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85 Bautechnik 85 (2008), Heft 1 Berichte Eingestellt in eine große Industriehalle Die „Blinde Kuh“ befindet sich in der ehemaligen, 1923 errichteten Halle einer Maschinenfabrik, in der die Trag- struktur, eine vor Ort belassene Kran- anlage und großflächige Glasausfa- chungen samt Oberlichtern die indu- strielle Vergangenheit immer noch sehr präsent halten. Diese 1320 m 2 große „Halle 7“ wurde durch eine Brandmauer in der Länge getrennt. Den hinteren Bereich belegt die er- wähnte Kletterlandschaft, in den vor- deren wurden die beiden Kuben für die „Blinde Kuh“ hineingestellt. Zu- gänglich sind sie über einen Vorbe- reich, einen eingeschobenen Glasku- In der „Blinden Kuh“ ist es richtig dunkel. Der Restaurantbetrieb spielt sich in einem massiv hölzernen Ku- bus ohne Fenster ab, der in eine um- genutzte Fabrikhalle eingebaut wurde. Nicht einmal Kerzen auf den Tischen gibt es. Der Besucher ist ganz und gar auf seine „Restsinne“ angewiesen: Hören, Tasten, Riechen, Schmecken. Genau so, wie es bei Blinden und Sehbehinderten der Fall ist. Die Ini- tiative für die mittlerweile zwei Dun- kelrestaurants in der Schweiz ging auch von mehreren Sehbehinderten aus, die damit das Verständnis zwi- schen Sehenden und Nicht-Sehen- den fördern wollten. Und es hat ge- klappt: Das Publikum strömt neugie- rig, es gibt nicht nur Essen im Dun- keln, sondern auch Musik, Hörspiele und Lesungen sowie Seminare wie einen „Sinnes-Parcours“, „Rhetorik“ oder „Kommunikation“, wo dem Klang der Stimme plötzlich eine viel wichti- gere Bedeutung zukommt. Und wäh- rend die Besucher zum großen Teil sehen können, besteht das Service- personal aus Blinden und Sehbehin- derten. Gast und Kellner werden ein- ander im hellen Eingangsbereich vor- gestellt, so dass der Gast später im Dunkeln nur den Namen des Mitar- beiters rufen muss, damit dieser an den Tisch kommt. Er führt den Gast auch an den Tisch und gibt ihm dort die Stuhllehne in die Hand. Die Mit- arbeiter selbst orientieren sich an den Stimmen der Gäste, an zwei Markie- rungslinien und kennen überdies den Raum sehr gut. Barrierefreie Umgebung Seit 1999 in Zürich die erste „Blinde Kuh“ eröffnete, auf der Schweizeri- schen Landesausstellung EXPO 02 die Idee einem weltweiten Publikum vor- gestellt wurde und 2005 das zweite Restaurant in Basel dazukam, ist der Bauherr, die Stiftung Blind-Liecht, zum größten privaten Arbeitgeber für sehbehinderte Menschen geworden. Die Basler Dependance befindet sich auf einem umgenutzten Industrie- Areal, dem Gundeldinger Feld, das nun insgesamt etwa siebzig Mieter, unter anderem eine Herberge für Ruck- sacktouristen, eine Quartierbibliothek, einen Kletterbereich und ein weiteres Restaurant umfasst. Sämtliche öffent- lich zugänglichen Gebäude sind stu- fenlos erreichbar, innen sind sie eben- falls größtenteils barrierefrei. „Blinde Kuh“ – Dunkelrestaurant in Basel Bild 1. „Blinde Kuh“ – Restaurant in einem massiv hölzernen Kubus in einer umgenutzten Fabrikhalle Bild 2. Innenansicht

“Blinde Kuh” – Dunkelrestaurant in Basel

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Page 1: “Blinde Kuh” – Dunkelrestaurant in Basel

85Bautechnik 85 (2008), Heft 1

Berichte

Eingestellt in eine große Industriehalle

Die „Blinde Kuh“ befindet sich in derehemaligen, 1923 errichteten Halleeiner Maschinenfabrik, in der die Trag-struktur, eine vor Ort belassene Kran-anlage und großflächige Glasausfa-chungen samt Oberlichtern die indu-strielle Vergangenheit immer nochsehr präsent halten. Diese 1320 m2

große „Halle 7“ wurde durch eineBrandmauer in der Länge getrennt.Den hinteren Bereich belegt die er-wähnte Kletterlandschaft, in den vor-deren wurden die beiden Kuben fürdie „Blinde Kuh“ hineingestellt. Zu-gänglich sind sie über einen Vorbe-reich, einen eingeschobenen Glasku-

