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Bildsprache in Viscontis Verfilmung von „Der Tod in Venedig“ - Mareile Krömer / Eva-Maria Redeker - Inhaltsverzeichnis: Seite I Einleitung 2 II Hauptteil 3 2. Bildsprache in Film und Buch 3 2.1 Einführung der Terminologie ‘Bildsprache ‘ 5 2.1.1 Das Bild 5 2.1.2 Die Komposition 6 2.1.3 Nähe-Distanz-Relation 7 2.1.4 Kameraperspektive und -führung 8 2.2 Analyse ausgewählter Schlüsselszenen im Film 9 2.2.1 Ankunft in Venedig 9 2.2.2 Erstes Wahrnehmen von Tadzio 14 2.2.3 Die ‚Erdbeer-Szene‘ 18 2.2.4 Die ‚Sterbe-Szene‘ am Strand 21 2.3 Divergenzen Romanvorlage - Film 25 3. Der Regisseur Visconti und die Rezeption seines Werkes 30 3.1 Beweggründe Viscontis und seine Auffassung über Literaturverfilmung 30 3.2 Kritik und Rezension 31 III Fazit 36 IV Literaturverzeichnis 37

Bildsprache in Viscontis Verfilmung von „Der Tod in Venedig“ · welches Visconti für seine Verfilmung von ‘Morte a Venezia’ nutzt, verbreitete sich in den zwanziger Jahren

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Bildsprache in Viscontis Verfilmung

von „Der Tod in Venedig“

- Mareile Krömer / Eva-Maria Redeker -

Inhaltsverzeichnis:

Seite

I Einleitung 2

II Hauptteil 3

2. Bildsprache in Film und Buch 3

2.1 Einführung der Terminologie ‘Bildsprache ‘ 5

2.1.1 Das Bild 52.1.2 Die Komposition 62.1.3 Nähe-Distanz-Relation 72.1.4 Kameraperspektive und -führung 8

2.2 Analyse ausgewählter Schlüsselszenen im Film 9

2.2.1 Ankunft in Venedig 92.2.2 Erstes Wahrnehmen von Tadzio 142.2.3 Die ‚Erdbeer-Szene‘ 182.2.4 Die ‚Sterbe-Szene‘ am Strand 21

2.3 Divergenzen Romanvorlage - Film 25

3. Der Regisseur Visconti und die Rezeption seines Werkes 30

3.1 Beweggründe Viscontis und seineAuffassung über Literaturverfilmung 30

3.2 Kritik und Rezension 31

III Fazit 36

IV Literaturverzeichnis 37

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I. Einleitung

Mit unserer Arbeit "Bildsprache in Viscontis Verfilmung von Thomas Manns ‘Der

Tod in Venedig’" werden wir unter dem Aspekt der Bildsprache untersuchen, in-

wieweit Literaturverfilmungen ein ernstzunehmendes Abbild ihrer Vorlage sein

können oder ein eigenständiges Werk bilden.

Die Art und Weise sich mit Literatur auseinanderzusetzen, hat sich durch techni-

sche Neuerungen und neue Wege der Kommunikation verändert. So ist es für den

Schulunterricht unabdingbar, visuelle Medien wie z.B. den Film, d. h. im Deutsch-

unterricht Literaturverfilmungen, einzusetzen. Die Schüler von heute sind es nicht

mehr gewohnt, Informationen nur durch das Lesen und das Unterrichtsgespräch

aufzunehmen, was auch im veränderten Freizeitverhalten begründet ist. Somit muß

sich die Lehrperson auf alternative Methoden der Lernstoffvermittlung konzentrie-

ren, um den Schüler zu erreichen.

Im folgenden werden wir zunächst die unterschiedlichen Arten von Bildsprache

nach ihrer Medienzugehörigkeit definieren und darstellen, um Bewertungskriterien

für Viscontis Verfilmung zu erlangen. Anschließend werden wir anhand ausge-

wählter Schlüsselszenen des Filmes die präsentierte Bildsprache beschreiben,

erläutern und analysieren und die Divergenzen bezogen auf die Novelle anführen.

Im zweiten Teil unserer Hausarbeit gehen wir auf die Beweggründe für die Verfil-

mung und die Auffassung von Literaturverfilmungen Viscontis ein, um dann die

Rezeption und Kritik seines Werkes darzustellen und in Beziehung miteinander zu

setzen.

Am Ende unserer Hausarbeit werden wir uns nochmals die Frage stellen, ob und

inwiefern Literaturverfilmungen sinnvoll an sich beziehungsweise für den Deutsch-

unterricht sind.

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II. Hauptteil

2. Bildsprache in Film und Buch

Wenn wir die Art und Weise unterscheiden, auf die die beiden Medien Film und

Buch Bilder produzieren, dann stellt man fest, daß ein Buch aus Zeichen, Silben,

Wörtern und Sätzen besteht, während ein Film aus Einstellungen, Szenen und Se-

quenzen zusammengesetzt ist.

Während des Lesens wird die Schrift vom Leser entschlüsselt und den Worten

eine Bedeutung zugeordnet. Dafür muß er die Decodierung der Zeichen, also das

Lesen beherrschen und mit Hilfe des Erlernten und der Erfahrung einen Sinn für

sich konstituieren, also vor seinem inneren Auge ein Bild entstehen lassen.1

Der Film besitzt keine Zeichenebene, sondern sendet optische und akustische

Reize an den Zuschauer. Er sieht und hört, was der Regisseur ihm vermitteln

möchte. Jedoch benötigt auch hier der Rezipient einen Erfahrungshorizont, damit

er die gezeigten, also vorgegebenen Bilder verstehen und in einen sinnvollen Zu-

sammenhang bringen kann. Die Entschlüsselung wird dem Leser vom Regisseur

abgenommen.

Dies läßt sich an folgendem Beispiel erläutern:

„[...], betrachtete er gequälten Blickes

Verb Pers.pro. Part.Perf. Substantiv

(prüfend ansehen) (= Aschenbach) (seelische und (Erkenntnis d.

körperliche Schmerzen) An-

schauen)

sein Spiegelbild.“2

Poss.Pro. Substantiv

(ihm zugehörig) (seitenverkehrtes Abbild

von Aschenbach)

1 vgl. Wessendorf, Stephan: Thomas Mann verfilmt . In: Schriften zur Europa- und DeutschlandforschungBand 5. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 1998. Seite 22.2 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1999. 56.Auflage. Seite 81

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1. Ebene: Der Text liefert das „signifiant“, das Lautbild, dem eine Bedeutung zu-

geordnet werden muß.

2. Ebene: Der Leser konstituiert selber das „signifié“.3

Der Leser wird aufgefordert, beide Ebenen zu durchlaufen, bevor er die Bedeu-

tung des Geschriebenen verarbeiten kann.

In dieser Sequenz wird die Vorlage von Thomas Mann verbildlicht. Es gibt keinen

Erzähler, der die Situation beschreibt. Dirk Bogarde alias Gustav von Aschenbach

sitzt vor dem Spiegel und läßt sich verjüngen. Durch seine Mimik erfährt der Zu-

schauer, daß der Protagonist von seinem Abbild im Spiegel entsetzt ist. Die von

Thomas Mann beschriebene Qual, die Aschenbach bei seinem Anblick erleidet,

wird von dem Schauspieler visuell umgesetzt.4

Während im Buch lediglich die „signifiant“-Ebene, das heißt das Lautbild, vorhan-

den ist, beinhaltet der Film bereits die „signifié“- Ebene, das heißt das inhaltliche

Konzept. Daraus können wir schließen, daß Viscontis Verfilmung, wie jede Litera-

turverfilmung, lediglich nur eine mögliche Interpretation sein kann.

Beide Medien wollen eine Geschichte erzählen, besitzen also die „histoire-

Ebene“5. Sprache hat endlos viele Möglichkeiten, diese Geschichten zu erzählen,

da die Ausdrucksmöglichkeiten im Text auf der „discours-Ebene“6 unbegrenzt

sind. Nicht mit sprachlichen Mitteln, sondern mit der Kamera, dem gewählten For-

mat, der Nähe-Distanz-Relation und der Rahmen- und Bildgestaltung kann auch

der Film auf endlos viele Weisen eine Handlung darstellen.

Während im Roman das Lesetempo selbst bestimmbar ist und somit auch die

Bildsprache des Autors in unterschiedlichsten Tempi und Weisen individuell rezi-

piert werden kann, ist die Zeitstruktur für den Zuschauer im Film vorgegeben. So-

mit bleibt ihm nur die vom Regisseur vorgegebene Zeit, die Bildsprache des Films

aufzunehmen.

3 vgl. Fromkin & Rodman: An Introduction to Language. Orlando/ Fort Worth: Harcourt Brace, 1993, 5.Auflage. Seite 35.4 Sequenzierungsangabe: Rolle 3, Sequenz 36 (Im Friseursalon)5Wessendorf, Stephan: Thomas Mann verfilmt . Seite 18.6 ebd. Seite 18.

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2.1 Einführung der Terminologie ‘Bildsprache ‘ im Film

Wie bereits im Vergleich von Bildsprache im Film und im Roman erwähnt, ist auch

das Medium Film in der Lage, durch technische Aspekte immer neue, individuelle

Darstellungsmöglichkeiten zu schaffen (discours-Ebene). Die Variablen sind die

Gestaltung des Bildes und dessen Komposition, die Einstellung bezüglich der Nä-

he-Distanz-Beziehung und die Kameraperspektive und deren Führung. Auch wenn

man diese technischen Elemente beschreiben kann, so muß sich der Analysie-

rende immer bewußt sein, daß er sich lediglich an den Film annähern kann, ihn

aber nie durch Worte vollständig beschreiben wird, da die Wirkung des Films auf

die Sinne und das Unbewußte nicht rational beschrieben werden kann. Und gera-

de das ist das Besondere am Film. Das Ziel der Filmanalyse ist es also,

„über die ästhetische Strukturen von Filmen (...) Einsichten und Erkenntnissesprachlich zu formulieren, um sie auf diese Weise bewußt zu machen“7.

Während es verschiedene Analyserichtungen8 gibt, entschieden wir uns dafür, den

Film hermeneutisch, also auf sein Bedeutungs- und Sinnpotential9 hin zu untersu-

chen. Dazu wählen wir zwei der insgesamt sechs Zugriffe aus, mit denen wir das

vorliegende Material untersuchen wollen: Den strukturalistischen und den genre-

spezifischen Zugriff. Weitere Möglichkeiten wären der biographische, literar- oder

filmhistorische, der soziologische und der psychologische Zugriff10. Sicherlich

werden einige dieser Aspekte auch in unsere Arbeit mit einfließen, aber der

Schwerpunkt sollte auf den beiden erstgenannten liegen.

