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Handreichung zum Schwerpunktthema Johannes Brahms Klavierquintett f-Moll op. 34 Teil II – Biografische und werkbezogene Einzelaspekte zusammengestellt von StD'in Sabine Fischer- Hennen und StD Christoph Wagner Fachberater am Regierungspräsidium Stuttgart, © Januar 2013 1

Brahms - Teil II - Regierungspräsidien BW · Sonata, Canzona, Sinfonia waren Ende 16. Jh (Venedig) gängige Bezeichnungen für diese Jh (Venedig) gängige Bezeichnungen für diese

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Handreichung zum Schwerpunktthema

Johannes Brahms

Klavierquintett f-Moll op. 34

Teil II – Biografische und werkbezogene Einzelaspekte

zusammengestellt von

StD'in Sabine Fischer- Hennen und StD Christoph Wagner

Fachberater am Regierungspräsidium Stuttgart, © Januar 2013

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1 DIE GESCHICHTE DER KAMMERMUSIK.................................................................................5

1.1 Die Anfänge ab dem 14. Jahrhundert....................................................................................................5

1.2 Barock..................................................................................................................................................6

1.3 Hochbarock - Mitte des 17.Jahrhunderts.............................................................................................7

1.4 Spätbarock ..........................................................................................................................................8

1.5 Rokoko / Vorklassik............................................................................................................................10

1.6 Klassik................................................................................................................................................13

1.7 Romantik............................................................................................................................................15

2 LEBENSWIRKLICHKEIT DER FAMILIE BRAHMS...............................................................17

2.1 „Erwerben sollst du, erwerben“..........................................................................................................17

2.2 Kammermusik als Reflex der Restaurationszeit - Biedermeier............................................................17

3 MUSIKHISTORISCHE SITUATION IM HINBLICK AUF DAS KAMMERMUSIKALISCHE

SCHAFFEN VON JOHANNES BRAHMS........................................................................................23

4 DILETTANTISMUS UND VIRTUOSENTUM...........................................................................29

4.1 Musikomanie und Expansion der Trivialität – Die Klaviersucht des 19. Jahrhunderts..........................30

4.2 Dilettantismus - Zeitgenössische Werturteile......................................................................................31

4.3 Virtuosentum – Zeitgenössische Werturteile......................................................................................34

4.4 Musik in der Weltkrise........................................................................................................................35

5 DIE KAMMERMUSIK IM WIEN DER BRAHMSZEIT...........................................................36

6 BRAHMS UND DIE KAMMERMUSIK .....................................................................................41

7 DAS KLAVIERQUINTETT – VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUM ENDE DES 19. JAHRHUN-

DERTS..................................................................................................................................................45

7.1 Vorläufer ............................................................................................................................................45

7.2 Giardini und Giordano - Ritornellfom..................................................................................................45

7.3 Benda und Jackson - Begleitete Sonate .............................................................................................46

7.4 Mozart – Klavierkonzertbearbeitungen...............................................................................................47

2

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7.5 Zur Besetzung des Klavierquintetts von Giardini bis Schumann..........................................................47

7.6 Die Satztechnik im Klavierquintett bis Schumann..............................................................................48

7.7 Konzentration der Entwicklungsströme in kammermusikalische und virtuose Richtung um die Jahr-

hundertwende 18./19. Jahrhundert in Deutschland..................................................................................48

7.8 Das Klavierquintett als Arrangementform – Fortführung des virtuosen Elements...............................50

7.9 Paris – Vorübergehender Stillstand ...................................................................................................50

7.10 Robert Schumann op. 44 – Kulminationspunkt................................................................................51

7.11 Klavierquintette nach Schumann......................................................................................................53

7.12 Klavierquintette nach Brahms...........................................................................................................54

8 ZUR ENTSTEHUNG DES KLAVIERQUINTETTS F-MOLL OP. 34......................................55

9 DAS NETZWERK UM BRAHMS – DER FREUNDESKREIS.................................................59

9.1 Robert Schumann (1810-1856)...........................................................................................................59

9.2 Clara Schumann (1819-1896)..............................................................................................................60

9.3 Joseph Joachim ( 1831-1907)..............................................................................................................61

9.4 Albert Dietrich (1829 – 1908).............................................................................................................62

9.5 Hermann Levi (1839 – 1900)...............................................................................................................62

10 TRADITION UND INNOVATION IM KLAVIERQUINTETT IN F-MOLL OP. 34...........64

11 BRAHMS IN DER ANALYSE VON ARNOLD SCHÖNBERG...............................................69

12 ANMERKUNGEN ZU EINIGEN AUSGEWÄHLTEN KAMMERMUSIKWERKEN...........72

12.1 Kammermusik ohne Klavier..............................................................................................................72

12.2 Kammermusik mit Klavier.................................................................................................................74

13 ÜBERBLICK DER KAMMERMUSIKKOMPOSITIONEN....................................................78

13.1 Kammermusik ohne Klavier..............................................................................................................78

13.2 Kammermusik mit Klavier ................................................................................................................79

14 QUELLENTEIL: ..........................................................................................................................83

14.1 Entwicklung der Tasteninstrumente..................................................................................................83

14.2 Zur Entstehungsgeschichte des Streichquartetts...............................................................................87

3

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14.3 Historische, ästhetische und analytische Betrachtungen zum Streichquartett ..................................94

14.4 Musikleben im 19. Jahrhundert - Überall Musik – und oft nichts weiter...........................................98

14.5 Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert ..................................................................................................100

14.6 Robert Schumann: „Neue Bahnen“.................................................................................................103

14.7 Briefwechsel zum Klavierquintett op. 34.........................................................................................104

14.8 Zeitgenössische Werkbesprechungen.............................................................................................113

15 LITERATURVERZEICHNIS....................................................................................................121

4

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1 Die Geschichte der Kammermusik1

Von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart war

die Kammermusik ein Spiegelbild der Veränderungen

in der Technologie und der Gesellschaft, die sie produzierte.

1.1 Die Anfänge ab dem 14. Jahrhundert

Während des Mittelalters und der frühen

Renaissance wurden die Instrumente in ers-

ter Linie als Begleitung für Sänger einge-

setzt. Streicher spielten parallel zur Melodie

des Sängers. Es gab auch rein instrumentale

Ensembles, bestehend aus Streichinstru-

menten - Vorläufern der Violin-Familie - ge-

nannt Konsorten.

Unterschieden wurde in Musik für religiöse

Zwecke, Musik im weltlichen Leben (Unter-

haltung, Tanz, Geselligkeit), Militärmusik,

Musik für das Theater.

musica da camera (ital.) = camera (lat.) =

Wölbung, Decke = Kammer (dt.) = Kammer =

Privatzimmer zum Schlafen, Wohnen (mit ei-

gener Größe, Ausstattung, Funktion und At-

mosphäre) im Gegensatz zu Räumlichkeiten

des öffentlichen Lebens bzw. zu repräsenta-

tiven Zwecken in Villen, Schlössern u. a..

Der Begriff Kammermusik wurde dabei für

alle (zunächst sowohl instrumentale als auch

vokale) Musik, die nicht für Kirche (Kirchen-

musik, musica da chiesa), Oper oder sonsti-

ge festliche äußere Anlässe bestimmt war,

verwendet.

Von Anfang an sind dieser musica da camera, der auch ein eigenes Personal mit eigener Be-

soldungsliste, Verwaltung und Hierarchie entspricht, bestimmte Gattungen, Kompositions-

1 Vgl. Wirth, Helmut, Artikel „Kammermusik“, in: MGG, Bd. VII, Sp. 477ff., Artikel „Kammermusik“, in: Riemann

Musiklexikon (beide mit weiterführender Literatur), dtv-Atlas der Musik und Funkkolleg Musik (v. a. Bände 5-7)

5

Abbildung 1: Symphonia Plato: Plato, Aristotles, Hippo-

crates and Galenus spielen Streichquartett.

Anonymer Holzschnitt 1512

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weisen und Aufführungspraktiken zugeordnet.2

Unterschiede zwischen musica da chiesa und musica da camera waren zu diesem Zeitpunkt

eher verwischt. Musica da chiesa war wegen der Anpassung an den Raum ähnlich dem Con-

certo grosso oft chorisch besetzt . Für die musica da camera findet man dagegen bei Vicenti-

no bereits 1555 den Hinweis, dass diese „stets piano“ zu singen sei.3

Sonata, Canzona, Sinfonia waren Ende 16. Jh (Venedig) gängige Bezeichnungen für diese

Kompositionen (Vorstufe: G.Gabrieli Sacrae symphoniae 1597).

Die Entwicklung der Kammermusik hängt in dieser Zeit maßgeblich von der Entwicklung der

Violine ab.

Die erste urkundliche Erwähnung der Violine erfolgte um 1523, als in Turin am Hofe des Her-

zogs von Savoyen „les trompettes et vyollons de Verceil“ (Trompeten und Violinen aus Vercel-

li) ein Honorar erhielten. Die älteste Abbildung einer Violine ist eine violinspielende Putte auf

dem Altarbild in der Kirche S. Cristoforo in Vercelli. Die ersten Violinen waren lediglich mit

drei Saiten ausgestattet. Die bis heute im Wesentlichen unveränderte Form der Violine ist

seit etwa 1540 bekannt und stammt aus Oberitalien.

1.2 Barock

Der Begriff Kammermusik (musica da came-

ra) bezeichnet um 1600 weder Form noch

Stil, sondern fungiert als Absetzung klein

besetzter Ensembles (Musik für einen Spie-

ler allein oder für kleinere solistische Beset-

zungen wie Duos, Trios, Quartette usw.) im

Gegensatz zu der in Venedig beheimateten,

groß ausgestatteten Vokalmusik mit instru-

mentalen Einlagen. Die Kammermusik war

in erster Linie eine in höfischen oder gesell-

schaftlich hochstehenden bürgerlichen Krei-

sen gepflegte Kunst. Sie entstand, als man begann, das monodische Prinzip vom Gesang auf

Instrumente zu übertragen (Gabrieli, Marini, Rossi) und Elemente der alten (bis zur Vollen-

dung gereiften) Mehrstimmigkeit mit der neuen Akkordik des GB Zeitalters zu vereinigen.

1602 komponierte Viadana die älteste Triosonate der Weltliteratur Canzone alla Francese in

Concerti ecclesiastici. Die ältesten Sammlungen von Triosonaten schuf 1607 der unter Mon-

teverdi wirkende Violinist Salomone Rossi mit seinem Primo libro delle Sinfonie e Gagliarde

von 1607 und seinem Secondo libro von 1608.