In der „Blinden Kuh“ ist es richtigdunkel. Der Restaurantbetrieb spieltsich in einem massiv hölzernen Ku-bus ohne Fenster ab, der in eine um-genutzte Fabrikhalle eingebaut wurde.Nicht einmal Kerzen auf den Tischengibt es. Der Besucher ist ganz und gar auf seine „Restsinne“ angewiesen:Hören, Tasten, Riechen, Schmecken.Genau so, wie es bei Blinden undSehbehinderten der Fall ist. Die Ini-tiative für die mittlerweile zwei Dun-kelrestaurants in der Schweiz gingauch von mehreren Sehbehindertenaus, die damit das Verständnis zwi-schen Sehenden und Nicht-Sehen-den fördern wollten. Und es hat ge-klappt: Das Publikum strömt neugie-rig, es gibt nicht nur Essen im Dun-keln, sondern auch Musik, Hörspieleund Lesungen sowie Seminare wieeinen „Sinnes-Parcours“, „Rhetorik“oder „Kommunikation“, wo dem Klangder Stimme plötzlich eine viel wichti-gere Bedeutung zukommt. Und wäh-rend die Besucher zum großen Teilsehen können, besteht das Service-personal aus Blinden und Sehbehin-derten. Gast und Kellner werden ein-ander im hellen Eingangsbereich vor-gestellt, so dass der Gast später imDunkeln nur den Namen des Mitar-beiters rufen muss, damit dieser anden Tisch kommt. Er führt den Gastauch an den Tisch und gibt ihm dortdie Stuhllehne in die Hand. Die Mit-arbeiter selbst orientieren sich an denStimmen der Gäste, an zwei Markie-rungslinien und kennen überdies denRaum sehr gut.

Barrierefreie Umgebung

Seit 1999 in Zürich die erste „BlindeKuh“ eröffnete, auf der Schweizeri-

schen Landesausstellung EXPO 02 dieIdee einem weltweiten Publikum vor-gestellt wurde und 2005 das zweiteRestaurant in Basel dazukam, ist derBauherr, die Stiftung Blind-Liecht,zum größten privaten Arbeitgeber fürsehbehinderte Menschen geworden.Die Basler Dependance befindet sichauf einem umgenutzten Industrie-Areal, dem Gundeldinger Feld, dasnun insgesamt etwa siebzig Mieter,unter anderem eine Herberge für Ruck-sacktouristen, eine Quartierbibliothek,einen Kletterbereich und ein weiteresRestaurant umfasst. Sämtliche öffent-lich zugänglichen Gebäude sind stu-fenlos erreichbar, innen sind sie eben-falls größtenteils barrierefrei.

„Blinde Kuh“ – Dunkelrestaurant in Basel

Bild 1. „Blinde Kuh“ – Restaurant in einem massiv hölzernen Kubus ineiner umgenutzten Fabrikhalle Bild 2. Innenansicht

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Berichte

Bautechnik 85 (2008), Heft 1

bus, der die Höhe der Halle auch hiernoch erlebbar macht. Küche und Bürosind in einem 3,80 m hohen Kalk-sandsteinhäuschen untergebracht, dasRestaurant hingegen in einer 4,50 mhohen und 17,80 m langen, stützen-frei überspannten Holzkonstruktion.Dazwischen sind Lichtschleusen an-geordnet. Die Fläche von 350 m2 aufden Boxen lässt sich für verschiedeneVeranstaltungen nutzen.

Weitgespannte Deckenkonstruktion

Die Holzkonstruktion des Restaurantsist mit einer auf 500 kg/m2 Verkehrs-last ausgelegten, ca. 48 cm hohenHolz-Beton-Verbunddecke über-spannt. Die Spannweite in Querrich-tung von knapp 13 m wurde hier inder Schweiz zum ersten Mal auf dieseWeise realisiert. Der beim Herstellervorgefertigte Zuggurt der Verbund-decke besteht aus 194 mm dickenBrettsperrholzelementen mit auflie-gender Dichtungsfolie, in die in de-finierten Abständen die speziellen,90 mm hohen HBV-Verbinder ste-hend eingeklebt sind. Sie lassen sichals Großflächenelemente von 2,40 mBreite auf der Baustelle schnell verle-gen und werden dort mit Betonstahl-matten als Zusatzbewehrung zur Be-grenzung der Rissbildung ergänzt.

Vor Ort wird der Druckgurt desVerbundbauteils hergestellt. Die Ort-betonschicht von 140 mm Dicke liegtzur Vergrößerung der statisch wirk-samen Höhe und zur Gewichtsein-sparung auf einer Zwischenschichtaus Polystyrol auf und wächst nur imBereich der Schubverbindung mit demHolzgurt auf 280 mm Dicke an. Bis

zur vollständigen Aushärtung der Be-tonschicht ist bei HBV-Decken eineReihe von Unterstützungen unter demDeckenfeld angeordnet, mit denen beidiesem Projekt zugleich eine Über-höhung von einigen Zentimetern aus-geführt werden konnte. So ist die ef-fektive Enddurchbiegung trotz dergroßen Spannweite besonders klein.