2.1.1 Das Bild

Das Ziel jedes Bildes ist es, die Realität so naturgetreu wie möglich abzubilden,

um die Illusion zu steigern. Das gilt für die Photographie als auch für den Film. Im

7 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart/Weimar:Verlag Metzler, 1996, 2. überarbeitete Auf-lage. Seite 27.8 ebd. Seite 29.9 vgl. ebd. Seite 32.

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Vergleich ist der Film jedoch noch realer, da er nicht nur Momentaufnahmen, son-

dern auch ganze Handlungsabläufe darstellen kann.

Ein Bild setzt sich zusammen aus dem Rahmen und dem Format. Ein Rahmen

lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das im Bild liegende. Es sammelt

das Interesse und konzentriert es auf die Mitte. Dabei muß der Rahmen nicht so-

fort sichtbar sein, sondern kann das Bild auch nur von zwei oder drei Seiten um-

schließen. Mögliche Rahmen könnten die Aufnahme durch ein Fenster sein, so

daß der Fensterrahmen auch das Bild der Kamera umschließt. Des weiteren kann

eine Szene durch eine offenstehende Tür, oder durch ein Schlüsselloch gefilmt

werden oder Balken und Säulen grenzen die Bildfläche ein. Die im Bild enthalte-

nen Elemente erlangen Wert und besondere Aufmerksamkeit oftmals erst durch

den „frame“11. Das Format ist durch die Industrie größtenteils vorgegeben, jedoch

läßt sich über das heute sehr verbreitete Breitwandformat sagen, daß durch die-

ses Panoramaaufnahmen betont werden und insgesamt eine Monumentalisierung

der Umgebung erfolgt, so daß die Figuren häufig nur in Anschnitten zu sehen sind

und der Zuschauer aufgefordert ist, durch hin- und hergucken den Film zu erfassen.

Vom Normalformat spricht man, wenn das Seitenverhältnis 4:3 ist. Dieses Maß,

welches Visconti für seine Verfilmung von ‘Morte a Venezia’ nutzt, verbreitete sich

in den zwanziger Jahren und wurde später von der „Academy of Motion Picture

Arts and Sciences zum Standard erklärt“12.

2.1.2 Die Komposition

Wenn man von der Komposition eines Bildes spricht, dann wird der Bildaufbau

zunächst von Interesse sein. Denn nicht wie bei einem normalen Bild, bei dem die

Bildmitte aus dem Schnittpunkt der Bilddiagonalen ermittelt werden kann, liegt die

Bildmitte beim Film leicht über diesem Schnittpunkt und wird deshalb „optische

Mitte“13 genannt. Elemente, die in dieser optischen Mitte sind, erscheinen für den

Zuschauer gut im Bild plaziert zu sein. Strukturiert wird das Bild durch Linien, For-

10 vgl. Faulstich, Werner : Die Filminterpretation. Göttingen,1988. In: Hickethier, Knut: Film- und Fernseh-analyse, Seite 29.11 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 47.12 Monaco, James: Film verstehen. Reinbek, 1980. In: Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 47.13 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 51.

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men und Flächen. Während harte Linien männlich wirken, erwecken weiche und

kurvige Linien den Eindruck von Weiblichkeit.14 Lange, horizontale Linien geben

dem Zuschauer das Gefühl von Ausgeglichenheit, wogegen gegeneinander ge-

setzte, diagonale Linien für Konflikt und Aktion stehen.

Zu den Formen ist zu sagen, daß man von Positiv- und Negativformen spricht, wo-

bei abgebildete Menschen und Gegenstände als Positivform, und deren Zwi-

schenräume als Negativform bezeichnet werden. Daraus ergibt sich auch die Flä-

chenstruktur, die grob in hell und dunkel einzuteilen ist. Wenig strukturierte Flächen

stehen vielteilig gegliederten, kleinen Flächen gegenüber und entsprechen hier der

Wirkung von harten und weichen Linien und signalisieren Stabilität bzw. Instabilität.

Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß wenn ein Bild komponiert wird, be-

stimmt werden kann, wohin der Blick des Zuschauers gelenkt werden soll, inwie-

weit das Bild ausgeglichen oder unausgeglichen und unruhig wirkt und sogar, wie

die sozialen Verhältnisse bezüglich Hierarchien, Konflikte oder Nähe und Distanz

bestellt sind.

2.1.3 Nähe-Distanz-Relation

Die Distanz zwischen dem Standpunkt der Kamera und dem Abgebildeten, also

die Relation von Zuschauerbild und dem Gezeigten, wird grob in drei Gruppen

aufgeteilt:

1. Totale (long shots)

2. Normal (medium shots)

3. Groß (close up)

Während long shots oftmals Landschaftsaufnahmen zeigen und damit eher einfüh-

renden Charakter haben, werden bei medium shots meist die Handlungen der

Protagonisten und deren Interaktion im Hauptaugenmerk liegen. Bei close ups ist

die Kamera so dicht bei der gezeigten Person, daß sich anhand der Mimik und

Gestik Charaktereigenschaften, innere Vorgänge und Gefühle zeigen lassen. Mit

dieser Kameratechnik können die Erzählperspektiven ähnlich wie im Roman ges-

taltet werden.

14 vgl. ebd. Seite 51.

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Eine genauere Unterteilung wurde zur Untersuchung der Szenen gewählt:

1. (a) Weit (extreme long shot); (b) Totale (long shot)

2. (a) Halbtotale (long shot); (b) Halbnah (medium shot)

3. (a) Nah (medium close up oder close shot); (b) Groß (close up oder head and

shoulder close up); (c) Ganz Groß oder Detail (choker close up);

(d)Amerikanisch (der für die Handlung entscheidende Bildausschnitt wird ge-

zeigt).15/16

2.1.4 Kameraperspektive und -führung

Die Kameraperspektive ist in drei mögliche Sichten aufzuteilen: die Normalsicht,

bei der sich die Kamera in Augenhöhe (eye-level angle) befindet, die Aufsicht,

bei der wir uns als Zuschauer in der Vogelperspektive (high angle) aufhalten, und

die Untersicht, bei der der Zuschauer den Eindruck hat, in der Froschperspektive

(low angle) der Handlung zu folgen.

Die Kamerabewegung unterstützt das Empfinden, mitten im Geschehen zu sein,

indem sie sich im Schwenk (panning) bei unverändertem Standpunkt um die hori-

zontale, vertikale oder diagonale Achse bewegt, so daß der Zuschauer sich

scheinbar im Raum umschaut. Eine weitere mögliche Kamerabewegung ist die

Fahrt (travelling), bei der der Zuschauer sich auf einem Fortbewegungsmittel

wähnt, welches beispielsweise neben dem Protagonisten oder entlang einer

Landschaft fährt, fliegt oder geht. Die Richtungen der Bewegung sind dabei ent-

scheidend, denn läuft die Bewegung parallel zur Bildfläche, dann ist die Handlung

weiterhin für den Zuschauer distanziert, wogegen dieser involviert wird, sobald die

Handlungs- und Bildachse aufeinandertreffen. Kommt das Geschehen scheinbar

auf den Rezipienten zu, so läuft die Bewegung deckungsgleich mit der Bildachse

des Zuschauers. Wird der Zuschauer frontal angesprochen, dann wird die Abge-

15 vgl. ebd. Seite 58f.16 vgl. Katz, Steven: Die richtige Einstellung. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 1998.Seite 169ff.

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schlossenheit des fiktionalen Raumes überwunden und die beiden Welten schei-

nen übergangslos ineinander zu laufen17.

2.2 Analyse ausgewählter Schlüsselszenen im Film

Die nun folgende Auswahl der im Film für uns interessanten Schlüsselszenen wer-

den mit den im Buch vorhandenen Passagen verglichen. Manche Szenen werden

in der Literaturvorlage wesentlich länger und ausführlicher, andere wiederum we-

sentlich kürzer und ‘unbedeutender’ als im Film erscheinen. Ursachen dieser Dis-

krepanz werden wir nicht nur in diesem Kapitel, sondern auch in den folgenden

Kapiteln untersuchen und analysieren.

Vom Film ausgehend haben wir uns für fünf Schlüsselszenen entschieden, die wir

unter dem Aspekt der Bildsprache behandeln werden:

2.2.1 Ankunft in Venedig (Rolle 1, Sequenz 02, Seite 23-26)18

2.2.2 Erstes Wahrnehmen Tadzios (Rolle 1, Sequenz 07, Seite 32-33)

2.2.3 Die ‘Erdbeer - Szene’ ( Rolle 2, Sequenz 12, Seite 39-40)

2.2.4 Die ‘Sterbe - Szene’ am Strand (Rolle 4, Sequenz 41 , Seite 85-87)

2.2.1 Ankunft in Venedig

Viscontis Verfilmung beginnt mit der Anfahrt und Ankunft in Venedig. Die ersten

Bilder bestehen aus blau-grauen Farben, impressionistisch und mystisch gehalten.

Die wenig strukturierte Fläche mit weichen Linien drückt scheinbare Ruhe aus, die

anschließend durch Bewegung unterbrochen wird. Aus tiefstem Nebel heraus

schwenkt die Kamera nach links, wo sich wärmeres Licht befindet. Die unbelebt

erscheinende Natur wird durch die helleren Farben im linken Bildabschnitt ver-

drängt. Die Dichte des Nebels verringert sich und eine Rauchschwade zieht von

17 vgl. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 63.18 Die in Klammern stehenden Informationen beziehen sich erstens auf die Sequenzierungsliste in Wolff,Jürgen: Literaturverfilmungen. Band 2: Materialien und Dokumente. Stuttgart (1983-84); und zweitens aufdie Seitenzahlen in Thomas Manns: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen.