2 Vgl. besonders Riemann Musiklexikon, Artikel „Kammermusik“

3 L’antica musica ridotta alla moderna prattica (…), Rom 1555, lib. IV cap. XIX (fol84); vgl. auch Riemann, Ge-

schichte der Musiktheorie im IX.-XIX. Jahrhundert, Berlin 1920, S. 373f. und Hermann Zenck, Nicla Vicentinos

L’antica musica (1555), in: Theodor-Kroyer-Festschrift, Regensburg 1933, S. 97, in: Finscher, Ludwig: Geschichte

und Geschichten, S. 80

6

Abbildung 2: Musiker Gravur von Abraham Bosse um 1635

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Abbildung 3: Evaristo Baschenis (1617–1677) Musikinstrumente

Um 1600 trennt sich das Violinspiel

vom Violaspiel, indem es Spieltechni-

ken Figurationen und Motivbildung,

die Quintstimmung der Saiten und das

bundlose Griffbrett berücksichtigt.

(Monteverdi war noch Violaspieler,

verlangte in seiner Marienvesper aber

bereits die 4. Lage bis e’’’.)

Früh erschienen zur programmati-

schen Darstellung (Affekte) pizzicato,

col legno, sul ponticello und glissando,

ab 1617 Tremolo und ab 1629 Doppel-

grifftechnik als Vorbereitung des polyphonen Violinspiels.

Triosonate mit Generalbass-Begleitung - Hauptgattung des Barock (Venedig und Mailand)

1.Stimme X X Vl Fl Ob Va Vl Fl

2.Stimme X X Vl Fl Ob Va Va Vl

Bassstimme

Bezifferung/Harmonieführung vorgegeben

Improvisierend ausgeführt

X Orgel, Cembalo, Laute

Bassstimme X XVioloncello, Kontrabass, Fagott,

Bassgambe, Theorbe, Violone

Vorteil der oben aufgeführten Standardbesetzung (Corelli, Händel) war, dass duettierende

gleichrangige Oberstimmen z. B. Oboe, Flöte, Trompete (statt Violine) oder gemischte Paare

zusammen mit der Continuo-Besetzung vielfältige Besetzungen zulassen. Sie bieten sowohl

dem adeligen (später auch bürgerlichen) Musikliebhaber als auch Virtuosen ein breites Betä-

tigungsfeld.

Gleichrangig verwendete Bezeichnungen für diese Besetzung sind: Sonata a due (wenn der

Generalbass sich nicht an thematischer Arbeit beteiligt), Canzone, Ricercar und Solosonate.

1.3 Hochbarock - Mitte des 17. Jahrhunderts

Die großen italienischen Musikzentren der Zeit beeinflussen die Entwicklung der Kammermu-

sik auf ganz unterschiedliche Art und Weise:

Modena: Einführung französischer Tanzformen, Skordatur und Kanonformen

Bologna: Schwerpunkt auf Kantabilität und Klangfarben des Da-Chiesa-Stils

Rom: Die römischen Musiker beeinflussen direkt Corelli und Vivaldi

Wichtige italienische Musiker sind:

• Marco Uccellini (um 1603-1680) führte die 6. Lage auf der Violine ein. Sein op. 1-5 um-

fasst Sonate, Sinfonie, Concerti, Arie e Canzoni für 1-4 Streichinstrumente und General-

bass. Namhaftester Vertreter der emilianischen Geigenschule.

• Giuseppe Colombi (1635-1694) verfasst insgesamt 22 Sonatenbände (Sinfonie da came-

ra, Brandi e Correnti)

• Alessandro Stradella (1644-1682)

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In Deutschland wirken Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704), Johann Pachelbel (1653-

1706), Dietrich Buxtehude (um 1637-1707; Übernahme der Triosonatenform auf die Orgel).

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann man, drei Typen der Sonate zu unterscheiden. Alle

fußen auf der Besetzung mit zwei Oberstimmen und einer Continuo-Stimme.

Sebastién de Brossard (1655-1730) definierte in seinem Musiklexikon Dictionnaire de musi-

que nachstehende Einteilung erstmals auch schriftlich: Die Sonata da chiesa (Kirchensonate)

bestand gewöhnlich aus einer langsamen Einleitung, einem lose fugierten Allegro, einem

cantablen langsamen Satz und einem lebhaften Finale in zweiteiliger Form. Dieses Schema

wurde allerdings nicht in starrer Weise angewandt und etablierte sich erst in den Werken

Händels und Bachs als Sonatenform schlechthin. In der italienischen Violinmusik findet es

sich bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Musik Boccherinis. Die Sonata da camera (Kammer-

sonate) dagegen bestand weitgehend aus stilisierten Tanzsätzen.

Zur Zeit Bachs und Händels hatte sich Entwicklung der Sonata da camera von der der Sonata

da chiesa vollkommen abgekoppelt. Sie wurde nun in ihrer erweiterten Form Suite, Partita,

Ordre oder als Ouvertüre (mit einem vorangestellten Präludium im französischen Stil) be-

zeichnet. Bach jedoch benutzte diese Bezeichnungen für die Sonatentypen zwar nicht, aber

sie lassen sich bei ihm in Stil und Form klar unterscheiden. In seinen sechs Violinsonaten sind

die Nummern 1, 3 und 5 Kirchensonaten. Die Nummern 2, 4, 6 werden „Partita“ genannt,

man kann sie jedoch als Kammersonaten betrachten.

1.4 Spätbarock

Richtungsweisend für den Typus der spätbarocken Triosonate „da chiesa“ kann man Arcan-

gelo Corellis (1653-1713) op. 1 (1681) und op. 3 (1689) bezeichnen, die das Schaffen der fol-

genden Komponistengeneration beeinflussten. Dieser Sonatentyp folgte dem für die emilia-

nische Violinschule typischen Satzwechsel:

1. langsam, gravitätisch (Adagio)

2. schnell, lebhaft, fugiert (Allegro)

3. langsam, lyrisch-kantabel (Adagio)

4. schnell, lebhaft, homophon, tanzartig (Vivace, Presto)

Seine Triosonaten „da camera“ op. 2 (1685) und op. 4 (1694) beginnen mit einem langsamen

Preludio, gefolgt von zwei bis vier Tanzsätzen (Allemande, Courante, Gavotte ab 1666, Gigue,

Sarabande), die in der Regel dem Formschema A-A-B-B entsprechen. Kammersonaten waren

im Unterschied zu den Kirchensonaten, die auch mehrfach besetzt sein konnten, immer ein-

fach besetzt. Corelli widmete sich beiden Typen, jedoch stand ihm, wie die Durchdringung

des Da-camera- mit Elementen des Da-chiesa-Typus erkennen lässt, letzterer näher, wohl

dank der Vielfalt der ausgeprägten Satzcharaktere, dem Wechsel von alter Kunst und neuer

modischer Kantabilität, von virtuoser Brillanz, lyrischer Tiefe und tänzerischer Leichtigkeit. Er

verzichtete bei diesen Kompositionen auf herausragende Virtuosität, was sie für Liebhaber

interessant machte und dem Berufsmusiker vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete.

Allein zu Corellis Lebzeiten gab es insgesamt 78 Nachdrucke dieser Werke. Dies lässt auf ihre

8

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Abbildung 4: Triosonaten-SpielerIconographie der Orgel und des

Cembalos, 18th century book

außerordentliche Beliebtheit und weitreichende Verbreitung schließen.

Der Höhepunkt der italienischen Sonatenepoche ist erreicht.

Antonio Vivaldis Erstveröffentlichung, die

Sonate da camera op. 1 von 1705 beginnt

mit einem da-chiesa-ähnlichen Präludium,

gefolgt von Tänzen. Vivaldis Werksammlung

op. 5 enthält ebenfalls zwei Triosonaten.

Mehrere Sonaten Vivaldis (op. 1 Nr. 8 und

Nr. 11 sowie op. 5 Nr. 6) haben in mehreren

Sätzen aufgrund ihrer Führungsstimmenbe-

tonung die konzertante Struktur einer Solo-

sonate. Während die erste Violine durchge-

hend die melodische Führung übernimmt,

begleitet die zweite Stimme ergänzend das

Ostinato des Basses. Sein Kompositions-

schwerpunkt war das Concerto grosso und

das Solokonzert.

Theoretische Schriften der Zeit:

Athanasius Kircher (1602-1680) unterscheidet in seiner Schrift „Musurgia universalis“

(1650), einem philosophisch-musiktheoretischen Kompendium mit Notenbeispielen aus

Kompositionen von Froberger, Frescobaldi u. a.

• stylus phantasticus (Fantasia, Ricercar, Toccata und Sonata)

• stylus symphonicus (Instrumentalmusik allg.)

• stylus madrigalescus ( = „ Kammer-Stylus“ bei Mattheson)

Nach Mattheson erfordert „dieser Styl in der Kammer weit mehr Fleiß und Ausarbeitung, als

sonst, und will nette, reine Mittel-Partien haben, die mit den Ober-Stimmen beständig, und

auf eine angenehme Art gleichsam um den Vorzug streiten.“4

Händels Triosonatenwerk op. 5 (1739) mit Da-Chiesa-Einleitung und anschließenden Tanz-

sätzen ist am stärksten dem italienischen homophonen Kompositionsstil verbunden. Die

Form der beiden traditionellen Sonatentypen blieb erhalten.

Einflüsse der Suite sind deutlich erkennbar. Es herrscht eine Bevorzugung von Blasinstrumen-

ten. Er hinterlässt kein umfangreiches kammermusikalisches Werk, sondern vielmehr eine

stattliche Anzahl Concerti grossi, Orchester- und Freiluftmusik.

Alle kammermusikalischen Werke Johann Sebastian Bachs sind in seiner Köthener Zeit ent-

standen. Er setzt häufig anstelle der italienischen Form eine aus dem Solokonzert abgeleitete

ein. Es herrscht eine strenge Unterscheidung zwischen Partita und Sonate bzw. echter Suite

nach französischem Vorbild in seinen Werken vor. Bach benutzt diese Bezeichnungen für die

4 Mattheson, Johann : Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, 1. Teil, 10. Kapitel, § 106 (S. 91)

9

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Sonatentypen nicht, aber sie lassen sich bei ihm in Stil und Form klar unterscheiden. Wenige

Sonaten komponiert Bach mit obligatem accompagnement statt GB; dadurch entfällt das im-

provisatorische Element. Diese Kompositionen sind der Beginn eines neuen Kammermusik-

stils.

Das „Musikalisches Opfer“ 1747 kann kompositionsgeschichtlich als Rückschau der bisheri-

gen Entwicklung der Kammermusik gesehen werden.

1.5 Rokoko / Vorklassik

Bereits zwischen 1720 und 1730 wenden sich führende Musikkritiker ihrer Zeit - Johann

Mattheson 1728 in Critica Musica und Der musikalische Patriot sowie Johann David Heini-

chen in Der General-Bass in der Composition - zunehmend gegen einen immer selbstherrli-

cher werdenden Kontrapunkt. Gefordert wird vermehrt das „Singende“ als Prinzip und damit

eine Betonung der Wichtigkeit der Melodie ( J. Mattheson in Kern melodischer Wissenschaft,

1737, Kap. 3).

