischen Kaiserzeit in ^Mitteleuropa, in:GoDLCwsiu-MAim>A-I^<iin%o (Red.) (wie Anm, 94} S. 227-248, bes. S. 235 ff. (jeweils mit weitererJjtcmur, vor allem der rüssiMihcn und ukrainischen und Kritik an falschen Chronologie-Vorstellungeneinzelner Autoren); vgL auch VOLKER BihRBRAUUR, Da» Friücngrab von Casielbolognese in der Roma-gna (hauen;. Zur chronologJMrhcn, ethnischen und histnrischen Au^wcrtbarkeu dct. ostgermani»chenJ;undMoffc5 des 5. Jahrhunderts in Südosteuropa und iuJkn, in: Julwbuch des Rjumwch-Gcrmanischcn

7. 1990 (1994), S. 541-592,

Page 68: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

118 Volker Bierbrauer

Fig. 24 Blechfibeln (A/G) und Gürtelschnallen (B/D) der Stufe C3 (nicht ausgefüllte Signaturen) und derStufe Dl (ausgefüllte Signaturen). Nach TEJRAL (wie Anm. 171) S. 223 Karte 2.

verdeutlicht eine Karte von J. Tejral (Fig. 24)186, in der einerseits das jüngste Trachtzu-behör der Cernjachov-Kultur (Blechfibeln und Gürtelschnallen; Fig. 22 b) eingetragenist und andererseits die nächstjüngeren Typen der Stufe Dl; auf letztere, die nicht nurdie Diffusion ostgermanischen Fundstoffs auf die Krim, das Nordkaukasus-Vorlandund vor allem nach Westen in der Zeit um 400 anzeigen, sondern auch mit der seitalters her diskutierten Frage zusammenhängen, wo die Cernjachov-Goten verbliebensind, wird noch näher einzugehen sein (S. 120 f.).

Die wenigen Ausnahmen, die noch völkerwanderungszeitlichen Fundstoff (Dl)im Verbreitungsgebiet der Cernjachov-Kultur belegen, ändern nichts an dem geschil-derten regelhaften Befund: Privolnoje Grab 26 bei Zaporozje am unteren Dnepr187,

186 TEJRAL (wie Anm. 171) S. 223 Karte 2.187 J. V. KUCHARENKO, Poselenija i mogil'nik polej pogrebenij v sele Privolnom, in: Sovetskaja Archeologija

22, 1955, S. 142 Taf.4, 17; RENATA MADYDA-LEGUTKO, The buckles with imprint ornamentation, in:Wiadomosci Archeologiczne 43, 1978, S. 3-15, bes. S. 12; JOACHIM WERNER, Zu einer eibgermanischenFibel des 5. Jahrhunderts aus Gaukönigshofen, Ldkr. Würzburg. Hin Beitrag zu den Fibeln vom „TypWiesbaden" und zur germanischen Punzornamentik, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 46, 1981,S. 225-252, bes. S. 246.

Page 69: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 119

Zuravka Gräber 3 und 5 im mittleren Dnepr-Gebiet188, Kosanovo Grab 21 bei Win-iiiza am Oberlauf des (unteren) Bug189, Belenkoje Grab 131 bei Odessa190, RanzevojeGrab 14 bei Chersori191 sowie an der Nordostperipherie jenseits des Dnepr Sad beiSumy192, ferner Lazo in der Moldavischen Republik193; ihre Datierung zwischen C3-jung und Dl ist im. Einzelfall umstritten194. Die meisten dieser Gräber sind Belegefür ein nur kurzes vereinzeltes Nachleben bis in die Zeit um 400, vor allem dann,wenn sie — was meist der Fall ist — aus größeren Nekropolen stammen, die mit derMasse ihrer Gräber gesichert mit C3-jung enden. Auch wenn noch weitere Belegehinzukommen, weisen sie nur auf außerordentlich kleine Restgruppen der Cernjachov-Bevölkerung hin195. Das Erlöschen der Cernjachov-Kultur als kulturhistorisches Ge-samtphänomen, als historisches Gebilde, bleibt dadurch unberührt; es impliziert denAbzug ihrer Träger, also im wesentlichen der Goten.

In die Zeit der Goten in O/W/v/Skythien fällt die Spaltung des Gotenvolkes, dieerstmals 291 bezeugt ist: Fortan „gab es zwei Abteilungen, deren westliche Terwingi-Vesi und deren östliche Greutungi-Ostrogothi hießen"196; obgleich präzise territorialeAngaben fehlen, siedelten erstere wohl westlich und letztere östlich des Pruth. Die

188 Unpubliziert; Gräber 3 und 5: T. B. BARCEVA-G. A. VOZNESENSKA-E. N. CERNYCH, Metall cernjachow-skoj kuTtur>; in: Aiaterialy i issledovannija po Archeologii SSSR 187» 1972, S. 79 Abb. 13,3-4; BIER-BRAUER (wie Anm. 185) S. 564 mit Anm. 70.

189 N. M. KRAVCENKO, Kosanovskij mogü'nik, in: Materialy i issledovannija po Archeologii SSSR 139,1967,S. 77-135, S. 89-91,109-111, Taf. 10,16.

190 Unpubliziert; Grabungen von A.A. Rosochatskij 1986-1991 (freundl. Mitteilung B. V. Magomedov,Kiev); Vorberichte A. V. GUDKOVA, Mogil'nik IV, v.n.e.v s. Belenkoje, in: Novye issledovanija po archeo-logii Severnogo Pticernomorja, Kiev 1987, S. 56-66 (Gr. 1-19; dort auch Grab 9, das ebenfalls vielleichtDl-zeitlich sein kann) und A. A. RDSOCHATSKIJ, ebd. S. 143-149 (Gr. 8); J. V BRUDKO-A. N.LEWINKSIJ-A. A. ROSOCHATSKIJ in: Materialy i issledovanija po Archeologii i Etnografii Moldovi, Kisinev1992, S. 149-158 (Grober 47,51-52).

191 E. A. SYMONOvie, Mogü'niki cernjachovskoj kul'tury, Moskau 1979, S. 93-111 mit Abb. 21,1-4 und25,7-8,12-13.

lv2 NEKRASOVA (wie Anm. 138) S. 75—79; Nekropole auch mit west-Östlich orienderter Bestattung, einemPolyederring und einem Grab mit deformiertem Schädel

w* Neuerdings das wichtige Grab 28 von Lazo mit einem Silberblechfibclpaar des l. Viertels des 5. Jahr-hunderts: BRUDKO u. a. (wie Anm. 190) S. 153 f. mit Abb. 3, S. 155; zu diesem Fibel typ: VOLKER BIER-BRAUER, Bronzene Bügdfibeln des S. Jahrhunderts in Südosteuropa, in: Jahresschrift für mitteldeutscheVorgeschichte 72, 1989, S. 141-160, S. 141 f£ mit Abb. 1. - VgJL auch die Karte von SCUKIN (wieAnm. 138) S. 407 Abb. 5 mh sechs Fundorten, die ins 5. Jahrhundert gehören (ohne Fundstellennach-weis).

m VgJ. TEJRAI. (wie Anm. 171 und 185) und BIERBRAUER (wie Anm. 185).m Die sich schon abzeichnenden Veränderungen in der Grab- und Bcigabensitte (Aufkommen von west-

öf dich ausgerichteten Gräbern, zunehmende Beigabenlosigkcit, Wegfall der Speisebeigabe mit umfang-reichen Geschimätzen bei gleich zeitiger Reduzierung auf Trachtzubehör/Schmuck und Trachtbeigabc;Tendenzen einer Separierung von Gräbern einer Oberschicht), die bereits die Spczifika ostgermanischerGraber in weiten Teilet! Südostcuropas 'vorwegnehmen*, gehören noch voll in die Spätphasc der Cer-njachov-Kultur: VouaR BiKRBKAiri*, Zur chronologischen, soziologischen und regionalen Gliederungdes o$t£ermam$chen Fundttoffc de* 5. Jahrhundert* in Südosteuropa, in: HrjiwiG WOLFRAM-FALKODAIM (Hg^>, Die Volker 90 der mittleren und unicrcti Donau im fünften und sechsten Jahrhundert.Symp^ium Xwctd 1978, Wien 19SO, S. 131-142.

IVt· WOURAM (wie Anm, 1) S. 34 ff.; «rii (^»siodw d«nnt Ougottn/Vi'estgotcn als geographisches Unicr-&chied&merkndl (ebd. >· 3 >; fcrnci ebd. & 65 ff.

Page 70: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

120 Volker Bierbrauer

Cernjachov-Kultur in Wolhynien und der Ukraine ist in ihrem Kern und ihren wesent-lichen Determinanten interdisziplinär daher ostgotisch. Im Gegensatz zu den terwingi-schen Westgoten ist historisch über das greutungische Ostgotenreich nur wenig be-kannt, da noch zu abseits zum Imperium gelegen19?; dies gilt auch für die 'Grenzen'des Ostgotcnreiches, die es ohnehin nicht gab198. Zeitweilige politische Dominanz —jedenfalls nach Jordanes (Getica Hoff.) über die nördlichen Völker (arctoigentes), überdie Heruler iuxta Meotida palude und die Vknetht, Antes, Sclaveni sowie die Aesti ripamOceani Germania und wie immer man sie als glaubhaft beurteilen mag199 — und Siedel-bzw. Stammesgebiete sind natürlich auseinanderzuhalten, und letztere lagen nur imBereich der Cernjachov-Kultur.

Entscheidender in unserem Kontext ist hingegen, daß das ostrogothische Erma-narich-Reich der Westexpansion der Hunnen 375 erlag, die nach der Unterwerfungder Don-Alanen in die ,weiten und reichen Gebiete* der Ermanarich-Goten eingefallenwaren (Ammianus Marcellinus XXXI 3,2) 20°. „Nach dem Tode Ermanarichs im jähre375 spalteten sich Stamm und Königssippe. Die Mehrheit unterwarf sich den Hunnen,die Minderheit leistete Widerstand. Es dauerte ungefähr ein Jahr, bis die freien Ostro-gothen entweder unterjocht oder abgezogen waren", so Herwig Wolfram201; in diesenFormulierungen ist auch jene Problematik enthalten, die die historische Forschung seitalters her beschäftigt hat und die von ihr bis heute kontrovers beurteilt wird, eben dasSchicksal und der Verbleib der Ostrogothen nach 375. Bezugsquelle ist außer Ammia-nus Marcellinus wiederum Jordanes: ,Von ihnen steht fest, daß sie nach dem Todeihres Königs Ermanarich und ihrer Scheidung von den Vesigothen in Abhängigkeitvon den Hunnen in demselben Lande blieben (Hunnorum subditos diaoni, in eadempatnamremorassey (Getica 246 [MGH AA 5,1] S. 121) und der an anderer Stelle bei ihm zufindende Hinweis, daß sie ,immer noch in Skythien unter der Unterdrückung derHunnen seufzten (qui adbuc in Scythiae terras Hunnorum oppressionibus subiacebanty (ebd.S. 103). Also: Verbleib der Ostgoten in ihren alten Siedelgebieten im Sinne von Jorda-nes (eadem patriam) (bis 454: S. 134 ff.) oder doch Abzug (nach 375)? Das einzige,was durch die Schriftquellen klar ist, ist, daß die Goten unter hunnischer Herrschaftverblieben, was aber - territorial eingrenzend - nach 375 nicht viel besagt; Stolpersteinfür eine nach wie vor unterschiedliche Beurteilung dieses Problems ist die antike Groß-bezeichnung Skythiae terras, die sich nach Wolfram „nach Westen verlagert hatte"202.Der Wiener Mediävist Herwig Wolfram ist es auch, der zuletzt eine eher vermittelndePosition in dieser Kontroverse bezog; er nimmt an, daß die „hunnisch gebliebenenOstgoten" (schon) 404/405 „gezwungenermaßen westwärts gewandert seien"203. Es'ist evident, daß die Schriftquellen diese Fragen nicht lösen können.

197 Vgi. oben S. 106 mit Anm. 139; WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 95-98 und 123 f.; zu den arctoi gentes vgl.MICHEL KAZANSKI, Les arctoi gentes et „Tempire" d'Hermanaric, in: Germania 70, 1992, S. 74-122.

198 OTTO J. MAENCHEN-HELFEN, Die Welt der Hunnen, Wien-Köln-Gtaz 1978, S. 20; WOLFRAM (wieAnm. 1)8.95 f.

199 Vgl. z. B. die Anm. 196—197, vor allem die historischen Literaturhinweise bei Kazanski, vor allem aufGottfried Schramm in Anm. 31.

200 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 98; MAENCHEN-HELFEN (wie Anm. 198) S. 20.201 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 98.2°2 Ebd. S. 256.203 Wie Anm. 198.

Page 71: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7, Jahrhundert 121

Aufgrund des oben geschilderten klaren archäologischen Sachverhalts zum Endeder Öernjachov-Kultur ist es völlig ausgeschlossen, daß die Cernjachov-Goten bis zurMitte des 5. Jahrhunderts noch in ihren alten jüngerkaiserzeitlichen Siedelgebietenverblieben20^; auch ein Verweilen bis 404/405 — im Sinne von H. Wolfram —, alsonoch eine volle Generation, ist aus archäologischer Sicht eher unwahrscheinlich. Istdiese historisch kontroverse Frage archäologisch beantwortet, so bleibt als Konse-quenz noch das Problem zu lösen, wohin die Ostgoten abzogen, was im Kapitel VIIversucht wird (S. 134 ff.).

Noch nicht behandelt wurde die 'Schwesterkultur9 zur Cernjachov-Kultur, dieSintana de Mure§-Kultur; aus chronologischen und kulturgeschichtlichen Gründenmuß dies vorab erfolgen, da sie zum 2. Expansionsraum der Goten gehört.

V. DIE GOTISCHE LANDNAHME IN DER RUMÄNISCHEN MOLDAU, INMUNTEN1EN, DER \VALACHEI UND IN SIEBENBÜRGEN: DIE SINTANA DE

MURES-KULTUR (2. EXPANSIONSRAUM)

Die Sintana de Mureg-Kultur, benannt nach dem 1903 erforschten Gräberfeld(ungarisch: Marosszentanna) am Marös in Siebenbürgen (79 Gräber)205, ist in be-stimmten Teilen Rumäniens verbreitet: im Westen in Oltenien bzw. Kl. Walachei biszum Ölt (nur wenige Fundorte weiter westlich), im Süden an der Donau entlang undweiter nördlich in Muntenien bzw. Gr. Walachei, im Osten und Nordosten in derMoldau und Bukowina sowie in Siebenbürgen (Fig. 25), also mit Ausnahme Sieben-bürgens außerhalb des Karpatenbogens206 (Kartierungen zur Sintana de Mure§-Kultur

204 Die archäologische Chronologie bei M. Kazanski, der einen Fortbestand der Cernjachov-Kultur bis zurMitte des 5. Jahrhunderts annimmt, ist nicht haltbar und damit auch nicht ein sukzessiver Abzug derGoten aus ihren alten Siedelgebieten „avec le depart definitif des Goths pour la Pannonie, qui coincideprecisement avec la fin de cette culture" (KAZANSKI, Contribution [wie Anm. 179] S. 11; vgl. fernerDERS. (wie Anm. 171]); DERS. (wie Anm. 173) S. 15; DERS. (wie Anm. 2) S. 39 und 66 ff. (Ein Teil derFundorte ebd. S. 68 ist chronologisch falsch eingeordnet, und der Autor suggeriert, daß die Gräberfel-der der Cernjachov-Kultur bis zur Mitte des S.Jahrhunderts kondnuieren; wie von mir oben ausgeführt,ist dies nicht richtig: Es sind nur einzelne Gräber in sehr wenigen Nekropolen, die aber gesamthaftaufgegeben wurden.) — Ähnlich äußerten sich , K voprosu (wie Anm. 136) und E. L. GORO-CHOVSKIJ, Chronologjja cernjachovskich mogl -nikov Jesostepnoj Ukrainij, in: Trudy V. MezdunarodnogoKongressa Archcologov - Slavistov 4, Kiev 1982, S. 34-46, bes. S. 45, die ebenfalls für ein Kondnuierenbis weit in die 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts, z. T. bis 454 plädieren und damit für die Verbindung derCernjachov-Kultur mit dem pannonischen Ostgotenreich; dies ist archäologisch nicht haltbar.

2'* ISTVAN KOVACS, A marosszcntannai nepvandorlaskori temeto, in: Dolgozaiok 3,2, 1912, S. 250-342;vgL auch E. BRENNER, Der Stand der Forschung über die Kultur der Merowingerzcit, in: 7. Bericht derRömisch-Germanischen Kommission 1912, S. 253-351, S. 262-267.

206 Keine der Verbreitungskartcn ist auf dcrn neuesten Stand; sie stammen alle aus den 60er Jahren: ION, Contribud cu privire la coltura Sintana de Mure? - öcrnjachov pe territoriul Republicii Socialistc

Rotmna,in: Archeologja Moldova 4,1966, S. 189-259, Karte Abb. l und S. 192; GHEORGHE DIACONU,Einheimische und Wandcrvölkcr im 4. Jahrhundert u. Z. auf dem Gebiete Rumäniens (Tirg?or-Gheri-&eniAraramc), im Dam $, 1964, S. 1-16, Karre Abb. l S. 2; ION , Probleme der Sintana deMurc>-£emiachov-KuJtur auf dem Gebiete Rumäniens, : ULF ERIK HAGISERG (Hg.), Srudia Gotica,Stockholm 1970, S. 95-104, Karte Abb. l S. 97; unverändert nachgedruckt in: ION MJCHIA-RAI>U Fu>Rtscu, Daco*Ri>manü 1. (ohne Ort) 1980, Karte S, 36 f. - Die FundsteUertÄ&hl i*t heute wesentlichHoher. ~ Nur für Siebenbürgen scheint eine vollständige Kartierung vorzuliegen; BÖNA, Völkerwande-rung (wie Anm. 109) S» 68 Karte 4. -»Eine Nckropolc mit gtrmanisch-weetgooschen Gräbern de« 3.—4.Jahrhundert* liegt auf ifcmischem Gebiet: Piatra FrecÄtci, Kr. TuJcca, auf dem Territorium de* anükcn

Page 72: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

122 Volker Bierbrauer

Fig. 25 Sintana de Mure§-Kultur in Rumänien; l Siedlungen (offener Kreis), 2 Gräberfelder (ausgefüllterKreis). Nach IONITA, Probleme der Sintana de Mure§-£erniachov-Kultur (wie Anm. 206) S. 97 Abb. 1.

Page 73: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom l .-7. Jahrhundert 123

enden an der rumänischen Grenze am Pruth: vgl. Anschlußkarte Fig. 20 a). Auffallendist, daß — mit Ausnahme der Fundorte Siebenbürgens und der wenigen westlich desÖlt — alle außerhalb der höchstwahrscheinlich 275 aufgegebenen römischen ProvinzDacia Traiana liegen (Fig. 25 im Vergleich zu Fig. 28). Dies ist interdisziplinär bemer-kenswert, da in den Schriftquellen spätestens seit der Mitte des 4. Jahrhunderts unddann in der gotischen Überlieferung die Dacia mit Gothia in Verbindung gebracht wird,gleichsam als Gegenstück zum ostrogothischen O///w/Skythien.

Obgleich einige große Gräberfelder entweder nur mit wenigen Gräbern in Vorbe-richten — wie Birlad in der Moldau mit 538 Bestattungen207 — oder unvollständigpubliziert wurden — wie z. B. Hrg§or in Muntenien208 —, ist der Publikationsstand zurSintana de Mureg-Kultur dennoch insgesamt befriedigend; leider fehlt aber noch einrelativchronologisches Gerüst, so wie es — mit allen Einschränkungen — für die Cernja-chov-Kultur immerhin vorhanden ist. Was vorliegt, ist eine Reihe von sehr detailliertenformenkundlichen Aufbereitungen des Fundstoffes durch Ion lonifca als Ausgangs-punkte für eine in Arbeit befindliche Synthese209. Diese und die Durchsicht der Litera-tur - auch mit eigenen belegungschronologischen Studien zu Tir.gs.or. und Sintana deMure§210 — erlauben folgende Schlußfolgerungen: Die Landnahme der Träger derSintana de Mure§-Kultur erfolgte erst in der späten Stufe C2, also frühestens im letztenViertel des 3. Jahrhunderts oder gar erst gegen 300211; eine ältere Phase — wie inWolhynien und in der Ukraine im Sinne von 'exploratores* — ist nicht erkennbar212,auch keine zeitliche Differenzierung zwischen den einzelnen von der Sintana de Mu-res.-Kultur eingenommenen Räumen. Dies impliziert, daß auch jener Fundstoff fehlt,der — wie in Wolhynien, in der Ukraine und in der Moldavischen Republik — nochdirekte Rückverbindungen zu den in Pommern und Großpolen auswandernden undöstlich der mittleren Weichsel im 1. Expansionsraum landnehmenden Goten erkennenläßt. Die Landnahme der Träger der Sintana de Mure§-Kultur in den genannten Gebie-ten Rumäniens außerhalb des Karpatenbogens erfolgte daher erst nach der Stabilisie-rung der gotischen Siedelgebiete in O////v/Skythien (um bzw. ab der Mitte des 3. Jahr-hunderts) und daher aus diesen Räumen heraus nach Westen; somit sind Entstehung

Bcreo in der Skythia Minor (Dobrudscha), hier bezeichnenderweise mit Bestattungskontinuitär derprovinzialrömischen Bevölkerung bis in das frühe 7. Jahrhundert: AUREUAN PETRE, La romanite cnScythie Mineure, Bukarest 1987.

z"* VASILE PAIADE, Nccropole du IV* et commencemcnt du V* siecle de n. e. a Biriad-Valea Seacä (Inventa-ria Arcliaeologica Roumanie, fasc. 12) Bukarest 1986; DERS.» Importadons romaines rares decouvertesdans deux sepultures de. U necropole de Birkd-Valea Seacä, in: Studi s.i Cercetäri de Istorie Veche s.iArcheoJogie 32, 1981, S. 205-226; dazu weitere Vorberichte zu einzelnen Grabern und unterschiedli-chen Aspekten, zitiert z. T. in den folgenden Anmerkungen.

** Gw.ORCt DIACONU, Tirgjor, Necropola din sccolcle III.-IV. e.n,, Bukarest 1965; vgl. (wieAnrn. 141) S, 2%.

**' JONITA (u-ic Anm. 141) S. 295-351; PERS. (wie Anm. 135); GHEQRGI- DIACONU, Über die Fibel mitumgeschlagenem Fuß» in: Dacia 15, 1971, S. 239-267; DKRS,, Über die Fibel mit halbkreisförmigerKopfplatt« und rautenförmigem Fuß aus Dazicn, in: Dacia 17, 1973, S. 257-275.

210 UnpuUiziari.ni VgJ. 2. B. 2uktzi (wie Anin. 135) passim. f>cs. S, 82.2i' Ausnahme das Grab von Todireni (Clb-C2 »lt)j ION , Die Rcimcr-Daker und die Wandervölkcr

im dijnauländifcchcn Karpatenraum im 4. Jahrhundert, in: WOIJRAM-DAIM (Hgg.) (wie Anm. 195) S. 126mjf Abb. 2, 15-16.