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links nach rechts durch das Bild. Die Einhaltung der Leserichtung und Kamerafüh-

rung von links nach rechts ist für Werke in unserem Kulturkreis dominant.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Kameraeinstellung Weit, im sogenannten extreme

long shot wird der Zuschauer mit Hilfe des Landschaftsblickes eingestimmt und

vorbereitet, während eine Distanz gewahrt wird. Diese Distanz bleibt auch beste-

hen, als das Boot im Mittelgrund parallel zur Bildfläche vorbeifährt. Das Schiff ist

offensichtlich für den Passagiertransport verantwortlich und bricht somit als Stell-

vertreter für den Menschen und die Zivilisation das Landschaftsbild auf. Bug und

Backbord sind klar zu erkennen, da die Kamera vom extreme long shot in den

long shot, die Totale, wechselt. Auf dem vorderen Teil des Schiffes ist eine Art

Überdachung angebracht, die die Passagiere vor dem Wetter schützen soll. Die

Bewegungslinie ist jetzt nicht mehr parallel zur Bildfläche, sondern mit der Bildach-

se des Zuschauers deckungsgleich. Damit setzt Handlung ein. Die Sonne ist noch

nicht zu sehen, jedoch treten die ersten Sonnenstrahlen hervor. Es scheint noch

recht früh am Morgen zu sein, der Sonnenaufgang ist nur hinter den Wolken zu er-

kennen. Nachdem das Boot durch den linken Vordergrund aus dem Bild ver-

schwindet, wird ein Schnitt gemacht und Professor Gustav von Aschenbach in der

Halbtotale gezeigt. Er sitzt in einem ausgedienten Armstuhl. Es ist offensichtlich

kalt auf dem Schiff, denn der Protagonist trägt Mantel, Schal, Hut und Handschuhe,

und hat zudem noch eine Decke über den Beinen. Abgesehen von dem eher im

Hintergrund agierenden Matrosen erscheint diese Kameraeinstellung wie ein foto-

grafisches Bild. Diese Einstellung wird durch viele horizontale und vertikale Linien

gerahmt. Aschenbach selbst ist Mittelpunkt dieser Einstellung und befindet sich in

der optischen Mitte. Nach wenigen Sekunden wird er mit Hilfe des Zooms bis in

den medium close up herangeholt. Das Bild wird von Aschenbachs Gesicht aus-

gefüllt. Gesichtszüge und seine Mimik werden noch klarer und intensiver. Es ist zu

bemerken, daß, obwohl es ein stehendes Bild ist, Bewegung minimaler Art vor-

handen ist, wie zum Beispiel das durch den Wind erzeugte Umblättern des Bu-

ches, das Aschenbach in der Hand hält, oder Aschenbachs Kopfschütteln.

Als nächstes werden Sandbänke vor Venedig steuerbord im Vorbeifahren ge-

zeigt. Durch die Kamerafahrt hat der Zuschauer den Eindruck, diese aus Aschen-

bachs Perspektive wahrzunehmen. Daraufhin erfolgt ein Schnitt und eine befes-

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tigte Küste mit Gebäuden erscheint am linken Bildrand. Es folgt ein Kamera-

schwenk und der Zuschauer erhält einen Gesamteindruck von einem der drei

Schiffswege nach Venedig. Im unteren Vordergrund ist die Überdachung des

Schiffes zu erkennen. Bisher hielt die Kamera den eye-level angle ein, nun wählt

Visconti den Standort des Kapitäns für die Kamerapositionierung. Es folgt ein

Kameraschnitt von Weit in die Einstellung Groß, dem head and shoulder close

up.

Aschenbach erscheint in seinem Stuhl zusammengekauert und in sich gekehrt. Es

scheint, als stützten seine Hände den Kopf. Mit erschöpfter Miene schließt er

mehrmals die Augen und sinkt mehrmals in sich zusammen. In einem Schnitt in die

Totale wird ein Bild Venedigs vom Boot aus aufgenommen gezeigt. Während die

untere Hälfte vom Wasser und den vom Boot erzeugten Wellen eingenommen

wird, kann man im rechten Mittel- und Hintergrund klar die ersten Anlegestellen

Venedigs in dunklen Farben erkennen. Der linke Hintergrund ist als Kontrast ver-

schwommen und von Dunst umgeben und zeigt den Turm des Markusplatzes.

Damit wird das noch fern scheinende, aber erreichbare Ziel des Reisenden aus-

gedrückt. Ein Schnitt zurück in den head and shoulder close up zeigt, wie A-

schenbach wach wird, sich ein wenig aufrichtet und tief durchatmet. In der Totalen

wird ein letztes Mal das Boot gezeigt, wie es in den Hafen einfährt. Der Rauch

scheint dabei dem Schiff vorauszueilen. Es fährt in den Hafen von Venedig ein und

die bis dahin untermalte Musik wird von der Schiffssirene und dem venezianischen

Treiben an Land abgelöst.

Vergleicht man nun den Film mit seiner literarischen Vorlage, dann sollte vorab

erwähnt sein, daß Visconti die ersten zwei Kapitel der Literaturvorlage nicht um-

setzt, jedoch die Informationen zum Teil verwertet.

Diese Auslassung wird Thema des Kapitels „Divergenzen Romanvorlage - Film“

sein.

Auch wird der erste Teil des dritten Kapitels der Romanvorlage ignoriert. Weder

der Entschluß nach Venedig zu fahren, noch die Zeit in München, und die Vorbe-

reitungen, die Aschenberg vor seiner Abreise erledigt, werden im Film themati-

siert.

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„Mehrere Geschäfte weltlicher und literarischer Natur hielten den Reiselustigennoch etwa zwei Wochen in München zurück.“19

Zudem wird auch in keiner Weise sein ursprüngliches Ziel erwähnt. Bevor der

Schriftsteller Aschenbach, der im Film als Komponist dargestellt wird, nach Vene-

dig fährt, bezieht er sein Landhaus, welches sich auf einer Insel nahe der istrischen

Küste befindet.

Aschenbachs Unwohlsein und Bewußtsein, noch nicht den Ort seiner Bestimmung

gefunden zu haben wird dem Zuschauer vorenthalten.

Abreise und Überfahrt werden von Visconti massiv gekürzt, so daß man vom Film

ausgehend erst ab folgender Passage die beiden Werke miteinander vergleichen

kann:

„Der Himmel war grau, der Wind feucht. Hafen und Inseln waren zurückgeblieben,und rasch verlor sich aus dem dunstigen Gesichtskreise alles Land. Flocken vonKohlenstaub gingen, gedunsen von Nässe, auf das gewaschene Deck nieder, dasnicht trocknen wollte. Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus,da es zu regnen begann.“ 20

Diese Bilder werden dem Zuschauer indirekt vermittelt. Allerdings ist die Überda-

chung schon aufgespannt. Man weiß also nicht, warum es aufgebaut wurde, da es

im Film auch nicht regnet. Zwar sieht der Zuschauer den grauen Dunst und die

feuchte Luft, doch wird der eigentliche Grund, daß es zuvor geregnet hat, vorent-

halten. Ebenso erfährt der Zuschauer nichts von den Kohlenstaubflocken.

Der Zuschauer wird in die Handlung eingeführt, indem das offene Meer, dann das

Boot und seine Überdachung mit der Kamera aufgenommen wird. Es gibt keinen

auktorialen Erzähler, der Passagen aus der Romanvorlage passend zu den Bild-

einstellungen liest.

Der folgende Satz ist Visconti in seiner Umsetzung hervorragend gelungen. Ge-

meint ist damit die Bildeinstellung, wie Aschenbach in seinem Stuhl ruht.

19 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 20.20 ebd. Seite 23.

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„In seinem Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende, und dieStunden verrannen ihm unversehens.“21

Hier stellt Visconti erstmalig seinen Protagonisten Aschenbach vor. Er zeichnet ihn

so, wie er ihn sieht. In dieser Aufnahme wird visuell mit der Untermalung der Musik

wesentlich mehr ausgedrückt, als in der Literaturvorlage an dieser Stelle steht.

Dieser Kunstgriff ist nötig, da es der Anfang des Filmes ist, während diese Szene

im Roman im dritten Kapitel steht. Visconti greift auf vorherige Passagen des Bu-

ches zurück, wie zum Beispiel die Beschreibung Aschenbachs.22 Aschenbachs

Sehnsucht, Hoffnung und Suche nach dem Fremdartigen werden in dieser Szene

durch die Musik in Verbindung mit den Bildern eingeführt.

Die folgenden Zeilen des Buches sind in recht ungenauen Bildern umgesetzt wor-

den. Aschenbachs Gedanken wie zum Beispiel über den greisen Geck werden in

keiner Weise dargestellt. Das Dach, wie im Buch beschrieben, wird auch nicht

abgenommen.

„Unter der trüben Kuppel des Himmels dehnte sich rings die ungeheure Scheibedes öden Meeres. Aber im leeren, im ungegliederten Raume fehlt unserem Sinnauch das Maß der Zeit, und wir dämmern im Ungemessenen.“23

Diese Zeilen beweisen die Grenzen einer Literaturverfilmung. Zwar ist der Himmel

wie eine Kuppel, das Meer als öde, der Raum ungegliedert dargestellt, doch ist

fraglich, ob der Zuschauer diese Bilder bewußt wahrnimmt, oder sie passiv, nicht

analysierend hinnimmt. Der ‚wir‘-Bezug kann im Film nicht nachvollzogen werden.

Der letzte zitierte Satz ist nicht filmisch umgesetzt worden.

Wiederum sind Szenen von Visconti ausgelassen worden.24 Das nächste Bild,

das der Film aus dem Buch umsetzt, ist die flache Küste, die zur Rechten auf-

taucht. Es ist eine gelungene Einstellung, da der Zuschauer das Gefühl hat, vom

Boot aus zu schauen. Auch Thomas Mann kreiert diese Perspektive:

„Da tauchte zur Rechten die flache Küste auf, [...]“25

21 ebd. Seite 23.22 ebd. Seite 19.23 ebd. Seite 24.24 ebd. Seite 24.25 ebd. Seite 24.

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Das Landschaftsbild von Visconti wird allerdings durch Sandbänke und vereinzelt

wandernde Menschen verfeinert, während Mann von Fischerbooten schreibt, die

das Meer beleben. Visconti schmückt die Fahrt zum Hafen aus. „Armselige Be-

hausungen“26 werden mit der Kamera nicht eingefangen, statt dessen veneziani-

sche Gebäude und von weitem ein Kirchenturm.

Auch die Schiffssirene, die die Musik ablöst, wird von Mann nicht genannt. Der im

Film wichtige Einschnitt ist im Buch in dieser Weise nicht vorhanden.

Mann hingegen inszeniert den Kontrast von Reise und Ankunft, offenes Meer und

Stadt, indem er auf den folgenden Seiten das Treiben an Land und Venedig be-

schreibt.27

2.2.2 Erstes Wahrnehmen Tadzios

In der nun folgenden Szene sieht Aschenbach zum ersten Mal Tadzio.

Nachdem sich Aschenbach am Abend seiner Ankunft in die Eingangshalle bege-

ben hatte, um auf das Abendessen zu warten, nimmt er sich eine deutsche Zeitung

und setzt sich hin.

Aschenbach wird, wie bereits aus der ersten Szene bekannt, im head and shoul-

der close up gezeigt. Er überfliegt das Blatt und blickt etwas ermüdet auf. Seine

Augen blicken sich um, offensichtlich schaut er durch den Raum und sieht sich die

Menschen an. Sein Blick konzentriert sich auf einen Punkt. Mit einem Schnitt sieht

der Zuschauer, was Aschenbach im Moment beobachtet. Ihm ist eine gegenüber

sitzende Familie aufgefallen. Die Kamera schwenkt von links nach rechts, die Ka-

meraeinstellung ist auf Nah, so daß wir die Personen von der Mitte des Oberkör-

pers an aufwärts sehen können. Unser Blick wird über ein Mädchen, dann eine

ältere Dame, zwei weitere Mädchen und dann einen Jungen geführt, der sich

später als Tadzio herausstellen soll. In diesem Augenblick endet auch die Musik

für einen Moment. Tadzio wird in Nah fokussiert, so daß es einem Portrait gleicht.