Ab etwa 1740 setzt sich der sogenannte „Galante Stil“ durch.

Über Bachs Musik wird in seinem Nekrolog deshalb von seinem eigenen Sohn gesagt:

„[…]Seine Melodien waren zwar sonderbar, doch immer verschieden, erfindungs-

reich, und keinem anderen Komponisten ähnlich.“5

Friedrich Blume benennt in seinem Lexikonartikel die Zeitenwende mit folgenden Worten:

„Um 1730/40 sei die neue Stiltendenz bereits durchgedrungen, mit einem Schlage

alles, was den Barock ausgezeichnet hatte in Frage stellt. Keine Neigung mehr zu

Extremen, sondern Beschränkung auf Schlichtheit und Knappheit, keine struktu-

rellen Kontraste, sondern eine neue Kunst der Übergänge , keine Antimonie mehr

zwischen Form und Wortausdruck, weil der Ausdruck selbst die Form schafft […]

Abgestorben ist plötzlich das ganze reiche Instrumentarium des Barock, abgestor-

ben sind die Spitzfindigkeiten des Kontrapunkts, die verwickelten Formen des Ba-

rock,vergessen Symbolik und Allegorik, versunken die rhetorischen Figurenlehre,

und alles wird ersetzt durch die Sprache des fühlenden Herzens und durch das ro-

mantisierende Naturerlebnis.“6

Der Vereinfachung des Satzes dient außerdem eine großflächigere Harmonik, Tendenzen zur

regelmäßigeren Periodenbildung sowie ein gefälligerer Ausdruckscharakter. Musik soll dem

neuen „goût“ entsprechen und für eine breiten Kreis von Musikliebhabern zugänglich, ver-

ständlich und ausführbar sein.

5 Mitzler, Lorenz, Christoph: Musikalische Bibliothek. Bd. IV. Leipzig 1754. 6. Teil, S. 170, in: Funkkolleg Musik

Studienbegleitbrief 5. Tübingen 1988, S. 40

6 Blume, Friedrich: Begriff und Grenzen des Barock, in: Ders.: Syntagma musicologicum, S. 216f., in: Funkkolleg

Musik Studienbegleitbrief 5. Tübingen 1988, S. 41

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Der Kontrapunkt, so vermerkt Mattheson 1744 in seiner „Neuesten Untersuchung der Sing-

spiele“, sei „schier allenthalben zum böhmischen Dorfe geworden“.7

Vertreter dieses neuen galanten Kompositionsstils sind Musiker wie Johann Joachim Quantz,

Johann Friedrich Fasch, Johann Stamitz, Carl Philipp Emanuel Bach (29 Triosonaten), Carl

Heinrich Graun (über 200 Triosonaten).

Bahnbrechend für die Weiterentwicklung der Kammermusik in Deutschland war

Georg Friedrich Telemann. Er vereinte die vom Geschmack der Zeit geforderten Elemente

des galanten Stils in sein Kammermusikschaffen mit verschiedenen nationalen Strömungen

der Zeit. Im kammermusikalischen Bereich komponierte er unter anderem ca. 140 Triosona-

ten. Die Mehrzahl davon waren „zur Belustigung großer Fürsten und Herren, zur Unterhal-

tung vornehmer Gäste, bey herrlichen Mahlzeiten“ bestimmt, aber auch für das von ihm in

seiner Frankfurter Zeit 1712-1721 gegründete „Collegium Musicum“ (später auch in Leipzig),

auf das das öffentliche Konzertleben der Stadt zurückgeht.

„Die Music-Liebhaberei ist auch allhier sehr gross: diese edle Belustigung ist seit-

dem der berühmte Herr Telemann hier gewesen in grosse Aufnahme gekommen.

Es sind wenig angesehene Familien, da nicht die Jugend auf einem oder anderen

Instrument oder im Singen unterwiesen wird; die Concerten sind deswegen so-

wohl öffentlich als in vornehmen Häusern sehr gewöhnlich, und lassen sich dabey

insgemein auch fremde und berühmte Virtuosen hören, wenn sie hier durchrei-

sen, oder eine Zeitlang sich hier aufhalten.“8

Circa ein Drittel der Telemannschen Triosonaten sind im strengen italienischen Corelli-Stil,

zum Beispiel die Sonates Corellisantes 1738, 25 Jahre nach Corellis Tod komponiert. In seiner

Sonatensammlung Essercizii Musici veröffentlichte Telemann Triosonaten für die verschie-

densten Besetzungen der Oberstimmen. Neben der Violine setzte er die damals in Mode ge-

kommene „flûte traversière“ sowie Oboen, Blockflöten, Gamben und obligates Cembalo ein.

Seine kosmopolitische Lebensführung führte allerdings zu einer Verschmelzung italienischer,

französischer und polnischer Einflüsse. Bereits während seiner Schulzeit hatte Telemann star-

ke Eindrücke von französischer Musik durch die Hofkapelle in Hannover. Um 1704 wurde er

in Sorau Kapellmeister eines Grafen, der französische Musik liebte und sogar einige Werke

Lullys besaß. Dies ermöglichte ihm eine Vertiefung seiner stilistischen Studien (besonders die

französische Ouvertüren-Suite) und wirkte sich besonders produktiv auf die Komposition sei-

ner repräsentativsten Gattung, der Orchestermusik, aus. In Sorau fand er außerdem Kontakt

zu polnischer Volksmusik, die er wegen ihrer „barbarischen Schönheit“ sehr liebte. Prägnante

rhythmische Elemente dieser Strömung finden sich daher in mehreren seiner Werke (z. B. Ta-

felmusik I, Sonate polonesi).

„Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunder-

bare Einfälle haben, wenn sie, so oft die Tantzenden ruhen, fantaisieren. [...].“9

7 Johann Mattheson: Die neueste Untersuchung der Singspiele. Hamburg 1744 (Reprint Leipzig 1975), S. 12.

http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10599053_00024.html? (19.02.2013)

8 Israel, Karl: Frankfurter Concert-Chronik von 1721-1780. Frankfurt 1876, in: Funkkolleg Musik Studienbegleit-

brief 5. Tübingen 1988, S. 45

11

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Abbildung 5: Adolf Menzel Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci (1850-

1852) Mitte: Friedrich der Große; ganz rechts: Johann Joachim Quantz, des Königs

Flötenlehrer; links von ihm mit Violine im dunklen Rock, am Cembalo: Carl Philipp

Emanuel Bach

Ganz im Sinne der Ästhetik der Aufklärung benennt Johann Adolf Scheibe in „Compendium

Musices“ um 1730 folgendes Vorgehen beim Komponieren als erstrebenswert:

„Der Italiener siehet auf Annehmlichkeit und sinnreiche Auszierung der Melodie

und folgelich auch auf Gout, der Franzose liebet ein muntres und durchdringen-

des freyes Wesen, der Deutsche siehet auf gute und gründliche Arbeit und Har-

monie. Wer nun also diese drey Stücke mitenander vereinbaret, muss notwendig

ein vollkommenes schönes Stück hervorbringen.“10

Joseph Joachim Quantz, Gegner der homophonen italienischen Musik, aber Befürworter ih-

rer neuen galanten Ausdrucksmit-

tel, war überzeugt, „[…] dass die

deutsche Musik den aus dem Ge-

schmack verschiedener Völker mit

gehöriger Beurteilung das Beste

auswählenden Kunstgeschmack“

zeigen müsse.11

Ab 1720 setzte unabhängig von

musiktheoretischer Argumentati-

on eine Wandlung des Klangideals

ein. Die galante, höfische Hörer-

schaft liebte eine weichere, natur-

haftere, auch dunklere Tönung

des Klangs. Ein idyllischer Klang –

„die Rückkehr zur Natur“ - im

Klangkörper einer Hofkapelle wurde angestrebt, der zum schärferen, höheren Ideal des 17.

Jahrhunderts im Gegensatz stand.

Oboe d’amore, Viola d’amore, Chalumeau (Vorläufer der Klarinette), Violette verdrängten zu-

nehmend ihre gängigen Geschwister, differenzierte Dynamik (pp-f) und Echoeffekte fanden

zunehmend Verwendung.

In ihrer Spätzeit machte die Triosonate eine Wandlung durch:

Die Differenzierung zwischen Kammer- und Kirchensonate verschwand; die Satzzahl vermin-

derte sich durch das Ausscheiden eines langsamen Satzes auf drei (langsam-schnell-schnell

oder schnell-langsam-schnell), teilweise sogar auf zwei Sätze; der Schlusssatz konnte Rondo-

oder Menuettform annehmen; das Fugato entfiel; das Gleichgewicht zwischen den Oberstim-

men wurde zugunsten einer noch größeren Virtuosität einer der beiden Violinen preisgege-

ben, während die andere zur Klangfüllung erniedrigt wurde; melodische, harmonische und

rhythmische Elemente des empfindsamen oder galanten Stils traten in den Vordergrund. Mit

9 Autobiographie von 1749, in: Willi Kahl: Selbstbiographie deutscher Musiker des 18. Jahrhunderts, S. 205, in:

Funkkolleg Musik Studienbegleitbrief 5. Tübingen 1988, S. 47

10 Scheibe, Johann Adolf: Compendium musices , S. 78, in: Funkkolleg Musik Studienbegleitbrief 5. Tübingen

1988, S. 50

11 Quantz, J. J.: Versuch einer Anleitung die Flöte traversière zu spielen. Berlin 1752; Kassel 1953, in: Funkkolleg

Musik Studienbegleitbrief 5. Tübingen 1988, S. 51

12

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der Lösung vom Generalbass war das Schicksal der Gattung besiegelt: aus der Triosonate ent-

standen das solistische Streichtrio und das chorisch besetzte Orchestertrio. Die Geschichte

der Duosonate für eine Oberstimme und Generalbass verlief weitgehend parallel zur Trioso-

nate. Da die Duosonate satztechnisch anpassungsfähiger war, verlor sie allerdings wenig an

Aktualität. Die Übertragung des Namens Sonate auf Klavierwerke ähnlicher Gestaltung ge-

schieht erstmals durch den Komponisten Gian Pietro del Buono mit seinen 1645 erschiene-

nen Sonaten. Bekannter sind die sogenannten „Biblischen Historien“ Johann Kuhnaus (Leip-

zig 1700). In der Klassik ändert sich die Sonate in Stil und Form, und vor allem die Polyphonie

wird abgelöst. Vorbereitet durch Domenico Scarlatti entwickeln vor allem Carl Philipp Ema-

nuel Bach und Joseph Haydn eine Sonatenform, in der der erste Satz oder Kopfsatz als Sona-

tensatzform geschrieben ist.