Page 74: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

124 Volker Bierbrauer

und Verbreitung der Sintana de Mure§-Kultur nichts anderes als eine später erfolgteErweiterung des 2. Expansionsraumes der Cernjachov-Kultur nach Westen; Mobilitätzu dieser Zeit und später aus dem 1. Expansionsraum heraus, der ja von den Gotenbis in die Zeit um 400 besetzt blieb, ist möglich213. Ab der Stufe C3-alt (C3a), alsoam Beginn des 4. Jahrhunderts, ist das Verbreitungsgebiet der Sintana de Mure§-Kulturflächendeckend besetzt, die Kultur stabilisiert (Fig. 25).

Trotz der Autochthonie- und Kontinuitätsströmung, die die rumänische For-schung lange Zeit sehr stark und eingeschränkt auch noch heute kennzeichnet214, läßtsich auch für die Sintana de Mure§-Kultur ihr germanischer Charakter und besondersihre genetisch enge Abhängigkeit zur Cernjachov-Kultur klar erkennen; wieder sind esdie gleichen kennzeichnenden Merkmale (Fig. 26—27), die'oben schon für die Cernja-chov-Kultur herausgestellt wurden, und auch diese unterscheiden die Sintana de Mu-re§-Kultur klar von den vorangehenden und jedenfalls außerhalb der Provinzgrenzenfraglos kontinuierenden zeitgleichen autochthon-einheimischen Kulturen (Daker, Kar-pen und Sarmaten): 1. Birituelle Gräberfelder, wieder mit einem Übergewicht anBrandgräbern zu Anfang der Belegung215; 2. waffenlose Männergräber sowie mitTracht (1—3 Fibeln, meist Fibelpaare, Gürtelschnallen) und Schmuck beigesetzteFrauen216, ferner die Beigabe von Kämmen und beinernen. Nadelbüchsen; 3. be-stimmte Sachformen wie beim Schmuck achterförmige Bernsteinperlen und eimerför-mige Berlocken, sog. Krückennadeln und 4. im symbolträchtigen, magischen Bereich:Eisenkämme, verschiedene Amulette, dabei wieder die Donaramulette als prismatischeKnochenanhänger217, Eisenkämme sowie 5. eine Runeninschrift218; auch sind umfang-reiche Geschirrsätze für Trank- und Speisebeigabe kennzeichnend, die jedoch — als

213 KOKOWSKI (wie Anm. 170).214 2. B. MIRCEA Rusu, Bodenständige und Wandervölker im Gebiet Rumäniens (3.-9. Jahrhundert), in:

Acta Musei Napocensis 12, 1980, S. 139-157; D. PRQTASE, Problema continuitapi in Dacia in luminaarcheologiei §i numismaticii, Bukarest 1966; LIGIA BÄRZU, Continuity of the Romanian people's materialand Spiritual production in the territory of Former Dacia, Bukarest 1980; 2um innerrumänischen Streitzuletzt z. B. KURT HOREDT, Germanen und Romanen in Siebenbürgen, in: Zeitschrift für Siebenbürgi-sche Landeskunde N.S. 6 (2), 1983, S. 169 ff.; DERS., Das archäologische Büd der romanischen Elementenach der Räumung Daciens, in: Dacoromania l, 1973, S. 135-148; DERS., Siebenbürgen in spätrömi-scher Zeit, Bukarest 1982; vgl. auch die Bemerkungen von M. PETRESCU-DIMBOVITA, Die wichtigstenErgebnisse der archäologischen Forschung über den Zeitraum vom 3.—10. Jh. östlich der Karpaten, in:Dacoromania l, 1973, S. 162-173 (auch hier: „autochthone Komponente der Sintana de Mure§-Cernja-chov-Kultur", S. 164). — Dazu der (personalisierte) Streit zwischen Vertretern der ungarischen undrumänischen Forschung über Siebenbürgen: zuletzt RADU HARHOIU in: Dacia 34, 1990, S. 291 ff undauch E. TOTH in: Acta Archaeologica Academiae Scientiarum Hungaricae 37, 1985, S. 431 ff.

215 Zuletzt IONITA (wie Anm. 141) passim und Tabelle 2 S. 317; die Zuordnung von bestimmten Brandgrä-bertypen zur autochthonen Bevölkerung innerhalb der Sintana de Mure§-Gräberfelder ist nicht haltbar:DIACQNU (wie Anm. 206; = Tirg§or-Gheräseni-Variante); DERS. (wie Anm. 208) S. 30 ff.

216 Vgl. Anm. 116.217 Anders GHEORGE DIACONU, Nordöstliche Elemente in der-Tschernjachov-Sintana de Mure§-Kultur,

in: Dacia 9,1965, S. 305; DERS., A propos des pendantifs prismatiques en os de la necropole de Tirgs.or,in: Studii §i Cercetari de Istorie Veche 13, 1962, S. 1-45; DERJS., Spätsarmatische Elemente in derSintana-Tschernjachow-Kultur, in: Pacia 10,1966, S. 357-364.

218 CATALINA BLOSIU, A runic inscription discovered in the IV-th Century necropolis from Letcani-Iasj, in:Memoria Antiquitas l, 1969, S. 167-180; WOLFGANG KRAUSE, Die gotische Runeninschrift von Letcani,in: Zeitschrift für Vergleichende Sprachforschung 83,1, 1969, S. 153-161.

Page 75: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Arch ologie und Geschichte der Goten vom l .—7. Jahrhundert 125

l·^ 2(> Gr berfeld von Simana de M.urc$ (Mafos&zcntanna): a Fil/cln, b G rtelschnallen (im Kreis Grab-rmmoicro). Nadi Βκί:ΝΝΐ·κ (wie Anm, 205) S. 263 ff. Abb. 1-3.

Page 76: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

126 Volker Bierbrauer

15

Fig. 27 Gräberfeld von Sintana de Mureg (Marosszentanna): Perlen und Kämme (im Kreis Grabnummern).Nach BRENNER (vgl Fig. 26).

Page 77: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 127

Ausdruck des Mit- und Nebeneinanders mit den romanisierten Geto-Dakern undKarpen — weitgehend dem einheimischen Geschirrmarkt entnommen sind (S. 130).

Wie im primären 2. Expansionsraum östlich des Pruth können die so gekenn-zeichneten Graber in der Regel gut von in die Zeit der Sintana de Mure§-Kulturkontinuierenden Bestattungen der 'GetoDaker9 bzw. Daker und Karpen sowie Sar-maten unterschieden werden, vor allem in Grab- und Beigabensitte, in der Tracht, imSchmuck und in der Keramik219. Es hat in diesem Kontext .nun keinen Sinn, aufethnische Interpretationsprobleme innerhalb dieses 'autochthonen* Fundstoffs, d. h.vor allem auf die Trennung zwischen sog. karpischem und dakischem Fundstoffeinzu-gehen, die gesichert m. E. ohnehin nicht möglich ist220. Wichtiger ist in unseremZusammenhang, daß diese Bevölkerungsgruppen, einschließlich der Sarmaten, auchnach der Landnahme der Sintana de Mureg-Bevölkerung in ihren alten Siedelgebietenaußerhalb der alten Provinzgrenzen verblieben221, und vor allem, daß sich die Neuan-kömmlinge dort niederließen (vgl. Fig. 25 mit Fig. 28 und 29)222; man siedelt in Ge-mengelage dicht nebeneinander223, ja z. T. offenbar auch in Siedelgemeinschaften(z. B. Siedlung und Gräberfeld von Birlad — Valea Seacä)224. An dieser Bewertungändert prinzipiell nur wenig, daß sich die Siedelgebiete der Sintana de Mure§-Kultur

219 D. PROTASE, Considerations sur les rites runeraires des Daces, in: Dacia 6, 1962, S. 173-197; IONloNrrA—VASiLE URSACHE, Nouvelles donnees archeologiques concernant des rites funeraires des Carpo-Daces, in: Studii §i Cercetäri de Istorie Veche 19,2, 1968, S. 211-226; IONITA (wie Anm. 212), DERS,,Din istoria §i civilizatia dacilor liberi, Ia§i 1982; GH. BICHIR, Geto-Dacii din Muntenia in epoca romana,Bukarest 1984; ION IONITA, Valeni, o märe necropolä a dacilor Üben, Ia§i 1988; DERS., Die Fibel alsKleidungszubehör in der Tracht der Daker, in: Folia Archeologica (Acta Universitatis Lodziensis) 16,1992, S. 179-189.

220 Z. B. GH. BICHIR, The Archaeology and History of the Carpi from the second to the fourth centur}'AD. (British Archaeological Reports, Suppl. Ser. 16,1-2) London 1976; dazu die Rezension von VOIJCERBIERBRAUER in: Historische Zeitschrift 233,1981, S. 648-652.

221 Z. B. IONITA (wie Anm. 212) S. 124 f.; DERS., Din istoria (wie Anm. 219) S. 86-113; PETRESCU-DIMBO-(wie Anm. 214) S. 164 f.; ferner DERS., Problemes concernant ia population autochtonc de la

Moldavie durant les II'-V* siecles de n.e., in: Cri§ia 1972, S. 183-198; DERS., La nccropolc dace deStinca, in: Hierasus (Boto$ani) 5, 1983, S. 89-104; DERS., Quelques problemes concernant la continuitedace a l'est des Carpatcs au cours des IIMV6 s. de n. cre, in: Actes du II* Congres International deThracologie 1976, 2, Bukarest 1980, S. 331-338; DERS., Nouvelles decouvertes de tombes sarmates surJe territoire de la Moldavie, in: Archeologia Moldovei 2-3, 1964, S. 311-328; dazu: VASIU PALADE in:Cercetin Istoricc N.& 9-10, Ia$y 1978/79, S. 247-260; DERS. in: Hierasus ßoto§ani) 1981, S. 69-82.

222 Karten fiir den dakischcn/karpischen Fundstoff u. a. bei IONITA, Din istoria (wie Anm. 219) Abb. 8;MICLEA-FLORJESCI/ (wie Anm. 206) S.36£ (mit Gegenkarticrung von Sintana de Mure?); DUMITRUBERCIU, Daco-Romania, München 1978, Karte A S. 180 f.; für den sarmatischcn Fundoff: IONITAAbb. 18; DEKS., Nouvelies decouvejrtes (wie Anm, 221) Abb. l S. 313.

223 MicttA-FLORjscu (wie Anm. 206) S. 36 C234 ION , Les claments autnchtones dans ia civilisation Sintana de Mure« (TV* siede n.e.) en Moldavie,

in: Carp'tcz (Bacäu) 1971, S. 197 &; PfcTRtscü-Du«i»ovrTA (wie Anm. 214) S. 164 f.; (wieAnm. 212} S. 124 f.; VASIU PAIADE, FHemcnts goto-daccs dans le sitc Sintana de Murc^ de Birlad-ValeaScüci, in; Dacia 24, 1980, S. 223-253; Kammacherwcrkstatt in Grubenbaus mit dakischcr Keramik(C2/C3 alt): VASIU PALAI>* in: Archeologia Moldova 4,1966» S. 261-277; DÜRS. ausführlicher in: Studi§i G^municäri de uume a dviii/ajici populäre din Kr>maoia l, äbiu 1981, S. 179-215; Töpferöfen des4. Jahrhundert« von Fmände: DEKS, in: Metnonta Anriquius ], 1969, S. 339-361. ~ Für die Walacheibetonten dieses Nebeneinander schon 1964 ß. MrnuiA-C PKEIM, Qudques problemes aj-jint* transaus necropolcs de rypc isintana-Tcherniakhov dccuuv<artcs cn Valachic, in: Dacia 8,1964, S. 211-237.

Page 78: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171
Page 79: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 129

50 100 150 200 km

Hfc 2V Sarmari*chc Gräberfelder. Nach lüNffA, Dir» i&toria (wie Anm. 219) Abb. 18.

Page 80: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

130 Volker Bierbrauer

und die der Daker/Karpen in ihren Schwerpunkten in der Moldau unterscheiden: 1.Sarmaten im Vergleich zu Dakern/Karpen mehr östlich in den Tälern des Pruth undBirlad und 2. Sintana de Mures.-Kultur mehr zwischen Sereth und Pruth und dieDaker/Karpen noch weiter westlich bis zu den Rändern der Ostkarpaten; in Munte-nien bzw. in der Großen Walachei bestehen ohnehin keine lokalen Unterschiede(Fig. 25, 28-29). Dieser Überschichtungsprozeß bot Voraussetzungen für Akkultura-tionsprozesse auf beiden Seiten; hinsichtlich der Sintana de Mure§-Kultur macht sichdies aber kaum bemerkbar, da die obengenannten Charakteristika, die sie als germa-nisch kennzeichnen, auch im Verlauf des gesamten 4. Jahrhunderts stabil bleiben mitder einzigen Ausnahme: Man bedient sich auf dem 'einheimischen' Geschirrmarkt,d. h. die in die Gräber mitgegebenen Gefäße (Hand- und Scheibenware) sind großen-teils diesem entnommen225, auch von dieser Seite her ein eindrucksvoller Beleg fürdie Kontinuität der 'einheimischen* Bevölkerung. Dies ändert aber nichts an der ethni-schen Bewertung der Gräber bzw. Gräberfelder vom Typ Sintana de Mure§; sie sindgermanisch bzw. gotisch, und Versuche der rumänischen Forschung, auch und gerademit Hilfe der Keramik 'einheimische' Bevölkerungsgruppen in den Sintana de Mure§-Nekropolen nachzuweisen226, sind verfehlt, da Keramik, jedenfalls ohne zusätzlichehöherrangige Indizien, ethnisch nicht interpretierbar ist.

Bei der Landnahme der Cernjachov-Goten aus O///w/Skythien nach Westen überden Pruth gegen Ende des 3. Jahrhunderts und in der Zeit um 300, die ich als Erweite-rung des schon zuvor besetzten 2. Expansionsraumes bezeichnen möchte und diearchäologisch als Installierung der Sintana de Mures_-Kultur faßbar wkd, war die Situa-tion also ganz anders als bei der gotischen Landnahme in Wolhynien und in derUkraine; westlich des Pruth rückten die Goten keineswegs in weitgehend siedelleereGebiete ein, sondern in dicht besiedelte und auch teilweise romanisierte Landschaf-ten227, wenn auch nicht so stark wie in der Provinz Dacia Traiana selbst, und andersals im 1. Expansionsraum wurden diese 'einheimischen' Bevölkerungsgruppen nichtverdrängt. Ober die Intensität der gotischen Besiedlung westlich des Pruth läßt sichderzeit - zumindest für einen Außenstehenden — kein verläßliches Bild entwerfen, dadie publizierten Verbreitungskarten veraltet sind und auch schon damals kein repräsen-tatives Bild vermittelten; so berichtet Ion lonifa 1970, auf den die hier vorgelegte

225 Dies kann hier nicht detailliert begründet werden, ergibt sich aber leicht im Vergleich zu den Siedlungen ·und Gräberfeldern der dakisch-karpischen Bevölkerung: so z. B. die Keramik aus der Sintana de Mure§-Nekropole von Tirg§or (loNifA [wie Anm. 141] mit Typen und belegungschronologischen KartenAbb. 11—26) etwa im Vergleich zu den Nachweisen in Anm. 219.

226 Z.B. DIACONU (wie Anm. 208) S. 136-139 und S. 147f. (Typus Chilia-Militari-Matasäru; dazu: GH.BICHIR in: Dacia 24, 1980, S. 157-180); GH. BICHIR, Nouvelles donnees concernant la Romanisationde la Valachie, in: Studii sj Cercetari di Istorie Veche §i Arheologie 29,3, 1978, S. 385-395; DIACONU(wie Anm. 206) (ethnische Interpretation von bestimmten Brandgrabsitten); DERS., Die Siedlung unddas Gräberfeld von Gheräseni-Buzau. Neue Beweise für die Kontinuität der einheimischen Bevölkerungan der unteren Donau, in: Studii §i Cercetari di Istorie Veche sj Arheologie 28,3, 1977, S. 431—457.

227 Vgl. dies am Beispiel der Amphoren und Münzen: ION IONFJA, Formations territoriales des Daceslibres ä Test des Carpathes aux IMIIC siecles de n. e., in: Muzeul National 5 (Bukarest) 1981, S. 103-108. - Generell: SILVIU SANIE, Civilisapa Romanä la Est de Carpati §i Romanitatea pe Teritoriul Moldo-vei (sec. II i.e.n. - III e.n.), lasj 1981; VIRGIL MIHÄILESCU-BIRLIBA, La monnaie romaine chez les Dacesorientaux, Bukarest 1980.

Page 81: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 131

Karte zurückgeht, allein fiir die Moldau von etwa 400 Siedlungen und Friedhöfen228,was zumindest hier auf eine dichte Sihtana de Mure§-Siedlung schließen läßt»

Die ethnische Interpretation der Sintana de Mures.-Kultur als gotisch bzw. alsterwingisch/vesigotisch ergibt sich interdisziplinär durch die Schriftquellen. Seit 291ist die Spaltung des Gotenvolkes in die westlichen Terwngi-Vksi und die östlichen Greu-tung-Ostrogothi belegt, wobei erstere höchstwahrscheinlich westlich des Pruth siedelten;im Gegensatz zu den Ostrogotbi ist dies für die Vesigoti des 4. Jahrhunderts durchSchriftquellen nun auch territorial zwar nicht präzise, so doch etwas konkreter beleg-bar, was hier nicht näher ausgeführt zu werden braucht229. Zusammenfassend ist zeit-lich gestaffelt festzuhalten, daß bei den Gotenstürmen auf die untere Donau und beiden verheerenden Einfallen der Goten in die Balkanhalbinsel ab 238, zunächst imBunde mit den Karpen, in der Regel (noch) nicht zwischen Teranngt und Ostrogothiunterschieden werden kann. Somit ist auch unklar, von welchen Ausgangsräumen aussie vorgetragen wurden, aus mehr östlich oder westlich gelegenen; da diese Gotenein-falle nach 250 in dichten Abständen erfolgten, 238, 251 und 271 das Imperium auchJahrgelder an die Goten zahlte (vertragsähnliche Zustände) und 242 sich Goten imrömischen Heer gegen die Perser befanden, dürften die Ausgangsräume nicht allzuweitvon der Reichsgrenze entfernt gelegen haben.

Wie die gotischen Flottenunternehmungen ab 25723° erfolgten alle diese Unter-nehmungen wohl noch aus dem Gebiet der Cernjachov-Kultur (also etwa östlich desPruth), was auch wegen des archäologischen Befundes nicht anders möglich ist. Wieerwähnt, ist der Beginn der Sintana de Mure§-Kultur nicht vor das späte 3. Jahrhundertzu datieren. Die Schriftquellen zu den Tenvingt des 4. Jahrhunderts lassen sich — wenngenauere Ortsangaben erkennbar sind — grosso modo auf Goten im Bereich der Sin-tana de Mure§-Kultur beziehen231, so etwa mit der Bezeichnung der Donau als ripagotbica 337232. Polyethnie in der 'dakischen Gothia* wird — wie geschildert — auchim archäologischen Befund deutlich durch dako-karpische Bevölkerungsgruppen undSarmaten, wogegen die stets mit Goten genannten Taifalen archäologisch unbekanntsind233. Hinsichtlich der ebenfalls schon erwähnten Tradition seit der Mitte des 4.Jahrhunderts (und danach), die die Dacia mit der Gotbia geradezu gleichsetzt234, fürdie es in den Schriftquellen — außer der ripa gothica im Süden — jedoch keine 'Grenz'-Beschreibung gibt235, ist archäologisch aber klar, daß diese Gothia - außer den Fundor-ten in Mittelsiebenbürgen am mittleren Mure§ und in Südostsiebenbürgen (Dacia supe-rior) sowie nur sehr wenigen Fundstellen westlich des limes transalntanus bzw. westlichdes Oh — nicht die Dacia Traiana gewesen ist. Das Hauptsiedelgebiet der westgoti-

226 IONIJA. Probleme der Sintana de Murc^-Cerniachov-Kulrur (wie Anm. 206) S. 96. - Für Siebenbürgenvgj. hingegen BON A (wie Anm. 109).

»" WOLFIMM (u'te An«. 1) S 53-84, 99-104.2*' & 106 mit Anm. 139.2M WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 67-104; BONA, Völkerwanderung (wie Anm. 109) S, 66-75.*32 VEbuiuuf (wie Anm. 1) S. 70.**» Ebd. S. 67 und 100 f£•M Kutropius f364<-369), der Panegyriker von Valero, mit der bfilcanmen Steile: jetst beherrschen die

laifalcn, Vikto&lco und Terwtngen die eim%e RÖmcrpwwif«! Dakten*: WOU'KAM (wk Anra, 1) S. 674.(w«r Anm. 1) S. 1U2,

Page 82: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

132 Volker Bierbrauer

sehen Sintana de Mures.-Kultur liegt eben außerhalb der Provinzgrenzen (Fig. 25 imVergleich zu Fig. 28); der weitaus größte Teil der Provinz wurde also nicht von denWestgoten besetzt, obgleich sie mit allen ihren Vorteilen einer noch in Resten weiterbe-stehenden Infrastruktur nach 250 Landnahmevorgängen offengestanden hätte. Das

foedus zwischen Konstantin und den Goten, „der erste von einem Zeitgenossen überlie-ferte Vertrag zwischen Rom und einem gotischen Volk", und eventuelle weitere Ver-tragsabschlüsse in der Zeit zuvor236 bezogen sich also überwiegend auf nichtreichsan-gehörige Goten, auf 'äußere* Foederaten. Nicht nur dies ist bemerkenswert; es falltferner die zeitliche Koinzidenz zwischen der (spätestens) 291 erfolgten Spaltung derzuvor vereinigten Goten — nach Jordanes war Ostrogotha einmal noch gemeinsamerKönig, ein andermal schon König der Ostrogothen (Jordanes 98 und 82) — und dergotischen Landnahme westlich des Pruth auf; ein Zusammenhang ist denkbar. Damitverbunden ist auch die zeitgleiche Geschichte mit den Gepiden von König Fastida,die von Ostrogotha wegen ihrer schlechten Siedelgebiete Land fordern (S. 98). Folgtman der Interpretation von Istvan Bona, daß die Beschreibung der schlechten Siedel-gebiete (inclusum se montium qumtans aspentate silvanimqw densitate constrictum; Jordanes,Getica 98) nur auf Gebiete innerhalb der Karpaten zutreffe, dann saß Fastida mitseinen Gepiden zu dieser Zeit schon in Siebenbürgen; die Auseinandersetzung mitden Goten sei unter Bezug auf einen Panegyricus vom 1. April 291 auf die Westgotenzu beziehen, da sie als Tenvingi pars alia Gothorum gegen die Gepiden (und Wandalen)gekämpft haben237. Dies impliziert jedoch leider nicht sicher, daß auch die Goten,also wahrscheinlich Tenvingi, bereits in der Nähe der Gepiden gesiedelt haben, also dasZeugnis des Panegyrikers als zusätzlicher historischer terminus ante oder ad quem fürdie Anfangsdatierung der Sintana de Mure§-Kultur benutzt werden kann; der archäolo-gische Befund würde dem aber nicht widersprechen.