Er hält den Blick gesenkt, erwidert Aschenbachs Blick nicht und stützt seinen Kopf

ähnlich wie in Rodins Denkerhaltung auf. Im Hintergrund befinden sich Mosaik-

26 ebd. Seite 25.27 ebd. Seite 25 ff.

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fenster aus Steinglas. Das farbige Glas korrespondiert zu Tadzios blauen Augen

und seinem roten Mund und unterstreichen den Gemäldecharakter dieser Einstel-

lung. Es folgt ein Kameraschnitt auf Aschenbach im close shot. Im ersten Moment

scheint er wie versteinert, dann aber wendet er sich seiner Zeitung wieder zu und

die Musik setzt erneut ein. Nach einem weiteren Schnitt werden die Musiker port-

raitiert. In der Halbtotalen schwenkt die Kamera über die Musiker. Wieder erfolgt

ein Schnitt auf Aschenbach im head and shoulder close up. Er legt die Zeitung ab

und schaut auf einen Punkt in eye-level, vermutlich in Tadzios Richtung. Tadzio

selbst wird nicht gezeigt. Aschenbergs Augen sind auf einen Punkt fixiert, während

er sich am Kinn kratzt. Es folgt ein Schnitt auf Tadzio wieder in Nah. Durch den

Wechsel von Einstellungen zwischen Aschenbach und Tadzio soll betont werden,

daß Aschenbach in Tadzios Richtung schaut. Von ihm ausgehend schwenkt die

Kamera langsam 180 Grad von links nach rechts und zeigt einen weiten Teil der

Gesellschaft, die sich in der Halle befindet.

Der Raum ist erfüllt von Blumen, echte in großen hellblauen, schimmernden Vasen

und künstliche an der Kleidung und den überdimensional großen und sehr ausge-

fallenen Hüten der Damen. Die Farben scheinen nicht aufeinander abgestimmt, zu

viele verschiedene treffen aufeinander. Die Einrichtung des Raumes ist dunkel und

von Holz und Leder dominiert. Visconti hat hier durch den Setdesign die Idee der

Dekadenz und der fin-de-ciècle Stimmung durch Farben und Opulenz der Aus-

stattung unterstrichen.

Der Halbkreis des Schwenks schließt bei Aschenbach. Nur kurz verweilt die Ka-

mera in Nah, worauf sie sich bald mit Hilfe des Zooms scheinbar entfernt bis in die

Halbtotale. Ein Diener, im Bildhintergrund auftauchend, weist auf Englisch darauf

hin, daß das Essen angerichtet sei. Viele der Hotelbewohner stehen auf und be-

wegen sich zum Speisesaal. Nicht so Aschenbach, der weiterhin Tadzio und des-

sen Familie beobachtet. Die Kamera schwenkt weiterhin im Walzertakt in einem

Halbkreis, von rechts nach links und von links nach rechts. Dieser Schwenk ist

durch einen Schnitt unterbrochen und bleibt konstant in der Totalen. Dabei ist der

Standort und Ausgangswinkel verschoben worden, denn nicht mehr in Augenhöhe,

sondern in der leichten Aufsicht wird dieser Schwenk vollzogen. Anschließend

nach einem Schnitt ist das Bild auf Aschenbach in Nah gerichtet, schnell folgt ein

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Schnitt auf Tadzio in Nah, der Zoom öffnet sich und der Zuschauer scheint zurück-

zutreten; der Junge bleibt trotzdem Mittelpunkt des Bildes. Die Kamera entfernt

sich soweit von ihm, daß der Zuschauer zum ersten Mal erkennen kann, wie nah

Aschenbach an Tadzio sitzt, daß zwischen den beiden nur ein Gang und ein Tisch

im rechten Mittelgrund steht (Totale). Aschenbach selbst wird von hinten im unte-

ren, rechten Vordergrund und Tadzio im oberen, linken Bildrand gezeigt, so daß

sich eine Diagonale ziehen ließe, die von links oben nach rechts unten verlaufen

würde. Eine abfallende Linie, die vielleicht für die Jugend oben und das Alter unten

steht, für Gesundheit und Kraft auf der einen und Krankheit und Schwäche auf der

anderen Seite. Sie könnte aber auch für Naivität und Weisheit stehen, für das Dio-

nysische und das Appolinische. Während die Kamera in der Totalen bleibt, gehen

Gäste von links nach rechts durchs Bild, doch Aschenbach und Tadzio behalten

weiterhin durch Blicke diese diagonale Linie zwischen sich bei.

Auch in der Romanvorlage findet sich die Stelle, daß Aschenbach in die Halle

geht:

„Er nahm sich eine Zeitung vom Tische, ließ sich in einem Ledersessel nieder undbetrachtete die Gesellschaft, [...]“28

Diese Situation, wie Aschenbach die Zeitung überfliegt und sich eher als Beob-

achter verhält, ist treffend umgesetzt worden. Der zweite Teil des Satzes wird igno-

riert, was allerdings eine logische Konsequenz ist, da dieser auf Informationen

basiert, die von vornherein weggelassen worden sind.29

Mann schreibt im folgenden Absatz über „eine Gruppe halb und kaum Erwachse-

ner, unter der Obhut einer Erzieherin oder Gesellschafterin“30. Diese Beobachtun-

gen erscheinen aus Aschenbachs Sicht. Visconti setzt diese Perspektive mit sei-

ner Kamera um. Dann wiederum schreibt Mann von Aschenbach und distanziert

sich somit von seinem Protagonisten. Visconti versucht diese Distanz ebenfalls zu

erzeugen, indem er Aschenbach und Tadzio in einem Bild am Ende der Szene

zeigt.

28 ebd. Seite 32.29 ebd. Seite 32.

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Wilson bezeichnet diese Technik in der Literaturvorlage sowie im Film als „mixed

narration“, die Visconti eine Doppelperspektive, nämlich die der Sympathie und

der Ironie, ermöglicht.31 Während Mann diese Erzählperspektiven durch Worte

erreicht, nutzt Visconti die Kamera.

Die Beschreibungen und Umschreibungen der Kinder und vor allen Dingen Tadzi-

os, die sich auf fast zwei Seiten32 erstrecken, werden im Film nur durch die Perso-

nen selbst wiedergegeben. Tadzio wird somit als schöner Junge dargestellt. A-

schenbergs Gedanken werden dabei außer Acht gelassen. Der Zuschauer erfährt

nur, daß der Jüngling die ganze Aufmerksamkeit Aschenbachs erlangt. Der Kell-

ner, der auf Englisch die Meldung macht, daß das Essen fertig sei, wird in Viscon-

tis Verfilmung szenisch umgesetzt. Auch daß die Kinder mit ihrer Gouvernante in

der Halle bleiben, während die Gäste - bis auf Aschenbach, der die Gruppe beo-

bachtet - in den Speisesaal gehen, ist mit Manns Vorlage kongruent.

Folgende Beobachtungen bezüglich Tadzios Erscheinung werden in dieser

Schlüsselszene in der Literaturvorlage gemacht:

n „ein langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren“33

n „vollkommen schön“34

n „Sein Anlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umrin-gelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruckvon holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus e-delster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von [so] einmalig per-sönlichem Reiz, [...]“35

n Weichheit und Zärtlichkeit36

n englisches Matrosenkostüm [...]37

n Haltung von lässigem Anstand38

n Haut wie Elfenbein39

30 ebd. Seite 32.31 vgl. Wilson, Michael: Art is ambiguous. The Zoom in Death in Venice. In: Literature-Fim Quaterly 26(1998). Heft 2. Seite 154-155.32 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 32-33.33 ebd. Seite 32.34 ebd. Seite 32. 35 ebd. Seite 32.36 ebd. Seite 33.37 ebd. Seite 33.38 ebd. Seite 33.39 ebd. Seite 33.

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Aschenbachs Reaktion auf Tadzio ist ebenfalls nur durch schauspielerische Leis-

tungen Bogardes (Mimik und Gestik) sichtbar. Seine Gedanken und Vermutungen

bleiben dem Zuschauer somit verschlossen; die Gefühle, wie zum Beispiel das

Erstaunen40 und Schaudern41 werden vermittelt.

2.2.3 Die ‚Erdbeerszene‘

Die folgende Szene spielt am Strand. In der Totalen wird ein two-shot von Jasciu

und Tadzio von hinten gezeigt, wie die beiden, im Badeanzug und mit Hüten, Arm

in Arm den Strand entlang gehen. Die Kamera schwenkt dabei vom Stativ aus mit

der Bewegung der beiden mit und ahmt somit zum wiederholten Male die Rolle

und Sichtweise des Beobachters (Aschenbach?) nach. Ein Schnitt erfolgt, worauf

wir Aschenbach vor einer Strandhütte sitzend sehen. Durch die Kamera in Halb-

nah kann man sehen, daß er, während alle eher leger gekleidet ist, einen weißen

Anzug mit schwarzer Weste trägt und sehr aufrecht an seinem Tischchen sitzt und

arbeitet. Vor ihm liegen Papierbögen, Mappen und eine Zeitung. Die im Hinter-

grund zu sehende Strandhütte und deren Türrahmen und Kanten betonen die

Strenge und Konsequenz, mit der Aschenbach selbst hier am Strand seine Hal-

tung bewahrt. Er schaut kurz von seiner Arbeit auf, dann wieder runter um dann

gleich wieder aufzublicken, als habe er etwas Interessantes entdeckt. Ein Schnitt

auf Jasciu und Tadzio, diesmal von Vorne (Halbnah), zeigt, was wohl seinen Blick

gefesselt hat. Deutlich fallen in dieser Szene die angedeuteten Genitalien der bei-

den Jungen auf, die am unteren Bildrand, jedoch noch deutlich und beabsichtigt im

Bild zu erkennen sind. Galerstein deutet diese Symbolik als Zeichen für Potenz

und jugendliche Kraft, wenn sie schreibt

„Another recurrent image ist Tadzio‘s budding genitals. His youth - the potencysymbolized by youth and genitals - is seen in contrast to Aschenbach‘s age andtherefore presumed impotence.“42

40 ebd. Seite 32.41 ebd. Seite 32.42 Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti‘s ‚Death in Venice‘. In: Literature-Film Quarterly13 (1985). Heft 1. Seite 31.