1.6 Klassik

Immer noch bestimmteder Ort ihrer Aufführung den Namen in Abgrenzung zu Kirche oder

Theater. Neben die höfische Kammer trat jedoch zunehmend der bürgerliche Raum. Die Be-

setzung kammermusikalischer Werke war nach wie vor stets solistisch.

Die Kammermusik wendete sich bereits vorwiegend einem kleinen Kreis von Fachmusikern,

Dilettanten und gebildeten Musikliebhabern zu und setzte nicht mehr nur adelige Exklusivität

voraus.

Johann Georg Sulzer (1720 – 1779) schrieb dazu:

„Da Cammermusik für Kenner und Liebhaber ist, so können die Stücke gelehrter

und künstlicher gesetzt sein, als die zum öffentlichen gebrauch bestimmt sind …

In der Cammermusik wird man sich des äußerst reinen Satzes, eines feinen Aus-

drucks und künstlerischer Wendungen bedienen müssen.“12

Ab der Klassik erfolgte eine zunehmende Abgrenzung klein besetzter Werke im privaten (bür-

gerlich-empfindsamen, bürgerlich-geselligen und bürgerlich-intimen) Rahmen von der neu

aufkommenden Konzertmusik mit Chor und Orchester vor großem Publikum.

„Vertrauliche Unterhaltung […], Geselligkeit, Anschmiegsamkeit an jeden Charak-

ter, musikalisches All in Eins zusammendrängt, bezeichnet den Ausdruck der Kam-

mermusik.“13

Noch bestand die Einheit von Haus- und Kammermusik.

12 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. I, Leipzig 1771, S. 189, in: Finscher: Ge-

schichte und Geschichten, S. 81

13 Vgl. A. F. Ch. Kollmann, An Essay on Practical Musical Composition, London 1799, S. 101; J. J. Klein, Lehrbuch

der theoretischen Musik, Leipzig 1801, S. 7f.; auch H. Chr. Koch, Musikalisches Lexikon, Frankfurt a. M. 1802, s.v.

Kammermusik und Styl, in: Finscher, Ludwig: Geschichte und Geschichten, S. 81

13

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Abbildung 6: "Haydn-Quartett" - Gemälde von Julius Schmid (1854-

1935)

Kammermusikalische Hauptgattung der Klassik: Das Streichquartett

Das Streichquartett entwickelte sich im

zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts aus

der barocken Triosonate, im italienischen

Raum aus der Sinfonia, der Sonata dem

Concerto grosso sowie im deutschsprachi-

gen Raum aus dem Quartett-Divertimento.

Durch die zunehmende Gleichberechtigung

der Stimmen, bei der die Violoncello-Stim-

me nicht, wie in der Barockmusik üblich,

nur eine begleitende Rolle als Basslinien-In-

strument im Generalbass einnahm, son-

dern solistische Passagen erhielt, breitete

sich der vierstimmige Satz aus. Im Laufe

der Zeit führte dies schließlich zu einer Un-

terscheidung zwischen orchestralem und

kammermusikalischem Satz.

Die Gattungsgründung ist nahezu zeitgleich durch Joseph Haydn gegen Ende der 1750er Jah-

re in Wien sowie Luigi Boccherini um 1761 (Kompositionsdatum seines 1. Streichquartetts) in

Mailand anzusetzen. Bereits einige Jahre zuvor hatten Georg Philipp Telemann und Matthias

Georg Monn Werke für die typische Streichquartettbesetzung vorgestellt.

Boccherinis Quartettstil, der sich nach der Veröffentlichung seiner Werke in Paris ab 1767

schnell zunehmender Beliebtheit erfreute, entwickelte sich weder bei ihm selber noch bei

vielen Zeitgenossen weiter und wurde schließlich von der zunehmenden Dominanz des

Haydn'schen Stils verdrängt.

Italien entwickelt im 18. Jh. eine zunehmend virtuose, von instrumentaler Figuration und ita-

lienischem Schmelz in der Melodik geprägte Geigentradition (Tartini). Frankreich wird zum

Zentrum des Geigenspiels, durch Konzertreihen und das 1796 gegründete Conservatoire

(Mondonville entwickelt das Flageolettspiel). Die Einführung des Tourte-Bogens erlaubt ein

neuartiges federnderes Spiel. In Deutschland und Österreich wirken vor allem die beiden

böhmischen Geiger Friedrich Benda und Johann Stamitz sowie Leopold Mozart.

Die Formenwelt und die Continuo-Bezogenheit des Barock verlieren immer weiter an Bedeu-

tung. Die Vierstimmigkeit des Streichquartetts löst den bisher gängigen dreistimmigen Satz

ab.

Zur Entstehungsgeschichte des Streichquartetts sei an dieser Stelle auf den Materialteil der

Handreichungen verwiesen, in dem zwei Aufsätze aus den nicht mehr verlegten Heften 1 und

10 der Handreichungen zum Musikunterricht (VDS-Hefte), verfasst von Heinz Kölbel und Al-

brecht Scheytt, angefügt sind (s. S. 89 und 96).

14

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1.7 Romantik

Die Wende ins 19. Jahrhundert brachte dramatische Veränderungen in der Gesellschaft und

in der Musik-Technologie mit sich, die weitreichende Auswirkungen auf die Art und Weise

hatten, wie Kammermusik komponiert und gespielt wurde. Während des 18. Jahrhunderts

war der Komponist in der Regel ein Mitarbeiter eines Aristokraten und die Kammermusik, die

er komponierte, war für das Vergnügen und die Leistung von aristokratischen Amateuren be-

stimmt. Mit einer demokratischeren Musikpflege jedoch verlor die Kammermusik ihren eli-

tären „hausmusikalischen“ Charakter und wurde breiteren Volksschichten zugänglich.

Wetteifernde Berufsmusiker (seit 1835 reiste das Quartett der Gebrüder Müller, um Beetho-

vens Streichquartette bekanntzumachen), erhöhte spieltechnische Anforderungen, Auswei-

tung der klanglichen Mittel hin zum Orchestralen, Bildung größerer Berufsmusiker-Ensem-

bles (Septett, Oktett, Nonett als Übernahme aus der alten Serenadenmusik), Verbindung des

Kammerstils mit dem Orchesterstil ermöglichten letztlich den Einzug der Kammermusik ins

öffentliche Konzertleben.

Veränderungen in der Bauweise von Streichinstrumenten zu Beginn des 19. Jahrhunderts

führten dazu, dass diese Instrumente einen kräftigeren Ton, mehr Volumen und mehr Trag-

kraft hatten. Der Geigenbogen wurde länger, mit einem dickeren Band der Haare unter höhe-

rer Spannung. Dies verbesserte den Klang des Instruments und ermöglichte neue Bogentech-

niken. Im Jahre 1820 erfand Louis Spohr den Kinnhalter. Somit hatten die Geiger mehr Bewe-

gungsfreiheit in der linken Hand für eine flinke Technik. Diese Veränderungen trugen zu grö-

ßerer Wirksamkeit der öffentlichen Auftritte in großen Hallen bei und erweiterten das Reper-

toire an Techniken, die der Komponist zur Erzeugung veränderter Klänge einsetzen konnte.

Theodor W. Adorno kommentierte den Niedergang einer großen Kammermusikära „alten

Stils“ mit folgenden Worten:

„Zwischen der Blüte der Kammermusik und der Ära des Hochliberalismus

herrscht eine Relation. Kammermusik ist einer Epoche spezifisch, in der die Sphä-

re des Privaten – als eine von Muße – sich von der öffentlich-beruflichen energe-

tisch getrennt hat. Große Kammermusik konnte entstehen, gespielt und verstan-

den werden, so lange der Privatsphäre eigene Substantialität zukam. Die Spieler

vereinigten sich zu einem Gespräch oder Wettkampf. Sie befinden sich so evident

in einer Art von Konkurrenz, dass der Gedanke an den Konkurrenzmechanismus

der bürgerlichen Gesellschaft nicht abzuweisen ist. Der erste Schritt, Kammermu-

sik richtig zu spielen, ist zu lernen, sich nicht aufzuspielen, sondern zurückzutre-

ten. […] Es geht um die Vergeistigung der Konkurrenz durch Höflichkeit (Courtoi-

sie), vergleichbar dem Ideal des fair play im alten englischen Sport. Was in der

privaten kammermusikalischen Musikausübung einmal die Basis guten und ad-

äquaten Hörens war, der Geschmack, verkümmert und gerät zugleich in Misskre-

dit.“14

Die Entwicklung des Pianoforte war inzwischen so weit ausgereift, dass es zum Lieblingsin-

strument breiter Volksmassen aufgestiegen war. Da die Entwicklungen im Klavierbau im 18.

14 Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt 1975, S.

107 – 127: Kammermusik, in: Wiese, S. 14

15

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und 19. Jahrhundert einen ganz wesentlichen Anteil an der Beliebtheit des Instruments in al-

len musikalischen Genres hatten, sollte in der ursprünglichen Konzeption dieser Handrei-

chungen an dieser Stelle eigentlich noch ein kurzer Abriss über die Entwicklung des Klaviers

stehen. Da es hierzu allerdings eine Fülle gut zugänglichen Text- und Bildmaterials gibt und

dieses Thema sich sehr gut eignet, um Schüler zur Eigenrecherche zu motivieren, finden Sie

im Materialteil einige überblicksartige grundlegende Informationen zu dieser Thematik.

16

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2 Brahms' Lebenswirklichkeit

„Es ist Tatsache, daß jedes Zeitalter, jede Culturepoche einen allgemeinen

Charakter, einen gemeinschaftlichen Zug und Drang zeigt. Wer dann im

Kunstwerk ausspricht, was man schon deutlich fühlte, ohne den Ausdruck da-

für finden zu können, der ist im wahren Sinne der Künstler seiner Zeit, der Re-

präsentant seiner Culturepoche geworden.“15

2.1 „Erwerben sollst du, erwerben“

Das 19. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Bürgertums, das aber weder eindimensional

zu fassen noch eindeutig zu beschreiben ist. Bei dem Versuch den Begriff Bürgertum sozial,

politisch und habituell zu differenzieren, kommt laut Laurenz Lütteken dem ‚Habitus’ der Bür-

gerlichkeit eine entscheidende Bedeutung zu.16

Wesentliche Merkmale der Bürgerlichkeit sind kollektive Selbstorganisation und individuelle

Selbsttätigkeit. Musik ist dabei Teil einer Gegenwelt zum Alltag der Tätigkeit und der Geschäf-

te, und Musik durchdringt beide Bereiche, den der geselligen Öffentlichkeit und den der in

der Familie organisierten Privatheit.

