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Bildgebung und Autopsie Kategorien der Diskrepanzen Wolf Schweitzer

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Bildgebung und AutopsieKategorien der Diskrepanzen

Wolf Schweitzer

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Edmund Husserl1859 – 1938; Philosoph und Mathematiker; Begründer der Phänomenologie

Objektivität ist nicht unerreichbar, aber der Aufwand in der Erlangung von Objektivität in unserer Wahrnehmung ist sehr hoch. Der dazu notwendige Schritt umfasst das vollständige Zurücknehmen (Epoché, Einklammerung) aller unserer Vorurteile und Vorkenntnisse – was wir normalerweise nie tun und aus praktischen Gründen weder wollen noch können.

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Objektiv vs. Subjektiv

Neulich, in Kalifornien

Reste eines toten Seelöwen, klarer Fall

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Objektiv vs. Subjektiv

Neulich, im Golf von Mexiko

Mehrheitlich Kohlen-Wasserstoffverbindungen, riecht nicht nach Chemieunfall

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Objektiv vs. Subjektiv

NASA-Suchtrupp

Reste eines Astronauts, bei Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglüht, dann angeschwemmt

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Objektiv vs. Subjektiv

Neulich, am IRM Zürich

Schuss, klare Sache

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Objektiv vs. Subjektiv

Mit dem Alter die Vernunft?

• Schädel• Haut-/Weichteilmantel• Extremitäten• Fäulnisveränderungen• Andere organische

Naturbestandteile

Vereinbar mit tierischen oder menschlichen Überresten

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Objektiv vs. Subjektiv

California sea lion carcass on Moss Landing State Beach

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Bewertung der Beurteilungen

Angeschwemmter toter Seelöwe

(…)

Nicht angeschwemmter toter Seelöwe

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Möglichkeiten der Beurteilung

• Rechtsmedizinisch:– Berstungsfraktur– Impressionsfraktur– Keine Fraktur

• Anatomisch– Entspricht Norm– Normvariante– Nicht normal

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Objektiver Befund• These: Autopsie ist Goldstandard, CT ist eine tendenziöse Diagnostik, die sich erst

beweisen muss. Rechtsmedizinische Befunde werden daher stets protokollarisch beschreibend beschrieben und gutachterlich interpretiert.

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Objektiver Befund• Antithese: Es gibt grundsätzlich keinen sog. objektiven Befund, der sich von der

rechtsmedizinischen Beurteilung klar trennen lässt. Es gibt lediglich Versuche, ein gemeinsames Verständnis über Sachverhalte zu erlangen, was dann einfacher ist, wenn es sich um gewöhnliche / häufige / unbestrittene Sachverhalte handelt, da diese sich sofort wie wir meinen präzise benennen lassen. Hingegen ist es dann schwieriger oder gar unmöglich, wenn Diskrepanzen, Unstimmigkeiten, Abweichungen, Überraschungen oder Neuland vorliegen. Phänomenologisch gesehen sind wir in hermeneutische Zirkel eingeschlossen. Je seltener und absonderlicher ein Befund ist, umso schwieriger ist dessen sogenannt objektive Beschreibung währenddem sich für eindeutige Übereinstimmungen und Kongruenzen stets passende Titel finden, sofern Schreiber und Leser Grundlehren / -regeln teilen. Da die verbale Beschreibung einen Sachverhalt aber gerade wegen unterschiedlicher Schulen / Auffassungen grundsätzlich nur sehr teilweise erfasst, ist z.B. die Fotografie oder CT-Befunddokumentation so wichtig. Rechtsmedizin ist ein grosses Stück weit die Wissenschaft des Zuordnens passender Titel unter möglichst effizienter Ausserachtlassung unstimmiger Information anhand morphologischer Fragestellungen.

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• Der hermeneutische Prozeß bzw. Zirkel enthält ein Paradox: das, was verstanden werden soll, muß schon vorher irgendwie verstanden worden sein.

• Wir beurteilen Morphologie, indem wir Vorwegnahmen (Vermutungen, Vorurteile) vorauswerfen, und uns dem Objekt damit dann annähern.

• Dabei kann es sein, dass wir dazu gezwungen werden, das gemachte Vorurteil nach kurzer oder längerer Prüfung ev. zu revidieren.

• Dies wird auch als „Verstehensprozess“ im Rahmen eines sog. Hermeneutischen Zirkels bezeichnet.