Abschließend sei noch in knapper Form auf die Sintana de Mure§-Kultur inSiebenbürgen eingegangen, über die in den letzten Jahren viel und unterschiedlichgeschrieben wurde, einschließlich der Kontroversen zwischen Vertretern der rumäni-schen und ungarischen Archäologie, hauptsächlich bezogen auf das Kontinuitätspro-blem romanischen Lebens nach Aufgabe der Provinz Dacia 275 (und auf die gepidi-schen Wohnsitze nach 29l)238. Nach meiner Einschätzung kann zwar ein Beginn dergotischen Siedlung im mittleren und südöstlichen Siebenbürgen erst in Stufe C3 alt,also erst „im fortgeschrittenen 4. Jahrhundert" erwogen werden239, gesichert ist dies

236 Ebd. S. 7l; den Ausführungen von EVANGELOS CHRYSOS, Von der Räumung der Dacia Traiana zurEntstehung der Gothia, in: Bonner Jahrbücher 192, 1992, S. 175—193 zu dem angeblichen foedus von295, durch das „die Okkupation' des Landes [Dacia} durch die Goten rechtlich anerkannt wurde" unddas geschlossen worden sei, weil „sich die Goten im geräumten Dakien etabliert hatten und folglichauch dort bleiben durften", vermag ich nicht zu folgen (S. 186); anders und überzeugend: WOLFRAM,S. 69.

237 ISTVAN BONA, Bemerkungen zu einer historisch-archäologischen Bearbeitung der Visigotenzeit in Da-zien, in: Acta Archaeologica Academiae Scientiarum Hungaricae 33, 1981, S. 363—371, bes. S. 366;DERS., Völkerwanderung (wie Anm. 109) S. 66; Wolfram nimmt dies in die dritte Aufläge seines Goten-buches auf: WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 68.

238 Vgl. Anm. 214 und RADU HARHOIU, Die Beziehungen zwischen Romanen und Barbaren in Sieben-bürgen in der Sicht einer ungarischen Geschichte Transsilvaniens, in: Dacia 31,1987, S. 119-129; BONA,Völkerwanderung (wie Anm. 109) S. 52-84.

239 BIERBRAUER (wie Anm. 195) S. 133 f.

Page 83: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom l.-7> Jahrhundert 133

aber nicht; der entscheidende, weil auch immer noch größte Fundkomplex, die Nekro-pole von Sintana de Mure§ mit 79 Gräbern, ist — dies ergibt sich durch die Belegungs-chronologie klar — in seinem ältesten Teil gestört, ein Vergleich etwa mit dem anderengroßen belegungschronoldgisch analysierbaren und schon am Ende von C2 bzw. inC3 alt einsetzenden Gräberfeld von Tirgs.or240 ist also spekulativ. Formenkundlich-relativchronologisch verfehlt, weil nicht mit der Chronologie des Cernjachov-Sintanade Mures.-Fundstoffes insgesamt vereinbar, sind die Bewertungen der Nekropole vonSintana de Mure§ durch Kurt Horedt, der deren Belegungsbeginn erst mit dem Endevon Tirgior verbindet und — gemischt argumentierend — eine Datierung zwischen 376bis etwa 425 vornimmt, also die hier Bestatteten wie auch insgesamt die siebenbürgi-schen Fundorte der Sintana de Mure§-Kültur erst mit einer Landnahme der Athana-rich-Goten 376 in Caucalandensis focus241 bei ihrem Rückzug vor den Hunnen verbin-det242; dies ist — wie gesagt — archäologisch hinsichtlich der Anfangsdatierung vonSintana de Mure§ nicht haltbar,

VI. DAS ENDE DER SINTANA DE MURE§-KULTUR

Zwar endet — wie in der Cernjachov-Kultur — die große Mehrzahl der Nekropo-len der Sintana de Mure§-Kultur mit Ausgang der Stufe C3-jung (etwa 370/380),jedoch besteht Grund zu der Annahme, daß hier einige Nekropolen mit möglicher-weise nicht unbeträchtlichen Gräberzahlen erst im Verlauf der Stufe Dl (etwa 370/380-400/410) enden, erkennbar an Trachtzubehör, aber auch an dem Aufkommenvon west-östlich orientierten Gräbern, vermehrter Beigabenarmut und Beigabenlosig-keit, beides oft zusammenfallend; beide Phänomene, die bereits deutlich auf das 5.Jahrhundert hinweisen, beginnen schon in C3-jung, jedoch ist — auch wegen der beiga-benlosen Gräber — unklar, wie viele bereits der Stufe Dl angehören. Die Hinweiseauf dieses verstärkte 'Nachleben* betreffen keineswegs, wie oft zu lesen ist, nur diesiebenbürgische Fundgruppe (Fig. 26-27)243, sondern auch Muntenien und die Mol-dau244. Dennoch kann kein Zweifel sein, daß das Erlöschen der Sintana de Mures.-Kultur als ganzheitlicher Kulturkomplex mit dem Abzug der Mehrheit der Westgotenunter Fritigern über die Donau 376 und deren Aufnahme im Römischen Reich zusam-

246 Vgi. z. a IONITA (wie Aom. 135) S. 78 ff, - Ein Belegungsbeginn im Gräberfeld von Sintana de Mure$,wie BONA ihn annimmt (Völkerwanderung [wie Anna. 109J S. 70)» ist gut möglich.

241 WOLFRAM (wie Anm. I) S. 82.242 KURT HOREDT, Queiques problemcs conccroant ia diffasion de Ja civiiisarion de Sintana de Mure§-

TchcTneakhov en Rcmmanie, in; Studii $i ccrcetiri de istorie veche 18,1967, S. 577-592; DERS. unverän-dert in: Siebenbürgen in spütarömischer Zeit (wie Anm, 214) S. 110- 7 und in: Siebenbürgen im Friih-mittdahef; Bonn 1986, S 8-13; in demselben Sinne auch HARHOIU (wie Anm. 238) S. 121 und 124 undz. B. auch KAZANSKI (wie Anm. 2) S. 68. — Gegen eine solche Spätdatierung sprechen sich zu Rechtau» ION NESTOR, Zur Geschichte Siebenbürgens im IV Jh. u. Z., in: Dacia 19,1975, S. 9-15 und BONA(wie Anm. 237} S. 368-370; Dm., Völkerwanderung (wie Anm. 109) S. 76.

2<0 Hier verbindet man sie mit den Aihanarkh«Goten nach 376, was nicht beweisbar ist; vgL Anm. 242.244 Nachweise bei BujubÄAüi* (wie Anm, 195) S. 133 f. und Dna. (wie Anm. 185) S. 568 mit Anm. 105

fmit Verweisen au/die Arbeiten von J. TejraJ); ferner die Siedlung von Ja»« ION JONTTA, Eine Siedlungder jüngeren römischen Kat&crzeir und der VMkerwandcrungtiZcit in Ia$i*Nieolma (Rumänien), in: Puiavtund iiune. Beiträge ?4 Bauen und Wohnen im Altertum. Symposium der Atounder von Humboldt-

uan~&ad God<?>bcrg, Berlin 1979» Mainz 19H2» S. 568*586.

Page 84: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

134 Volker Bierbrauer

menhängt, wiederum ausgelöst - wie bei den Ostrogothen - durch die Westexpansionder Hunnen bzw. durch ihre Angriffe auf Athanarich zwischen Pruth und Dnestrsowie in der Moldau 376245. Der kurzfristige Rückzug von Athanarich mit einer Min-derheit ihm verbliebener Anhänger nach Caucalandensis locus (Siebenbürgen?) blieb Epi-sode, da er 381 ins Exil nach Konstantinopel ging246. Zu den Westgoten bzw. Visi-Goten des 5.—7. Jahrhunderts, wie sie nun künftig bezeichnet werden, vgl. Kapitel IX.

VII. DIE OSTGOTEN NACH DEM ENDE DER CERNJACHOV-KULTUR BIS ZUREINWANDERUNG IN ITALIEN

Historisch formuliert, betrifft dieses Kapitel die Ostgoten zwischen 375 und 488,also zwischen der Zerstörung des Ermanarich-Reiches durch die Hunnen und derostgotischen Abwanderung aus dem Donauraum 488 nach Italien.

Bei der Behandlung des Endes der Cernjachov-Kultur, die im wesentlichen alsostgotisch eingestuft werden darf, wurden bereits zwei Fragen berührt, die die histori-sche Forschung unsicher oder kontrovers beurteilt: 1. Verblieben die Ostgoten nach375 noch in ihren alten jüngerkaiserzeitlichen Wohnsitzen (im Sinne von Jordanes)und wenn ja, wie lange und eventuell sogar bis zur Auseinandersetzung zwischen denHunnen (zusammen mit den Ostgoten?) und einer gentil-germanischen Koalition amNedao (454 oder 455)? Oder 2. wenn nicht, wo lagen die ostgotischen Siedelgebietenach 375? Klar ist nur, daß sie weiter unter hunnischer Herrschaft verblieben247, aberdies hilft territorial bekanntlich nicht weiter. Immerhin gibt es aber den Hinweis beiJordanes, daß die Ostgoten in tadempatna verblieben sein sollen, jedoch ohne zeitlicheBegrenzungsangabe. Es fallt somit schwer, „eine wirkliche Geschichte der hunnischenGoten zu schreiben. Zwischen den Niederlagen der Jahre 375/376 und dem Attila-Zug von 451 fehlen so gut wie alle absoluten Daten über Zeit und Ort des Gesche-hens"248; es hat nun keinen Sinn, auf alle jene Probleme einzugehen, die sich aus derBewertung der nur wenig aussagekräftigen Schriftquellen ergeben, weder aus der Sichtder 'Origo Gothica' noch aus der der zeitgenössischen Quellen249. Das entscheidendeAugenmerk muß — vor allem aus der Retrospektive der pannonischen und italischenOstgoten - bei den 'hunnischen' Goten bleiben. „Die Entstehung der Ostgoten* istdas Werk derjenigen Amaler, die erstmals im Reich Attilas, und zwar spätestens zumJahre 451, als Könige aller hunnischen Goten nachweisbar sind. Das Ansehen dereinstigen greutungisch-ostrogothischen Königssippe hatte ... so wenig gelitten, daßzumindest ein Zweig der Amaler imstande war, die Herrschaft über die nichtromischenGoten innerhalb des werdenden hunnischen Großreiches wieder zu erringen und syn-chron mit dessen Konsolidierung zu verstärken. Ihren Rückhalt bildete die 'den Hun-nen eidlich verpflichtete und treu ergebene' Mehrheit der 375/376 unterworfenengreutungischen Ostrogothen"250; nur am Rande verfolgt werden hier die römischenGreutungen, d. h. die duces Alatheus und Safrax mit ihrer Dreivölker-Konföderation

245 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 79-82 und 126 ff.; BONA, Völkerwanderung (wie Anm. 109) S. 75 f.246 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 82.247 Vgl. oben S. 120 (Jordanes, Getica 246; dazu noch Jordanes ebd. 248-249).248 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 250 f.249 Vgl. WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 250-259.«o Ebd. S. 250.

Page 85: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom l .-7. Jahrhundert 135

aus greutungischen, alanischen und hunnischen Gruppen, die 379 oder 380 als Foede-raten Gratians in Pannonien angesiedelt wurden251, und die Krim-Goten252, währendAbspaltungen wie die des Odotheus ganz außer Betracht bleiben.

Leider ist — wie erwähnt — zur Chronologie und zu den Wohnsitzen der hunni-schen Ostgoten bis 451 aufgrund der Schriftquellen kein gesichertes Bild zu ermitteln;der zuletzt von Herwig Wolfram gemachte Vorschlag läuft auf eine vermittelnde Posi-tion hinaus, indem er annimmt, daß die „hunnisch gebliebenen Ostgoten" (schon)404/405 „gezwungenermaßen westwärts gewandert seien" und „daß sich die attilazeit-lichen Ostrogothen in der Nähe ihres Herrn befanden"253; die entscheidende Frage,wo weiter westlich, bleibt unbeantwortet, und die Annahme, daß sie „westlich undsüdlich der Karpaten" saßen als östliche Nachbarn der Theiß-Gepideri, gründet alleinauf ethnischen Interpretationen von Grab- und Schatzfunden dieser Zeit durch diefrühgeschichdiche Archäologe254 (S. 137 f.).

Was kann die Archäologie zu diesem Problem aussagen? Festgestellt wurdeschon, daß der klare archäologische Befund zum Ende der Cernjachov-Kultur einenlängeren Verbleib der Ostgoten in ihren alten jüngerkaiserzeitlichen Wohnsitzen nach375/376 nicht zuläßt; trotz der noch vorhandenen Probleme in der Feinchronologieam Übergang der jüngerkaiserzeitlichen Stufe C3 (370/380) zur frühvölkerwande-rungszeitlichen Stufe Dl (370/380—400/410) ist ein Kontinuieren der Cernjachov-Kultur als Gesamtkomplex bis in die Zeit um 400 auszuschließen. Über die schongenannten sehr wenigen Dl-zeitlichen Anhaltspunkte innerhalb des Verbreitungsge-biets der Cernjachov-Kultur hinaus255 vermittelt auch der weitere Dl- und D2-zeitli-che ostgermanische Fundstoff bis zur Mitte des 5, Jahrhunderts außerhalb des Verbrei-tungsraumes dieser Kultur ein aufschlußreiches Bild: Er findet sich ebenfalls sehrvereinzelt nördlich und nordöstlich z. B. in Borki bei Rjasan (Oberlauf des Don), inPorschnino (Kruglica) bei Orel und im Schatzfund von Nezin bei Tschernigov256,ferner in beträchtlichem Umfang auf der Krim, der Halbinsel Kertsch, auch noch ander Nordküste des Asowschen Meeres (z. B. Sinjavka an der Don-Mündung) und im

251 Ebd. S. 251 £ und zuletzt: LASZLO VÄRAin; Pannonica: Ergänzende Notizen zum letzten JahrhundertPannoniens, in: Bonner Jahrbücher 190, 1990, S. 175-200, bes. S. 176-184.

252 N. RILFNTXOFF, Quelques cimederes des Pays des Goths de Crimee, in: Bulletin de la CommissionImperiale Archcologiquc 19,1906, S l f£; zuletzt zu den wichtigsten Nekropolcn von Suuk-Su, E$ki-Karmen, Tschufut-Kale und Lutchistojc tu a,: V. V. KROPOTKJN, Mogü'nik Suuk-Su, in: Sovctskaja Ar-cheologiia 1959 (1), S. 181-194; DEKS^ Mogil'nik Tschufut-Kale, in: Kratkie Soobscenija 100, 1965,S. 108-115; A. J. AJRABTN, Chronotogija mogü'nikov Kryma pozdnerimskogo i rannesrcdncvekogo vrc-meni, in: Matcrialy po Archeoiogu, Istotii i Etnografii Tavtii l, Simfcropol 1990, S. 5-86 und S. 175-241 m« Abb. 1-56 und Ta£ 1-11; DERS., in: 2, Simferopol 1991, S. 43-51 mit Abb. 1-7; ferner dasneu veröffentlichte große Gräberfeld von Skalistojc: E. V. VEJMARN-A. J. AJBABIN, Skaüsönstie Mogü*-nik, Kiev 1993 (mit 794 Bestattungen); ALKXANDRE AIUAJHN, \A fabticaüon des gajrnirures de ceintureset des fibules a Chcrsone&e, au Bosphore Cimmerien et dan* la Gothic de Crimoc aux VI-VIII siecles,in: CHKjsTtANt. fli:utfc£ (I Ig.), OutUs et atdicrs d'ocfcvrcs des tcrnps ancicn& (Antiquitis Nationales,Mcmoirc 2. Sociöte des Amis du Muscc des Andquites Nationale» et du Chätcau de Saint-Gurmain-cn-ljqc) Momagnac 1993, S. 163-170; J. S. PIORD, Kiimskaja gooja, Kicv 1990; v$, auch Anm. 258.

2" VCbuHAw (wje Anm. I) S. 256.** Ebd. S. 256.*< \&. oben S, 118 f.** fkuuAAUiJ» (wie Anm. 185) S, 562 and 566 mit Abb. 14,3 und

Page 86: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

136 Volker Bierbrauer

Nordkaukasus-Vorland (2. B. Djurso bei Novorossijsk)257. Höchstwahrscheinlich darfman dieses Fundbild mit 'versprengten' Goten verbinden, die im Nordkaukasus-Vor-land und oberen Kuban bei Alanen und Sarmaten Aufnahme fanden und dort akkul-turiert wurden258, und sodann mit Goten, die auf der schon in der jüngeren Kaiserzeitvon der Cernjachov-Kultur erreichten Krim dann als Krim-Goten in die Geschichteeingingen259. Diese 'versprengten' Goten bzw. die Krim-Goten verblieben zwar auchunter hunnischer Herrschaft, aber es kann nicht der traditionsvermittelnde Hauptteilder hunnischen Goten gewesen sein, an die Valamir dann ,in der Nachfolge der Väter'Mitte des 5. Jahrhunderts anknüpfen konnte260. Dies ist weder möglich mit Hilfe derGeschichte des Vinitharius, der nach der Origo Gothica' gegen die Anten kämpfe,noch mit der des Vithimiris, der nach Ammianus Marcellinus die Alanen besiegte261;auch die Krim-Goten scheiden hierfür aus, die historisch wie archäologisch fortaneigene Wege gehen, auch wenn die Krim und benachbarte Räume durch hohe perso-nale Mobilität im 5. Jahrhundert mit dem Donauraum verbunden bleiben262. Gelegent-liche Versuche, die Cernjachov-Kultur sowohl bis weit in die l. Hälfte des 5. Jahrhun-derts hinein fortbestehen zu lassen als auch sogar die genannten ostgermanischenBefunde der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts von der nördlichen Peripherie der erlosche-nen Cernjachov-Kultur, von der Krim und aus dem Nordkaukasus-Vorland sogar andas pannonische Ostgotenreich (456/457-473) archäologisch anzubinden, überzeugennicht263.

Immerhin kann nach meiner Meinung als gesicherter Beitrag der Archäologie zueinem historisch nicht lösbaren Problern somit festgehalten werden, daß die Ostrogo-then 375 oder kurz danach ihre alten Siedelgebiete verlassen haben; ihre Wohnsitzelagen danach weiter westlich, auch hier unter hunnischer Herrschaft. Aufgrund derSchriftquellen ist ihre nähere Lokalisierung nicht möglich, und hilfsweise wird auf dieArchäologie verwiesen264. Kann sie in dieser Frage weiterhelfen?

257 TEJRAL (wie Anm. 171) S. 190 f., 196 ff.; DERS. (wie Anm. 185) S. 29-39; BIERBRAUER (wie Anm. 185)S. 564 ff.

258 Vgl. Anm. 257 und BIERBRAUER (wie Anm. 3) S. 23 f. (jeweils mit Nennung der wichtigsten russischenund ukrainischen Literatur); ferner: A. K. AMBROZ, Chronologija drevnostej severnogo Kavkaza,V—VII. w., Moskau 1989; vgl. ferner A.J. AJBABIN, Materialy k etniceskoj istorii Kryma VII v. do.n.e. - VII v. n.e., Kiev 1987; MICHEL KAZANSKI, The sedentary elite in the 'empire' of the Huns andits impact on material civilisation in Southern Russia during the early middle ages (5 —7th Century AD),in: JOHN CHAPMANN—PAVEL DOLUKHANOV (Hgg.), Cultural transformations and its interactions in East-ern Europe, Newcastle-upon-Tyne 1993, S. 211-235.

259 Z. B. GUSTAV KARLSSON, Goten, die im Osten blieben, in: HAGBERG (Hg.) (wie Anm. 206) S. 165-174;JOHANN TICHLER, Neu- und wiederentdeckte Zeugnisse des Krimgotischen (Innsbrucker Beiträge zurSprachwissenschaft. Vorträge und Kleinere Schriften 21) Innsbruck 1978. — Archäologie: vgl. Anm. 252,257-258.

260 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 253.261 Ebd. S. 252-254; historisch und archäologisch abweichend: KAZANSKI (wie Anm. 173) S. 13 mit Anm. 8.262 BIERBRAUER (wie Anm. 185) S. 564-569; DERS. (wie Anm. 193); vgl. auch zuletzt: KAZANSKI (wie

Anm. 258) mit Abb. 2-3.263 Vgi Anm. 204; ferner: MICHEL KAZANSKI, Les Goths et les Huns. A prqpos des relations entre les

barbares sedentaires et les nomades, in: Archeologie Medievale 72, 1992, S. 191-229; DERS. (wieAnm. 2) S. 66 ff.

264 Vgl. oben S. 135 mit Anm. 254.

Page 87: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 137

Sie kann nicht, weder für die Zeit vor dem pannonischen Ostgotenreich (456/457) noch für dessen Dauer (bis 473) und auch nicht bis zur Einwanderung nachItalien (488), nach 456 .nun sogar wieder mit guter historischer Quellenlage. Warumdies nicht möglich ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nur zusammenfassend undgenerell argumentierend ausgeführt werden; eine detaillierte Auseinandersetzung mitder Vielzahl der archäologischen Arbeiten zur Formenkunde, Chronologie und ethni-schen Interpretation des ostgermanischen Fundstoffes, der ab der Stufe D2 währendder 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts überdies zunehmend reiternomadisch geprägt ist,kann aus Raumgründen nicht erfolgen. Das Problem, das es kurz zu skizzieren gilt,liegt für das ausgehende 4. Jahrhundert bis zur Mitte des 5. Jahrhundertsnicht in einer unpräzisen relativen und absoluten Chronologie265, sondern in der ethni-schen Interpretation dieses Fundstoffes; sie ist für weite Teile des Donaugebietes nurmöglich mit einer allgemeinen Klassifizierung als ostgermanisch, nicht jedoch stam-mesbezögen konkretisierbar, jedenfalls was ostgermanische gentes und Bevölkerungs-gruppen in dem für unsere Fragestellung relevanten Raum betrifft: Westungarn mitseinen römischen Provinzen (Pannonia I—II, Valeria, Savia) und Ostungarn sowie Ru-mänien; ausgenommen sind, weil für unsere Problematik zu abseits gelegen, die nord-danubischen Gebiete Niederösterreichs, die Tschechische Republik und der Westender Slowakischen Republik266. Die ethnische Interpretation als nur allgemein ostger-manisch liegt in mehreren Phänomenen begründet, die die 1. Hälfte des 5. Jahrhun-derts nun auch grundlegend von der jüngeren Kaiserzeit im östlichen Barbarikumunterscheiden, insbesondere von der Sintana de Mure§- und Cernjachov-Kultur. Diesbetrifft vor allem eine veränderte Grab- und Beigabensitte. Es werden nicht mehr —wie zuvor — die Oberschichten gemeinsam mit der Masse der Bevölkerung (popufas)beigesetzt, sondern die Oberschichten separiert in eigenen kleinen Grablegen, auch inEinzelgräbern; von Ausnahmen abgesehen^67, ist aztpopulus offenbar beigabenlos unddaher archäologisch unbekannt beerdigt worden. Auch die Beigabensitte ist nun an-ders. Die Oberschichten werden in der Regel nur noch in ihrer Tracht und Schmuckbeigesetzt (reduzierte Beigabensitte); echte Beigaben sind die Ausnahme (Kamm; Toi-lettbesteck), die umfangreichen Geschirrsätze entfallen, und nur die Trankbeigabe wirdbesonders in reich versorgten Gräbern noch beibehalten (Kanne/Krug, Becher). DieseVeränderungen setzten bereits in der Spätphase der Cernjachov-Sintana de Mure§-Kultur ein268. Hinzu kommen die archäologisch im Vergleich zu den Frauengräbernsehr viel seltener nachweisbaren Männergräber, da Waffenbeigabe nicht die Regelist269. Erschwert allein schon diese quantitativ begrenzte und kulturgeschichtlich we-

TrjKAL (wie Anm. 185); DERS., Zur Chronologie der frühen Völkerwanderungszcit im mittleren Donau-raum, in: Archacologta Austriaca 72,1988, S. 223-304; BIERBRAUER (wie Anm. 185).