So kennzeichnet die bürgerliche Musikkultur einerseits die Kollektivierung in Gesellschaften

und Vereinen, insbesondere den sich formierenden Musikvereinen, mit Gattungen wie Sinfo-

nie und Oratorium, andererseits die Verlagerung bestimmter Segmente in die familiäre Priva-

theit, mit Gattungen wie Klavierstück, Klavierlied und Kammermusik.

Die Oper als traditionell höfische Gattung spielte dabei eine eher untergeordnete Rolle.

2.2 Kammermusik als Reflex der Restaurationszeit - Biedermeier17

Die politische und gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts bietet insgesamt ein

zwiespältiges Bild.

15 Richard Pohl, freundschaftlich Franz Brendel, dem Redakteur der „Neuen Zeitschrift für Musik“ verbunden,

gehörte zum festen Kreis der Fortschrittsanhänger und war in den 1850er und 1860er Jahren einer der namhaf-

testen publizistischen Streiter für die Sache der Neudeutschen. Unter dem Pseudonym Hoplit schrieb er 1855

einen Aufsatz über Johannes Brahms, der dann auch in der NfZM veröffentlicht wurde.

Hoplit, Johannes Brahms, in: NzfM XLIII, 1855, S. 254

16 Lütteken, Laurenz: Brahms-Eine bürgerliche Biographie, in: Sandberger/Weymar, S. 10

17 Als Biedermeier wird die Zeitspanne von 1815 (Wiener Kongress) bis 1848 (Beginn der bürgerlichen Revolu-

tion) in den Ländern des Deutschen Bundes bezeichnet. Mit dem Ausdruck Biedermeier ist in der politischen

Geschichte der Begriff der Restauration verknüpft, der sich auf die staatspolitische Entwicklung nach dem Ende

der napoleonischen Zeit und des Wiener Kongresses bezieht. Bedeutsam ist der Begriff als Epochenbezeichnung

der Kulturgeschichte. Als Vormärz wird die zum selben Zeitabschnitt gehörende entgegengesetzte Bewegung

bezeichnet, die eine politische, revolutionäre Veränderung suchte. In der Musik ist die Bezeichnung „Biedermei-

er“ eher ungewöhnlich; meistens wird für die typische Musik dieser Ära von Frühromantik gesprochen. Jedoch

lässt sich auch für die Musik gewissermaßen eine Biedermeier-Epoche unterscheiden, in der sie erstmals vom

bürgerlichen Geschmack bestimmt wurde, in: www.wikipedia.org/wiki/Biedermeier (01.11.2012)

17

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Die ersten fünfzig Jahre des Jahrhunderts waren bestimmt durch politische Unruhen und

den Drang bürgerlicher Schichten nach gesellschaftlicher Veränderung. Getragen vom Ge-

dankengut der Aufklärung, der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhän-

gigkeitsbewegung strebte vor allem der immer wohlhabender werdende Mittelstand nach

Gleichheit aller Menschen, dem unveräußerlichen Recht auf Leben, Freiheit und Streben

nach Glück und mit besonderer Vehemenz nach politischem Mitspracherecht. Die vom Bür-

gertum erhobene Forderung nach nationaler Einheit statt feudal-aristokratisch strukturierter

deutscher Kleinstaaterei scheiterte mit der Neuordnung Mitteleuropas auf dem Wiener Kon-

gress 1815. Die Karlsbader Beschlüsse 1819 zerstörten alle Hoffnung des Gewerbe treiben-

den Standes auf eine Verbesserung der Handelsmöglichkeiten bzw. eine Vereinheitlichung

der Handelsstrukturen.

Die Restauration und die Phase nach den napoleonischen Kriegen befestigte Herrschaftss-

trukturen, die einer Realisierung des bürgerlichen Freiheitsstrebens entgegenstanden. Zwar

konnten durch die Revolution 1848/1849 einige formale Konzessionen gewonnen werden,

der Impetus des Bürgertums zu politisch-gesellschaftlicher Umgestaltung jedoch war gebro-

chen. Die politisch autoritär gehandhabte Führung zwang so eine ganze Gesellschaftsschicht

in die Sphäre des Privaten auszuweichen. Zensur sollte das politische Agieren des aufgrund

seiner wirtschaftlichen Bedeutung immer größer werdenden Machtfaktors Bürgertum end-

gültig im Keim ersticken.

Der ursprünglich spöttisch-polemische Begriff Biedermeier geht

zurück auf das Pseudonym Gottlieb Biedermaier, unter dem A.

Kussmaul und L. Eichrodt 1885-57 in der Zeitschrift Fliegende

Blätter zeitsatirische Gedichte veröffentlichten, die später in ei-

nem Sammelband unter dem Titel Biedermaiers Liederlust er-

schienen und Ausgangspunkt für den Namen eines Zeitalters

wurden, „jener vormärzsüntflutlichen Zeiten, wo Teutschland

noch Schatten kühler Sauerkrautköpfe gemütlich aß […] und das

Übrige Gott und dem Bundestage anheim stellte.“ Aus dem Bie-

dermaier wurde so allmählich das Biedermeier als Bezeichnung

der Zeit des Vormärz (1815 -1848), eines geschichtlichen Span-

nungsfeldes, in dem eine vordergründige, kriegsfreie Harmonie

18

Abbildung 7: Bildnis Gottlieb Biedermai-

ers aus den Münchener Fliegenden Blät-

tern

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Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert

19

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vor einem höchst konfliktreichen Hintergrund stand; „unter der Oberfläche des Ruhigen und

Entsagungsvollen regen sich bereits alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geistigen

Kräfte, die später die Dynamik des 19. Jahrhunderts bestimmten.“18

„Biedermeier ist Flucht, gewollter Rückzug in eine kleine geordnete Welt, weil die

Zeiten zerrissen sind, große Umwälzungen auf allen Gebieten der Technik, Indus-

trie, Medizin und der Wissenschaft, auch im Verständnis von Jusitiz und Religion

den Bürger erschrecken , beunruhigen, und der Bürger ist der ‚Held’ auf der Büh-

ne der Epoche“19

Private Zusammenkünfte wurden für das Bürger-

tum daher zu dem Ort, an dem sich politische

Meinungsäußerung manifestierte und gesell-

schaftlich-kulturelles Leben abspielte. „Mit dem

Begriff Biedermeier ist in erster Linie auch eine

bürgerliche Kultur gemeint, die in der ersten Hälf-

te des 19. Jahrhunderts entstand. Das Bürgertum

kultivierte das Privat- und Familienleben in ganz

neuem Ausmaß. Nicht die Repräsentation stand

im Vordergrund, sondern das häusliche Glück in

den eigenen vier Wänden, die zum Rückzugsort

wurden. Bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Ehrlich-

keit, Treue, Pflichtgefühl, Bescheidenheit wurden zu allgemeinen Prinzipien erhoben. Die Bie-

dermeier-Wohnstube war die Urform des heutigen Wohnzimmers, und wahrscheinlich wurde

damals der Ausdruck Gemütlichkeit eingeführt. Die Geselligkeit wurde in kleinem Rahmen ge-

pflegt, beim Kaffeekränzchen, am Stammtisch, bei der Hausmusik, aber auch in den Wiener

Kaffeehäusern. Die bürgerliche Familienstruktur war patriarcha-

lisch, der Mann das Oberhaupt der Familie; der Wirkungskreis der

Frau war der Haushalt. Das wohlhabendere Bürgertum beschäftig-

te Personal, darunter eine Köchin, einen Kutscher, eine Kinderfrau,

für Säuglinge auch eine Amme, mitunter einen Hauslehrer.20

Ein weiteres wesentliches Charakteristikum des deutschen Bürger-

tums im 19. Jahrhundert war das Bildungsstreben. Dieses umfass-

te sowohl die Forderung nach geistig-kulturellem Wissen (Spra-

chen, Malerei, Musik, Architektur, Literatur, Philosophie, Geschich-

te) wie auch die Erfüllung der Kategorie Leistung als Wertmaßstab

für die Qualität des Einzelnen als Person. Zentraler Ort der Ausbil-

dung war das humanistische Gymnasium.21

18 Wiese, S. 16

19 Bernhard, S. 7

20 In: www.wikipedia.org/wiki/Biedermeier (01.11.2012)

21 Schmidt, Johannes Brahms und seine Zeit, S. 62f.

20

Abbildung 8: Foto der Familie des Arztes und Schriftstellers

Wolfgang Müller von Königswinter: Porträt einer bürgerli-

chen Familie im 19.Jahrhundert

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Abbildung 10: Karl E. Biermann: Borsigs Maschinenbau-Anstalt zu Berlin

Salons, Musikvereine und öffentliche Konzerte etablierten sich als Stätten bürgerlicher Mu-

sikpflege im Gegensatz zu den nach außen abgeschlossenen Veranstaltungen des Adels in

Hoftheatern und bei höfischen Gesellschaften. Das Musikleben dieser Jahre nimmt sich also

wie ein Spiegelbild bestehender Verhältnisse in der Gesellschaft aus. Im Rahmen des allge-

meinen kulturellen Lebens spielte es sich wie in der vorrevolutionären Zeit nach Standesprin-

zipien geordnet und voneinander geschieden ab. Den privaten, abgeschirmten und elitären

aristokratischen und großbürgerlichen Zirkeln und Salons standen öffentliche Konzerte entge-

gen, deren niedriger Anspruch dem Bildungsniveau des breiten Publikums entgegenkam. Die

musikalische Vision war die eines demokratisierten aber anspruchsvollen Musiklebens.22

„So gesehen lässt sich für die Epoche der Restauration von einer ,aristokratischen'

und einer ,bürgerlichen' Aufführungspraxis von Musik sprechen, die sich dabei je-

weils ihre eigenen Institutionen schafft.“23

Die zweite Jahrhunderthälfte ist so scheinbar eine Periode der Ruhe und der relativen Si-

cherheit. Sie stellte trotz mehrerer Wirtschaftskrisen – die der Gründerzeit ein Ende setzten –

und einiger kürzerer und geographisch begrenzter Kriege eine Periode der politischen und

wirtschaftlichen Stabilität dar.

Das Bürgertum war nach 1848/49 vom unmittelbaren Mitwirken an der Gestaltung der Poli-

tik ausgeschlossen und konzentrierte seine Aktivität deshalb vermehrt auf folgende Bereiche:

1. Wirtschaft/Handel und Finanzwesen

2. Wissenschaft, insbesondere Natur-

wissenschaft: Entdeckung der ultra-

violetten/ultraroten Strahlen, Ent-

wicklung diverser Messapparaturen,

Entdeckung der Bakterien, der Rönt-

genstrahlen, der Ursachen des Kind-

bettfiebers, des Erhaltungssatzes der

Energie, Erfindung des elektrischen

Telegraphen und damit einhergehend

die Erleichterung der Kommunikation

3. Technik: Maschinen als Symbol der Macht, Eisenbahn, Montanindustrie, Bergbau (Eisen

Stahl), Erhöhung der Reisegeschwindigkeit.