Zur Herstellung des Verbundsverwendet Lignotrend den von Ti-ComTec (früher HBV-Systeme) ent-wickelte, unter Z-9.1-557 in Deutsch-land bauaufsichtlich zugelassenenHBV®-Verbinder. Die damit erreich-bare hohe Steifigkeit der fertigen Ver-bund-Decke minimiert Durchbiegun-gen und die Neigung zu Schwingun-gen beim Begehen. Mit dem auflie-genden Druckgurt aus Beton ermög-lichen die guten Eigenschaften derBrettsperrholzelemente hinsichtlichÖkologie und Multifunktionalität auchhier wirtschaftlich interessante Kon-struktionen.

Zur Bemessung von Holz-Beton-Verbundkonstruktionen

Die Bemessung von Holz-Beton-Ver-bunddecken, deren Teilquerschnittemit speziellen Verbindungsmitteln ver-bunden sind und bei denen in denVerbindungsfugen zwischen den Quer-schnittsteilen Verschiebungen auftre-ten, erfolgt nach der Theorie des elas-tischen Verbunds über den Nachweisnachgiebig miteinander verbundenerQuerschnittsteile nach DIN 1052:2004.Als weiteres Nachweisverfahren bie-tet DIN 1052:2004, Anhang F die so-genannte Schubanalogie. Zudem kön-nen HBV-Konstruktionen auch mit-

tels Stabwerksmodellierungen oderFEM dimensioniert werden.

Aufgrund des unterschiedlichenKriech- und Schwindverhaltens vonHolz und Beton ist unter Berücksich-tigung der Holzfeuchte stets eineNachweisführung hinsichtlich derTragfähigkeit und der Gebrauchstaug-lichkeit zu den Zeitpunkten t = 0 (vorBeginn der Kriechverformungen) undt = • (nach Abschluss der Kriechver-formungen) notwendig. Das Schwin-den des Betons verursacht bei einerHBV-Decke hierbei zusätzliche Ver-formungen. Das Kriechen des Hol-zes, der Verbindungsmittel und desBetons wird in den statischen Bere-chungen durch Abminderungsfakto-ren berücksichtigt, die in den allge-meinen bauaufsichtlichen Zulassun-gen definiert sind. Da der Beton imVergleich zum Holz höhere Kriech-verformungen aufweist, kommt es mitder Zeit zu Spannungsumlagerungenim Verbundquerschnitt. Die Spannun-gen im Holz nehmen mit der Zeit zu,die im Beton entsprechend ab. Nebenden Nachweisen der Tragfähigkeit zuden Zeitpunkten t = 0 und t = • müs-sen für Holz-Beton-Verbundkonstruk-tionen auch die Grenzzustände derGebrauchstauglichkeit erfüllen.

Im Einzelnen sind dies:– Verformungen unter Eigengewichtund Verkehrslast– durch Nutzung entstehendeSchwingungen– Übertragung von Tritt- und Luft-schall– Brandnachweis mit Feuerwider-standsdauer– Querlastverteilung beim Vorliegenvon Einzellasten

Bilder 3 und 4. Einbau der HBV-Decke

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Berichte / Termine

Ideale akustische Bedingungen

Für das Projekt Dunkelrestaurant we-sentlicherAspekt dieser Multifunktio-nalität ist die werksseitige Integrationeiner fertigen Untersicht mit akustischwirksamen Absorbern in den Massiv-holzelementen. Denn besonders wich-tig für die Orientierung im Dunkelnist eine einwandfreie Raumakustik,da Schall hier noch deutlicher wahr-genommen wird. Je weniger Reflexio-nen entstehen, desto genauer kann

das Ohr orten, woher ein Geräuschkommt. Und da eine Vielzahl vonGeräuschen und Lauten geortet, be-wertet und einsortiert werden muss,erleichtert eine Atmosphäre ohne sichdurch Überlagerungen zu Lärm stei-gernden Geräuschen das Verstehenund Verstandenwerden erheblich. Dieuntere Lage der verwendeten Ele-mente besteht aus feinen, 25 mm brei-ten Lamellen, die auf Abstand liegenund mit einem Holzfaserabsorberunterlegt sind. Dadurch werden die

Schallwellen effektiv gedämpft, so dassGespräche und Orientierung, Musikund Lesungen in ganz entspannterAtmosphäre stattfinden können.

Weitere Informationen:Lignotrend Prod. GmbH, Weilheim-Bannholz; Dagmar Ruhnau/pro pu-blica, HBV-Decken: Prof. Dr.-Ing. Le-ander Bathon, Dipl.-Ing. Oliver Bletz,MPA Wiesbaden

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