> JAROSLAV TrjRAt, Unsere Lander und der römische Donauraura zu Beginn der Völkerwanderungszeit,in: PamaUy Archcolo^ckc 76, 1985, S. 308-397; DERS., Archäologischer Beitrag zur Bekenntnis dervüUcerwanderungfizätljchcn Etfcnostrukturen nördlich der mittleren Donau, in: HERWIG PUKSINGEK-FAUO DAIM (Hgg,)» Typen der Ethnogcnesc unter besonderer Berücksichtigung der Bayern. SymposiumZwctd 1986, Wien 1990, S. 9-87.BUJUSKAUJIK (wie Anm. 193) S. 141 und die von Romanen und Germanen gemeinsam benutzten Grä-berfelder vom Typ Csafc^r-Szabadbattyan-Mdcz; DEHS. (wie Anm. 195) S. 141 (.

· BiL*B*AL*f fc (wie Anm. 195) S. 131-135.' BiuuKAU*.* (wie Anm. 19$) S. 141 ton. Abb. 19, bei der jedoch mehrere Fundrninkfe ~ tcilweisr durch

Neufundc - am Oberlauf der Theiß und in Nordwcstsiebenbürgcn nachzutragen sind; *u Wcsumgam

Page 88: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

138 Volker Bierbrauer

niger komplexe Quellenlage ethnische Interpretationsmöglichkeiten, so werden diesevollends unmöglich durch ein anderes, weit höher einzuschätzendes Phänomen. Mitder Diffusion des ostgermanisch und teilweise auch noch stark reiternomadisch ge-prägten Fundstoffes in bzw. ab Dl von der Schwarzmeerküste (und vom Nordkauka-sus-Vorland) aus über weite Teile des Donauraumes als Folge der hunnischen Westex-pansion entsteht für die ostgermanischen Oberschichten ein erstaunlich einheitlichesBild, das ich als Koine bezeichnen möchte oder die man im Sinne von Jaroslav Tejralauch als „donauländischen oder donauländisch-ostgermanischen Kulturkomplex" be-zeichnen kann270. Besonders die wegen der veränderten Grab- und Beigabensitte fürdie Gräberkunde wichtigen, weil mehr oder minder reich ausgestatteten Frauengräbereiner Oberschicht lassen in ihrem sozusagen internationalen Gepräge mit kostbaremTrachtzubehör und Schmuck eine gesicherte ethnische Interpretation nicht (mehr) zu;sie sind sich von Rumänien über Ungarn bis nach Niederösterreich so ähnlich, daßman ihre Inventare fast beliebig austauschen kann271. Mit archäologischen Methodensind diese Grabinventare ethnisch also nicht interpretierbar, womit sich auch die sinn-volle Suche nach den Ostrogothen der l. Hälfte des 5. Jahrhunderts erübrigt. Bessersteht es um die frühgepidischen Wohnsitze dieser Zeit, die man mit großer Wahr-scheinlichkeit am Oberlauf der Theiß und in Nordwestsiebenbürgen glaubt nachwei-sen zu können272. Folgt man dieser Interpretation zu den Gepiden, so macht es aberimmer noch keinen Sinn, die Ostrogothen approximativ oder territorial ausschließendin den noch verbleibenden weiten Teilen des Donauraumes „westlich und südlich derKarpaten" eventuell in östlicher Nachbarschaft zu den Gepiden273 finden zu wollen;auf dem Wege ausschließender Argumentation gälte dies dann auch für die Annahme,daß die hunnischen Ostrogothen nicht vor 427 bzw. 433 im Gebiet einer oder mehre-rer pannonischer Provinzen Pannoniens gesiedelt haben können, da die 'äußeren'Hunnen erst dann per Vertrag hier einrückten274. Es bleibt — wie man es historischund archäologisch auch wendet - im Spekulativen. Genauso spekulativ sind - abgese-

vgl. ATTILA Kiss, Völkerwanderungszeitliches Langschwert von Dunapentele/Dunaujvaros, in: AlbaRegia 19, 1981, S. 145-164 mit Abb. 4.

270 TEJRAL (wie Anm. 265) passim.271 BIERBRAUER (wie Anm. 195) S. 138—142 mit den Verbreitungskarten ostgermanischer Frauengräber der

l, und 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts, zwar nicht mehr vollständig, aber noch repräsentativ; DERS. (wieAnm. 185) passim; TEJRAL (wie Anm. 265) passim.

272 Zuletzt BONA (wie Anm. 109) bes. S. 367; KAROLY MESTERHAZY, Beiträge zu den gepidisch-thüringi-schen Beziehungen im 5.—6. Jahrhundert, in: Folia Archaeologica 35, 1984, S; 77-84; DERS., Ethnischeund Handelsbeziehungen zwischen der Weichselmündung und der ungarischen Tiefebene in der römi-schen Kaiserzeit, in: KMIECINSKI (Red.) (wie Anm. 82) S. 185-202; ESZTER ISTVÄNÖVITS, Some data onthe late roman — early migration period chronology of the upper Tisza region, in: GODLOWSKI—MADYDA-LEGUTKO (Red.) (wie Anm. 94) S. 89-101. - Vgl. ferner zuletzt: A. Kiss, Die Schatzfunde l und II vonSzilagysomlyo als Quellen der gepidischen Geschichte, in: Archaeologia Austriaca 75,1991, S, 249-260und DERS., Die „barbarischen" Könige des 4.-7. Jahrhunderts im Karpatenbecken als Verbündete desrömischen bzw. byzantinischen Reiches, in: Communicationes Archaeologicae Hungariae 1991, S. 116-120; BONA, Völkerwanderung (wie Anm. 109) S. 76 f., 80 ff. mit Karten 4-5. - Zu Rumänien: RADUHARHOIU, Das norddonauländische Gebiet im 5. Jahrhundert und seine Beziehungen zum spätrömi-schen Kaiserreich, in: WOLFRAM-DAIM (Hgg.) (wie Anm. 195) S. 101-115, bes. S. 106 ff.; DERS., Rumä-nien in der Zeit der Ostgoten, in: I Goti. Ausstellungskatalog Mailand 1993, S. 154—163.

273 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 256.274 LASZLO VÄRADY, .Das letzte Jahrhundert Pannoniens 376-476, Budapest 1969, S. 303 ff.

Page 89: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 139

hen von den Gepiden — trotz aller Bemühungen und auch einiger Indizien die Versu-che, die ostrogothische Teügruppe in der Dreivölkerkoalition der duces Alatheus undSafrax, die irgendwo in der pannonischen Diözese nach 379/380 angesiedelt wurde,archäologisch zu finden, auch mit Hilfe der viel diskutierten sog. Foederatenkera-mik*75,

Da cthnisch-stammesbezogene Interpretationen durch die frühgeschichtliche Ar-chäologie, also Zuordnungen von Kulturgruppen oder Kulturkomplexen, natürlich nurinterdisziplinär erfolgen können, sollten diese wieder für die Mitte und 2. Hälftedes 5. Jahrhunderts möglich sein, da — jedenfalls für die Ostgoten <- Schriftquellenwieder reichlich vorhanden sind: für das pannonische Ostgotenreich (456/457—473)und für die Ostgoten in Niedermösien (473—488)276; wenn also im Sinne der nichtgemischten Argumentation nun für die Ostgoten — vor allem für deren Siedelgebieteund Migrationen — ein historisch gut geklärter Sachverhalt vorliegt, wie steht es umdie Aussagekraft des archäologischen Befundes, der, eventuell befriedigend geklärt,dann mit diesem verglichen werden könnte?

Es sind wieder die gleichen Gründe wie in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts, diestammesbezogene ethnische Interpretationen der ostgermanischen Gräber, wiederummehrheitlich Frauengräber, meist nicht zulassen277. Erschwerend kommt hinzu, daßder archäologischen Chronologie Grenzen gesetzt sind; die Generationenfolge vonetwa 25 Jahren wird sie nicht unterschreiten können278. Auf das pannonische Ostgo-tenreich bezogen, das etwa vom Plattensee bis in das Gebiet von Sirmium die Südteileder Provinzen Valeria und Pannonia I, Teile der Savia und überwiegend die PannoniaII umfaßte279, heißt dies: Zwar sind ostgermanische Gräber aus dem Gebiet des pan-nonischen Ostgotenreiches bekannt, aber sie sind nicht Jahrzehnt- und erst recht nichtjahrgenau datierbar; dies wäre jedoch erforderlich, um sie interdisziplinär als ostgotischansprechen zu können. Mit einigem Wohlwollen kann man im Sinne der Wahrschein-lichkeit noch die Auffassung vertreten, daß unter den ostgermanischen Gräbern derZeitstufen D2b-D2b/D3 und D3 (etwa 420/430-480/490), deren Fundorte im Be-reich des pannonischen Ostgotenreiches liegen, sich auch solche befinden, die ostgo-tisch sein müßten. Der eErtrag* dieser sehr zurückhaltenden ethnischen Interpretationist also für das Anliegen dieser Arbeit gering, vor allem auch deshalb, weil Goten

1-ücr folge ich der Meinung von TEJRAL (wie Anm. 265) S. 252, ferner S. 233, 244 und 292; DERS.»Unsere Länder (wie Anm. 266) S. 345 f£ mit Karte Abb. 37 S. 365.

· WOLFRAM (wie Anm. 1) & 259-268; ANDREAS SCIIWARCZ, Die Goten in Pannonien und auf dem Balkannach dem Ende des Hunnenreiches bis zum Italienzug Theoderichs des Großen» in: Mitteilungen desInstituts für Österreichische Geschichtsforschung 100,1992, S. 50-83; ferner mit Einschluß der übrigenffUfa: FRIEDRICH LOTTER, Die germanischen Stammesverbände im Umkreis des Ostalncn-Mitteldonau-raumcs nach der literarischen Öberiieferung im Zeitalter Sevcrins, in: HERWIG WOLFRAM-ANDRIASSCHVARCZ <Hg&), Die Bayern und ihre Kachbarn, Teil -L Symposium Zwettl 1982, Wien 1985, S. 29-59 (mit älterer tittsratur, besonders von Walter Pohl von 1980).BanjBRAt'fJt («wc Anm, 195) S. 138 mit Vcrbreimng&kartc 17.BIERBRAUER (wie Afim. 185) &586£ mit einer neu erarbeiteten Fcinchrimologie ofttgermanischrrftsueqpfcber. Stufe Dl » 370/380-400/410; D2a » 400/410-420/430; D2b * 420/430-440/450;Übergattgsphase D2b/D3; D3 =s 450/460-480/490; für Rumänien sutetxü RAJXI riAKHOiu, Chronulo-£i*ch* Fragen der Völkerwanderungszcit in Rumänien, in: Dacia 34, 1990, S. 9-208; ferner die schonmehrfach zitierten Afbaiti J. Tcjrak (wie Atur>, 185).

' VC-bu HAM (wie Anm. 1) S. 262; SCHWAKCZ (wie Anm. 276) S. 521

Page 90: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

140 Volker Bierbrauer

in der Zeit der großen Migrationen nach 375/376 erstmals im kulturgeschichtlich-ethnographischen Kontext archäologisch nicht mehr erkennbar sind; dies liegt keines-wegs an dem fehlenden methodischen Rüstzeug der Archäologie — wie die archäologi-schen Ergebnisse zur kaiserzeitlichen Geschichte der Goten dies lehren —, sondern anden grundlegend veränderten kulturhistorischen Rahmenbedingungen im 5. Jahrhun-dert. Vielleicht ist aber dieser wegen fehlender positiver archäologischer Evidenz alsgering eingestufte 'Ertrag' im interdisziplinären Kontext doch von Belang, da in derarchäologischen Literatur oftmals andere, auch sich widersprechende, meist aber prin-zipiell sehr viel optimistischere Auffassungen zur stammesbezogenen ethnischen Inter-pretation des archäologischen Fundstoffes zu finden sindj80; der Autor dieses Beitra-ges vermag sie nicht zu teilen, jedenfalls dann nicht, wenn - gemischt argumentierend -(oft nicht ausreichend geklärte) historische Sachverhalte und ereignisgeschichtliche Da-ten einem archäologisch-kulturgeschichtlich nicht genügend differenzierbaren Befund'übergestülpt* werden.

Was für die Archäologie des pannonischen Ostgotenreiches festgestellt wurde,gilt auch für den Aufenthalt der Ostgoten in Niedermösien zwischen 473-488, wohinsie nach der Ausplünderung Pannoniens Qordanes, Getica 283) abgezogen waren.Auch hier ist ostgermanischer Fundstoff des 5. Jahrhunderts, auch der 2. Jahrhundert-hälfte, belegt, aber aus denselben Gründen wie zuvor ethnisch nicht auf die Ostgotenbeziehbar; ein solches Unterfangen würde darüber hinaus — wie in Pannonien — wie-derum an den Möglichkeiten der archäologischen Chronologie scheitern; die Mobilitätder Ostgoten zu dieser Zeit ist zu hoch, die Dauer ihrer Foederatenreiche in Makedo-nien (knapp 3 Jahre) und in Niedermösien (knapp 12 Jahre) ist zu kurz, wiederumwären jahrgenaue Datierungen für den archäologischen Fundstoff erforderlich281.

VIII. DIE OSTGOTEN IN ITALIEN

Will man Einwanderungsvorgänge archäologisch zweifelsfrei nachweisen, so istdie Kenntnis des Abwanderungsraumes unabdingbare Voraussetzung; am 'Beispiel derGoten des 1.—4. Jahrhunderts wurde dies deutlich.

Historisch sind die Abwanderung der Ostgoten aus Niedermösien und ihre-Ein-wanderung in Italien 488 unter Theoderich gut bekannt, auch ihr Hintergrund, der

280 Djes güt nicht nur für die Ostgoten, sondern auch für andere ostgermanische genfes, insbesondere nachdem Zusammenbruch des Hunnenreiches. — Vgl. aus der Fülle der Literatur etwa die älteren Arbeitenvon ATTILA Kiss, Ein Versuch, die Funde und das Siedelgebiet der Ostgoteri in Pannonien zwischen456-471 zu bestimmen, in: Acta Archaeologica Academiae Scientiarum Hungaricae 31, 1979, S. 329-339; DERS., Die Skiren im Karpatenbecken, ihre Wohnsitze und ihre materielle Hinterlassenschaft, in:ebd. 35, 1983, S. 95-131; DERS., Germanischer Grabfund der Völkerwanderungszeit in Jobbägyi. ZurSiedlungsgeschichte des Karpatenbeckens in den Jahren 454-568, in: Alba Regia 19,1981, S. 167-185;DERS., zu den Ostgoten seine älteren Arbeiten einschränkend und korrigierend: Die Ostrogothen inPannonien aus archäologischer Sicht (456-473), in: I Goti (wie Anm. 272) S. 164-179. - Auch in denälteren Arbeiten von A. Kiss und anderen Autoren, die aus Raumgründen nicht genannt werden kön-nen, sind immer wieder (kurze) Vorbehalte solcher Art enthalten; vor allem ohne diese vermitteln siedem Historiker nach meiner Meinung ein nicht zutreffendes Bild über die Aussagemöglichkeiten derArchäologie zu den ethnischen Problemen des 5. Jahrhunderts.

281 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 268-278; SCHWARCZ (wie Anm. 276) S. 66 ff. - Zur Archäologie zuletzt:BIERBRAUER (wie Anm. 185) S. 589-592. ' .

Page 91: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 141

Vertrag zwischen dem Qstgötenkönig und Kaiser Zeno, ,wonach Theoderich nach derBeseitigung Odoakers für seine Mühen an der Stelle des Kaisers in Italien herrschensolle, bis dieser dorthin kommt* (Anonymus Valesianus 11,49)282. Obgleich beide Sei-ten ihre eigenen Vorstellungen über diesen Vertrag hatten, war eigentlich vieles klar;Theoderich kam nicht als Usurpator nach Italien, aber in der Erwartung, erstmals dieUnabhängigkeit von der kaiserlichen Staatskasse zu erlangen und endlich eine dauer-hafte Reichsbildung zu erreichen. Im Sommer 488 brach das Gotenheer in einer ge-schätzten Kampfstärke von etwa 20—25 000 Mann auf, was einer drei- bis vierfachenKopfzahl entsprechen dürfte. Nicht alle Goten wanderten ab; was in den oströmischenBalkanprovinzen verblieb, war jedoch nicht stark genug, als ethnische Einheit weiterzu-bestehen283.

Archäologisch ist die ostgotische Einwanderung aus mehreren Gründen schwie-rig zu beurteilen. Einer der Gründe wurde schon genannt; es ist die fehlende Kenntniseines spezifischen Fundstoffes, der mit den niedermösischen Goten verbunden wer-den kann. Dennoch könnte jenes nur als allgemein ostgermanisch interpretierbareFundmaterial aus den Gebieten des pannonischen und niedermösischen Ostgotenrei-ches, unter dem sich sicherlich auch ostgotische Gräber befinden, in Italien interdiszi-plinär als ostgotisch identifiziert werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt wären:einerseits die klare Abgrenzung zur archäologischen Hinterlassenschaft der Romanenund andererseits keine Verwechselungsmöglichkeiten zu anderem eventuell in Italienvorhandenen germanischen Fundstoff.

Archäologisch sind Germanen in Italien zumindest mit ihrer Einwanderungsge-neration und der ersten im Lande lebenden Generation, also noch nicht akkulturiert,ohne Schwierigkeiten von den Romanen zu trennen284; diese Voraussetzung ist für dieGräberkunde wegen der völligen Andersartigkeit der romanischen Grab- und Beiga-bensitte also prinzipiell gegeben. Anders verhält es sich mit dem germanischen Fund-stoff in Italien; er ist für das gesamte 5. Jahrhundert nachweisbar und auch antiqua-risch-chronologisch in etwa auf die beiden Jahrhunderthälften eingrenzbar. Seine eth-nische Interpretation kann — wie immer wieder betont — nur mit Hilfe der schriftlichenÜberlieferung bzw. mit den Ergebnissen der Alten Geschichte und Mediävistik erfol-gen. Für die l. Hälfte und Mitte des 5. Jahrhunderts lassen sich die meist aus demDonauraum stammenden ostgermanischen (Grab-)Funde am besten mit in Italien gar-nisonierenden germanischen Söldnertruppen verbinden, 'inneren foederati* also, diehistorisch besonders gut belegt sind für die Zeit des comes bzw. magister wilitum Ricimer(456-472)285. Liegt dieser Zeithorizont archäologisch-chronologisch noch ausreichend

(wie Anm. 1) S. 278-299.RJ SCHWARCZ (wie Anm. 276) S. 82 f.M Zuletzt: VOLKXK BIERBKAUCK, Zum Stand archäologischer Siedlungsforschung in Oberitalien in Spätan-

tike und frühem Mittelster (5.~7. Jahrhundert). Quellenkunde - Methode - Perspektiven, in: KLAUSI-EHN u. a. (Hgg,), Genetische Siedlungsforschung in Mitteleuropa und seinen Nachbarta'umcn 2, Bonn1988, S. 637-659, S. 639-649; DLKS., Lln&cdiamcnto del pcriodo cardoantico e altomcdievale in Tren-tinc» — Alto Adige (V—VII secolo), in: GIAN CARLO MENIS (Hg.), Italia longobarda, Venedig 1991,S. 123-133; Drns.f Die Landnahme der Langobarden in Italien aus archäologischer Sicht, in: MICHAELMt'u.K*-VC'iujt-REiNMAJU> ScHNUütR (Hgg.), Ausgewählte Probleme europäischer I-andnahme desFrüh- und Hochmittelaitci«, Teil l (Vortrage und Forschungen 41) Sigmaringen 1993, S. 103-172.

* VoiJ&ft Bi£*jjRAUEfc, Germanen des 5. und 6. Jahrhundert* in Italien, in: JACQUES DUAKUN-RJCCAKIO(Hgg.), 1-a *corä dell'aho medioevo naliano (VI-X sccolo) a&t lucc dell'archcologia (Bi-

di Aichcologw Medievak) Fircn/c 1993 fim Druck).

Page 92: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

142 Volker Bierbrauer

abseits der ostgotischen Einwanderung 488, so folgt diese aber nur 18 Jahre später aufdie der Skiren und anderer Germanen (Rugier, Heruler) unter Odoaker 469/470286. Esergeben sich prinzipiell also dieselben Interpretationsprobleme für den germanischenFundstoff in Italien, wie sie für das 5. Jahrhundert im Donauraum schon erörtertwurden: die Unmöglichkeit einer jahrzehntgenauen archäologischen Chronologie unddie fehlende ethnisch-stammesbezogene Differenzierung ostgermanischer Grabfunde;auch die Skken (und Heruler/Rugier) waren vor ihrer Abwanderung nach Italien imDonauraum beheimatet287, ohne daß man sie dort aus den genannten Gründen ar-chäologisch erkennen kann. Dies bedeutet für Italien, daß der hier überlieferte (ost-)germanische Fundstoff, der im Donauraum in die Zeitstufen D2b-D2b/D3 und D3gehört (vor 440/450-480/490), mit den Odoaker-Germanen und den Theoderich-Goten nach Italien gelangt ist. Eine Trennung zwischen beiden Einwanderungen inItalien ist aus chronologischen und ethnischen Gründen regelhaft daher nicht mög-lich288. Selbst ein um 440/450 gefertigtes und vielleicht von einer Ostgotin in Panno-nien (456/457—473) getragenes Trachtensemble aus Fibelpaar und Gürtelschloß kannnoch von dieser — via Niedermösien — nach Italien mitgebracht worden sein, wenn siemit Theoderich in fortgeschrittenem Alter nach Italien einwanderte289. Exemplarischdeutlich wird dies an den sog. Maskenschnallen mit rhombischem Beschlag, die in dieZeit um die Mitte und in die zweite Hälfte (3. Viertel?) des 5. Jahrhunderts zu datierensind (Fig. 30)290; im Donauraum sind sie zudem weit verbreitet, sowohl im Gebiet despannonischen Ostgotenreiches als auch zwischen Donau und Theiß und am Oberlaufder Theiß, wo man zu dieser Zeit gerne Skiren und Gepiden ansiedelt, ein weitererbeispielhafter Hinweis auf die Schwierigkeiten, ostgermanische Gräber im Donauraum(und in Italien) zu dieser Zeit bestimmten gentes zuzuordnen.