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Tadzio und Jasciu führen ein Gespräch43 in polnisch (in der Vorlage nicht be-

schrieben). Die Kamera folgt dabei wieder von einem Stativ aus der Bewegung

der Jungen. Da sie der Kamera näherkommen und die Aufnahme der beiden bis

in den head and shoulder close up geht, scheint es, als gingen sie an ihrem Be-

obachter vorbei. Jasciu küßt Tadzio auf die Wange, worauf ein sofortiger Schnitt

auf Aschenbach in Halbnah erfolgt. Wie vorher sitzt er an seinem Schreibtisch,

jedoch sind seine Hände angespannt und ein leicht erstauntes, aber auch be-

schämtes Lächeln bildet sich um seinen Mund, während er die Augenbrauen in

scheinbarem Erstaunen hochzieht. Es scheint, als habe er etwas gesehen, daß er

nicht hätte sehen dürfen. Der Kuß, der auch in der Novelle genannt wird44, wühlt ihn

innerlich auf.

„Aschenbach war versucht ihm mit dem Finger zu drohen. [...]“45

Er faßt sich mit leerem Blick an die Lippen und während der Zoom bis auf Groß

heranfährt, blickt sich Aschenbach wie ein ertappter Voyeur verstohlen um. Noch

einmal lächelt er leicht beschämt und blickt sich um.

Es erfolgt ein Schnitt auf eine Leinwand und einen Arm, der einen Stift/Pinsel hält

(Amerikanische Kameraeinstellung). Von dort aus öffnet sich der Zoom, der Zu-

schauer scheint zurückzutreten und es folgt ein Schwenk von links nach rechts über

die Menschen am Strand. Auffallend sind, wie bereits im Saal, die vielen Hüte, die

von den Frauen und Mädchen getragen werden. Ebenso fällt auf, daß Aschenbach

der einzige am Strand ist, der allein ist. Während große Gruppen aus verschiede-

nen Ländern (betont durch Kleidung und Sprache) am Strand direkt im Sand la-

gern, sitzt Aschenbach alleine auf dem sauberen, sandfreien Steg vor der Hütte.

Es folgt wiederum ein Schnitt auf Aschenbach vor seiner Hütte in der Halbtotalen,

er hat Erdbeeren auf seinem Tisch liegen, die durch ihre Farbe im Bild deutlich

hervorstechen. Während im Buch der Kauf und das Essen dieser unmittelbar ne-

beneinander stehen, sind diese beiden Handlungen im Film getrennt voneinander

43 „Erinnerst du dich daran, als ich das letzte Mal auf dich gewartet habe und du nicht gekommen bist, weildu die Verabredung vergessen hast? Ich habe mit Chris gesprochen und er hat mir gesagt, daß der Aus-flug, den er nach Murano gemacht hat, fabelhaft war ... Es scheint, daß dort kleine unbewohnte Inselchensind ... Sehen wir sie uns eines Tages an?“(Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ’Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Aachen:Shaker, 1994. Seite 101)44 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 40.45 ebd. Seite 40.

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und bilden einen szenischen Rahmen. Bei unveränderter Kameraeinstellung sehen

wir Aschenbach um den Tisch gehen, sich eine Erdbeere nehmen und sich mit

einem deutlich zu hörenden Seufzer in den Liegestuhl setzen. Im medium close

shot, der gewählt wurde, um einen Schwerpunkt auf Aschenbachs Mimik und Ges-

tik zu legen, sieht der Zuschauer, wie Aschenbach sich zunächst seine Erdbeere

genau anschaut, die er mit spitzen Fingern hält, vermutlich aus Angst, sich schmut-

zig zu machen. Er atmet einmal tief und hörbar auf und leckt sich mit der Zunge

über die Lippen, um dann herzhaft in die Erdbeere zu beißen. Nachdem er sie

verzehrt hat, läßt er das Grün achtlos fallen. Wichtiger ist ihm, daß er seine Finger

nicht schmutzig macht, und deshalb greift er sofort zum Taschentuch und wischt

sich die Spuren der Früchte von den Lippen.

Mit einem Schnitt auf eine andere Gruppe am Strand verlassen wir Aschenbach

mit seinen Erdbeeren und hören den Erdbeerverkäufer auf italienisch weiterhin

seine Ware anbieten. In Detaileinstellung sehen wir die Schürze des Verkäufers,

die weiß ist und mit roten Flecken übersät ist. Ein alter Mann, in amerikanischer

Einstellung ist lediglich sein Gesicht von der Seite und die Schürze des Verkäufers

im Hintergrund zu sehen, warnt auf Englisch: „Oh, no, Darling. It’s very dangerous -

It’s hot weather and you shouldn’t eat fresh fruit - only cooked vegetables.“ Diese

Warnung wird durch den erhobenen Zeigefinger intensiviert. Sein weißer Bart und

das Monokel machen ihn zu der Figur des Weisen, dessen Warnung, obwohl A-

schenbach auch diese Familie beobachtet haben mag, zu spät kommt.

In der Novelle ist die Warnung des weißhaarigen, englischen Gentlemans, der auf

die Gefahr zu erkranken hinweist, nicht vorhanden. In beiden Werken symbolisiert

die Erdbeere den Tod bzw. erweist sich als Todesbote.

„What Mann refers to as ‘great luscious dead-ripe fruit’ are shown as little too red,a little too ripe, just on the verge of rottenness, like Aschenbach himself andEurope itself.“46

Eine weitere Interpretation bezüglich der Erdbeere wird von Béatrice Delassalle

vorgenommen:

46 Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti’s ‘Death in Venice’. Seite30

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„Sie ist das Sinnbild der Weltlust, mit ihr beginnt sich der innere Wandel in A-schenbach zu vollziehen: Es zählen nicht mehr Kunst und Intellekt, mit zunehmen-den Interesse an dem undurchsichtigen polnischen Knaben hat er Freude an derWelt, am ‘Leben’, an der Sinneslust.“47

Delassalles Interpretation scheint im Widerspruch zu Galersteins stehen, jedoch

können auch beide zutreffend sein. Die Erdbeere als doppeldeutiges Symbol.

Visconti hat die Tragfähigkeit dieser Szene gesehen und sie für seine Interpretati-

on genutzt und ausgebaut.

2.2.4 Die ‚Sterbe-Szene‘ am Strand

Die Kamera zeigt in einem von rechts nach links geführtem Schwenk eine Gruppe

von vier Personen in Strandkörben sitzen, von denen eine Frau mit starrem Blick

ein Lied in fremder Sprache singt. Die Personen sind in Nahaufnahme gezeigt und

wirken verlassen, da sie ins Leere blicken. In einem Schnitt in die Totale sieht man

durch einen Schwenk von rechts nach links den gesamten Strand, der zum ersten

Mal im Film verlassen ist, da nur zwei Mädchen spielen und ein paar Erwachsene

in einem Grüppchen zusammenstehen. Die Kamera scheint an dem Strandboy

hängenzubleiben und folgt aus unveränderter Perspektive seinem Weg, wie er von

Aschenbach vom Steg abholt und ihm seine Hilfe anbietet. Bereits hier sieht man

die Erschöpfung Aschenbachs, da er nur mühsam laufen kann und ein Bein nach-

zieht. Es folgt ein Schnitt in die Halbtotale, so daß der mittlerweile schwer er-

krankte Aschenbach und der stützende Strandboy ganz zu sehen sind. Aschen-

bach schickt den Boy einen Stuhl holen und setzt sich in einen Sonnenstuhl. Die

Kamera bleibt in der Nahaufnahme und konzentriert sich auf von Aschenbach, der,

vom Friseur fratzenhaft aufgeschminkt, im Stuhl sitzt. Das Lied der Frau endet.

Nach einem Schnitt werden Tadzio und sein Freund gezeigt, die sich in den Sand

setzen. Es scheint aus Aschenbachs Perspektive gefilmt zu sein, denn die Jungen

sind in der Totalen aufgenommen und mit leichter Aufsicht. Die beiden raufen sich,

wobei Tadzio gegenüber seinem Freund der eindeutig Schwächere ist. Ein Schnitt

zu Aschenbach im head and shoulder close up zeigt ihn aufgebracht und besorgt.

Die Farbe seines Haares läuft am Gesicht hinunter. Aschenbach kämpft mit sich,

47 Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ’Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 102

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versucht aufzustehen, sinkt im Stuhl zusammen, wird sehr kurzatmig, zittert und

beobachtet (durch einen schnellen Schnitt auf Tadzio deutlich gemacht) wie Tad-

zio, von seinem Freund verärgert, ins Wasser geht und in die Ferne schaut. In der

Totalen sehen wir das mit Weichzeichner romantisch anmutende Bild, wie Tadzio

sich nach Aschenbach umsieht und mit seinem linken Arm gen Himmel zeigt. Ein

Schnitt auf Aschenbach in Großaufnahme zeigt, daß er versucht, noch einmal auf-

zustehen, Tadzio seinen Arm zitternd entgegenstreckt. Doch diese Anstrengung ist

für ihn zuviel. Aschenbach stirbt. Nochmals sehen wir fast gemäldegleich, wie Tad-

zio in der Totalen im Meer steht, während weit hinten am Horizont ein Boot zu se-

hen ist. Im rechten Vordergrund des Bildes steht eine große, alte Kamera, die dem

Ganzen etwas Verlassenes verleiht. Diese Einstellung rahmt Viscontis Film, da sie

an die erste Szene (Anreise) seiner Verfilmung anschließt. Auch hier findet der

Zuschauer wenige Strukturen und Linien im Bild, die wieder eine vermeindliche

Ruhe ausstrahlen. In der Totalen auf den Strand geschnitten sehen wir zwei Vene-

zianer, die zum Stuhl kommen und den mittlerweile grotesk aussehenden Aschen-

bach vom Strand wegtragen. Die Kamera folgt im Schwenk dem Toten und der

Abspann erscheint auf der Linken.

In seiner Novelle beschreibt Mann den Strand als „einst so farbig belebten, nun

fast verlassenen Lustort“, auf dem „Herbstlichkeit und Überlebtheit“ liegt48. Visconti

setzt diese von Mann kreierte Atmosphäre um, indem er zwei Frauen in Szene

setzt, die in der Literaturvorlage nicht beschrieben werden. Die ältere der beiden

Damen singt auf italienisch ein Lied, welches ähnliche Melancholie wie durch

Manns Worte auslöst. Unterstützt wird dies durch die Kamera, die die Frauen in

der Nahaufnahme und den Strand in der Halbtotalen zeigt. Der im Buch von Mann

beschriebene „scheinbar herrenlose photographische Apparat“ wird von Visconti

mit der Kamera festgehalten. So wie von Mann beschrieben, das heißt mit

schwarzem Tuch und dreibeinigem Stativ, steht der Apparat nicht unweit vom

Wasser. Der Zuschauer, genauso wie der Leser, wundert sich, warum sie herren-

los ist. Kälte und Wind sind im Film durch das Flattern der Kleiderstoffe und durch

die eher nicht scheinende Sonne ausgedrückt. Die Luft ist gräulich gefärbt.