PhänomenologieDer hermeneutische Zirkel

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PhänomenologieDer hermeneutische Zirkel

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PhänomenologieDer hermeneutische Zirkel

1

• Bei uns werden viele Quallen angeschwemmt• Es ist sicher eine Qualle

2

• Stinkt anders als eine Qualle• Sieht auch anders aus als eine Qualle

3

• Muss meine erste Annahme revidieren• Was sonst, was angeschwemmt wird, kommt so in Betracht?

4

• Ist es etwas aus der grösseren Menge an Möglichkeiten angeschwemmter Sachen?

• ….

Anadubag

• Wie lange müssen wir hier weitergrübeln, bis wir drauf kommen, dass dies ein überfahrener Hund ist, den jemand von einer Brücke ins Wasser geworfen hat und Wochen später angeschwemmt wurde?

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Befund „Tierfrass“Nicht

erkennbar

Kaum erkennbar

Erkennbar

Typisch

Sehr typisch

Extrem typisch

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Befund „Tierfrass“Nicht

erkennbar

Kaum erkennbar

Erkennbar

Typisch

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Klarer Fall

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Beispiel

• Halbscharfe Gewalt• Stumpfe Gewalt• Pfählung• Schuss• Stich• Strom• Säurewirkung• Verbrennung• Tierfrass

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Beispiel

• Hautverletzung: ovaläre Schürfung, flach, teils unscharf begrenzt, etwa 8 x 13 mm Ausdehnung.

• Umgebung: Haut in unmittelbarer Verletzungsumgebung sowie entlang ausgezogen eines Streifens gerötet.

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Beispiel

Protokoll:

(..) zahlreiche (16)

lochartige Schussdefekte (Nr. 11 – 26 (..)

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Beispiel

• Halbscharfe Gewalt• Stumpfe Gewalt• Pfählung• Schuss• Stich• Strom• Säurewirkung• Verbrennung• Tierfrass

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Beispiel• Hautverletzung:

Hautdefekt mit Offenliegen des Unterhautfettgewebes, teils braunrot vertrocknet, bogig begrenzt, mit teils abgesetzt erscheinenden Hauträndern sowie einem Hautlappen, insgesamt etwa 60 x 20 mm Ausdehnung

• Umgebung: Rötung

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BeispielProtokoll

(..) zahlreiche (rechts 3 und links 8)

lochartige? Schussdefekte, wobei sich am rechten Arm inklusive der rechten Hand insgesamt 14 (30 - 39, 45 und 46 sowie 60 und 61) und am linken insgesamt 12 (1 - 10 und 58 und 59) Schussdefekte befinden.(..)

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Beispiel

Obduktionsprotokoll 2020900300 vom 25.11.2009

Bartsch / Vonlanthen

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Also, nochmal, zur AntithesePhänomenologie

• Wir beurteilen Morphologie, indem wir Vorwegnahmen (Vermutungen, Vorurteile) vorauswerfen, und uns dem Objekt damit dann annähern. Genügt auch oft.

• Dabei kann es sein, dass wir dazu gezwungen werden, das gemachte Vorurteil nach kurzer oder längerer Prüfung ev. zu revidieren. Muss aber nicht.

• Dies wird auch als „Verstehensprozess“ im Rahmen eines sog. Hermeneutischen Zirkels bezeichnet. Muss aber nicht stattfinden.

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Fazit These vs. Antithese aus praktischer Sicht

• Verbale Beschreibungen werden unbeachtet ihrer Nachvollziehbarkeit vereinfacht wo es nur geht - für den Fall der Fälle gibt es Bilddokumentationen

• Schuss ist Schuss, Stich ist Stich, für Ausnahmen ist das Leben manchmal zu kurz

• Aber - es besteht die Gefahr des Double Standard mit unreflektierter Diskrepanz zwischen eingeforderter angeblich fehlender Objektivität und bei sich selbst vermuteter angeblich hervorragender Objektivität

Bedarf nach philosophisch-betrachtender Annäherung an Begrifflichkeiten und Reflektion unseres Umgangs damit ist dringend nötig