Angesichts dieser Problematik stellt sich die Frage, ob Ostgoten in Italien archäo-logisch überhaupt nachweisbar sind. Methodisch zweifelsfrei ist dies kaum beantwort-bar, da der eine oder andere ostgermanische Grabfund der Zeit um 500 und der 1.Hälfte des 6. Jahrhunderts natürlich auch noch mit im Lande verbliebenen Odoaker-Germanen verbunden werden könnte. Je weiter man zeitlich von den beiden Einwan-derergenerationen, vor allem der unter Odoaker 469/470, entfernt ist, desto höher istdie Wahrscheinlichkeit, daß in den ostgermanischen Gräbern Italiens Ostgoten beige-setzt sind291; hierfür sprechen auch die hohe Zahl der ostgotischen Einwanderer und

286 LÄSZLO VÄRADY, Epochenwechsel um 476. Odoaker, Theoderich d. Gr. und die Umwandlungen, Bonn-Budapest 1984, S. 30 ff.

287 Z. B. LOTTER (wie Anm. 276) S. 30, 47 ff.; WALTER POHL, Die Gepiden und die gentes an der mittlerenDonau nach dem Zerfall des Attilareiches, in: WOLFRAM-DAIM (Hgg.) (wie Anm. 195) S. 240-305, bes.S. 273 f., 277 ff.; Kiss, Germanischer Grabfund (wie Anm. 280) und DERS., Die Skiren (wie Anm. 280).

288 Hierzu ausführlich: VOLKER BIERBRAUER, Historische Überlieferung und archäologischer Befund. Ost-germanische Einwanderer unter Odoaker und Theoderich nach Italien. Aussagemöglichkeiten undGrenzen der Archäologie, in: GODLOWSKI-MADYKA-LEGUTKO (Red.) (wie Anm. 94) S. 263-277, bes.S. 273 ff.; DERS. (wie Anm. 185) S. 583 ff.

289 BIERBRAUER (wie Anm. 185) S. 586 und 588.290 JOACHIM WERNER in: GIOVANNI ANNIBALDI—JOACHIM WERNER, Ostgodsche Grabfunde aus Acquasanta,

Prov. Ascoli Piceno (Marche), in: Germania 41,1963, S. 365-373; VOLKER BIERBRAUER, Die ostgotischenGrab- und Schatzfunde in Italien, Spoleto 1975, S. 133 ff.

291 Es ist daher reichlich spekulativ, wenn der größte Anteil des ostgermanischen Fundstoffes der 1. Hälftedes 6. Jahrhunderts in Italien mit den OdoakerrGermanen verbunden wird, dies auch wegen falscher

Page 93: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Arch ologie und Geschichte der Goten vom L—7. Jahrhundert

α143

±<

ic'i

J13

Page 94: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

144 Volker Bierbrauer

der Befund der Schriftquellen, da Odoaker-Germanen zur Zeit des italischen Ostgo-tenreiches keine Rolle mehr spielen.

Die Kennzeichnung des ostgotischen Fundstoffes in Italien basiert aufGrabfunden; Siedlungen sind nicht bekannt, mit Ausnahme eines neu entdeckten Ca-strums vom Monte Barro am Südostende des Corner Sees, dessen Struktur gut zurBeschreibung ostgotischer Wehranlagen in den Cottischen Alpen paßt292. Grab- undBeigabensitte sowie die Tracht entsprechen mit einigen hochrangigen Merkmalen dem,was entweder schon zuvor für die Goten kennzeichnend war oder, wie sich vor allemmit Blick auf Spanien zeigen wird (S. 155 ff.), was die gotischen Siedelgebiete im 6.Jahrhundert kennzeichnen wird293. ,

1. Wieder sind es die fehlende Waffenbeigabe in Männergräbern und generelldie unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau in der Beigabensitte; Männergrä-ber lassen sich — ohne anthropologische Untersuchung — in der Regel nur durchbestimmte Gürtelschnallen eines schmalen Leibriemens erkennen294; beides unter-scheidet die Goten von allen anderen merowingerzeitiichen Großstämmen.

2. Die ostgotische Frau wird mit ihrem in der Regel kostbaren Trachtzubehör ausFibelpaar und großem Gürtelschloß mit rhombischer, meist aber rechteckiger Beschlag-platte und mit kostbarem, oft stark mediterran geprägtem Schmuck beigesetzt (Fig. 31—32). Entscheidend sind Trageweise und Zusammensetzung des Trachtzubehörs; die Fi-belpaare, silbervergoldet und gegossen oder auch kloisonniert, wurden an den Schultern(zum Heften eines mantelartigen Umhanges?)295 und das große Gürtelschloß in Becken-lage für einen breiten Gürtel sichtbar getragen. Vor allem das Fibelpaar an den Schulternunterscheidet ihre Trägerinnen ab dem späten 5. Jahrhundert wiederum von der Trachtanderer Germanen, auch im Donauraum, verbindet sie aber mit den Befunden auf derKrim und in Spanien, weswegen diese Tracht im 6. Jahrhundert als kennzeichnend go-tisch bezeichnet werden darf296. Mit ihr ist ihre Trägerin als solche somit in anderen ger-manischen Stammesgebieten (z. B. Exogamie) gut als Fremde zu erkennen297, aber auchin Italien, wo die romanische Frauentracht durch die Einfibeltragweise gekennzeichnetist (zum Verschluß eines mantelartigen Umhanges auf der Brust)298. Auch das große

Datierungskriterien, so durch MANFRED MENKE, Archäologische Befunde zu Ostgoten des 5. Jahrhun-derts in der Zone nordwärts der Alpen, in: KMIECINSKI (Red.) (wie Anm. 7) S. 239-282, S. 245 mitKarte Abb. 19 S. 281; hierzu BIERBRAUER (wie Anm. 185) S. 584 mit Anm. 190.

292 Prokop, Bellum gothicum 11,28: ,Dort wohnten seit langem schon zahlreiche edle Goten mit ihrenWeibern und Kindern und versahen die Grenzwacht.' — GIAN PIETRO BROGIOLO-LANFREDO CASTEL-LETTI (Hgg.), Archeologia a Monte Barro I: U grande edificio e le torri, Lecco 1991.

293 So schon zusammenfassend JOACHIM WERNER, Die archäologischen Zeugnisse der Goten in Südruß-land, Ungarn, Italien und Spanien, in: I Goti in Occidente. III. Settimana del Centro Italiano di StudisulTAlto Medioevo 1955, Spoleto 1956, S. 127-130.

294 BIERBRAUER (wie Anm. 290) S. 153 ff.295 VOLKER BIERBRAUER, Zu den Vorkommen ostgotischer Bügelfibeln in Raetia H, in: Bayerische Vorge-

schichtsblätter 36, 1971, S. 133-147; DERS. (wie Anm. 290) S. 71-80.296 BIERBRAUER (wie Anm. 295).297 Vgl. z. B. die zahlreichen Beispiele spanischer Westgotinnen im Frankenreich Chlodwigs: S. 164 f.298 VOLKER BIERBRAUER, Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse in den germanischen Staaten am Mit-

telmeer (Westgoten, Ostgoten, Langobarden) aus der Sicht des Archäologen, in: Atti del 6° CongressoInternazionale di Studi sulTAlto Medioevo Milano 1978, Spoleto 1980, S. 89-105, S. 97; zuletzt DERS.,Kreuzfibeln in der mittelalpinen romanischen Frauentracht des 5.—7. Jahrhunderts: Trentino und SüdtK,.

Page 95: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 145

31 Ostgotiftchcr Grabfund au* der 'Rotnagna' (Italien), Nach W. MKNGMIN, Gotische und langobardi·*Chc Funde au* haben, Nürnbctg 19H3, S. 31 Taf. 3.

Page 96: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

146 Volker Bierbrauer

Fig. 32 Rekonstruktion der Tracht und des Schmuckes der adeligen Dame von Domagnano (Republik Sah .Marino). Nach D. KYDD in: I Goti (wie Anm. 272) S. 194.

Page 97: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 147

Gürtelschloß mit rechteckiger Beschlagplatte ist in Italien weiterhin ein ethnisch aussa-gekräftiges Merkmal299.

3. Anders als bei den anderen kontinentalgermanischen Stämmen und auch beiden Romanen werden die Ostgoten in Italien nicht in Gräberfeldern bestattet; nureine Oberschicht wird in Einzelgräbern und kleinen 'Familien'-Grablegen abseits desbeigabenlos bestatteten populus beigesetzt, womit die Grabsitte des 5. Jahrhunderts inweiten Teilen des Donauraumes fortgeführt wird300.

4. Bezeichnend ist auch die selektive Rezeption zoomorpher Motive; nur dieAdlersymbolik als pars pro toto und als Ganzfigur am Trachtzubehör oder als Fibel(Fig. 32) wird von Goten 'verstanden', sei es in Italien oder in Spanien, nicht aber diegermanische Tierornamentik, die sonst die germanische Kunst stilistisch und symbol-verstanden prägt.

Beigabensitte und Frauentracht tragen daher unverwechselbare, weil besonderskonservative Züge; sie sind von besonderem Gewicht, da sie mit den Jenseitsvorstel-lungen (Beigabensitte) und mit ethnographisch relevanten Verhaltensweisen (Tracht)zusammenhängen, wie sie über 600 Jahre hinweg bei keinem der anderen germani-schen Großstämme mit ihren Ethnogenesen seit der jüngeren vorrömischen Eisenzeitoder der älteren Kaiserzeit zu finden sind.

In diese althergebrachten Jenseitsvorstellungen versucht Theoderich durch einSchreiben aus den Jahren 507/511 an den königlichen Vollzugsbeamten in den Provin-zen, an den sah Duda, einzugreifen301. Auf dem Hintergrund einer zu dieser Zeitintensiv betriebenen Ausgleichspolitik zwischen orthodoxen Romanen und arianischen

rol, in: ftßscellanea di studi in onore di Giulia Mastrelli AnzÜotti, Florenz 1992, S. 1-26. - DieseTracht *- fibelgeschlossener mantelartiger Umhang — ist trotz MechthiJd Schulze-Dörlamm auch schonseit dem späten 4. Jahrhundert üblich, wie weitere bildliche Darstellungen dies zeigen: HELMUTScHLUNK-TßiEODOR HAUSCHILD, Hispania Antiqua. Die Denkmäler der frühchristlichen und westgoti-schen Zeit, Mainz 1978, Taf.25c-d (Anfang 5. Jh.); DAVID H. WRIGHT, Der Vergilius Vaticanus. EinMeisterwerk spätantiker Kunst, Graz 1993, Farbtafel S. 33 (um 400) und Tafel S. 104 (spätes 4. Jh.); dievon MECKTHILD SCHULZE-DÖRLAMM, Romanisch oder Germanisch? Untersuchungen zu den Armbrust-und Bügelfibeln des 5. und 6. Jahrhunderts aus den Gebieten westlich des Rheins und südlich derDonau, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuscums 33, 1986, S. 593-720, S. 687 mitAbb. 103-104 vertretene Auffassung, daß die romanische Fraucntracht im 5, Jahrhundert eine Zweifi-bdtragwcise sei, ist in dieser Gegenüberstellung falsch, da die von ihr angeführten Bildbclcgc funktionaletwas völlig anderes betreffen, nämlich ein trägerartiges Kleid.

299 Die zuletzt von M. Martin vertretene Auffassung, daß die sog. gotischen Schnallen mit großen Rechteck-beschlägen — nicht nur die zellwerkverzicrtcn - für „die weibliche Oberschicht der gesamten, größten-teils romanischen Bevölkerung bestimmt war" und „ein guter Teil der 'gotischen* Schnallen ... nurden kleinen, dank ostgcrmanjscher Beigabensitte überlieferten Rest einer weit größeren Produktiondarstellen fdürftenj", vermag ich nicht zu teilen: MAX MARTIN, Zur frühmittelalterlichen Gürteltrachtder Frau in der Burgundia, Francia und Aquitania, in: L'art des invasions cn Hongrie. Acres du colioquetenu au Muscc royal de Mariemom du 9 au 11 avrü 1979 (Monpgraphies Musee royal de Mariemont6) Mariemonr 1991, S 31-64, S. 75; eine begründete Kritik wird an anderer Stelle gegeben, jedoch seivorab schon generell darauf verwiesen, daß trotz einer Fülle romanischer Funde in Italien (einschließlichSiziliens) und in Sardinien des 5.-6. Jahrhunderts kein einziger romanischer Grabfund mit solchenGuftefochnallen bislang nachweisbar ist; sind Beifunde vorhanden, so ist e$ eben germanisches Tracht*zubchor mit einer» Fibel paar (Etx£N RimtJt, Romanische Grabfunde des 5.-Ö. Jahrhunderts in Italien.

J99J).(wie Anm, 2SD> $. 6l ff.

*" 2u diesem Brtef ausführlich: B«.«*u4%ft. ebd. S, 53 fC

Page 98: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

148 Volker Bierbrauer

Ostgoten ordnet Theoderich an (iussione decerniruus}, daß seine Ostgoten die heidnischverwurzelte Bestattungs- und Beigabensitte aufgeben sollen; als Vorbild empfiehlt erihnen statt dessen die beigabenlos bestattende romanische Bevölkerung. Der großeKönig erklärt, daß die reichen Beigaben aus Edelmetall (talenta, aurea vel argenturn] denVerstorbenen nutzlos mit in die Gräber gegeben würden (illis in nullam partem profuturalinquuntur), ja daß es geradezu schuldhaft sei, dies weiterhin zu tun (inutiliter abditisnlinqmre mortuorum}\ man solle künftig nicht nur beigabenlos bestatten, sondern —bezogen auf die Oberschicht - wie die Romanen auch aufwendige Grabbauten (aedifi-cia) anlegen und diese mit Säulen und Marmor schmücken (columnae vel marmorn ornantsepulcra) (Cassiodor, Variae IV,34, hg. von Theodor Mommsen (MGH AA 12] Berlin1894, S. 129).

Außer in seiner Einmaligkeit in der germanischen Welt des 6. Jahrhunderts —bestritten wird immerhin eindeutig die Notwendigkeit der Zurüstung der Verstorbenenfür ein Weiterleben im Jenseits - ist dieser Brief Theoderichs auch für das Verständnisder archäologischen Hinterlassenschaft der Ostgoten in Italien von außerordentlicherBedeutung. Natürlich wurde die Anordnung des Königs nicht strikt befolgt, da jaostgotische Bestattungen mit Trachtzubehör und Schmuck vorhanden sind, aber siedürfte dazu beigetragen haben, daß eben nur so wenige Gräber bekannt sind, alles inallem von nur 70 Fundorten im gesamten Ostgotenreich, also einschließlich seinerGebiete auf dem Balkan (Savia/Dalmatia); läßt man die apokryphen Fundorte unddie Schatzrunde mit ostgotischem Trachtzubehör weg, so entfallen auf Italien nur 32gesicherte Grabfunde mit Trachtzubehör (Fig. 33)302. Wieweit die Ostgoten Theode-richs Anweisung folgten, läßt sich quantitativ und regelhaft nicht feststellen, da beiga-benlose Gräber nicht interpretierbar sind; daß seine Anordnung aber befolgt wurde,beweisen die immerhin 19 beigabenlosen Männer- und Frauengräber mit Grabsteinen,die wegen ihrer ostgotischen Personennamen dennoch identifizierbar sind303. Bezeich-nenderweise gehören die hier beigesetzten Ostgoten dem Adel an, vor allem in dengroßen Städten (Rom, Ravenna, Pavia, Mailand); sie sind damit auch Ausdruck einerRomanisierung. Außerdem gibt es auch eine Mischung aus beiden Elementen desTheoderich-Briefes, d. h. Nichtbefolgung hinsichtlich der Beigabensitte, aber Über-nahme der aufwendigen Bestattungsart romanischer Oberschichten anstelle des kon-ventionellen schlichten Erdgrabes304.

Im Gegensatz zu den kaiserzeitlichen Siedelgebieten ist das Siedelbild der Ostgo-ten in Italien nicht flächendeckend305. Es ist nicht die geringe Zahl an Fundorten, dieauffällt - sie wurde zuvor begründet —, sondern deren Verteilung (Fig. 33), die keinedenkmalpflegerischen Gründe hat. Dieses Fundbild erschließt wichtige Einsichtenüber die Art und Weise der gotischen Ansiedlung, die aus den reichlich vorhande-

302 Mit einigen unsicheren Befunden der Frühzeit (Odoaker-Germanen): Liste und Karte bei BIERBRAUER(wie Anm. 290) S. 252 ff. mit Karte Abb. 20 nach S. 210 und $. 8; Nachträge: BIERBRAUER (wie Anm. 3)S. 38 Anm, 16 mit Karte Abb. 9 S. 27. - Das schüttere Fundbild hängt auch damit zusammen, daßEinzelgräber und kleine Grabgruppen denkmalpflegerisch ungleich schwerer auffindbar sind als großeGräberfelder.

303 BIERBRAUER (wie Anm. 290) S. 39 ff. mit Karte Abb. 5 S. 41,304 Ebd. S. 56 ff.305 Zu den Grenzen des Ostgotenreiches: BIERBRAUER (wie Anm. 290) S. 17-24; WOLFRAM (wie Anm. 1)

S. 290-302, S. 315-324 und S. 286-290.

Page 99: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologe und Geschichte der Goten vom l .-7. Jahrhundert 149

O vorosigoien/emtche Grabfunde · Scnat/funde ostgermanischer Grabfund.• GM 0ot sehe Grabfunde Fundort nicht gesichert (Grabfund?) Erhmkum. unsicher

F'ifc 33 Ost^ermanische, vorwiegend oitgoüschc Fundorte in Italien (Mitte und 2» Häufte de* S. und der1. Hälfte de* 6. Jahrhunderts), Nach Bff.RfcRAUTR (wie Anm. 3) S. 2? Abb. 9.

Page 100: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

150 Volker Bierbrauer

nen zeitgenössischen Quellen, vor allem Cassiodors 'Variae', so nicht erkennbar ist.Man bemerkt einerseits Fundkonzentrationen in Oberitalien in Teilen der Lombardei,in der Romagna und in den adriatischen Küstenprovinzen (Picenum, vor allem Mar-che) und andererseits weite Gebiete ohne ostgotische Grabfunde in Sizilien, in Südita-lien, an der gesamten Westküste und auch im Nordwesten (Ugurien, Piemont). Erstin Kombination mit einigen Hinweisen in Prokops 'Gotenkrieg' ergibt sich ein stim-miges interdisziplinäres Bild: Die Ansiedlung der Ostgoten in Italien war von strategi-schen Gesichtspunkten gelenkt, war von Anfang an ausgerichtet gegen eine byzantini-sche Bedrohung von Süden und Osten, wie diese durch den Vertrag mit Kaiser Zenoschon zu erwarten war und wie diese dann auch durch de^n ostgotisch-byzantinischenKrieg (536-552) Wirklichkeit wurde.

Grundsätzlich ist also zu unterscheiden zwischen länger andauernder Siedlungvon Goten als ,Nachbarn und Genossen* der Römer (vicini et consortes} und gotischerMilitärsiedlung mit gotischen Soldaten, die kaserniert waren (milites\ In diesem Sinnewaren frei von gotischer Siedlung im wesentlichen Sizilien und ganz Süditalien bisetwa in die Höhe der Linie Rom - Pescara; hier lagen nur gotische Truppen alsBesatzungen in befestigten Städten. Der gesamte Raum südlich der Fernstraße ViaSalaria (Rom - Pescara) war folglich ein mit nur schwachen mobilen Verbänden beleg-tes 'strategisches Vorfeld9, und erst nördlich davon setzte gotische 'Landsiedlung' einmit den benannten und ebenfalls strategisch erklärbaren Schwerpunkten306.

Wegen einer schlechten Fundüberlieferung (Fundumstände, Grabform, Ge-schlossenheit der Inventare)307 läßt sich aus archäologischer Sicht nur wenig über diesoziologische Struktur der Ostgoten aussagen; nur zwei Gräber können aus denostgotischen Bestattungen, die wegen der schon erwähnten spezifischen Grabsitte (se-parierte Einzelgräber, Grabgruppen) ohnehin nicht aempopulus zuzuordnen sind, aus-gesondert und als sogenannte Adelsgräber bezeichnet werden: das Frauengrab vonDomagnano (Fig. 32) und das Männergrab von Ravenna mit der wohl qualitätsvollstenGoldschmiedearbeit des frühen Mittelalters (kloisonnierte Sattelbeschläge)308. Kenn-zeichnende Merkmale für einen herausgehobenen sozialen Status treffen auch auf dieFamilie zu, in deren Besitz sich der Schatzfund von Reggio Emilia befand; ähnlichesgilt für den Fund von Desana, auch wenn nicht alle Objekte aus dem Schatzfundselbst stammen sollten309.

Wie in allen germanischen Staatengründungen am Mittelmeer, aber auch sonstbei Überschichtungsvorgängen, sind Akkulturationsprozesse zu erwarten, insbe-sondere dann, wenn politisch-militärisch dominante Minderheiten auf kulturell-zivilisa-torisch noch strahlungskräftige Kulturen treffen; liegen Schriftquellen wie für die ger-manischen Reiche am Mittelmeer vor, so kann der Historiker diese Akkulturationspro-zesse in allen ihren Facetten beschreiben (Sprache, Gesetzgebung, Religion etc.). Auchihre Verlaufsrichtung ist klar: „Auch in ihrem Inneren lassen alle diese Reiche nichtsvon einer fortschreitenden Germanisierung erkennen, die man doch voraussetzen

306 Alles dies ausführüch dargestellt bei BIERBRAUER (wie Anm. 290) S. 25-41 und 209-211; WOLFRAM (wieAnm. 1) S. 290-299, bes. S. 297.

307 BIERBRAUER (wie Anm. 290) S. 8-13.308 BIERBRAUER, ebd. S. 207 und S. 193 ff.; DERS. (wie Anm. 82) S. 84 f.309 BIERBRAUER (wie Anm. 290) S. 198-207; DERS. (wie Anm. 82) S. 85 f.