48 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 85.

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Der Szenenaufbau ist nichts desto trotz anders: Während Mann ‘nur’ schreibt, daß

Aschenbach zum Meere gegangen sei, filmt Visconti seinen Protagonisten, wie er

zum Strand geht. Dabei wird dem Zuschauer gezeigt, wie schwach Aschenbach

auf den Beinen ist. Ein Strandarbeiter kommt ihm zu Hilfe und stützt ihn. In der Lite-

raturvorlage wird der Leser in dieser Szene nicht in dieser Weise auf Aschen-

bachs Zusammenbruch vorbereitet.

„[...] eine Decke über den Knien, etwa in der Mitte zwischen dem Meer und derReihe der Strandhütten in seinem Liegestuhl ruhend, sah Aschenbach ihm nocheinmal zu.“49

Nur durch die beiden Wörter noch einmal erfährt der Leser, daß es wahrscheinlich

das letzte Mal ist, daß Aschenbach Tadzio beobachtet. Anschließend wird in der

Novelle der Kampf, in dem wie im Film Tadzio der Unterlegene ist, beschrieben.

Während im Film Aschenbach Tadzio zu Hilfe kommen möchte, aber nicht kann,

da seine Kräfte ihn verlassen, steht in der Literaturvorlage folgendes:

„Entsetzt wollte Aschenbach zur Rettung aufspringen, als der Gewalttätige endlichsein Opfer freigab.“

Visconti dramatisiert und steigert an dieser Stelle Aschenbachs somatisches Lei-

den immens. Vom gestützt - werden über das aufstehen - wollen bis hin zum ab-

schließenden Zusammenbruch und Tod.

Wie im Film so auch in der Novelle geht Tadzio die reuevollen Bitten und Rufe ü-

berhörend zum Wasser. Aschenbach wird als der Schauende beschrieben, wel-

cher „der Bewegung des draußen Schreitenden“50 verfolgt. Aschenbachs Haupt

hebt sich noch einmal und sinkt dann auf die Brust. Mann schreibt anschließend,

daß aber nur sein Körper „[...] den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen

Schlummers zeigte“51. Tadzio, der mit den Füßen im Wasser steht, streckt seinen

linken Arm aus. In der Literaturvorlage steht:

49 ebd. Seite 86.50 ebd. Seite 87.51 ebd. Seite 87.

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„Ihm war aber, als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voran-schwebe ins Veheißungsvoll - Ungeheure. Und wie so oft, machte er sich auf, ihmzu folgen.“52

Die Gedanken Aschenbachs und der Kommentar des auktorialen Erzählers wer-

den nicht umgesetzt. Visconti läßt Tadzio im Wasser stehen, und zeigt, wie A-

schenbach weggetragen wird. Seine auffallend unwirkliche Maske ermöglicht dem

Zuschauer die Annahme, daß es nur Aschenbachs äußere Hülle ist, die weggetra-

gen wird, während seine Seele oder Geist schon entschwunden ist. Zudem er-

möglicht die in Aschenbachs Gesicht zerlaufene Farbe dem Zuschauer die Mög-

lichkeit, Aschenbachs Verjüngen im Nachhinein zu belächeln.

An dieser Stelle ist der Film zu Ende. Im Buch wird Aschenbach noch aufs Zimmer

gebracht. Und aus auktorialer Erzählperspektive beendet Mann mit beißender Iro-

nie die Novelle:

„Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nach-richt von seinem Tod.“53

Eine Beschreibung der letzten Filmszene gibt Delassalle:

„Tadzio, der von Jasciu in der Schlußszene in den Schmutz geworfen wird, erhebtsich, geht ins Meer und verliert sich im Licht. Aschenbach erkennt, daß die Schön-heit wesenlos ist, daß sie auf das Weite verweist, das Nicht-Greifbare, das Habenund Nicht-Haben zugleich - seit jeher das Elend aller Sterblichen.“54

Diese Filminterpretation käme der Schlußszene im Buch recht nahe, doch ist es zu

bezweifeln, ob der Zuschauer - ohne das Buch gelesen zu haben - die letzte Film-

passage so entschlüsseln kann.

Galerstein bemerkt zum Schluß des Films, daß die Kamera wesentlich länger A-

schenbachs toten Körper fokussiert, als man von Manns Beschreibung her erwar-

ten könnte.55 Visconti hat in dieser Strandszene generell größeres Augenmerk auf

52 ebd. Seite 87.53 ebd. Seite 87.54 Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ’Tod in Venedig‘ - Übersetzung oder Neuschöpfung .Seite 87.55 Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti’s ‘Death in Venice’. Seite 33.

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Aschenbach gelegt, um durch die Mimik des Protagonisten die Atmosphäre die-

ser Situation wiederzuspiegeln. Weiterhin schreibt sie:

„Visconti also makes the viewer aware of the visions of sand, sea, sky - all comingtogether at the ocean’s edge. Aschenbach we have known from the beginning, ismorally on the edge of an abyss. The sea represents that abyss. It is appropriatethat he dies on the beach, not in the plague-ridden streets of Venice, his last visionthat of Tadzio beckoning him to the water’s edge.“56

2.1.3 Divergenzen Romanvorlage - Film

Die erste auffallende Divergenz ist die Kürzung des Titels zu „Tod in Venedig“,

welche einen bestimmten Tod ausschließt und ihn vielmehr allgemeingültig werden

läßt. Somit ist mit dem Titel nicht nur Aschenbachs Tod vorhergesagt, sondern

auch das Sterben der Stadt Venedig, das Sterben der Epoche (fin-de-ciècle) und

das der Kultur der Bourgeoisie57.

Wie schon in den vorherigen Kapiteln erwähnt, stellt Visconti die ersten zwei Ka-

pitel szenisch nicht dar, allerdings nutzt er Informationen aus diesen wie zum Bei-

spiel die äußerliche Beschreibung Aschenbachs (S. 19). Vermutlich sind diese

Auslassungen geschehen, um einen zu häufigen Ortswechsel zu vermeiden. Es

steht außer Frage, daß sich Visconti ausschließlich dem Ort Venedig widmen

wollte. Aschenbachs Biographie, die dem Leser nahegebracht wird, wird im Film

nicht widergespiegelt. Allerdings erfahren wir durch sein Verhalten gegenüber

dem Hotelier, daß er eine gesellschaftliche Position innehaben muß. Die Fried-

hofsszene in München im ersten Kapitel fehlt, und somit auch die Verbindung zwi-

schen München und Venedig durch die ‘Totenstraße’58. Das von Aschenbach ge-

wählte Zuhause ist im Film nicht präsent, nur in den Rückblicken gewinnt der Zu-

schauer einen Eindruck davon.

Die im zweiten Kapitel ausführlich beschriebene Biographie Aschenbachs wird

von Mann in ironisch-mitfühlendem Ton gehalten und hier erfährt der Leser auch,

56 ebd. Seite 3357 vgl. Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis‘Tod in Venedig’-Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 8.58 vgl. ebd. Seite 10.

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daß Aschenbachs sinnliches Blut von seiner Mutter stammt und andere Vorfahren

Richter und Offiziere im Dienste des Königs waren (Preußentum)59.

Die im dritten Kapitel beschriebene Ruhelosigkeit und Unschlüssigkeit über das

Ziel der Reise wird im Film nicht erwähnt, vielmehr bekommt der Zuschauer den

Eindruck, daß Venedig im vorhinein als Reiseziel feststand.

Weitere Kürzungen wurden im Film vor allen Dingen bezüglich der Gespräche ü-

ber Kunst vorgenommen, so daß diese nur noch in Rückblenden fragmentartig

angedeutet werden.

„So ist die große Auseinandersetzung, die sich anhand des platonischen Phaidon-Dialogs über die Kunst, die Schönheit, die Pflicht und die Leidenschaft durch dieganze Novelle zieht, und die nietzscheanische Polarität von Dionysischem undAppollinischem in der Kunst diskutiert, zu kurzen, unglücklich chargierten Rück-blenden verkümmert, welche das Bewußtsein Aschenbachs wie versprengte Ge-wissensreste durchziehen.“60

Auch inhaltlich werden die inneren Monologe Aschenbachs aus der Literaturvorla-

ge verändert.

„Die kunsttheoretischen Positionen, die Gustav Aschenbach im Film vertritt, ent-stammen weder der Novelle, noch der Biographie Mahlers, sondern ThomasManns Musikerroman ‘Doktor Faustus’.“61

Im Film gibt es insgesamt zehn Inserts, die durch die Flash-Back-Technik einge-

führt werden. Diese bei Delassalle aufgelisteten Szenen62 sind in dieser Weise

von Visconti neu erschaffen worden. So argumentiert Delassalle, daß die Inserts

als notwendige Kompensation der Reduktionen unverzichtbar seien. Ohne Inserts

sei dem Zuschauer Aschenbachs Vergangenheit nicht bekannt und dessen Krise

nicht verständlich.

Eine weitere formale Divergenz findet sich in Aschenbachs Familienstatus. Wäh-

rend der im Buch beschriebene Schriftsteller erfolgreich, mit Adelstiteln versehen,

59 vgl. ebd. Seite 12.60 Schlappner, Michael (und andere): Luchino Visconti. Reihe Film 4. München: Carl Hanser Verlag, 1975.Seite 118.61 Wolff, Jürgen: Der Tod in Venedig. In: Literaturverfilmungen - Materialien. Seite 1.62 Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’- Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 24.

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Witwer ist und eine verheiratete Tochter hat, wird Achenbach im Film als ge-

scheiterter Komponist und Professor gezeichnet, dessen Tochter gestorben ist.

Bezüglich der Erzählperspektiven lassen sich ebenfalls Divergenzen feststellen. In

der Novelle sind es zwei Erzählebenen (personal und auktorial), die zwar auch von

Visconti umzusetzen versucht worden sind, was ihm jedoch nicht völlig gelungen

ist. Die Erzählperspektiven des Films können nur durch Kameraführung und Zoom

nachgeahmt werden.

„The Zoom, then, performs a due function in the film. On one level it represents thefree, indirect narration of Mann’s novel, which allows an alternately sympatheticand ironic view of the protagonist. The aesthetics of the zoom, moreover, from it’sisolating depth of field to it’s constant, musical motion, reflect aspects of Aschen-bach’s character - even when they undermine his own professed beliefs.“63

Der Zoom und die zahlreichen Schwenks der Kamera erfüllen über ihre eigenliche

Aufgabe hinaus aber noch ein weiteres Ziel. Durch ihre Technik, von einem Punkt,

dem Stativ, die umgebende Umwelt zu betrachten, ahmen sie Aschenbach selbst

nach, seine Art, den Blick schweifen zu lassen und dabei passiv und in sicherem

Abstand zu bleiben.