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BefundNicht

erkennbar

Kaum erkennbar

Erkennbar

Typisch

Sehr typisch

Extrem typisch

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BefundNicht

erkennbar

Kaum erkennbar

Erkennbar

Typisch

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Gutgemacht

als klarhinstellen

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BefundNicht

erkennbar

Kaum erkennbar

Erkennbar

Typisch

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Gut gemacht

Gut so

No GutsNo Glory

Nutzlos

als klarhinstellen

als unklarhinstellen

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Zentrale LENicht

erkennbar

Kaum erkennbar

Erkennbar

Typisch

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Gut gemacht

Gut so

No GutsNo Glory

Nutzlos

als klarhinstellen

als unklarhinstellen

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Zentrale LE - AngioNicht

erkennbar

Kaum erkennbar

Erkennbar

Typisch

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Gut gemacht

Gut so

No GutsNo Glory

Nutzlos

als klarhinstellen

als unklarhinstellen

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Myokardinfarkt

Nicht erkennbar

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Gut gemacht

Gut so

No Guts

No Glory

Nutzlos

als klarhinstellen

als unklarhinstellen

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Lungenbefunde

Nicht erkennbar

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Gut gemacht

Gut so

No Guts

No Glory

Nutzlos

als klarhinstellen

als unklarhinstellen

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Ertrinken

Nicht erkennbar

Sehr typisch

Extrem typisch

Gibt Ärger

Gut gemacht

Gut so

No Guts

No Glory

Nutzlos

als klarhinstellen

als unklarhinstellen

Gewicht

GewichtGas/Luft

Gas/Luft

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CT – AutopsieCT nichts CT unklar CT klar

Autopsie nichts

Autopsie unklar

Autopsie klar

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CT – AutopsieMinimalistischer Approach

CT nichts CT unklar CT klar

Autopsie nichts Ride off into sunset Wird wohl nichts gewesen sein.

Entweder halluzinieren die Radiologen oder die Obduzenten sind blind.

Autopsie unklar Wird wohl nichts gewesen sein.

So oder so schwierige Situation

Ja dann. Allenfalls den klar gewordenen Befund übernehmen.

Autopsie klar Entweder sind die Radiologen blind oder die Obduzenten halluzinieren.

Ja dann. Allenfalls den klar gewordenen Befund übernehmen.

Match: ride off into sunset.

Mismatch: Schnell revidieren.

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CT – AutopsieDiskrepanzen ernst nehmen

CT nichts CT unklar CT klar

Autopsie nichts Sein lassen Foto, Detail-CT von exzidiertem Befund, Literatursuche, Zusatz-untersuchungen

Entweder halluzinieren die Radiologen oder die Obduzenten sind blind.

Autopsie unklar Foto, Detail-CT von exzidiertem Befund, Literatursuche, Zusatz-untersuchungen

Foto, Detail-CT von exzidiertem Befund, Literatursuche, Zusatz-untersuchungen

Foto, Literatursuche, Zusatz-untersuchungen

Autopsie klar Foto, Literatursuche Foto, Literatursuche Match: Sein lassen

Mismatch:Grundlagen der Diagnostik diskutieren, Literatursuche

FORSCHUNG : Probleme sammeln, Lösungen entwickelnROUTINE: Widersprüche auflösen, Ergänzungen dokumentieren

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Grundregeln Autopsie-/CT-Befundung

• Ruhe, Zeit: In Ruhe CTs befunden und genügend ausreichende ungestörte Zeit – Vorgabe pro CT etwa 1 Stunde und Vorgehen nach Liste / Checkliste, inkl. Bericht schreiben und Befunde dokumentieren.

• Vergleichen Vorschrift: Als Grundregel sind vor CT-Berichterstattung Befunde an der Leiche anzuschauen, nachdem das CT genau durchgesehen wurde. Umgekehrt gilt für Obduzenten, vor der Autopsie-Befundung das CT gründlich zu betrachten. Gute radiologische und rechtsmedizinische Beurteilungen müssen zwingend integriert erfolgen oder sonst als deutlich limitiert bzw. eingeschränkt anzusehen.

• Beurteilungen, Beschreibungen: so nahe am Sachverhalt wie nur möglich.

• Text: aus philosophisch-theoretischer Sicht ist vor allzu grossem Kampf mit der Begrifflichkeit „Objektivität“ zu warnen, was Formulierungen angeht. Vielmehr ist in Hinblick auf die Leserschaft Klarheit in der Beschreibung zu schaffen und herzuleiten, weshalb gewisse Schlussfolgerungen gezogen werden. Dabei sind strittige, unklare oder schwierige, atypische oder besondere Befunde genauer zu beschreiben als landläufige, typische und klare Befunde.

• Dokumentation: Fotos, Scandaten (3D, CT, MR, Angio), 1:1 Folienpausen, Körperschemazeichnungen etc. sind stets in sachdienlichen Ausmass anzufertigen.

• IRM-intern: CIR / Problemlisten – systematisches Erfassen von Diskrepanzen und Aufgleisen von Vorgehensweisen zum besseren Verstehen der Hintergründe von Diskrepanzen.