Das Bürgertum wurde als der eigentliche Träger tiefgreifender ökonomischer Umwälzungen

eine zunehmend selbstbewusste und wirtschaftliche Macht.

„Ein Bereich des politischen Lebens jedoch, der tiefgreifend vom technischen Fortschritt bzw.

von der industriellen Revolution bestimmt war, hat sich wesentlich auf die Existenz des Kom-

ponisten ausgewirkt: die Wirtschaftslage und die Wirtschaftsstruktur. Gefördert durch eine

bis in die siebziger Jahre beibehaltene grenzüberspannende Freihandelspolitik nahm die ka-

pitalistische Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen raschen und bestän-

22 Kempinski-Racoszyna-Gander, S. 19ff.

23 Kempinski-Racoszyna-Gander, S. 12

21

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Abbildung 11: Arbeiterfamilie im 19. Jahrhundert

digen Aufschwung, der selbst durch Wirtschaftskrisen nur kurzfristig gehemmt wurde. Eine

ungemein rege Investitionstätigkeit, besonders im Eisenbahnbau und bei der Errichtung neu-

er Fabrikanlagen, begründete ein stetiges Wachstum, das die Stabilität der Währungen stütz-

te und feste Zinssätze begünstigte. Um die enormen Investitionen finanzieren zur können,

bedurfte es jedoch größerer Kapitalien, als Staat und Unternehmer aufbringen konnten. So

wurden Aktiengesellschaften gegründet, die auch den Besitzern kleinerer Vermögen den Zu-

gang zum Eigentum an Produktionsstätten eröffneten und sie teilhaben ließen an der blü-

henden Wirtschaft. Das Leben von Brahms verläuft also nicht allein in einer Zeit der wirt-

schaftlichen Prosperität, sondern ihm war Gelegenheit gegeben, Gewinn aus dem allgemei-

nen Aufschwung der Wirtschaft zu ziehen […]. Brahms, dessen Werke schon relativ früh brei-

tere Resonanz fanden, war etwa von der Mitte seines Lebens an ein wohlhabender Mann […]

Brahms hatte nicht nur direkte Einnahmen aus dem Verkauf seiner Werke, d.h. den Verlags-

honoraren24, bzw. aus seiner Konzerttätigkeit, sondern vermehrte sein Vermögen noch durch

dessen Anlage in zinsträchtigen Bankgeschäften.“ 25

In den Erinnerungen Max Kalbecks findet sich diesbezüglich folgende Aufzeichnung:

„[…] Brahms' mit der Zähigkeit eines Sparmeisters ausgeführter und eingehalte-

ner Finanzplan zeichnete sich durch große Einfachheit aus; er bestand in nichts

anderem als in der Absicht, die immer ansehnlicher werdenden Verlagshonorare

vollständig beiseite zu legen und Zins auf Zins zu kapitalisieren.“ 26

Auf der anderen Seite ließ die beginnende

industrielle Revolution die politisch sehr ak-

tive Arbeiterklasse entstehen. Landflucht

und Verstädterung begann. Kinder- und

Frauenarbeit, geringe Löhne, plötzliche feh-

lende Verwurzelung in der Familie führten

zu Armut und Hunger. Eine erneute Spaltung

der Gesellschaft in Adel, Großbürger, Klein-

bürger und Arbeiter fand statt.

24 Brahms nimmt als einer der ersten Komponisten, deren Gesamtwerk zu Lebzeiten im Druck vorlag, eine Son-

derstellung ein. Seine gesellschaftliche Emanzipation als Komponist hatte ihr Korrelat in einer Bedeutungszu-

nahme des gedruckten Werks. Hans Engel bezeichnet den Komponisten „ohne musikalisch-praktisches Amt“,

„der von seinem durch Druck verbreiteten Werken“ lebt, als einen neuen Beruf des 19. Jahrhunderts, der erst

mit dem Einsetzten „der Wirksamkeit des kaufmännisch disponierenden Verlegers“ möglich geworden sei.

Brahms hatte sich die Gunst der Käufer und Verleger mühsam erarbeiten müssen. Seine ersten Absatzerfolge

verdankte er Robert Schumann, der ihn mit seinem Artikel „Neue Bahnen“ in „Neue Zeitschrift für Musik“, 28.

Oktober 1853 protegiert hat (vgl. Quelle im Anhang). Brahms war ab ca. 1870 einer der ersten Komponisten,

dem vom Verleger ein Vertrag auf Lebenszeit angeboten wurde. Dem Verlag Simrock hielt er deshalb zeitlebens

weitgehend die Treue.

25 Schmidt, Johannes Brahms und seine Zeit, S. 52f.

26 Kalbeck, Max: Brahms III/1, Berlin 1912, S. 1, in: Schmidt, Johannes Brahms und seine Zeit, S. 53

22

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3 Musikhistorische Situation im Hinblick auf das kammermusikali-

sche Schaffen von Johannes Brahms

Die Geschichte des Begriffs „Kammermusik“ ist

eine Geschichte des Funktionswandels einerseits,

der inhaltlichen Verengung andererseits.

Privates Musizieren – Hausmusik – Kammermusik – Salonmusik

Abendkonzert

Ein Konzert von Dilettanten.

Stimmt auch grad nicht jeder Ton,

Wie bei rechten Musikanten,

Ihnen selbst gefällt er schon

(Wilhelm Busch)

„Wenn H. Schütz in der Vorrede zum Becker’schen Psalter (6. Sept. 1627) von Hausmusik

spricht, oder J. Rist 1654 eine Sammlung Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Hauß-

musik betitelt, so ist mit dieser Namensgebung zum ersten Mal das Wort genannt und jene

Abgrenzung der Musizierbereiche zum Ausdruck gebracht, die, ungeachtet der Inhalte, das

Häusliche vom Nichthäuslichen trennt.“ 27

Der Begriff beinhaltet also in seiner Anfangszeit zum einen eine Lokalisierung (Verzicht auf

die Öffentlichkeit z. B. des Gotteshauses) zum anderen eine Fixierung der Funktion (der Ge-

selligkeit oder der Andacht dienend), schränkt aber die Ausübenden (Laien, Dilettanten und

Liebhaber sind ebenso gestattet wie Berufsmusiker) in ihrer Vielfalt nicht ein.

Abgeleitet hat man im Deutschen den Begriff wahrscheinlich vom italienischen „musica da

camera“ (Kammermusik), da ein verbaler Zusammenhang zwischen Haus und Musik nur in

der dt. Sprache existiert und so wenigstens über den Begriff der „Kammer“ als privatem Teil

des Hauses eine inhaltliche Annäherung möglich wurde. Inhaltlich ist eine derartige Verknüp-

fung durchaus sinnvoll gewesen, da der italienische Begriff, wenngleich er korrekterweise mit

Kammermusik übersetzt werden muss, ja auch die o.g. Abgrenzung des Privaten vom Öffent-

lichen beinhaltete.28

Der von Haydn bis Brahms und Dvořák reichende kammermusikalische klassisch-romantische

Bogen umwölbt demnach eine musikhistorische und gesellschaftliche Epoche, in der Kam-

mermusik in erster Linie von einer breiten Schicht ausübender (adeliger sowie bürgerlicher)

Musikliebhaber in privatem Rahmen gepflegt und getragen wurde.

„Nach außen hin abgeschlossen und für den Bürger nahezu unzugänglich pflegt

der Adel in privaten Kreisen die Kunst nur um der Kunst willen. In dieser Atmo-

27 MGG, Bd. XVI, Sp. 610

28 Von C. F. Becker wird in seinem Buch Die Hausmusik in Deutschland im 16., 17., und 18. Jh., Leipzig 1840, die

Hausmusik als „Kammermusik im weitern und engeren Sinne ausgelegt“, in: MGG XVI, Sp. 611.

23

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sphäre, in der die Musik nicht mit außermusikalischen Funktionen und Gedanken

verbunden wird, bildet sich das ästhetische Prinzip der autonomen Kunst heraus.

Als Paradigma autonomer Musik wird, insbesondere seit der Wiener Klassik, die

Kammermusik verstanden, da sie am reinsten das Prinzip des Sich-in sich-selbst-

Begründens verkörpert.“ 29

In Folge der Erosion der Adelskultur im 19. Jahrhundert gewannen die vom bürgerlichen Mit-

telstand des Vormärz als „Gegeninstitution“ gegründeten bürgerlichen Zirkel eine immer grö-

ßere Bedeutung.Mit wachsender Prosperität und dem daraus resultierenden Anspruch auf

Bildung im Bürgertum wurden einige Zirkel, die Salons, zu dem Ort, an dem „vor allem sich

geistige Betätigung und damit auch künstlerische Aktivitäten bürgerlicher Kreise sich entfal-

ten.“ 30

Eine programmatische Zuspitzung erfuhr der Begriff Hausmusik erst im 19. Jahrhundert, als

damit aus biedermeierlicher Gesinnung (s. S. 31ff.) heraus eine demonstrative Abgrenzung

und Ablehnung gegenüber dem öffentlichen Musikleben und auch gegen die Salonmusik be-

nannt wurde.

Schwierig wurde die Situation etwa seit 1830, als das immer florierendere öffentliche Mu-

sikleben, die zunehmende Komplexität in der Kompositionsstruktur und die zunehmende

satztechnische Subtilität der Kammermusik, sowohl spieltechnisch als auch musiktheoretisch

immer häufiger eine Überforderung selbst begabter Laienmusiker darstellte und den Berufs-

musiker eigentlich geradezu erforderte.31

In Bezug auf die Musik von Johannes Brahms lassen sich unter anderem folgende Äußerun-

gen in privaten Korrespondenzen und öffentlichen Zeitungsberichten finden.

Die Leipziger Allgemeine Zeitung schreibt 1867 über Brahms op. 36 :

„[...] entschließt man sich einmal, statt des blossen unüberlegten Absprechens

etwa nach einmaligem Hören eines schwierigern Stücks mit aufrichtigem Willen

eins seiner Werke genauer kennen zu lernen, wozu ein gewisses Studium unerläß-

lich ist: so müssten wir doch sehr in Vorutheilen befangen sein, wollten wir nicht

glauben, dass sowohl die hohe Begabung, wie die solide Technik einem jeden, der

zu hören und zu lesen weiss, sofort in die Augen springen werde, wenn er wirklich

ehrlichen Sinnes an die Sache geht.“ 32

29 Kempinski-Racoszyna-Gander, S. 13

30 Wenn man die Musikkultur im 19. Jh. im allgemeinen und hierbei insbesondere die Kammermusik betrach-

tet, ist es nötig auf die von Carl Dahlhaus aufgezeigten Probleme des Begriffs der bürgerlichen Musikkultur ein-

zugehen. Zwar können, so Dahlhaus, das institutionelle Gefüge, die sogenannten „Geschmacksträgerschicht“

und der Sozialcharakter der Idee, die den musikalischen Gattungen zugrunde lagen, als bürgerlich bezeichnet

werden, doch bleiben Institutionen wie das Hoftheater und die Hofkapelle, sowie die Salons Einrichtungen mit

zutiefst adeligem Ursprung.