Des weiteren kombiniert Visconti in dem vorliegenden Film Totalen mit Nahauf-

nahmen und ahmt somit Manns Wechsel zwischen objektivem, auktorialem Er-

zähler und subjektivem, personalen Erzähler nach. Gut sichtbar wird dies in der

zweiten von uns beschriebenen Szene, wie Wilson berichtet:

„This fusion of distanced, ‚third-person‘ observation and intimate, ‚first-person‘interiority even occurs within the same shot. (...) In the first part of the scene, sev-eral medium close-ups of Aschenbach, looking offscreen left, establish a pattern oflooks from Gustav‘s perspective. Then we see this shot: starting on a close-up ofTadzio, which we presume to be Gustav‘s optical point-of view, the camera zoomsout to a long shot that reveals Aschenbach himself, looking at Tadzio. What startedas a subjective view becomes, at the moment Gustav appears in the shot, objec-tive.“64

Eine Folge der mangelnden Möglichkeit im Film, beide Perspektiven mit all ihren

Facetten nachzuahmen, führt dazu, daß die Ironie im Film nicht dieselbe Dimensi-

63 Wilson, Michael: Art is ambiguous. The Zoom in ‘Death in Venice’. Seite 156.64 ebd. Seite 154.

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on besitzt wie in der Novelle. Sie verflacht, und ein Belächeln Aschenbachs fällt

dem Zuschauer schwer. Von der Lippe beanstandet das Fehlen dieser, weil da-

durch der Zuschauer, der die Novelle gelesen hat,

„(...) is now forced to witness and experience Aschenbach’s disintegration withoutthe ironic distance and softening mediation of Mann’s prose“65.

Visconti selbst meint, daß die Mannsche Ironie durchaus umgesetzt worden sei,

indem er den Protagonisten als eine Art Marionette erscheinen lasse.66

Galerstein sieht das Problem der Verfilmung von Literatur und somit auch von Er-

zählperspektiven als ein generelles an. Sie räumt ein, daß derjenige, der die No-

velle nicht gelesen hat, keinen wirklichen Zugang zu Aschenbachs Gedankenwelt

wie bei Mann bekommen kann. Eine Inszenierung scheint ihrer Meinung nach nicht

leistbar zu sein und dementsprechend fordert sie, daß:

„[...] the film must use its unique visual qualities to depict the world in which Asch-enbach moves and then becomes paralyzed - the decadent Europe of the yearspreceding the First World War.67

Eine weitere Divergenz zum Film ist, daß in der Romanvorlage dem Leser immer

ein Zeitgerüst vermittelt wird, z.B.

„...eine Stunde verging...“68, „..als er zurückkehrte, schien es schon an der Zeit, sichumzukleiden...“69, „...am folgenden Tage...“70, „...er verbrachte zwei Stunden...“71,„nun lenkte Tag für Tag...“72, „...selbigen Tages noch, abends, nach dem Din-ner...“73, „...einige Tage später...“74.

Im Film hingegen verschwimmt dieses - es werden keine expliziten Einblendungen

dem Zuschauer als Verständnishilfe angeboten, das heißt nur die Abfolge der

65 von der Lippe, George B.: Death in Venice in Literature and Film. Six 20th-Century-Versions. In: Mosaic32/1, 1999. Seite 48.66 vgl. Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 9.67 Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti’s ‘Death in Venice’. Seite 29.68 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 25.69 ebd. Seite 31.70 ebd. Seite 35.71 ebd. Seite 42.72 ebd. Seite 49.73 ebd. Seite 68.

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Handlungen und durch äußerliche Anzeichen erkennbare Tageszeiten lassen auf

eine Zeitleiste schließen.

Auch bei der Figur des Tadzio sind Divergenzen zu finden. Während Tadzio in

Manns Novelle als unschuldig, fern und unerreichbar dargestellt wird und es aus-

geschlossen ist, daß eine Annäherung stattfinden könnte, entwickelt sich Tadzio

bei Visconti zum Objekt der Begierde und sogar zum Provokateur.

„Visconti certainly accepts the first meaning of being seductive, indeed overbalan-ces it by making Tadzio - whom Mann represents as clearly innocent until forced toacknowledge Aschenbach’s attention - the obvious seducer.“75

In der Novelle ist es ferner nicht möglich, Tadzios Reaktion auf die Blicke und das

Verhalten Aschenbachs zu erkennen, da die Perspektive beschränkt ist. Jedoch

ist im Film deutlich ein Erwidern Tadzios zu bemerken - er schaut zurück.

„That Aschenbach is victim rather than opportunist is indicated by the repeatedinsinuating glances which Tadzio directs towards him.“76

Wiehe beschreibt Tadzio als einen „[...] of many attractive young men whose pres-

ence in the film implies a hothouse flowering“, der somit weder naiv noch zer-

brechlich scheint.77

Auch bei Aschenbach sind offensichtliche Änderungen zu bemerken, wenn man

die Medien miteinander vergleicht, denn aus dem Schriftsteller wird der Kompo-

nist, was die biographischen Züge Mahlers verstärken läßt. Auch autobiographi-

sche Züge Viscontis sind zu finden, die logischerweise ebenso eine Neuschöp-

fung darstellen, die nach Delassalle als Eitelkeit des Regisseurs hinzunehmen

seien.78

74 ebd. Seite 85.75 Wiehe, Roger I.: Of Art and Death. Film and Fiction Versions of ‘Death in Venice’. In: Literature-FilmQuarterly, 16 (1988). Heft 3. Seite 212.76 ebd. Seite 214.77 ebd. Seite 214.78 Delassale, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 160.

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3. Der Regisseur Visconti und die Rezeption seines Werkes

3.1 Der Regisseur Luchino Visconti und seine Verbindung zur literarischen Vorlage

Visconti hat ein sehr enges Verhältnis zu Deutschland, welches zum einen durch

seine Freundschaften zu dem Komponisten Hans Werner Hentze und Horst Paul

Bohrmann und zum anderen in seinen deutschen Vorfahren begründet ist. Er ist

begeistert von der deutschen und auch österreichischen Kultur und ihren Vertretern

Wagner, Zweig und Goethe. Den wohl größten Einfluß auf ihn hat jedoch Thomas

Mann. In einem Interview sagt er:

„After Goethe I love Thomas Mann. In one way or another, all my films are dipped inMann.“79

Belegen läßt sich das anhand der Verfilmungen, die von Mann beeinflußt sind,

denn nicht nur zwei Adaptionen werden von Visconti geschaffen, sondern auch

Werke von Mann wie „Joseph und seine Brüder“ oder „die Buddenbrooks“ werden

als Inspirationsquelle für andere Filme verwendet.

(„Mario und der Zauberer“ wird 1930 als Ballettphantasie gespielt; „Tod in Vene-

dig“ wird als Film 1970 veröffentlicht; eine Adaption von „Der Zauberberg“ wird

1972 angefangen, aber nicht zu Ende gebracht.)

Aschenbach ist jedoch nicht nur eine Figur Manns, sondern entspricht in seiner

Problematik dem immer wiederkehrenden Thema des Betrugs bei Visconti.

„...caught in the mesh of their past, dissatisfied with their present and unable toassume responsibility for the future.(...) Many of them would like to free themselvesof all responsibility, find a quiet pool of rest beyond the relentless stream of time.(...) But no one can escape that inexorable flux: what has passed cannot be regai-ned (...)“ 80

Doch auch deutlich autobiographische Züge Viscontis lassen sich bei Gustav von

Aschenbach finden. Das zunehmende Alter und die mangelnde Möglichkeit, Vater

79 Bacon, Henry: Visconti - Explorations of Beauty and Decay. Cambridge: Cambridge University Press,1998. Seite 140.

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zu werden (Visconti war homosexuell) sind Themen, die seine letzten vier Filme,

also auch Morte a Venezia betreffen.

„Like Visconti himself, the male characters of his films do not fail as fathers; as arule they fail in becoming fathers. (...)“81.

Zwar ist Aschenbach Vater geworden, jedoch erfahren wir durch Rückblenden,

daß seine Tochter verstorben ist. Als Kompensation für die Vaterrolle werden in

Viscontis Filmen Charaktere gezeigt, die

„seek comfort by escaping into the spheres of art or mad exaggeration of the ego,as if to regain at least symbolically the ground they have lost.“82

Die Folge davon ist, wie bei Aschenbach selbst deutlich zu sehen: „(...) they enter

into an even deeper solitude.“83.

Wie Viscontis Verhältnis zu Literaturverfilmungen allgemein ist, läßt sich allein

durch die hohe Anzahl seiner Adaptionen belegen. Jedoch folgt er nicht den An-

sichten einiger Kritiker, die die größte Kunst der Adaption in der Auswahl, Kürzung

und Betonung einzelner Episoden der Vorlage sehen. Er widerspricht ihnen mit

seinem Werk Il Gattopardo (Der Leopard, 1962) , in dem er sehr eng an der litera-

rischen Vorlage bleibt. Jedoch gibt es ebenso Werke wie Senso, die die Vorlage

lediglich als Ausgangspunkt der Verfilmung nehmen84. Bei Morte a Venezia, dem

ersten modernen Klassiker, der von ihm verfilmt wird, geht er jedoch nach der

Leitidee vor, die „specificity of the original within the specificity of the cinema“85

darzustellen.

3.2 Kritik und Rezeption

Sowohl in der Rezeption der Novelle „Der Tod in Venedig“, als auch in der Rezep-

tion des Films „Tod in Venedig“ gibt es die unterschiedlichsten Lager.

80 ebd. Seite 2.81 ebd. Seite 192.82 ebd. Seite 192.83ebd. Seite 192.84 vgl. ebd. Seite 1996f.

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Thomas Mann und Homosexualität sind stark in Zusammenhang mit der Rezepti-

onsgeschichte der Novelle zu bringen. Ein Großteil der Rezensenten läßt das

Thema Homosexualität jedoch gänzlich unerwähnt oder hebt nur den funktionalen,

beziehungsweise symbolischen Charakter hervor. So vertreten einige die Mei-

nung, daß ein Knabe statt eines Mädchens zum Stilmittel der Verfremdung diene.

Homosexuell ausgewiesene Kritiker haben ein besonderes Interesse daran.86

Entrüstung und Liberalität - so betitelt Böhm die an sich sehr antihomosexuell ge-

sinnte frühe Rezeption der Novelle.