Page 101: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 151

müßte, wenn in ihnen das germanische Element den eigentlich prägenden Faktorgebildet hätte. Die kleine germanische Minderheit öffnet sich vielmehr, wie besondersan den Königshöfen beobachtet werden kann, überall in steigendem Maße der spätan-tiken Kultur und der Romanisierung"310, so auch die Ostgöten. Die Einsichtmöglich-keiten der Archäologie sind hierzu entsprechend ihren Quellen eingegrenzt, erst recht,wenn man sich nur der Gräberkunde bedienen kann; dennoch läßt sich auch hier dieRomanisierung der italischen Ostgoten erkennen. Die entscheidenden Befunde wur-den im Zusammenhang mit dem Schreiben Theoderichs an sah Duda bereits genannt,die beigabenlosen Gräber mit ostgotischen Personennamen, vor allem dem "Adef inden Städten zugehörig; hierher gehören auch 'beigabenfuhrende* Gräber, die in ihremaufwendigen Grabbau romanischen Oberschichten folgen, und vor allem ostgotischeBestattungen, die sich nicht mehr im gentilen Verband von separierten Familiengrable-gen befinden, sondern in stadtrömische Friedhöfe eingebracht wurden, noch dazu —wie in Rom und Mailand — ad martyres oder ad sanrtos nach orthodoxem Brauch311.

Ende und Untergang des Ostgotenreiches sind durch die Schriftquellengut bekannt und vielfach beschrieben worden. In der letzten Schlacht am Mons Lacta-rtus (Müchberg) bei Salerno, in der Teja fiel, endet Offiziell' die Reichsbildung; einneuer König wurde nicht mehr erhoben. „Mit diesem Eingeständnis der Schwächeendete ein halbes Jahrtausend gotischer Geschichte."312 Archäologisch läßt sich über„Die letzten Ostgoten"313, die sich „nach Tejas Tod nicht in Luft auflösten"314, nichtssagen; unverwechselbar gotische Gräber aus der Langobardenzeit sind nicht be-kannt315.

Aus den Schriftquellen ist die germanische Polyethnie im Ostgotenreich hin-länglich bekannt; sie bezieht sich nicht nur auf die von Odoaker 487 besiegten Rugier,die sich unter Friedrich 488 den einwandernden Theoderich-Goten angeschlossen hat-ten und sich in Italien ein hohes Maß an Eigenständigkeit bewahrten316, sondern auchauf kleinere Gepidengruppen317 sowie auf herulische318 und vor allem alamannischeFlüchdinge319, die im Reiche Theoderichs Schutz und Aufnahme vor Verfolgung fan-den. Zu Herulern und Rugiern kann die Archäologie nichts beitragen, wenig zu Gepi-den und viel zu Alamannen.

Mit AJamannen hat sich der Autor dieses Beitrages mehrfach ausführlich beschäf-tigt320; kurz zusammengefaßt, ergabt sich folgender Befund. Bekannt sind mittlerweile

I" KARI FRJEDJUCH STROH , Die geschichtliche Stellung der ostgermanischcn Staaten am Mittelmeer,in: Sacculum 12, 1961, S. 139-157, S. 146; wieder abgedrückt in: DEKS., Germanentum und Spätantikc»Zürich 1965, 5,101-133. S113; BIERBRAUER, Frühgcschichtliche Akkultutationsprozesse (wieAnm. 298) S. 102-104.

11 BitfcÄRAUEK (wie Anm. 290} S. 56-58.TOUU-KAM (wie Anm. 1) S. 352-360, S. 360.

!* l>t;cwic SCMMIITT, Die letzten Ostgoten (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften,Jahrg 1943, phii.-hiw. KL Nr. 10) Berlin 1944.

14 \Vou KAM (wie Anm, 1) S, 249.3<* Zürn jüngeren <>st£otischcn Fundstoff: BIULBKAULR (wie Anm. 290) S. 108-114."· VCx/uRAM {wie Anm. 1) S. 278 und 300,«* Mbd. S. 301 und 32l f€»" Ebd. S.31B.

'"* Kbd. S. 301 und 317.'··" YUUU.R BiLüjULAUJtJt, AUiionfihcht: Funde der frühen Ostgorenzett au» OhcriuHm, in: GM>KC

L'u&irr (Hgg.;, Studien zur vor- und frubgctchichtlichcn Archiiologic Festschrift

Page 102: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

152 Volker Bierbrauer

sieben Fundorte mit Grabfunden, die sich wegen formenkundlicher, vor allem abertrachtgeschichtlicher Bezüge gesichert mit dem alamannischen Siedelgebiet Süd-westdeutschlands verbinden lassen und nicht mit ostgotischen Gräbern verwechseltwerden können; chronologisch gehören sie in das späte 5. und frühe 6. Jahrhundert,also in die Theoderich-Zeit. Fünf der Fundorte mit alamannischen Frauen- und Män-nergräbern liegen in Oberitalien nördlich des Po in der östlichen Lombardei undin Venetien. Dieser archäologisch gut geklärte Sachverhalt für diese alamannischenPersonenverbände läßt sich nun interdisziplinär mit zeitgenössischen Schriftquellenvergleichen; sie sind altbekannt, aber in ihrer Aussage entweder vage oder falsch.Konkret geht es 1. um den Schutz von Alamannen vo^r dem Zugriff der Frankennach einem gescheiterten Aufstandsversuch (Brief Theoderichs an Chlodwig 505/506;Cassiodor, Variae 11,41)321, 2. um Alamannen bzw. um alamannische Territorien, dieangeblich unter ostgotischer (Schutz-?) Herrschaft gestanden hätten (Ennodius, Pan-egyricus cap. 15 und Agathias, Historiarum Libri 1,6)322. Im ersten Fall ist nicht klar,wo territorial Theoderich den flüchtigen Alamannen Schutz gewähren konnte bzw.gewährt hat. Im zweiten Fall ist der panegyrische Lobpreis falsch, da die Alamanniaegeneralitas sich niemals unter ostgotischer Herrschaft befand; die Überlieferungen beiEnnodius und Agathias sind für Italien ohnehin ohne Belang323. Die archäologischnachweisbaren Alamannen in Oberitalien präzisieren nun zumindest ein, wenn nichtdas Fluchtgebiet der Alamannen. Ihre Fundorte innerhalb des Ostgotenreiches passengut zu den Formulierungen des in der ostgotischen Staatskanzlei in Ravenna ausgefer-tigten, offiziellen Schreibens von Theoderich an seinen Schwager Chlodwig über dasFluchtgebiet der Alamannen: ßnes nostri und pars, quam ad nos cognitispertinere; man kann,aber muß sie nicht mehr in der Raetia I und II oder in der Savia suchen324.

Gepidisches Trachtzubehör ist durch drei Fibeln von drei Fundorten in Italiennachgewiesen; durch engste formenkundlich-stilistische Kriterien sind sie mit einerFibelgruppe der Zeit um 500 und des 1. Drittels des 6. Jahrhunderts im gepidischenTheißgebiet verbunden. Da Trachtzubehör nicht verhandelt wurde und wohl auchkeine gepidischen Goldschmiede 'fremde* Fibeln in Italien fertigten, waren ihre Träge-rinnen Gepiden325.

IX. WESTGOTEN IM 5.-7. JAHRHUNDERT

1. Westgoten zwischen 376 und 418

Das Erlöschen der westgotischen Sintana de Mure§-Kultur am Ende der jüngerenKaiserzeit (C3-jung; 370/380) korrespondiert mit dem Abzug der terwingischen Vesi-

für Joachim Werner, München 1974, S. 559-577; DERS. (wie Anm. 285) und HERMANN BÜSING-AN-DREA BüsiNG-KouBE-VOLKER BIERBRAUER, Die Dame von Ficarolo, Prov. Rovigo, in: Archeologia Me-dievale 20, 1993, S. 303-332, S. 318-332.

321 Die Quellen u. a. bei BIERBRAUER (wie Anm. 295) S. 160-163.322 Ebd. S. 161-163.323 Sie werden mit unterschiedlichen Bewertungen für die Nordausdehnung des Ostgotenreiches benutzt:

vgl BIERBRAUER (wie Anm. 321) und zuletzt WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 315 ff.324 Literatur bei BIERBRAUER (wie Anm. 295) S. 161 ff.325 BIERBRAUER (wie Anm. 290) S. 125 f.; Nachtrag: DERS. (wie Anm. 285).

Page 103: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 153

goten aus ihren alten Stammessitzen bzw. mit ihrer Aufnahme im römischen Reichdurch Kaiser Valens; nun vollends im Blickpunkt des Imperiums als Reichsangehörigemit jeweils neuen föedera und wechselnden Landzuweisungen und mit im reinstenWortsinne verheerenden Folgen für das Ostreich (bis 401) und das Westreich (bis418), ist die Geschichte der 42jährigen westgotischen Wanderzeit detailliert erzähl-bar326. Selbst in Grundzügen braucht diese hier nicht memoriert zu werden, da fürsie — vielleicht mit einer Ausnahme — keine positive archäologische Evidenz erweisbarist. Dieser Negativbefund ist nicht verwunderlich, da es nirgendwo zu einer längerandauernden 'Siedeltätigkeit' kam; die mit Abstand längste Verweildauer sind jeneneun Jahre nach atmfoedus von 382 im Norden der Diözesen Dacia und Thracia, alsoim heutigen Nordbulgarien, alles andere ist Mobilität, sind Wander- und vor allemPlünderungszüge. Angesichts dieser Konstellation scheidet die Anlage von längerfristigbenützten Nekropolen aus; aber auch dies ist Vermutung, da die Grabsitte der Vesigo-ten nach 375 unbekannt ist. Auch sie können Ende des 4. und im 5. Jahrhundert —wie andere Ostgermanen, so auch die Ostrogothen — nur Angehörige ihrer Ober-schicht mit 'Beigaben* in Einzelgräbern und kleinen separierten Grabgruppen beige-setzt haben; ihre Auffindung wäre wegen der hohen Mobilität reiner Zufall, und auchdann wäre es sehr die Frage, ob solche (Frauen-)Gräber angesichts der oben beschrie-benen Internationalität ostgermanischen Fundstoffs (S. 137 ff.) ethnisch-stammesbe-zogen interpretierbar wären.

Ein solcher Zufall ist das Frauengrab von Villafontana bei Verona, das leiderohne Kenntnis der Fundumstände bereits 1888 entdeckt wurde327; erhalten ist einSilberblechfibelpaar, kennzeichnend für die ostgermanische Tracht und Frauengräberder Stufe Dl (etwa 370/380-400/410)328. Das möglicherweise nicht vollständige In-ventar ist zugleich der älteste (ost-)germanische Grabfund in Italien329. Deswegenund wegen seiner Zeitstellung kann die aus dem Donauraum (oder auch von derSchwarzmeerküste) stammende und in Italien fremde Dame interdisziplinär mit denMigrationen der Alarich-Goteri zwischen 401 und 402 oder 408-410/412, so auch inOberitalien330, zusammenhangen; gesichert ist dies nicht.

2. Westgoten im tolosanischen Reich (418—507)

Wie die 40jährige Migrationszeit ist auch die Geschichte des tolosanischen Rei-ches, des bedeutendsten 'Nachfolgestaates' des weströmischen Reiches im 5. Jahrhun-den, in fast allen wesentlichen Bereichen durch Schrift quellen gut bekannt, vorallem seine politische Geschichte, das Verhältnis der Goten zur romanischen Bevölke-rungsmehrheit und die Etappen seiner territorialen Erweiterungen331; unter Eurich

*> WOLFÄAW (wie Anm. 1) S. 125-177.*** \touc*R BitRBRAULÄ, Das wtstgoüschc Fibdpaar von VülÄJfontana, in; OTTO VON HESSEN; l Ritrova-

mcna barbana neue coüeziüm civiche vcroncsi dd Mu$co di CastcUvecchio, Verona 1968, S. 75-82;zuletzt DEKV (wie Anm. 285).

126 BftwsRAüEK (wie Anm. 185) & 569 ff.w' BiEKURAUi* (wie Anro. 285).JV' Vfou-ftAM (wie Anm. 1} S. 158 ft351 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 8-248; DftrwcH Cuaurt» Geschichte 4er Westgoten, Stuttgart u.a. 1971),

S. 28-53; Miora. Ruua«e, L'Aquitaine de* WMgoCh» «Ä Arabe», Pfcm 1979.

Page 104: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

154 Volker Bierbrauer

(466-484) umfaßte der Gotenstaat fast die gesamte gallische Präfektur mit dem Ziel„einer geschlossenen Patria Gothorum mit der 'nassen Grenze' Loire, Rhone, Du-rance gegenüber dem übrigen Gallien, mit den Seealpen gegenüber Italien und deroffenen iberischen Halbinsel als gotischem Hinterland"332. Weitgehend unklar bleibenjedoch die Zahl der tolosanischen Goten - geschätzt zwischen 100000 und 200000,sehr wahrscheinlich um die 100000 - und die Siedelverhältnisse333. „Die gotischen'Gäste* hinterließen kaum Spuren in der Sprache und in den Ortsnamen und nochweniger in den archäologischen Funden Aquitaniens."334 Die offenkundigen Problemeder Sprachwissenschaft335 sind nicht Gegenstand dieser Arbeit, wohl aber die archäo-logische Hinterlassenschaft der Westgoten.

Durch die lange Existenz des tolosanischen Westgotenreiches von mehr als dreiGenerationen sind alle Voraussetzungen zu ihrem archäologischen Nachweis ge-geben, sei es durch Einzelgräber und Grabgruppen oder durch große Friedhöfe; diehier Bestatteten müßten - zumindest in der Frühzeit, da noch ohne die Akkultura-tionsproblematik — in einer völlig anders gearteten romanischen Umwelt ethnisch alsgermanische Fremdgruppen gut erkennbar sein, auch entfallen Probleme der Fein-chronologie bei 90 Jahren. Die archäologische Grundkonstellation wäre somit prinzipi-ell vergleichbar mit der der Ostgoten in Italien oder mit der im spanischen Westgoten-reich (S. 155 ff.).

Dennoch kann von einer archäologischen Hinterlassenschaft der tolosanischenWestgoten keine Rede sein; ihr Nachweis ist nicht möglich. Konnte man noch langeZeit - so wenig wahrscheinlich dies auch war - darauf hoffen, daß der betreffendeFundstoff unerkannt und unpubliziert in südfranzösischen (Provinzial-)Museen la-gerte, so ist auch dies nach der Bearbeitung der Merowingerzeit Südwestgalliens nichtmehr möglich336; der Negativbefund ist real. Hieran ändern auch sehr wenige Fund-stücke des 5. Jahrhunderts — in der Regel Fibeln — von nur etwa einem halben DutzendFundorten nichts337, so etwa drei Fibeln von Herpes und Monsegur338 oder der Streu-fund eines Kammes der Zeitstufe C3-jung-Dl (etwa 350/360-400/410) aus demmerowingerzeitlichen großen Gräberfeld von La Turraque-Beaucaire-sur-Bai'se(Gers)339. Die eindeutig westgotischen Grabfunde in der Narbonnensis I bzw. in Septi-manien - etwa die große Nekropole von Estagel, Dep. Pyrenees-Orientales340 oder

332 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 194.333 Ebd. S. 229 ff.334 Ebd. S. 229.335 Ebd. S. 231.336 EDWARD JAMES, The Merovingian Archaeology of South-West Gaul (British Archeological Reports,

Supplementary Series 25) Oxford 1977.337 KAZANSKI (wie Anm. 2) S. 91-95; JAMES (wie Anm. 336) S. 196.338 Zuletzt: MICHEL KAZANSKI, La diffusion de la mode danubienne en Gaule (fin du IV* siecle - debut

du Vlc siecle): essai d'interpretation historique, in: Antiquites Nationales 21, 1989, S. 59-73, S.-67Abb. 6,1—2; DERS., A propos de quelques types de fibules ansees de l'epoque des grandes invasionstrouvees en Gaule, in: Archeologie Medievale 14, 1984, S. 7-27, S. 27 Taf. 1,7-8.

339 MARY LARRIEUX-BERNARD MARTY-PATRICK PERIN, La necropole merovingienne de La Turraque, Beau-caire-sur-Baise (Gers), Toulouse 1985, S. 257-268.

340 RAYMOND LANTIER, Le cimetifcre wisigothique d'Estagel, in: Gallia 1,1,1943, S. 153-188 und 7,1,1949,S. 55-80.

Page 105: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 155

im Dcp. Herault341 — sind hingegen Zeugnisse aus der Zeit des spanischen Westgoten-reiches* zu dem auch Septimanien gehörte342.

Dieser Negativbefund ist nach meiner Meinung nicht erklärbar, und der Streit„der Nachkommen über ein mageres Erbe"343 befriedigt bislang keineswegs. Die meistgebrauchte Erkiärungsmöglichkeit, daß die Gräber der eingewanderten Westgotennicht von denen der Romanen zu unterscheiden seien344, entbehrt jeder methodischenBeweiskraft und ist spekulativ. Stets sind Einwanderer in einer fremden Umgebung,erst recht bei Überschichtungsvorgängen, archäologisch nachweisbar, wobei nur aufdie Goten der Kaiserzeit selbst oder auch auf die Langobarden und die Franken inGallien345 verwiesen zu werden braucht. Genausowenig überzeugt, die Masse der Go-ten, also das Gotenheer, in den Städten wohnen zu lassen, wo sie dann, früh romani-siert, archäologisch ebenfalls nicht mehr nachweisbar wären346. Es muß bei der Fest-stellung bleiben, daß weder die landnehmende Gotengeneration des foedits von 418noch die folgenden Generationen archäologisch nachweisbar sind; Edward James for-mulierte zutreffend: ,>Ohne historische Quellen könnte kein Archäologe die Ansied-lung der Westgoten in Aquitanien von 418—507 vermuten."347 Dieser seltsame Befund,den ich nicht zu erklären vermag, gerät vollends zum archäologischen Miraculum,wenn man bedenkt, daß die ab Ende des 5. Jahrhunderts in Spanien landnehmendenGoten wiederum archäologisch nachweisbar sind; konkret formuliert bedeutet dies:Man kennt archäologisch die Einwanderergeneration in Spanien mit einer spezifischenGrab- und Beigabensitte, nicht jedoch dieselbe Generation, die aus dem westgotischenGallien auswanderte, ein wahrhaft einmaliger Befund. Die einzig verbleibende Mög-lichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, wäre, daß die in Spanien landnehmendenWestgoten in ihrer ersten Generation (noch) 'beigäbenlos' bestattet wurden und dann(erst) zur 'Beigabensitte' übergingen; daß dem nach meiner Meinung nicht so ist, wirdim folgenden Abschnitt darzulegen sein.

3. Das spanische Westgotenreich (507-711)

Bereits seit 494 und 497, vielleicht schon seit 483, erfolgten nach Angaben inden Schriftquellen die ersten westgotischen Einwanderungen auf die iberischeHalbinsel. Zwar war der größte Teil Spaniens mit den Provinzen Tarraconensis, Car-thaginensis und Lusitania bereits 469/473 unter gotische Herrschaft geraten, damit

D. RouQurrrE, Les parurcs wistgothiques de Matseülan (Herault), in; Revue archeologique de Narbon-naisc 2, 1969, S. 197-205.JAMLS (wie Anm. 336) S. 170f,, 196f£, 247ff. mit Abb. 47 S. 244. Irreführend hierzu die Äußerungenvon RJPOU. (wie Anm. 2) S* 85, wo nicht ausreichend zwischen Septimanien der spanischen Westgoren-zdt und dem westgotischen Gallien getrennt wird.Wou IUVM (wie Anm- 1) S. 229.Z. B. KAZAK$KJ (wk Antn. 2) S. 92.Langobarden: BfLR&RAUF.R (wie Aam. 284). — Franken: HERMANN AMHNT, Franken und Romanen imMerowingerreich als archäoJogiedbrs Foachu^gsproblcm, in: Bonner Jahrbücher 178,1978, S, 377-394.JAMI.V (wie Anm. 336) S. 198,HuwAüft JAMKS, Les, proUcmcns arch^ologiqucs du »ud-ouest wisigothtque et franc, in: PfjUN (Hg,) (wieAnm. 179} S. 149, - Eine kennzeichnend we&tgtm&che Architektur und SteJnrnetzkun&t gibt es ebenfallsmcht: vjjl. /ulct*t <ii« kritischen Bemerkungen von Miciio. ROUCH*, WUigoths et Franc» en Aquiunie.Etat de h qatsoon et pc&pecnveft, in: ebd. &, 143*·148.

Page 106: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

156 Volker Bierbrauer

scheint aber keine gotische Landnahme verbunden gewesen zu sein348; Gleiches giltfür die militärischen Unternehmungen nach 456349. Diese und politische Oberhoheiteinerseits sowie gotische Siedlung andererseits sind strikt zu trennen. Für die Archäo-logie der Westgoten sind somit die ersten regelrechten Einwanderungen nach Spanienerst in den letzten beiden Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts im interdisziplinären Ver-gleich als terminus ante quem non von Belang350, die einen weiteren Höhepunkt nachder verlorenen Schlacht der Westgoten gegen die Franken 507 bei Vouille nahe Poitierserfuhren: Regmtm Tolosanwn destructus est (Chronica Caesaraugustana, a. 507); wegen derunvollständigen Eroberung Aquitaniens durch die Franken erfolgte weiterer Zuzugvon in ihrer alten Heimat verbliebenen Goten auch noch bis 53l351. Nur das wirt-schaftlich bedeutsame Septimanien mit den Städten Narbonne, Nimes und Carcas-sonne blieb auch weiterhin Bestandteil des spanischen Westgotenreiches352.

Wichtig für den Archäologen ist ferner zu erfahren, was die Schriftquellen überdie Siedelgebiete der Westgoten auszusagen vermögen. Die suebischen Siedelgebieteim Nordwesten der iberischen Halbinsel, die erst 585/586 gotisch wurden, und diebyzantinischen Eroberungen im Süden und Südwesten ab 522, die erst 570/572 aufeinen schmalen Küstenstreifen zurückgedrängt wurden, können ausgeklammert wer-den, da sie — wie sich zeigen wird - für die Archäologie der Westgoten ohne Belangsind. Wie im tolosanischen Reich kann der Historiker zum Siedelbild nichts Verläß-liches beitragen außer dem Hinweis, daß „sich vornehme Goten schon früh in denStädten niederließen" und „daß der westgotische Adel im Land verstreut wohnte,wobei die Umgebung von Cordoba und Merida bevorzugt wurde"353; über die vomAdel getrennte gotische 'Landsiedlung' erfährt man nichts. Auch hier ist — wie inAquitanien — der Historiker gezwungen, auf die Ortsnamensforschung und die Ar-chäologie zu verweisen. Da aus den 80 germanischen Toponymen von Ernst Gamill-scheg mit einer Konzentration ohnehin im Nordwesten der Halbinsel mittlerweile fastkeine mehr als gesichert gotisch gelten können, scheidet auch diese Überlieferungweitgehend aus354. Auch über die Zahl der Westgoten läßt sich - wie meist - nurspekulieren, ebenso über die der Romanen355.