Dahlhaus, Bürgerliche Musikkultur, in: Feiten, Marcella: Das Quartett als Formation: Veranstaltungsform und

Aufführungspraxis, S. 2

31 Auch die Salons büßten in dieser Zeit ungemein an Attraktivität ein, da viele Virtuosen in den öffentlichen

Konzertsaal abwanderten.

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Otto Dessoff schrieb im Juni 1878 an Brahms:

„Selbst deine populärsten Stellen behalten sich nicht gleich auswendig.“ 33

Eine Rezension in der Neuen Musikzeitung stellte 1881 folgende Überlegungen zu Brahms'

Klavierquintett f-Moll an:

„Wahrlich, unsere beiden Kammermusik-Vereinigungen thun ein gutes Werk, in

dem sie uns dies große Tondichtung op. 34 seit ihrem Entstehen fast jährlich vor-

führen. Jede neue Aufführung macht das Publikum vertrauter mit der elementa-

ren Herbigkeit dieser Sprache, die, wie des späten Beethovens Sprache, erlernt

sein will auch von der Geistesaristokratie, an die sie sich wendet.“ 34

Otto Gumprecht schrieb in einem Artikel über Brahms 1890:

„[…] Man muss seine Musik oft hören, um ihre geistige Tiefe, ihre großen Schön-

heiten zu erfassen und zu verstehen.“35

Gleichzeitig aber stieg die Begeisterung für die Kammermusik und die Nachfrage nach ihr

wuchs stetig und mit ihr ein großer Markt für klein besetzte und nicht zu schwierige Literatur

für den Hausgebrauch.36 Eine bisher nicht denkbare Abgrenzung zwischen Kammermusik

und Hausmusik wurde geradezu zwingend nötig.

In den großen städtischen Zentren des Musiklebens verkam die Hausmusik zur „musikalisch

anspruchsarmen Subkultur, deren eindrucksvollstes Symptom die industrielle Produktion von

Arrangements, Auszügen, Potpourris und Variationen durch große Musikverlage ist.“

Zugeständnisse seiner Verleger an die Fähigkeiten weiterer Kundenkreise in Form jener Ar-

rangements kommentierte Brahms folgendermaßen:

„Sie müssen ja besser wissen als ich, ob so ein Arrangement für Mädchenpensio-

nate nötig ist! Ich hätte ein zweihändiges Arrangement nur für interessant gehal-

ten, wenn es ein besonderer Virtuose machte.“ 37

„Während noch bei Becker Hausmusik ein Gattungsbegriff ist und als solcher die Summe aller

im kleineren Rahmen ausführbaren Musizierarten darstellt, ist für die 1850er Jahr Hausmusik

bereits ein spezifisches, nicht mehr musikalisches, sondern inhaltliches Programm.

32 Deiters, Hermann: Brahms (op. 36), in: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 2. Jg., Nr. 12 vom 20. März

1867, S. 98. Siehe auch Stahmer, S. 22

33 Stahmer, S. 23

34 Neue Musikzeitung, 2. Jahrgang (1881) Nr. 7, S. 61

35 Gumprecht, Otto: Brahms, in: Neue Musikzeitung 1890, S. 214 in: Stahmer, S. 23

36 Beliebt waren sowohl instrumentale Kammermusik als auch zwei- und vierhändige Klaviermusik, Lieder und

vokale Ensembles (Damenterzette) sowie Bearbeitungen von Originalwerken, die im Original technisch nicht zu

bewältigen waren.

37 Brahms an Simrock März 1880. Da er jedoch seinen Ruhm und Erwerb dem breiten Publikum verdankte,

hielt er mit seiner Meinung zurück: „Nur ganz im Geheimen sind mir die Pianistinnen sehr gleichgültig; ich darf

mir aber nicht förmlich auf dem Titel verbitten, von ihnen gespielt zu werden.“ (Brahms an B. Senff 6.11.1871),

in: Stahmer, S. 24

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Sie ist demnach:

1. bürgerlich-familiäre Musikausübung (ausschließlich privates Liebhabermusizieren)

2. unter betonter Bürgerlichkeit Kennzeichen eines nachdrücklichen Gegensatzes zur

Musikpflege im Salon einer anderen Gesellschaftsschicht (Abgrenzung gegen die

Halböffentlichkeit in den adeligen und teilweise auch großbürgerlichen Salons, in de-

nen […] Berufsmusiker vor geladenen Gästen musizierten)

3. aber und vor allem ein unübersehbares und bewusstes sich Abschließen gegen alle

Spielarten öffentlichen Musiktreibens (Konzert, Oper aber auch Kaffeehaus, Biergar-

ten und Promenadenkonzert)“ 38

Neben dem Begriff der Hausmusik kam in Deutschland um 1830 auch der Begriff der Salon-

musik auf. Der Begriff Salonmusik bezeichnet gleichzeitig eine musikalische Praxis, die an

einen bestimmten Raum gebunden ist, als auch eine bestimmte Gattung von Stücken39, die

häufig brillante und virtuose Passagen beinhalten.40

Die Salonmusik wurde von vielen Zeitgenossen heftig kritisiert, so äußerte sich beispielswei-

se der Kritiker und Komponist Hermann Hirschbach in seinem Artikel „Musikzustände der Ge-

genwart“ von 1844 sehr kritisch über Komponisten, die Salonmusik (vgl. auch Materialteil S.

102ff.) schreiben:

„Die Instrumental-Salonsetzer sind die eigentlichen Verderber der Kunst, diejeni-

gen, deren ganzes Streben dahin gerichtet ist, sie zu demoralisieren und zur ge-

dankenlosen Dienerin gemeiner Vergnügungslust herabzuwürdigen.“ 41

Bedingt durch die Konzentration der bürgerlichen Gesellschaft auf Haus- und Salonmusik so-

wie die zunehmende Entwicklung (und v. a. die unglaubliche Beliebtheit) des Sinfonischen,

war die Entstehung hochrangiger kammermusikalischer Werke in der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts eher rückläufig. Ein vermittelnder Sonderstatus kam einer besonderen Art des

Salons zu, dem des gebildeten und vermögenden Großbürgertums, in dem auch befreundete

Adelige häufig anzutreffen waren – einem Versammlungsort der Bildungselite (vgl. z.B. der

Salon der von Arnims). Diese zum Teil mäzenatische Art der Musikpflege ist die gesellschaftli-

che und wirtschaftliche Nachfolgerin der zuvor im höfischen oder aristokratischen „Saal“ ge-

übten. Sie kennt ebenso wenig eine Einschränkung auf „Kammer“, „Saal“ oder „Salon“ wie

den Gegensatz zwischen Liebhaber und Fachmann. Der Zuhörer ist so wichtig wie der Aus-

übende. Auch er ist Teilnehmer einer Hausmusik. Eine Differenzierung zwischen aktivem und

passivem Musikliebhaber wird immer selbstverständlicher.

„Von den Sonntagsmusiken Gottfried Baron van Suitens, von den Soireen bei J.

Rossini, den Musizierstunden um F. Liszt oder J. Brahms führt ein gerader Weg in

die Öffentlichkeit, d.h. aus der Intimität des Hauses in den Konzertsaal und das

38 MGG, Bd. XVI, Sp. 611

39 Ballstaedt/Widmaier, S. 15

40 Schwindt, Sp. 1640

41 Hirschbach, Hermann: Musikalisch- kritisches Repertorium aller neuen Erscheinungen im Gebiete der

Tonkunst. Leipzig 1844/45, in: Feiten, S. 1

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Theater.“ 42

„Ein Salon des 18. und 19. Jahrhunderts ist nicht einfach irgendein Wohnzimmer

einer vornehmen Dame, die hier ihre Bewunderer und Renommisten um sich

schart, sondern ein Mikrokosmos der jeweiligen Gesellschaft, eine eigene Kultur

und darüber hinaus: eine Frauenkultur.“ 43

In diesem Rahmen mutierte der ästhetische Autonomiebegriff, der sehr eng mit der Gattung

Kammermusik verknüpft ist, von der einst aristokratischen Geisteshaltung zu einer zutiefst

„bürgerlichen Kategorie“ und findet hier breite Entfaltung.44 Mit der Trennung professioneller

Kammermusik und amateurhafter Hausmusik vollzog sich auch langsam der Wandel hin zu

öffentlichen Konzerten mit professionell aufgeführter Kammermusik.

Am 23.11.1896 schrieb der Arzt und Cellist Theodor Wilhelm Engelmann (1843-1909) an sei-

nen Freund Johannes Brahms (Brahms widmete ihm sein Streichquartett Nr. 3 B-Dur op. 67):

„Mit meinen Hauskammermusikern (auch einige sehr niedliche - innen sind da-

bei) habe ich Ihre Streichquartette, Sextette, Quartette und auch die Clavier- 4tet-

te und 5tett [Klavierquintett f-Moll op. 34] fast sämtlich mit aller Liebe einstudiert

und sie werden uns weiter beschäftigen und erquicken. Das G-Dur Quintett

kommt in dieser Woche in der öffentlichen Kammermusik heraus.“ 45

Der Berufsmusiker – Komponist wie Interpret – war bis auf wenige Ausnahmen in der Regel

dem Stand nach schon immer Bürger.46 Bis ins 19. Jh. wurde er jedoch in adeligen Haushalten

eher der höheren Dienerschaft zugerechnet. Theodor W. Adorno bemerkte hierzu in seinem

Kapitel „Kammermusik“:

„Die privaten Kammermusiker waren solche, die, als Adlige, einen bürgerlichen

Beruf nicht nötig hatten oder später solche, die den bürgerlichen Beruf nicht als

das Maß ihrer Existenz anerkannten und deren bestes Teil außerhalb der Arbeits-

zeit suchten […].“47

„Hatte man als Bürger jedoch nicht das nötige Einkommen, um in der Freizeit Kammermusik

zu spielen, musste man als professioneller, bezahlter Musiker in den Salons spielen. Zwar

konnte man beim gemeinsamen Musizieren den Standesunterschied eine Zeit lang verges-

sen, danach wurde er durch den Kontrast jedoch umso deutlicher empfunden.“ 48

Um sich dem sozialen Status der Gastgeber anzupassen, war es sowohl in England als auch in

42 MGG, Bd. XVI, Sp. 613

43 Beci, S. 11

44 Zu denken ist an private Kammermusikaufführungen im Hause Mendelssohn in Berlin 1825, in den Salons

von S. Levy und Amalie Beer, die von 1800 bis 1852 in Berlin stattfanden. Ballstaedt, A: Art. Salonmusik, in: MG-

G2S, Bd. VIII, Sp. 857

45 Brief von vom 23.11.1896 an Brahms

46 Dem Adel war es auf Grund enger Standesregeln verboten, als Musiker öffentlich aufzutreten.

47 Adorno, S. 274

48 Dahlhaus, Carl: Bürgerliche Musikkultur, S. 34, in: Feitel, S. 2

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Deutschland üblich, dass professionelle Musiker auf ihr Honorar verzichteten. Man wurde, so

zum Beispiel in England, ein zur Society gehörender Gentleman, allerdings verloren diese

Musiker ihren Status als Profimusiker. Mendelssohn und Joseph Joachim verzichteten auf ihr

Honorar und galten dadurch als Amateure. „Der ästhetische Status wurde [so] durch den so-

zialen verdeckt.“ 49

Die Eroberung des Konzertsaals durch die Kammermusik ermöglichte dem Berufsmusiker

nun also eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle.

