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256 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 | Nr. 4 Acryl auf Leinwand Bilder aus der „verbotenen Welt“ der Industrie MICHAEL G ROß Alexander Calvelli malt scheinbar photorealistische, aber oft auch hintersinnig verfremdete Darstellungen von produzierenden ebenso wie stillgelegten Industrie- anlagen, unter anderem auch Chemiefabriken. Michael Groß hat ihn im Atelier besucht. Abb. 1 Kolonne, Targor GmbH, Werk Hürth-Knapsack; 30 x 21 cm, Acryl auf Papier, 1998. Eine gewöhnliche Leiter an einer Destillationskolonne aus ungewohnter Perspektive betrachtet.

Bilder aus der „verbotenen Welt” der Industrie: Acryl auf Leinwand

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256 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 | Nr. 4

Acryl auf Leinwand

Bilder aus der „verbotenenWelt“ der IndustrieMICHAEL GROß

Alexander Calvelli maltscheinbar photorealistische,aber oft auch hintersinnigverfremdete Darstellungenvon produzierenden ebensowie stillgelegten Industrie-anlagen, unter anderemauch Chemiefabriken. Michael Groß hat ihn im Atelier besucht.

Abb. 1 Kolonne, Targor GmbH, WerkHürth-Knapsack; 30 x 21 cm, Acryl aufPapier, 1998. Eine gewöhnliche Leiter an einer Destillationskolonne aus ungewohnterPerspektive betrachtet.

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Ein Saugzug in der verkommenen menschenleeren Werk-halle einer Brikettfabrik sieht aus wie ein tausendfach

vergrößerter Ameisenkopf. Eine Turbine bei Bayer Lever-kusen erinnert an einen Roboterkopf, ein Kompressor beiHoechst Knapsack ähnelt einem blaumetallischen Breit-maulfrosch, ein Carbidofen derselben Firma streckt seine rostig braunen Rohre in alle Richtungen wie ein Urwald-riese seine Äste (Abbildung 2). Willkommen in der Bilder-welt des Alexander Calvelli. Er porträtiert die fremdartige,weil den meisten verborgene Welt der Industrie in Acryl-gemälden, die auf den ersten Blick photorealistisch er-scheinen. Erst beim genaueren Hinschauen entdeckt mandie Kunst des Malers, die sich unter anderem in den Licht-effekten, ironischen Details, und kompositorischen Mani-pulationen kundtut.

Verborgenes sichtbar machenZur Industrie hingezogen fühlte sich Calvelli, Jahrgang 1963,nicht etwa aufgrund der Chemikertradition in der Familie– schon sein Großvater, Johannes Jaenicke, arbeitete mitFritz Haber zusammen. Vielmehr wollte er die, wie er sagt,„verbotene Welt hinter den Werkstoren“ erforschen undsichtbar machen. Obwohl unser Leben vollständig von In-dustrieprodukten durchdrungen und unser Wohlbefinden

von ihnen abhängig ist, haben nur die wenigsten eine Vor-stellung von den Produktionsstätten – abgesehen jeweilsvon dem eigenen Arbeitsplatz. Seit dem letzten Jahr seinesKunststudiums, das er 1988 in Köln abschloss, versucht Calvelli, diese verborgene Welt sichtbar zu machen. NachStudienaufenthalten in Italien, Brasilien und Argentinien erhielt er ein Stipendium als Stadtmaler von Leverkusen,das ihm auch den Zugang zu den Werken der Bayer AG er-leichterte. Seitdem, und besonders in den letzten fünf Jah-ren, hat er die Industriemalerei zum Hauptschwerpunkt seiner Arbeit gemacht.

Um die Welt der Industrie ergründen und darstellen zukönnen, muss er allerdings erst einmal hinter die Werkstorevordringen, und das war nicht immer einfach. Die Staffeleivor Ort aufzustellen ist sowieso ausgeschlossen, da norma-lerweise ein Firmenmitarbeiter (oft vom Werkschutz) denBesucher beaufsichtigen muss, und dementsprechend dieZeit strikt limitiert ist. Typischerweise lässt sich Calvelli ei-nige Stunden herumführen und verschießt dabei zwei- bisdreihundert Dias. Anlass für einen Industriebesuch ist ofteine bevorstehende Ausstellung – Calvelli hat die Erfahrunggemacht, dass konkrete vorweisbare Projekte Türen öffnen.Anfangs bedurfte es oft einiger Überredung, Zugang zuBergwerken, Chemiefabriken, und zahlreichen anderen In-

Abb. 2 Carbid-Ofen, Hoechst Knapsack, Hürth; 66x91 cm, Acryl auf Leinwand, 1995. Diese bereits stillgelegte Anlage wurdebald nach Calvellis Besuch demontiert.