Ansonsten ist die Geschichte des spanischen Westgotenreiches wegen .einer reich-haltigen Quellenüberlieferung in allen Bereichen sehr gut erforscht: politische Ge-schichte, Prosoprographie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Kirchengeschichte unddamit zugleich auch das Verhältnis der Westgoten zur Provinzialbevölkerung mit ein-schließend356; Gleiches gilt für die Kunstgeschichte357. Aus der Fülle des hierzu gesi-

348 CIAUDE (wie Anm. 331) S. 59; WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 190, 193, 196.™ CLAUDE (wie Anm. 331) S. 32 ff.; WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 190.350 Anders RIPOLL, so z. B. (wie Anm. 2) S. 235 (gotische Siedlung in Spanien schon zur Zeit Eurichs).351 WOLFRAM (wie Anm. 1) S. 246 ff.352 Ebd. S. 245 ff.353 CLAUDE (wie Anm. 331) S. 61.354 GERD KAMPERS, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich in Spanien, Münster 1979, S. 172-

176. /3*5 CLAUDE (wie Anm. 331) S. 61.356 Vor allem durch die Arbeiten von D. Claude, E. A. Thompson, K. Schäferdiek, K. F. Stroheker und

L. A. Garcia Moreno: vgl. die einschlägigsten Titel nach 1970 (CLAUDE [wie Anm. 331]) bei DE PALOL—RIPOLL (wie Anm. 2) S. 280 ff.

357 SCHLUNK—HAUSCHILD (wie Anm. 298); zuletzt zusammenfassend ACHIM ARBEITER, Aspetti delTarte inSpagna, in: I Goti (wie Anm. 272) S. 328^347.

Page 107: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie ujfid Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 157

cherten Wissens ist für den archäologischen Kontext nur die Konsolidierung undErneuerung des Westgotenteiches unter Leowigild (568/569—586) von Bedeutung, der„nicht nur nach außen durch zahlreiche Feldzüge und kluge Diplomatie den Westgotenihre Machtstellung wiedergab, sondern auch im Inneren eine staatsmännische Tätigkeitentfaltete, die einer Neugründung des Reiches gleichkam"358. Außer in der Unterwer-fung des Suevenreiches (585/586) und der Zurückdrängung der Byzantiner im Süden(570-572) äußert sich dies vor allem in drei Punkten:

1. Dies ist zunächst die Umgestaltung des westgotischen Königtums nach impe-rialen Gesichtspunkten. Die zuvor getragene \vestgotisch-gentile Tracht wird aufgege-ben; an ihre Stelle treten nach spätrömisch-byzantinischem Vorbild Königsornat undThron. Ab 575 werden Goldmünzen mit dem Bild und Namen des jeweiligen westgo-tischen Herrschers geprägt (oft mit Diadem, Krone oder Helm)359. 578 wird in Inner-spanien die Stadt Reccppolis gegründet, benannt nach dem zweiten Sohn LeowigildsReccared; als erste Stadtgründung eines germanischen Königs sollte sie die Hauptstadtdes Reiches werden360.

2. Bei der innenpolitischen Neuordnung wird mit Hilfe der Gesetzgebung zumeinen die Sonderstellung der Goten gegenüber den Romanen weitgehend zurückge-nommen und zum anderen das Eheverbot zwischen beiden Bevölkerungsgruppenaufgehoben. Die Romanisierung der Goten wird damit genauso nachhaltig gefördertwie

3. durch die konfessionelle Einigung, denn unter Reccared I. (585—601), demNachfolger Leowigilds, traten die arianischen Westgoten zur Orthodoxie über361.

Der reichhaltigen schriftlichen Überlieferung mit einem vielfaltigen Wissen überdie Geschichte der Westgoten in Spanien entspricht eine weitgehend befriedigend zunennende archäologische Quellenlage, die tragfahige Ergebnisse und s.omit ei-nen interdisziplinären Vergleich ermöglicht. Zwar fehlt nach dem beeindruckendenund in chronologischer wie kulturgeschichtlicher Hinsicht nach wie vor weitgehendzutreffenden Standardwerk von Hans Zeiss von 1934362 eine systematische Neubear-beitung, doch ist durch die Publikation weiterer, Zeiss noch unbekannter Gräberfelder,vor allem der großen Nekropole von Duraton, Prov. Segovia in Kastilien363, demArchäologen ein ausreichend einsetzbares Arbeitsinstrumentarium an die Hand gege-

3SÄ KARL FFULDRICH STROHEKER, Leowigild, 10: Die Welt als Geschichte 5,1939, S. 449,350 Zuletzt: MIQUEL CRUSAJONT i SABATER, Monete suche e visigote, ini l Goti (wie Anm. 272) S. 348-

356; G. C. MILES, The coinage of the visigoths of Spain. Leowigild to Achila 11, New York 1962, S. 43-46; XAVILR BARRAL i ALTET, La circulation des monnaies sucves et visigothjqucs (Beihefte der Francia4) München 1976, S. 53 f£

3W* DJETWCH OLAUDE, Studien zu ReccopBs, in; Madrider Mitteilungen 6, 1965, S. 167-194; KLAUS RAI>-UATZ, Rcccopoüs, Eine wcst^otbche Stadt in Kasülien, in: Vor- und Frühformen der europäischen Stadtim Mmelahet. Symposium Rcinhattsen 1972, Teil l, Göttingen 1973, S 152-162; zuletzt: LAURO OLMOENRKO, La ciudad de Recopolis y e! habitat en la zona central e la pcninsola ibcrica dünnte U epocavjsigoda, in: PfeRiN (Hg.) (wie Anm. 179) S. 71-81.

»»* CLAÜDL (wie Anm. 331) S66fC; DIRS., Geotfle und terrhooale Staauidee« im Wcs^tenreich, in:Fri&mJrtelaltefüche Studien 6, 1972, S. 1-38; DEHN., Adel, Kirche und Königtum im WestgotenrcichfVVjrträgc und Ftxr»chuftgen, Stmderband 8) Sigmaringen 1971, S. 55-91.

^ HAN* Zuss, Dtc Grabfunde aus dem &pam*chcn Wcs^otenrekh» Berlin-Leipaiig 1934.*'* 7M Duraton arulcrzt mit der OrigjnalHarran«·; Gfiu> Kt?i:Nio s.v. Duraton, in: Reallcxikon der Gcrmani·

»eben Altrmimskunde 6, BcrUn-New York 198$, S. 284-294.

Page 108: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

158 Volker Bierbrauer

ben364. Für belegungschronologische Studien ist die Nekropole von Duraton mit 666Gräbern und mehr als 1000 Bestattungen leider nur teilweise benutzbar, da nur dieersten 291 Gräber mit einem numerierten Gräberfeldplan publiziert sind (Duraton I),die anderen ohne Plan (Duraton II)365; entscheidend ist aber, daß diese wichtige Ne-kropole durch das Kombinationsverfahren (Vergesellschafrungspfinzip) relativchrono-logisch dennoch gut auswertbar bleibt. Auf dieser methodischen Grundlage — mitBerücksichtigung weiterer Gräberfelder mit geschlossenen Grabfunden, darunter vorallem Madrona mit 347 Gräbern366 und Carpio de Tajo mit 272 Gräbern367 - läßtsich eine verläßliche relative Chronologie für die archäologische Hinterlassenschaft derspanischen Westgoten entwickeln. Nach der Arbeit von Hans Zeiss und einem Ver-such des Verfassers in einem anderen Kontext liegt eine" solche in publizierter Formdetailliert begründet jedoch noch nicht vor368. Die auf der Grundlage ihrer unpubli-zierten Doktorarbeit369 von Gisela Ripoll mehrfach veröffentlichte relative und abso-lute Chronologie370 ist wegen nur summarischer Begründungen noch nicht ausrei-chend nachprüfbar; soweit beurteilbar, scheint sie zu grob und nach meiner eigenenDurcharbeitung des spanischen Fundstoffes in Teilen auch nicht richtig zu sein. ImRahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, die von mir erarbeitete Chronologie vorzu-legen371; die entscheidenden Abweichungen zu dem Chronologieschema von G. Ripollwerden - soweit sie für den Kontext dieser Studie relevant sind -*· genannt.

Wie oben ausgeführt, sieht sich der Archäologe mit dem absonderlichen Befundkonfrontiert, die Abwanderergeneration im tolosanischen Reich in den letzten beidenJahrzehnten des 5. Jahrhunderts und der Zeit um 500 nicht zu kennen, wohl aber —nach meiner Meinung - die Einwanderergeneration in Spanien zu dieser Zeit. IhrNachweis bereitet prinzipiell, also zunächst in ethnischer Hinsicht, keine Probleme,da sich die Westgoten durch eine kennzeichnende, weil sehr spezifische Grab-und Beigabensitte leicht von ihrer romanischen Umwelt unterscheiden lassen undauch von vereinzelt nachweisbarem älterem germanischen Fundstoff in Spanien, dervielleicht mit den militärischen Unternehmungen der Westgoten zusammenhängen

364 GERD KOENIG, Zur Gliederung der Archäologie Hispaniens vom fünften bis siebten Jahrhundert, Magi-sterarbeit Freiburg 1977 (ungedruckt; 309 Seiten, dazu 24 Seiten Literaturverzeichnis) und zahlreicheArbeiten von GISELA RIPOLL aus den letzten Jahren: zuletzt mit Nennung ihrer anderen Arbeiten:Materiales funerarios de la Hispania visigoda: problemas de cronologia y tipologia, in: PERIN (Hg.) (wieAnm. 179) S. 111—132. Ihre umfangreiche Doktorarbeit von 1986 ist leider noch ungedruckt, vgl. vor-erst den zusammenfassenden Auszug: GISELA RIPOLL LOPEZ, La ocupacion visigoda en epoca romanaa traves de sus necropolis (Hispania). Col. leccio deTesis Doctorals Microrfitxades num. 912, Barcelona1991.

365 ANTONIO MOLINERO PEREZ, Aportaciones de las excavaciones y haUazgos casuales (1941-1959) al Mu-seo Arqueologico de Segovia (Excavaciones Arqueologicas en Espana) Madrid 1971, S. 19-49 mitTaf. 1-61. Unnumerierter Gräberplan bei KOENIG (wie Anm. 363) S. 290 ff. und DERS. (wie Anm. 364)passim.

** KOENIG (wie Anm. 364) S. 49-64.367 GISELA RIPOLL, La necropolis visigoda de el Carpio de Tajo (Toledo), Madrid 1985.368 ZEISS (wie Anm. 362); BIERBRAUER, Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse (wie Anm. 298) S. 92 ff.369 Vgl. Anm. 364.370 Zuletzt RIPOLL, Materiales funerarios (wie Anm. 364); vgl. auch WOLFGANG HÜBENER, Temoins archeo-

logiques des Wisigoths en Espagne, in: PERIN (Hg.) (wie Anrn. 179) S. 133-139 mit Abb. 1.371 Diese ist für eine ausführliche Studie in Vorbereitung.

Page 109: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 159

kann3725 und auch von solchem^ der wahrscheinlich wandalisch ist373. In diesem anders

gearteten kulturellen Unifeld werden unvermittelt und fremdartig große Gräberfelderangelegt, in denen die "Verstorbenen in West-östlich ausgerichteten Erdgräbern bestat-tet werden. Entscheidender ist die 'Beigabensitte*: die Frauen werden in ihrer Trachtbeigesetzt, regelhaft bestehend aus einem großen Bronzefibelpaar an beiden Schultern,gelegentlich noch mit einer kleineren dritten Fibel in Brustmitte bzw. unter dem Hals(Armbrustfibel)374 und mit einer großen Gürtelschnalle mit rechteckiger Beschlag-platte im Becken für einen sichtbar getragenen Leibgurt, dazu mit Schmuck aus Perlen-kette, Ohrringpaar, Armreifpaar und Fingerring (Fig. 34.1-5; 35.1-4; 36); 'echte' Bei-gaben in Form von Speise- und Trinkgeschirr fehlen. Die Männergräber sind - vonsehr wenigen Ausnahmen abgesehen — waffenlos; da in der Regel anthropologischeUntersuchungen fehlen, sind sie unter jenen Bestattungen zu suchen, die nur eineSchnalle ohne Beschlag, meist mit Schilddorn, für einen schmalen Leibgurt enthalten,gelegentlich dazu noch ein Messer.

Diese spezifische Bestattungssitte ist gentil-gotisch, wobei hierfür allein schonder Hinweis auf die Waffenlosigkeit in den Männergräbern und die unterschiedliche'Beigabensitte' bei Mann und Frau seit dem 1. Jahrhundert im gesamten gotischenSiedel- und Wanderbereichgenügen würde. Hinzu kommt die Zusammensetzung unddie Trageweise des Trachtzubehörs bei der Frau, einschließlich der auf den Schmuckreduzierten Grabausstattung, wie sie für die Ostgoten in Italien (und auch für dieKrim-Goten) kennzeichnend ist375; ebenso werden — wie in Italien — Adlerfibeln inder Frauentracht getragen376. Bemerkenswert ist auch die enge formenkundliche Ab-hängigkeit der ältesten Fibeln in Spanien, der Blechfibeln (Fig. 35.1—4), von silbernenExemplaren in ostgermanischen Frauengräbern des Donaugebietes im 2. Viertel des5. Jahrhunderts (S. 137£). Da mit Ausnahme der Anlage großer 'Reihengräberfelder'Beigabensitte, Tracht und deren Typen den übrigen germanischen Stammesgebietenzudem völlig fremd sind, bestehen keinerlei Zweifel an der ethnischen Bewertung derso Bestatteten als westgotisch.

Die relativchronologische Gliederung von mehreren hundert geschlosse-nen Grabfunden mit Hilfe des Vergesellschaftungsprinzips (Kombinationsverfahren)ergibt fünf aufeinanderfolgende, mehr oder minder stark miteinander verzahnte Stufen( — 7)377. Die Stufen l—III sind gekennzeichnet durch die obengenannten gentil-goti-schen Merkmale, also durch die Bestattung der Frauen mit Fibelpaar und Gürtel-

572 GERD G. KOLKIG, Archäologische Zeugnisse wcstgcmscher Präsenz im 5. Jahrhundert, in: MadriderMitteilungen 21, 1980, S. 220-247.

'~* GERD G. KOENIG, Wandalische Grabfunde des S. und 6, Jhs., in: Madrider Mitteilungen 22, 1981,S. 299-360.

**4 So schoa juuo SANTA-OLAUA, Zur Ttagcweise der Bügelfibcl bei den Westgoten, in: Germa-nia 17, 1933, S. 47-50; ferner z. B. BIEKBKAUEK. (wie Anro. 295) S. 136C - Wie die Gräbcrfcldsittc »uerklären ist, ist offen: vgl BUJCBRAUEK (wie Antn. 3) S. 34.

*** So schon Zu« (wie Anm. 362) S. 99 f. und WERNER (wie Anro. 293).r6 juuo MAJRTIKEZ SANTA-QLMIA, Wcstgotische Adler6bein aus Spanien, in: Germania 20, 1936, S. 47-

52; MARIA oa. CARMEN P*4tco FÜRNANDEZ DEL CAMPO. Nucvas fibuln aquiUCormc* del ccntro deE&pana, in: Acts» do U €ongrcs«o NacionaJ de Angueoiogia, Coimbra 1971, S. 535-541.

•w V^. Anm. 371.

Page 110: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

160 Volker Bierbrauer

Fig. 34 Lage des Trachtzubehöres im westgotischen Gräberfeld von Duraton (Spanien): Gräber 526 (1),79 (2), 176 (3), 192 (4), 75 (5), 76 (6), 229 (7). Nach KOENIG (wie Anm. 364).

Page 111: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 161

6

Wc&tgoifcchc* GcübeifcUi vi>o Domtp» in Ka&tüicn (Spanien): Gräber 526(1), 79(2), S25 (3).5S3 (4), 344/5), 331 (6). Nach MOUNIJSO Pfou* (wie Anra. 36Sj j>a*Äim.

Page 112: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

162 Volker Bierbrauer

LA TOREUTICA VISIGODA DE LA PENIN8ULA IBERICA 8IGLO8 V - V I I I . -

Fig. 36 Chronologie-Schema der westgotischen Gräberfelder in Spanien nach G. Ripoll; durch Rasterungist aus Stufe II der älteste Fundstoff in Spanien hervorgehoben, der als Stufe I zu bezeichnen ist. Nach

RIPOLL, Materiales funerarios (wie Anm. 364) S. 120 Abb. 1.

Page 113: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 163

schnalle; die beiden jüngsten Stufen (IV—V) sind gut erkennbar durch das Fehlendieses Trachtensembles, an dessen Stelle mediterranes Gürtelzubehör tritt, fernerdurch die Frauengräber, die nur noch mit Schmuck ausgestattet sind und — belegungs-chronologisch nachweisbar — durch die gehäufte Beigabenlosigkeit der Bestattun-gen"*.

Die Stufe I ist eindeutig die älteste, und mit diesen Gräbern setzt auch die Bele-gung in den westgotischen Nekropolen ein. Es gibt keine gesicherten Anhaltspunktefür eine noch ältere Phase, die kombinationsstatistisch eventuell nicht zu fassen wäre,also dann im wesentlichen aus Grabern bestehen müßte, in denen die Verstorbenenbeigabenlos bzw. die Frauen ohne Trachtzubehör bestattet worden wären; Vermutun-gen in dieser Hinsicht, die wegen der Beigabenlosigkeit der westgotischen Gräber imtolosanischen Reich natürlich bedenkenswert sind, wurden geäußert, so von GerdKoenig379 und Gisela Ripoll380. Stufe I ist gut erkennbar durch ein dichtes Vergesell-schaftungsnetz von Grabfunden, bestehend aus folgenden Typen des Trachtzubehörs:Armbrustfibeln (Bronze und Eisen; Fig. 35.5—6), Bronzeblechfibeln der sog. donaulän-dischen Form, also mit Palmettenblechen um die Bügelenden, Seitenleisten und vogel-kopfförmigen Appliken auf der Kopfplatte (Fig. 35.1—4), Gürtelschnallen mit meistgeometrisch verzierter Preßblechauflage (Fig. 35.3), der größte Teil der Eisenschnallenmir einem oder mehreren Cabochons (Fig. 35.2.4—6), und Bronzeschnallen mit be-stimmten kloisonnierten Beschlagplatten (Fig. 35.1); auch sind schon kleine Scheiben-fibeln vertreten. Alle diese Typen sind auch in Stufe II bei Frau Ripoll enthalten(Fig. 36)38t, in die aber auch noch andere Typen integriert sind, vor allem Bügelfibelnjüngerer Typen. Der beschriebene und nach meiner Meinung älteste Fundstoff ist inFig. 36 durch Rasterung kenntlich gemacht.

Der Fundstoff meiner Stufen II—III setzt sich aus den Typen jenes Trachtzube-hörs zusammen, das - jünger als meine Stufe I - noch in Stufe II bei Ripoll eingeord-net ist (Fig. 36, nicht gerastert), und aus ihrer Stufe III, wobei in Stufe III .u. a. diekerbschnittverzierten Bügelfibeln einzuordnen sind. Die Zusammensetzung der Stufen

1* BIERBRAUER, Frühgeschichdiche Akkulcurationsprozesse (wie Anm. 298) S. 94 mit Taf. III-V."̂ KOENIG (wie Anm. 363) S. 289 mit dem reichlich spekulativen Hinweis auf „Beisetzung ohne Tracht,

was einige tiefliegende und stratigtaphisch "alte*.Bestattungen ohne Beigaben ,.. vermuten lassen*1 und:„In diesen Horizont gehören aber auch Frauen mit bronzenen Armbrusrübelpaaren (später auch eiser-nen), kleinen Rechteckbcscblägen und Männer, gegürtet mit Schnallen an 'nierenformigera* Beschlag".Hierzu ist festzustellen: 1. eine der beiden nierenförmigen Schnallen aus Grab 189 ist ohne Beifunde,die zweite ist mit einer Armbrustfibel aus Bronze vergesellschaftet; 2. diese Armbrustfibeln aus Bronzeund Eisen sind kombinationsstatistisch voll in Stufe l verankert; 3. Gleiches gilt für die Schnalle mitkleinem kloisonaierten Rechreckbeschlag aus Frauengrab 565 (= Stufe ilJ), das zweite Exemplar ausGrab 286 besitzt keine Bcifunde. Hinzu kommt, daß auch die Belegungschronologie keinerlei Hinweisefür diesen Fundstoff vor Stufe I liefert (vgl etwa KDENIG, Abb. (58).

*" Der Hinweis bei G. fUrou in ihrer Doktorarbdt auf eine Jfase arcaica*4 ist nicht überprüfbar (wieAnm. 364, S. 5); wegen dieser Phase beginnt das Chronologieschcma auch mit Stufe U (vgl. hier Fig. 36).

** Zum Chronolog»e*chema vgj. RIPOLL, Mateaales runerarios (wie Anm, 364); DIES., Probleme* de Chro-nologie et de lypoiogjc a propos du mobiler funeraire raspano-wi$jgothique, in: CHRISTIAN LANDES(Hfc), Gaule merovingicnnc et monde mcdiicrranecn. Actes des IX* journ&rs d'Archeologie M£covin-gknne Latte», Monrpeilkt 1988, S. 10J-l 07; DIL&, Reflexion« «obre ar^ucologia funeraru, artesanosy produdori arustica de b Hit-pania Viiigoda, in: XXIV Corso di cultura suü'artc ravennate e bizantarta,ftax-cana 19 .̂

Page 114: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

164 Volker Bierbrauer

II—III im Sinne des Verfassers kann hier nicht näher erläutert werden382; es magder Hinweis genügen, daß diese weiterhin durch Bestattungen in gotischer Trachtgekennzeichnet sind. Den Übergang zur Stufe IV markieren u. a. einige wenige Inven-tare mit jüngeren gegossenen Fibeln, wie sie für die Stufen II-III üblich sind, nunaber bereits vereinzelt mit mediterranen Schnallen (Duraton Gräber 182, 400, 591) alsLeitformen der Stufe IV.

Absolutchronologisch sind Beginn und Ende der fünf Stufen in Spanienselbst nicht sicher datierbar, da anders als in den merowingischen Stammesgebieten einMünzspektrum für die westgotischen Gräber in Spanien fehlt; nur zwei Frauengräberenthalten eine Münze: Grab 526 einen Solidus nach Anastasius, geprägt unter Theode-rich (durchlocht und eingehängt in eine Perlenkette; Fig£ 35), und Grab 294 einenstempelfrischen Solidus des Anastasius aus der 1. Prägeperiode (491^492). Immerhinist Grab 526 ein kennzeichnendes Inventar der Stufe I; Gleiches gilt für eine derbeiden Bestattungen in Grab 294 mit zwei Armbrustfibeln und einem kloisonniertenGürtelschloß. Auch belegungschronologisch gehören beide Gräber zu den ältestenArealen der Nekropole, die sich kreisförmig nach allen Seiten von ihrem nördlichenMittelteil aus entwickelt383. Sie vermitteln einen terminus ad oder post quem in StufeI, mehr als Anhaltspunkte sind es aber nicht.