Er teilt die Rezensenten in drei Gruppen ein:

1. die vorbehaltlos Begeisterten (zu denen auch zum Teil die Verwandtschafts-und Freundesrezensionen gehören)

2. die mit Einschränkung Begeisterten (die Manns Kälte beanstanden, aber sei-nen meisterhaften Stil bewundern)

3. die, die teils das Sujet, teils den Stil anprangern und verreißen.87

Böhm analysiert weiterhin, daß es zwei Tendenzen innerhalb der einzelnen Rezen-

sentengruppen gibt: Zum einen, daß ein Rezensent, der sich vom Sujet abgesto-

ßen fühlt, ein härteres Gesamturteil fällt. Zum anderen, daß ein Rezensent, dessen

Begeisterung für Manns Stil hoch ist, eher dazu bereit ist, das Sujet zu ‘übersehen’

oder es in irgendeiner Weise zu verharmlosen, indem er es zum Beispiel

‘symbolisch’ deutet.88

Eine der frühen Interpretationen ist von dem Psychoanalytiker Hans Sachs (1914),

der ‘den Tod’ thematisiert. Er stellt fest, daß Thomas Mann das Todes-Thema

ganz neuartig gebraucht, daß der Tod selbst zum Thema werde, das heißt, daß er

Held der Erzählung sei. Dieses Thema habe auch ein Gegenthema, die Liebe,

welche sich zum Schluß der Novelle zu seiner mächtigsten Entfaltung steigere.89

Sachs lobt weiterhin, daß Homosexualität zum ersten Mal nicht als Perversion,

Entartung oder psychologisches Kuriosum geschildert sei, sondern als natürliche

und selbstverständliche Regung.90

85 ebd. Seite 197.86 vgl. Böhm, Karl Werner: Zwischen Selbstzucht und Verlangen - Thomas Mann und das Stigma Homose-xualität, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1991. Seite 17.87 ebd. Seite 17.88 vgl. ebd. Seite 18.89 Widmaier-Haag, S.: Es war ein Lächeln des Narziß. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 1999.Seite 79.90 ebd. Seite 80.

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Visconti hat in seiner Verfilmung von Manns ‘Der Tod in Venedig’ offenkundig eine

ähnliche Sichtweise angenommen. Tadzio wird als agierendes Liebes- und Lust-

objekt gezeigt.

Obwohl Delassalle in ihrer Arbeit "Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Überset-

zung oder Neuschöpfung" auf die unterschiedlichsten Abweichungen des Films

von der literarischen Vorlage hinweist, bewertet sie Viscontis Film insgesamt noch

als Abbild der Novelle. Die im Film vorgenommenen Veränderungen nimmt sie als

medienbedingt hin. Sie sieht Visconti als Übersetzer, der seinen Freiraum voll

ausgeschöpft hat und dessen Intention eine abgeleitete bleibt.91

Golo Mann bemängelt an der Filmversion, daß Aschenbach von Beginn an keine

Autorität besitzt, der Charakter also nicht ganz geglückt sei. Positiv zu verzeichnen

seien die (sehr wichtigen) Nebenfiguren, die ihre Rolle ausgezeichnet gespielt

haben. Trotz seiner Begeisterung distanziert sich Golo Mann und sagt, daß Buch

und Film zwei ganz verschiedene Medien seien, die Verfilmung aber dazu beitra-

gen könne, daß das Buch mehr gelesen werde - auf jeden Fall nicht weniger.92

Schlappner schreibt in seinem Artikel Morte a Venezia (1970):

„Viscontis ‚Tod in Venedig‘ ist weniger der Ausdruck eines gefaßten Abschieds(wie es Il Gattopardo war) als die Geschichte eines physischen, psychischen undmoralischen Verfalls dem ein großbürgerlicher Künstler, abgeschnitten vom Volk,das ihn verachtet, und unbeachtet von der Bourgeoisie, in deren Lebenssphäre ersich aufhält, zu Beginn des Jahrhunderts, im fin-de-siècle sich aussetzt.“93

Diese Akzentsetzung entspricht nicht der Literaturvorlage. Wie es Sachs schon

1914 in seinem Aufsatz schreibt: der Tod ist der eigentliche Held. Visconti hinge-

gen setzt nur das in Bilder um, was zum Bild des zusammenbrechenden und ge-

scheiterten, gehemmten und verklemmten Künstlers paßt.

Joachim Günther argumentiert ähnlich wie Golo Mann, daß man ohne den Film von

Visconti das Buch wohl nicht wieder gelesen hätte. Kritikpunkte sind die Anleihen

aus Mahlers Musik. Zwar käme wohl ein Film ohne Musik nicht aus, doch hat

91 Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 16292 ebd. Seite 16293 Schlappner, Michael und andere: Luchino Visconti. Seite 120.

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„[...] das unendlich retournierende Adagietto der fünften Symphonie [hat] zuvielNaivität, Klage, Gefühl, Unfreiheit, um zu der Prosa des Buches, zum Aristokratis-mus seiner Hauptfigur zu passen.“94

Günthers Rezension, die er ein Jahr nach dem Erscheinen des Films veröffentlicht,

kritisiert weiterhin die Vorbereitung auf den Tod, welcher ursprünglich nicht soma-

tische Gründe innehatte und die Rückblenden, welche seiner Meinung nach ein

Vakuum ausfüllen. Ebenso weigert Günther sich gegen eine homoerotische Aus-

legung; hier dagegen seine:

„Im reifen, überreifen Mann, der zur Höhe seiner Selbstreflexion und Wortprodukti-vität gelangt ist, erscheint solch emphatisch - naiv erlebter Eros von innen her un-gedeckt, als naive Annahme des Gefühls ohne Reflexion unwahrscheinlich.“95

Er schließt seine Rezension mit folgendem Lob:

„Ein unsterbliches Werk, ein lange nachwirkender Film, die beste Thomas-Mann-Verfilmung, die es bisher gegeben hat.“96

George B. von der Lippe bezieht sich in seiner Kritik auf Feedbacks der internati-

onalen Presse von 1971, in der unter anderem Vincent Canby Viscontis Verfil-

mung als „an elegant bore full of rather lovely things on the periphery“97 bezeichnet.

Stuart Byron hingegen sieht Viscontis Werk als einen Meilenstein der Literaturver-

filmung, da es auf beispiellose Weise „gay oppression and liberation“98 themati-

siere.

David Glassco kritisiert genau diesen Aspekt in seinem Aufsatz ‘Films Out of

Books: Bergmann, Visconti, and Mann’ (1983):

“A deep and resonant desire for beauty is translated into a repressed homosexu-al’s desire for a young boy“99.

94 Günther, Joachim: Der Tod in Venedig - Randbemerkungen zu Film und Buch, In: Neue Deutsche Hefte,Jahrgang 18, Heft 4. Berlin 1971. Seite 89.95 ebd. Seite 93.96 ebd. Seite 98 f.97von der Lippe, George B.:Death in Venice in Literature and Film: Six 20th-Century-Versions. Seite 47.98 ebd. Seite 47f.99 ebd. Seite 47.

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Allein anhand der Schärfe einiger Kritiken am Film wird deutlich, daß Visconti

durch seine Verfilmung den Disput, wie Manns Novelle zu verstehen sei, erneut

provoziert und steigert. Am deutlichsten kann man dies an Jeoffrey Wagners

Standpunkt erkennen:

„The real difficulty is the appearance of Bogarde, looking like an absent-mindedprofessor who is in reality a lecherous fag....this happens because Visconti has notime to insinuate Tadzio into Aschenbach’s consciousness as deftly and delicatelyas does the original author. Visualizing has made everything too explicit and quo-ting Paul Zimmermann, 'he [Aschenbach] and the boy exchange lengthy glances,whose explicitness turns Aschenbach into a foolish dirty old man, and the boy intointo a pretty little tease'.“100

100 Wagner, Geoffrey: The novel and the cinema. In: Visconti - explorations of beauty and decay.Bacon,Henry. Seite 161f.

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III Fazit

Geht man von dem Aspekt der Bildsprache aus, so schneidet der Film Morte a

Venezia in seiner Gesamtbewertung gut ab, da Visconti offensichtlich versucht

hat, die Bildsprache der Novelle in die des Films umzusetzen. In den von uns un-

tersuchten Schlüsselszenen konnten wir feststellen, daß Visconti die Literaturvor-

lage als Regieanweisung verstanden hat. An den Stellen, an denen die Bildspra-

che des Films nicht ausreicht, greift er auf akustische Hilfsmittel, das heißt die Mu-

sik und wörtliche Zitate, zurück. Seine Methode, durch Flashbacks die Reduktio-

nen zu kompensieren, scheitert jedoch - sie wirken unserer Meinung nach fehlpla-

ziert und unbeholfen. Weitere Kritikpunkte, die wir durch unsere Arbeit entschlüs-

selt haben, sind folgende:

1. Aschenbachs körperlicher Verfall ist im Film zum Hauptmotiv aufgestiegen.

2. Tadzio wird nicht nur als schöner Jüngling, sondern als Provokateur und Lust-

objekt gezeichnet.

3. Die Betonung des homosexuellen statt des distanziert schwärmenden für die

Schönheit lassen nur noch eine Interpretation zu.

4. Obwohl Visconti versucht hat, die mixed narration durch Kamera, Zoom und

Aschenbachs Darstellung als Marionette nachzuahmen, ist dem Zuschauer die

Doppelperspektive nur geringfügig bewußt (erst bei genauerer Analyse).

5. Die Musik kann nicht die Gedanken- und Gefühlswelt Aschenbachs ersetzen

und führt zu einer Schwere, die jegliche Ironie ersticken läßt.

Nichtsdestotrotz ist seine Verfilmung ein literarischer Genuß, und läßt man die

Fragwürdigkeit seiner Interpretation außen vor, dann kann man sich Delassalles

Meinung anschließen und es als ein Abbild Thomas Manns ‘Der Tod in Venedig’

bezeichnen. Unter dem Vorbehalt, daß jede Verfilmung eine Interpretation eines

Textes ist, ganz gleich, wie textnah der Regisseur gearbeitet hat, ist der literari-

sche Film ein durchaus lohnendes Projekt des Deutschunterrichts, sofern man den

Film nicht nur kommentarlos abspielt, sondern ihn auch unter genrespezifischen

Kriterien untersucht.

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IV. Literaturverzeichnis:

Primärliteratur:

Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen,

Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1999, 56. Auflage.

Visconti, Luchino: Der Tod in Venedig, Warner Home Video

GmbH, 1998.

Sekundärliteratur:

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Delassalle, Béatrice: Luchino Visconti‘s ‚Tod in Venedig‘ - Übersetzung oder

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Katz, Steven D.: Die richtige Einstellung, Frankfurt am Main:

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Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Krömer

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Miccichè, Lino: Morte a venezia di Luchino Visconti. Bologna: Cappelli

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überarbeitete Auflage.

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Schlappner, M. und andere: Luchino Visconti, in: Reihe Film 4,

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Wessendorf, Stephan: Thomas Mann verfilmt. In: Schriften zur Europa- und

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Wolff, Jürgen: Literaturverfilmungen. Band 2: Materialien und Dokumente.Stuttgart, 1983-84.