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Abb. 3 Schwefel-säuredoppelkon-taktanlage, Le-verkusen; 70 x100 cm, Acryl aufLeinwand, 1993. Hier wird Schwe-feldioxid anVanadiumkataly-satoren mit Luft-sauerstoff oxi-diert, das welt-weit führendeVerfahren derSchwefelsäure-herstellung. InWirklichkeit hatdie Anlage aller-dings einigeRöhren weniger.

Abb. 4 Gießerei,Stahlwerk Bochum, 70 x 100 cm, Acryl aufLeinwand, 1998. Man beachte dieLichteffekte: DerweißglühendeStahl in demSchmelztiegel er-hellt den ganzen(Bild-)Raum.

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dustriestandorten zu gewinnen. Ein wenig leichter war esbei Produktionsstätten, die kurz vor der Schließung standenoder gar vom Abriss bedroht waren – in solchen Fällen warman oft schon an einer Dokumentation der verschwinden-den Arbeitsstätten interessiert.

Die künstlerische FreiheitDie Umsetzung vom Foto zum Kunstwerk erfolgt dann fern-ab der Industrieanlagen in seiner Wohnung in der KölnerSüdstadt. Als erste Vorstufe der Gemälde fertigt Calvelli Skiz-zen im A4-Format an, die er erst mit Bleistift vorzeichnetund dann mit Acrylfarben ausführt. Nach diesen Skizzen er-stellt er dann die großen Gemälde mit Acryl auf Leinwand,die aber angesichts der monumentalen Ausmaße der dar-gestellten Objekte überraschend klein ausfallen. Sie wer-den nie größer als 100 mal 150 Zentimeter; ein „typischerCalvelli“ misst rund 70 mal 100 Zentimeter.

Spätestens in diesem Schritt nimmt er sich die Freiheit,von den realen photographierten Gegebenheiten abzuwei-chen, wo dies der künstlerischen Gestaltung dient. DieSchwefelsäurekontaktanlage in Abbildung 3 zum Beispielhat in Wirklichkeit nicht ganz so viele Rohre wie auf demBild. Einige hat der Künstler aus Kompositionsgründen hin-zuerfunden. In anderen Fällen mögen die Calvelli-typischenLichteffekte, die von Kunstkritikern mit der Tradition derRenaissancemeister verglichen werden (Abbildung 4), oderdie aus der grauen Industriewelt herausstechenden Farb-tupfer (Abbildung 5) Produkte der künstlerischen Freiheitsein. Geometrisch interessante Strukturen können durchManipulation betont werden, entstehen aber oft auch ein-fach durch die Wahl ungewöhnlicher Blickwinkel (Abbil-dungen 1 und 6).

Die Perspektiven des Malers reichen von den Nahauf-nahmen, die von Muttern, Flanschen und Absperrschiebernwimmeln, bis hin zu den Gesamtporträts größerer Indus-trieanlagen (Abbildung 7), die sich schon fast wie Land-schaften ausnehmen.

Erinnerung an verschwindende ArbeitsweltenJe nach Größe arbeitet Calvelli zwischen einer und vier Wochen vollzeit, d.h. bis zu 12 Stunden am Tag, an dem endgültigen Gemälde. Um der, wie er sagt, „autistischen“Natur dieser Arbeit zu entkommen, kümmert er sich umden Verkauf seiner Werke selbst, statt dies einem Galeris-ten zu überlassen. Seine Kundschaft ist breit gestreut durchalle Berufsgruppen. Beschäftigte der dargestellten Indus-triebranchen oder deren Angehörige erstehen bisweilen einBild als Andenken. Die Preisskala fängt bei etwa 200 Euroan – relativ preiswert verglichen mit dem, was man in vie-len Galerien findet. Manche wohlhabendere Käufer kom-men immer wieder, bauen regelrechte Sammlungen auf,und empfehlen ihn weiter. Dieser Streueffekt gibt ihm – imGegensatz zu manchen Kollegen, die von einem Sponsor ab-hängig sind – eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeitund die Freiheit, nach seinen eigenen Vorstellungen stattnach Kundenwunsch zu malen.