Dieses Defizit wird ausgeglichen durch die 'Außendatierung9. Eine große Zahlvon spanisch-westgotischem Trachtzubehör (einschließlich Septimaniens) gelangte inswestliche Frankenreich, sicherlich durch Mobilität der Person; meist aus Altgrabungendes letzten Jahrhunderts stammend, also leider regelhaft wegen nicht geschlossenerInventare und auch belegungschronologisch wegen fehlender Gräberfeldpläne zeitlichnicht näher einzuordnen384, kennt man nun Inventare aus modern gegrabenen fränki-schen Nekropolen, so z. B. aus Vicq (Yvelines) Grab 76 oder Nouvion-en-Ponthieu(Pas-de-Calais) Grab 140385. Neufunde wie Altstücke stammen meist aus Gräberfel-dern westlich der Somme aus dem Gebiet des ehemaligen Syagrius-Reiches, gehören

382 Zu einer weitgehend ähnlichen relativen Chronologie — vor allem zu dem ältesten Fundstoff— gelangtePABLO G. CIEZAR, Seriation de la necropole wisigothique de Duraton (Segovie, Espagne), in: Histoireet Mesures 5, 1990, S. 107-144.

383 BIERBRAUER, Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse (wie Anm. 298) S. 94 f.; KOENIG (wieAnm. 363) S. 289 („zwiebelschalenförmige" Entwicklung).

384 Z. B. ALFRED GÖTZE, Gotische Schnallen, Berlin 1907, S. 20 ff.385 Vicq: E. SERVAT, Exemple d'exogamie dans la necropole de Vicq (Yvelines), in: Association Frangaise

d'Archeologie Merovingienne, Bulletin de Liaison l, 1979, S. 40—46; das große Gürtelschloß ist werk-stattgleich mit dem von Grab 445 aus Duraton mit einem Blechfibelpaar der Stufe I. — Nouvion: DANIELPITON, La necropole de Nouvion-en-Ponthieu (Dossiers Archeologiques, Historiques et Culturels duNord et du Pas-de-Calais 20) (ohne Ort) 1985, S. 75 mit Taf. 31 (östlich der Somme, auch mit Gräberndes 4./5. Jahrhunderts). — Frenouville Grab 529 (südöstlich von Caen): CHRISTIAN PILET, La necropolede Frenouville (British Archaeological Reports, International Series 83,3) Oxford 1980, Taf. 125 und141 mit einem spanisch-westgotischen Armbrustfibelpaar vom Typ Estagel aus dem fränkischen Teilder Nekropole. Zu den spanisch-westgotischen Armbrustfibeln des späten 5. und frühen 6. Jahrhun-derts im Frankenreich: ScHULZE-DöRLAMM (wie Anm. 298) S. 643-650 und 689. - Zur Kontinuitäts-frage germanischer Nekropolen westlich und östlich der Somme vgl. HORST-WOLFQANG BÖHME, DieEingliederung des spätrömischen Nordgalliens in das Frankenreich, in: KURT BÖHNER (Hg.), Les rela-tions entre l'empire romain tardif, l'empire franc et ses voisins. Colloque XXX, IXe Congres. UnionInternationale des Sciences Prehistoriques et Protohistoriques, Nizza 1976, S. 71-87, bes. Karte Abb. 2.

Page 115: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom l .—7. Jahrhundert 165

also meistens nicht vor die Zeit Chlodwigs; sind sie — wie die Neufunde — datierbar,gehören sie in die Zeit um 500 oder ins frühe 6. Jahrhundert386.

Ohne die beiden spanischen Gräber mit Münzen und ohne den gesicherten zeitli-chen Bezug des spanisch-westgotischen Trachtzubehörs zum Frankenreich Chlodwigswäre es leicht möglich, die spanischen Bronzeblechfibeln mit Palmetten, Seitenleistenund vogelförmigen Appliken (Fig. 35) mit formenkundlich weitgehend übereinstim-menden ostgermanischen Silberblechfibeln der Stufe D2b (420/430-430/440) im Do-nauraum zu verbinden3&7 und sie auch in Spanien entsprechend früh zu datieren. Wiediese bemerkenswerte Abhängigkeit, die nicht zufallig sein kann, zu erklären ist, istunklar, da man die archäologische Hinterlassenschaft der Westgoten des 5. Jahrhun-derts ja nicht kennt. Als Zwischenglieder und Vorlagen kann man allenfalls auf diewenigen Silberblechfibeln der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts in Spanien verweisen, dievielleicht mit den westgotischen MiUtärunternehmungen zusammenhängen388; dieseund auch andere Silberblechfibeln aus etwa zeitgleichen ostgermanischen Grabfundenvon Fundorten außerhalb des tolosanischen Reiches389 wurden vermutlich auch vonWestgotinnen im tolosanischen Reich des 5. Jahrhunderts getragen, die aber — wieausgeführt — offenbar regelhaft ohne ihr Trachtzubehör beigesetzt wurden.

Stufe l ist in Spanien also die älteste, und mit ihr setzen auch die Gräberfelder ein;einen älteren, mit Blick auf das tolosanische Reich weitgehend durch Beigabenlosigkeitgekennzeichneten Horizont kann ich in der Struktur der Nekropolen belegungschro-nologisch nicht erkennen390. Die äbsolutchronologischen Anhaltspunkte verweisen aufdie Zeit um 500; seit Hans Zeiss ist diese Datierung des ältesten spanisch-westgoti-

3*> So z. B. auch Vicq Grab 576 und Nouvion Grab 140; vgl. ferner z. B. Fridingen, Kr. Tuttlingen Grab139: ALEXANDRA VON SCHNURBEIN, Der alamannische Friedhof bei Fridingen an der Donau, Stuttgart1987, S. 41 f. Ta£ 31.

367 BIERBRAUER (wie Anm. 185) S. 546 f£ - Dies tut auch CHRISTIAN PILET in: JEAN-YVES MARIN, Attila,les influences danubiennes dam Touest de TEurope au V* siede. Ausstellungskatalog Caen, Caen 1990,S. 94 ff., vor allem am Beispiel des Grabes 359 von Saint-Martin-de-Fontcnay; außer den sicher in dieChlodwig-Zeit datierbaren Analogien berücksichtigt er nicht» daß die Blechfibeln im Donauraum alleaus Silber bestehen, die spanischen und Ins Franken reich gelangten Exemplare hingegen alle aus Bron-zeblcch gefertigt sind, gelegentlich mit Silberblechauflage, und: die Gürtelschnallen im Donauraumunterscheiden sich alle von den in Spanien und Frankreich gefundenen Exemplaren. Es ist völlig un-möglich, daß die in Saint-Martin-de-Fontenay oder etwa auch in Vicq/Nouvion Bestatteten aus demDonauraum des 2. Viertels des 5. Jahrhunderts stammen. Von dort stammen hingegen die ostgermani-schen Damen aus den bekannten Grabfunden von Hochfelden bei Straßburg, von Airan im Calvadosund aus Ballcurc im Maconnais der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts, zuletzt abgebildet in MARIN* S. 67 ff.und KAZANSKJ, La difruskm (wie Anm. 337) mit z. T. falschen Bewertungen S. 67 mit Abb. 4,3-10.

>** Vgl. oben S 158 f. mit Anm. 372; ähnlich schon ZEISS (wie Anm, 362) S. 99.169 Z. B. Hochfelden, Airan und Bailcure: vgl Anm. 387.ytn Vgl Anm. 379-380. - Merkwürdig und mir nicht erklärbar ist aber, daß die im tolosanischen Reich

noch bis 507 bzw. 531 verbliebenen Westgoten nicht auch - wie ihre Summcsgenosscn südlich derPyrenäen — diese 'neue* Grabsitte übernommen haben, vgL hierzu EDWARD JAMES, Septimania and itsFroniicr: An archaeologjcaJ Approach, im DEK&. (Hg·), Visi#omic Spain; New Approaches, Oxford198U. S. 236 f.; hieran ändern einige wenige Fundorte kaum etwas, zumal nicht in allen Fällen wegenunsichcxer Bezüge zu dem wcftgotncWpanischen Material und nicht immer rmigUchor FeincbtxmologieWcstjiotcn nicht gesichert sind: vgL die Fundorte bei JAMES (wie Anm. 336) Karie Abb. 47 und JEAN-MtCMft LASS, t HI , La necropolc wiiugothiqtte de* Mätricls & Giroussons (T**1*)» * : P£HIN (Hg.) (wieAnm. 179) S. 205*223,

Page 116: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

166 Volker Bierbrauer

sehen Fundstoffes unumstritten (Fig. 36)391. Dieser archäologische Befund entsprichtvoll und ganz dem Bild der Schriftquellen, die westgotische Einwanderungen mitSiedelkonstanz erst ab den letzten beiden Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts erwartenlassen. Stufe I ist also die der Einwanderergeneration.

Läßt sich die Stufe I noch einigermaßen gut datieren, so wird dies für die folgen-den Stufen II—V zunehmend schwieriger. Die Stufen II-III im Sinne des Verfassers,die teilweise Stufe II und fast gänzlich Stufe III nach Ripoll entsprechen (Fig. 36) undprinzipiell noch überwiegend durch Bestattung in gotischer Tracht gekennzeichnetsind, können in sich nicht absolutchronologisch fixiert werden; erst das Ende vonStufe III mit dem Aufkommen der mediterranen Schnallen mit festem Beschlag - mitund ohne Mittelrippe, durchbrochen und nicht durchbrochen - kann deutlich nachder Mitte des 6. Jahrhunderts angenommen werden, da solche Schnallen nicht vor dasletzte Drittel dieses Jahrhunderts datiert werden können392. In diese Zeit bis etwa umdie und nach der Mitte des 7. Jahrhunderts sind entsprechend die Stufen IV—V mitweiteren byzantinischen Schnallen typen zu setzen (Fig. 36)393. Nach der Mitte des 6.Jahrhunderts wurden die Westgotinnen also nicht mehr in ihrer national-gotischenTracht beigesetzt, sondern überwiegend nur noch mit Schmuck oder beigabenlos,deutliche Hinweise auf einen zu dieser Zeit bereits fortgeschrittenen Romanisierungs-prozeß (S. 157).

Ober die Art und Weise der westgotischen Siedlung in Spanien ist aus denSchriftquellen so gut wie nichts zu erfahren, auch nicht über die Qrtsnamensfor-schung; gesichert ist nur, daß der Adel getrennt von der Masse der Bevölkerung überdas Land verteilt vorwiegend in Städten wohnte.

Die Verbreitungskarte der westgotischen Gräberfelder auf der iberischen Halbin-sel (Fig. 37) zeigt eine Bindung an Alt- und Neukastilien im Inneren der Halbinsel.Dieses nicht flächendeckende Verbreitungsbild fiel der Forschung seit langem auf undhat sich trotz Neufunden nicht wesentlich verändert394; die Hoffnung von Hans Zeiss,daß „glückliche Entdeckungen diese Lücke [Aragonien, Katalonien] bald ausfüllen"395,hat sich nicht erfüllt, die heute bekannte Verbreitung vermittelt also ein reales Bild.Sie wurde in dieser territorialen Begrenzung stets als auffallend konstatiert, aber nieüberzeugend erklärt; gelegentliche Versuche einer ökonomischen Begründung mit demHinweis, daß in der kastilischen Meseta die meisten ausgedehnten spätantiken Latifun-

391 ZEISS (wie Anm. 362) S. 74 ff. mit Abb. S. 81, S. 99 ff. und S. 134 f.; RIPOLL (wie Anm. 364 \ihd 381). .392 GERHARD FINGERLIN, Eine Schnalle mediterraner Form aus dem Reihengräberfeld Güttingen, Ldkr.

Konstanz, in: Badische Fundberichte 23, 1967, S. 159-184; zuletzt: URSULA IBLER, Studien zum Konti-nuitätsproblem am Übergang von der Antike zum Mittelalter in Nord- und Westjugoslawien, unge-druckte Dissertation Bonn 1990, vorerst: Dissertationsdruck 1991, S. 136 ff.

393 BIERBRAUER, Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse (wie Anm. 298) S. 95; RIPOLL (wie Anm. 364und 381).

394 Die hier vorgelegte Verbreitungskarte richtet sich nach KOENIG (wie Anm. 364) Abb. 98 S. 201; sie istan Fundorten und territorial enger gefaßt als die nach de Palol (1966) immer wieder abgedruckteVerbreitungskarte, die auch einige wenige Fundorte in Südspanien enthält: zuletzt RIPOLL (wie Anm. 2)Abb. 60 S. 236. Diese Karte ist ethnisch weniger verläßlich, da sie auf der Kartierung von Einzelmerk-malen (z. B. Gürtelschnallen) beruht, ohne den Gesamtkontext einer gesicherten westgotischen Nekro-pole zu berücksichtigen; aber auch sie ändert an dem nicht flächendeckenden Verbreitungsbild nur sehrwenig.

395 ZEISS (wie Anm. 362) S. 96.

Page 117: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Guten vom 1.—7. Jahrhundert 167

Page 118: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

168 Volker Bierbrauer

dien liegen, boten erste Erklärungsansätze, nicht aber strategische Überlegungen (ge-genüber dem Suebenreich)396. Zielführend können zwei Beobachtungen sein:

1. Die soziologische Struktur der Gräber: Von wenigen Ausnahmen abgesehen(z. B. Castiltierra und Daganzo de Arriba)397, fehlen Gräber, die man eindeutig miteiner Oberschicht verbinden darf; die mehreren tausend Bestattungen in den westgoti-schen Nekropolen sind sehr gleichförmig ausgestattet und vermitteln das Bild eineragrarisch strukturierten 'ländlichen' Bevölkerung. 2. Die Nekropolen liegen fernerbemerkenswerterweise in einem Raum, in dem außer der Hauptstadt Toledo und derwestgotischen Gründung Reccopolis sich keine westgotenzeitliche Münzstätte befin-det; diese Münzstätten umschließen dagegen als Monetarlandschaft - die Halbinselflächendeckend - wie ein Kranz den archäologisch bekannten westgotischen Siedel-raum in der kastilischen Meseta (Fig. 38)398. Ganz offensichtlich war dieser stärkernaturalwirtschaftlich strukturiert als die umliegenden Gebiete, was gut dem Bild einer'ländlich* strukturierten Bevölkerung entspricht399.

Zu diesen beiden Befunden fügen sich nun weiter sehr gut Untersuchungen, dieGerd Koenig in seiner leider ungedruckten Magisterarbeit zur Lage der Gräberfelder(und Siedlungen) in ihrem Naturraum gemacht hat400; es ergibt sich ein aufschlußrei-cher Befund, der die beiden zuvor gemachten Beobachtungen vertieft und konkreti-siert. Die Nekropolen liegen alle in den Randzonen der Meseta, vor allem an denNordhängen der Sierra Guadarrama in der Grenzzone zwischen semihumider undsemiarider Landschaft und somit in einer klimatisch begünstigten Zone, die nochRegenfeldbau zuläßt; diese Randzonen der Meseta weisen erheblich bessere Böden aufals die humiden Gebirgsregionen. Drei natürliche Faktoren sind also maßgeblich: 1.ausreichend qualitätvolle Böden, 2. Klimazonen, die Regenfeldbau ermöglichen, und 3.Klimalandschaften, die den Getreideanbau begünstigten. Diese Interpretation verstärktwesentlich das Bild einer 'ländlich'-westgotischen Bevölkerung innerhalb der Meseta

396 Zuletzt GISELA RIPOLL, Characteristicas generales del poblamiento y la arqueologia funeraria visigodade Hispania, in: Espacio, Tiempo y Forma (Rivista de la Facultad de Geografia e Historia. Prehistoria,Serie 1,2) Madrid 1989, S. 399 ff.

397 Castiltierra: JOACHIM WERNER, Ornamentacion de cuerdar trenzads en la joyeria visigoda del tiempo dela invasiones, in: Actas y memorias de la Sociedad Espaftola de Antropologia, Etnografia y Prehistoria(Corona de Estudios 1) Madrid 1941, S. 347-353; DERS., Die Ausgrabung des westgotischeh Gräberfel-des von Castiltierra (Prov. Segovia) im Jahre 1941, in: Forschungen und Fortschritte 18,1942, S. 108 f.;DERS., Las excavaciones del Seminario de Historia Primitiva del Hombre en 1941, en erCementeriovisigodo de Castiltierra (Segovia), in: Cuadernos de Historia Primitiva l, 1946, S. l ff.; L. VAZQUEZ DEPARGA, Ajuares de sepulturas del cementerio visigodo de Castiltierra (1932—1935), in: Memorias de lasMuseos Arqueologicos Provinciales 16/18, 1955/57, S. 04 f. - Daganzo de Arriba: S. FERNANDEZGODI'N-J. PEREZ DE BARRADAS, Excavaciones en la necropolis visigoda de Daganzo de Arriba (Madrid),in: Memorias de la Junta Superior de excavaciones y antigüedades 114, 1930.

398 Karte bei PEDRO DE PALOL, Demografia y Arqueologia Hispänicas. Siglos IV—VIII. E,nsayo de cartogra-fia, in: Boletin del Seminario de Estudios de Arte y Arqueologia (Valladolid) 32, 1966, S. 1-55, Karte11; ganz ähnlich die Verbreitung westgotischer Münzen: BARRAL i ALTET (wie Anm. 359) S. 44.

399 Dieser Befund gewinnt nach den jüngsten Ausführungen an Gewicht, da westgotische Trienten auch.von der „Landbevölkerung" bzw. von „einfachen Leuten" als Münzgeld benutzt wurden (Steuerzahlung,Kauf von Lebensmitteln): DIETRICH CLAUDE, Zur Funktion des Münzgeldes im hispanischen Westgo-tenreich, in: Münstersche Beiträge zur Antiken Handelsgeschichte 8.2, 1989, S. 32-51; RIPOLL (wieAnm. 2) S. 278.

400 KOENIG (wie Anm. 364) S. 200-205 mit Abb. 98a-b.

Page 119: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.—7. Jahrhundert 169

Page 120: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

170 Volker Bierbrauer

Zentralspaniens, nicht jedoch dessen Begrenzung auf diese, da auch in Teilen Südspa-niens ähnliche Bedingungen gegeben sind.

Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen401, sind westgotische Oberschicht-gräber nicht vorhanden; der Adel war früh romanisiert und ist wie in Italien vereinzeltnoch durch beigabenlose Gräber mit Grabsteinen und Inschriften der Verstorbenennachweisbar, die teuer sind, so der der Immafritha (Toledo; 579) für drei ?//*//402; inder Meseta fehlen sie.

Auch die 'ländliche' Bevölkerung wird im Verlauf des 6. Jahrhunderts romani-siert; erste Anzeichen hierfür sind in den Stufen II—III, in denen noch mehrheitlichgotische .Tracht getragen und in ihr auch bestattet wurde, die Übernahme nichtgoti-scher, genuin mediterraner Fibeltypen in die Tracht (Scherbenfibeln, Tierfibeln, Kreuz-fibeln; Fig. 36), zunächst zusätzlich zu den Bügelfibelpaaren (an den Schultern) alsDrittfibel unterhalb des Halses, also noch im Kontext der germanisch-gotischenTracht (Fig. 34.5), dann aber auch paarweise; ihre Lage einerseits in der Position derBügelfibeln (Fig. 34.7) deutet vielleicht auf eine ähnliche Funktion hin (Heftfunktion?),andererseits in Brustmitte untereinander auf eine andere Funktion (Schließen einesmantelartigen Umhanges wie in der romanischen Frauentracht — etwa im Sinne derVerdoppelung der Einfibeltrageweise wie im Grab der Arnegunde in Paris-St. Denis?)(Fig. 34.6)403. Trachtgeschichtlich ist die Verwendung dieser Kleinfibeln weitgehendunbekannt404. Die gentil-gotische Tracht (Fig. 34.1-4), die die Gotin gegenüber ihrerUmwelt, sei es in Spanien und anderswo (Exogamie), als solche erkennbar machte,wird nach der Mitte des 6. Jahrhunderts aufgegeben, zumindest wird sie nicht mehrin ihr beigesetzt. Im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts lassen sich Westgotinnen, danur noch mit Schmuck, gelegentlich auch mit mediterranen Schnallentypen (Fig. 36;Stufen IV—V) oder beigabenlos beerdigt, nicht mehr von der einheimisch-romanischenBevölkerung unterscheiden405. Dieser Prozeß fallt zeitlich sicherlich nicht zufallig zu-sammen sowohl mit der unter Leowigild noch vor 580 verfugten Aufhebung desEheverbotes zwischen Westgoten und Romanen als auch mit dem 589 erfolgten Über-tritt der arianischen Westgoten zum orthodoxen Bekenntnis der Romanen; beides be-reitete einem weiteren schnelleren Zusammenwachsen beider Volksgruppen den Weg,was sich im archäologischen Befund deutlich widerspiegelt. Die Grundlagen für die'Entgentilisierung', für die Bildung einer Nation auf territorialer Basis waren nungegeben (gemeinsame Sprache und Konfession, gemeinsames Recht, königliche Herr-

401 Daganzo de Arriba mit 35 Gräbern, Westgruppe (Gräber l, l (M 2): u. a. mit Waffenbeigabe undBronzegeschirr, und Castiltierra Grab 211 mit Waffenbeigabe, silberner Gürtelschnalle und Silberteller.

402 Zuletzt CLAUDE, Gentile und territoriale Staatsideen (wie Anm. 361) S. 12 f.403 PATRICK PERIN, Pour une revision de la tombe d'Aregonde, epouse de Clotaire Ier, decouverte en 1959

dans la basilique de Saint-Denis, in: Archeologie Medievale 21, 1991, S. 21-50, S. 48 f, Abb. 8-9.404 Dies gilt sowohl für die Verwendung als Bügelfibelersatz, weil die Exemplare zu klein und fragil sind,

als auch aus denselben Gründen für die Lage untereinander in Brustmitte; vielleicht entspricht letztereder Trageweise merowingerzeitlicher Kleinfibeln. Wie bei der Frage nach der Anlage der 'Reihengräber-friedhöfe* in Spanien wäre auch hier zu klären, ob diese Sitte aus dem westfränkischen Gallien über-nommen wurde.

405 BIERBRAUER, Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse (wie Anm. 298) S. 94 ff. Zur Kritik an der Be-wertung des Gräberfeldes von Duraton durch KOENIG (wie Anm. 363) zu Westgoten und Romanen vgl.vorerst BIERBRAUER (wie Anm. 3) S. 38 Anm. 17; eine nähere Begründung erfolgt in der in Anm. 371angekündigten Arbeit.

Page 121: Bierbrauer,V.,Archaeologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert,Fruehmittelalterliche Studien28(1994),51–171

Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert 171

schaft); entscheidend ist nun weniger die objektive Abstammung, sondern das neueSelbstverständnis der subjektiven Zuordnung. Hispani und Hispania sind dann am Endedes 7. Jahrhunderts vor dem Untergang des Westgotenreiches die neuen Benennungenin den Schriftquellen, die den Abschluß dieses für die gens Gothorwn so bedeutsamenProzesses kennzeichnen406.

406 CLAUDE, Gentile und territoriale Staatsideen (wie Anm. 361) S. 13 ff.

NACHTRAG

Nach Abschluß des Manuskriptes erschien die Monographie von RSTSZARD WOL^GIEWICZ, Ceramikakultury wielbarskiej migdzy Baltykiem a Morzem Czarnym, Die Tongefalße der Wielbark-Kultur im Raumzxwschen Ostsee und Schwarzem Meer, Szczecin 1993.