Seine Bilder sind regelmäßig in Ausstellungen zu sehen,zuletzt im Gelsenkirchener Wissenschaftspark, demnächst(ab 8. 9. 2002) im „Museum Strom und Leben“ im ehema-ligen VEW-Umspannwerk Recklinghausen. Gerade das inden letzten zehn Jahren gewachsene Bewusstsein, dass dieallmählich verschwindende Schwerindustrie des Ruhrge-biets ein schützens- und erinnernswertes Kulturgut darstellt,hat dazu beigetragen, seinen Werken ein breiteres Publi-kum zu verschaffen. Obwohl er ebensooft aktive wie still-gelegte oder von der Stilllegung bedrohte Anlagen malt, die-nen bereits heute viele seiner Bilder von Zechen und Stahl-werken der Erinnerung an verschwindende Arbeitswelten.

Interpreten seines Werks, wie etwa der Soziologe KlausTürk von der Bergischen Universität Wuppertal, weisen da-rauf hin, dass diese Dokumentierung der im Umbruch be-

Abb. 5 Öltanks,VEBA-Oel AG,Werk Gelsenkir-chen-Horst;30x20 cm, Acrylauf Papier, 2000.Solche Tanklager,ein typischer Anblick bei Raffi-neriestandorten,dienen der Lagerung vonflüssigen Mine-ralölprodukten.

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findlichen Arbeitswelt völlig ideologiefrei erfolgt. Die In-dustriearbeiter erscheinen, wenn überhaupt, dann, so Türk,„nie ... als zyklopische Heroen der Naturbeherrschung, son-dern eher als Anhängsel der Maschinerie“. Calvelli wertetnicht, er zeigt uns einen verborgenen, aber für unsere Le-bensweise unentbehrlichen Teil unserer Welt, die „Verbo-tene Welt“ hinter den Werkstoren.

ZusammenfassungDer Industriemaler Alexander Calvelli, Jahrgang 1963, ist fürseine scheinbar photorealistischen Porträts der „verbotenenWelt“ der Industrie bekannt. Er stellt gleichermaßen produ-zierende wie stillgelegte Anlagen mit einer rein ästhetischenSichtweise dar, die auf jede Ideologie und Interpretation verzichtet. Er macht damit die sonst verborgenen fundamen-talen Elemente unserer Industriegesellschaft sichtbar, setztaber auch Denkmäler für jene Arbeitswelten, die im Aus-sterben begriffen sind.

SummaryThe industry painter Alexander Calvelli, born 1963, is knownfor his seemingly photorealistic portraits of the “forbiddenworld” of industry. Showing both active and abandonedmanufacturing sites with a purely aesthetic eye, free of allideology and interpretation, he reveals the structures at thevery foundation of our industrial society, and also sets mon-uments to those branches that are now in decline, includingmining and steel industry.

Abb. 6 Fermen-ter, Brauerei Moritz Fiege, Bochum; 20 x 29 cm, Acryl aufPapier, 1998.In dem dickbäu-chigen Fermenterverrichtet dieBierhefe ihre Arbeit, doch einwenig tiefer, un-terhalb der nor-malen Augen-höhe, findet sichein Dickicht vonVernetzungen aller Art.

Abb. 7 Cumolan-lage bei VEBA OelAG Gelsenkirchen;69x69 cm, Acrylauf Leinwand,2000.

Die 1967 erbaute Anlage ist heute noch in Betrieb. Sie wandelt Benzol in Cumol (Isopropylbenzol) um, das dann zu hoher Reinheit destilliert und schließlich in Phenol und Aceton gespalten wird.

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LiteraturK.Türk, Bilder der Arbeit, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 22000000.A.Calvelli, M. Dückershoff, Relikte der Arbeit: Industriebilder und Stadt-landschaften, Klartext-Verlag, Essen, 11999999..

Der AutorMichael Groß, ebenfalls Jahrgang 1963, ist (Bio-)-Chemiker und arbeitet als selbständiger Wissen-schaftsjournalist in Oxford. Nach elf JahrenForschungstätigkeit im Gebiet der Proteinbiochemie,verbunden mit zunehmender journalistischerNebenbeschäftigung, wandte er sich im Frühjahr2000 ganz dem Schreiben zu. Er ist derzeit alsGastschriftsteller (Science writer in residence) mitdem Londoner Birkbeck-College verbunden undschreibt regelmäßig für ChiuZ, Spektrum derWissenschaft, Chemistry in Britain und zahlreicheandere Zeitungen und Zeitschriften im englischenund deutschen Sprachraum, sowie Wissenschafts-sachbücher. Homepage www.michaelgross.co.uk

Abb. 8 Coker, VEBA-Oel AG, Werk Gelsenkirchen-Horst; 80 x 59 cm, Acryl auf Leinwand, 2000.Schwere Rückstände aus der Rohöl-Destillation werden im Coker bei hohem Druck (deshalb die imposanten Flansche)und 500 °C zu Gasen, Benzin, und Petrolkoks umgewandelt.