Dem Wesen der Kammermusik an sich geht durch die Veränderung der Aufführungsorte wie-

derum etwas Wichtiges verloren – ihre Intimität. In der bürgerlichen Kammer, in welcher

Kammermusik im Wesentlichen lokalisiert war, war „in ihr und in der Kammermusik kein Un-

terschied zwischen dem Spielenden und dem Hörenden vorgesehen.“ 50

Einer der wichtigen Brahms-Biographen, Hans Gal, schrieb dazu kritisch:

„Die Verarmung der Musik ohne die besten, aktivsten, und urteilsfähigsten Musik-

freunde geht progressiv und unaufhaltsam vor sich. […] Nur wer Musik durch sei-

ne eigene aktive Teilnahme erlebt, hat sie wirklich zu seinem Eigentum gemacht.“ 51

Hans Werner Henzes Gedanken zum Auszug der Kammermusik aus intimen und privaten

Räumen in große Konzertsäle gehen in diese Richtung:

„Kammermusik hat die Bedeutung von etwas, das Vertrauliches behandeln will

und dabei die Grenzen des Nennbaren berühren kann. Kammermusik begreift sich

als eine tönende Welt, die zwar Grenzen nach außen, aber keine nach innen

kennt. Sie ist eine Musik zum Nach- und Weiterdenken, weit mehr als jene, die in

großen Konzert- und Theatersälen erklingt und einen direkten Effekt bewirken will

und muss als die, die sich eigentlich nur an die Adresse der Spieler wendet, die

viel geübt und langsam erarbeitet werden will.“ 52

Der Lyriker und Schriftsteller Klaus Groth (1819-1899), dessen Gedichte u. a. Brahms verton-

te, am 10.12.1874 an Johannes Brahms:

„Ich muss ein musikalisches Werk erst viele Male hören, es auch selbst wiederholt

mit eignen Fingern heraustasten, stückweise im Innern klingen lassen, ehe ich es

genießen kann.“ 53

49 Dahlhaus, Carl: Bürgerliche Musikkultur, S. 40

50 Adorno, S. 276

51 Gal, S. 105

52 Henze, Hans Werner: Über Instrumentalkomposition, in: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-

1984. Erweiterte Neuausgabe. Dtv

53 Stahmer, Klaus: Musikalische Formung in soziologischem Bezug. Dargestellt an der instrumentalen Kammer-

musik Johannes Brahms. Dissertation Kiel 1968. S. 23

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4 Dilettantismus und Virtuosentum

„Die Ausführenden von Hausmusik konnten Angehörige der Familie sein oder große, interna-

tional bekannte Namen wie Franz Liszt, Niccolò Paganini und Clara Wieck. Dementsprechend

changierte der Charakter der Hausmusik zwischen Teestunde und ‚Event’. Zahlreiche autobio-

graphische Erinnerungen und Bilder hausmusikalischer Praxis im Familienkreis oder aber vor

Gästen belegen unzweideutig deren Relevanz während des 19. Jahrhunderts. Nicht unwe-

sentlich ist die genaue Situierung des Geschehens innerhalb des bürgerlichen Hauses. Bereits

Jürgen Habermas hat in seinem ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ folgende Beobachtung

gemacht: „Die Sphäre des Publikums entsteht in den breiteren Schichten des Bürgertums zu-

nächst als Erweiterung und gleichzeitig Ergänzung der Sphäre kleinfamilialer Intimität.

Wohnzimmer und Salon befinden sich unter dem gleichen Dach“.54 Das gemütvolle Wohnzim-

mer umfasste die intime Privatheit der Familie, der repräsentative Salon das Öffentliche im

Privaten. Der Ort des Konzerts im Hause unterschied somit über Stil und Funktion der Musik.

Damit untrennbar verbunden ist die Frage: Wo steht das Klavier? Denn das Klavier war das

bevorzugte Instrument des Bürgertums, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England

und Frankreich.

Aus den Musikmetropolen Wien und Paris wird ein regelrechtes Clavierfieber gemeldet. Kla-

vier bedeutete Wohlstand und Zugehörigkeit zum Bürgertum. Deswegen stellten der Besitz

eines solchen und sein Erklingen bei offenem Fenster auf der Straße auch für untere Schich-

ten ein erstrebenswertes Symbol des sozialen Aufstiegs dar. Genau genommen laufen die

perspektivischen Linien in der Zeichnung Schwinds auch nicht auf Schubert zu, sondern auf

das Klavier mit seinem Notenständer als Mittelpunkt des Geschehens.

Abbildung 12: Moritz von Schwind: Schubertiade (1868)

54 Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen

Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 115, in: Eibach, Joachim: Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik

und das Öffentliche im Privaten (Themenportal Europäische Geschichte). URL: http://www.europa.clio-

online.de/2008/Article=307

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Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verfestigte sich die Hausmusik zu einem Ritual, das je länger

umso mehr einem kanonisierten Repertoire und einer zur Tradition werdenden Bildung ver-

pflichtet war. Das Erlernen eines Instruments, des Klavierspiels zumal, wurde für Kinder aus

bürgerlichem Hause verbindlich, wenn nicht unausweichlich. In Deutschland wie in England

gehörte es in der zweiten Jahrhunderthälfte gewissermaßen auch zur Ausbildung der heirats-

fähigen ‚höheren Tochter’, die Klaviatur der guten Sitten zu beherrschen und diese auch hin

und wieder Gästen vorzuführen.55 Einladungen und die gewandte Teilnahme an musikali-

schen Soiréen bedeuteten Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft. Sie wurden zu einem

zentralen Mittel bürgerlicher Kommunikation. Auf die Relevanz eines bestimmten Habitus in

der bürgerlichen Lebensführung, zu dem auch Bildungskonsum und die Pflege von Hochkul-

tur gehörten, hat bereits Jürgen Kocka hingewiesen.“ 56

4.1 Musikomanie und Expansion der Trivialität – Die Klaviersucht des 19.

Jahrhunderts

„Das Fortepiano-Spiel namentlich hat dennoch im Allgemeinen eine solche Richtung ge-

nommen, dass einem davor grauen möchte….“ 57

Das ursprünglich nur im adeligen und großbürgerlichen Salon auffindbare Instrument war

Mitte des 19. Jahrhunderts längst ein zutiefst bürgerliches Instrument geworden und galt

selbst im Mittelstand und im Kleinbürgertum als Statussymbol für Lebens- und Wohnkultur.

Die Folge dieser Beliebtheit war eine explosionsartige Vermehrung der industriellen Klavier-

Produktion, einhergehend mit einer überquellenden Produktion der entsprechenden Unter-

richt- und Gebrauchsliteratur und einem damit unweigerlich verbunden Qualitätsabfall der

meisten dieser Kompositionen.

Das musikalische Kunstwerk war zur Ware degradiert, zum Industrieartikel, der von bestimm-

ten Komponisten nach bestimmten Klischees produziert wurde. „Über den „großen Industri-

ellen“ Carl Cerny, in dessen „Fabrik“ ein neues Rondo „vermittels Dampfkraft“ verfertigt wur-

de oder über Charles Mayer, der sich nun ganz dem „Industrierittertum“ zugewendet habe,

spöttelt in diesem Sinne eindrucksvoll die Neue Zeitschrift für Musik. 58

Der Dilettant war nicht mehr ein geschätzter Musikliebhaber und -kenner, er war ein auf

niedrigem Niveau musizierender Hausmusiker.59

55 Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und engli-

schen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen 1994, S. 139; vgl. zum Folgenden ebd., S. 317, in: Eibach (s. Fußnote

54)

56 Eibach (s. Fußnote 54)

57 Gemeint ist hier das Virtuosentum. Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den Ös-

terreichischen Kaiserstaat, Wien 1818, 4.Jahrgang, Sp. 745, in: Petrat, S. 97

58 Fladt u. a., S. 18

59 vgl. hierzu: Artikel „Kenner und Liebhaber“ in Riemann Musiklexikon, Sachteil. Mainz 1967, S. 448f.

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4.2 Dilettantismus - Zeitgenössische Werturteile

Abbildung 13: Der musikalische Dilettantismus um 1851 in der Karikatur Quelle:Lexikon des Klaviers. Bauge-

schichte – Spielpraxis – Komponisten und ihrer Werke– Interpreten, hg. von Christoph Kammertöns und Sieg-

fried Mauser. Laaber 2006, S. 420

„In unserer kunstgebildeten, Fortepiano spielenden Zeit dürfte es einmal nötig

seyn, über die Richtung einige Worte zu verlieren, welche dasselbe seit ungefähr

20 Jahren genommen hat. […] In jener goldenen Periode, wo Mozarts und Haydns

Sonaten von dem gefühlvollen Musikpublicum mit Liebe empfangen uns gespielt

wurden, war Musik eine Beschäftigung der Gebildeten, und man fand Claviere in

solchen Häusern, wo man den Kunstgenuss als Erholung von Tagesmühen und Ar-

beit betrachtete, und mit Ernst und Liebe sich dieser schönen Beschäftigung wid-

mete. Man betrachtete das Klavier als ein Instrument, auf dem man singbare Me-

lodien vortrug, die durch ihren inneren Gehalt, Würde, Pracht, rührende Feyer-

lichkeit, Lieblichkeit und zum Herzen sprechenden Ausdruck die Erheiterung und

Erhebung des Gemühtes zu bewirken im Stande waren, und es war damals das

höchste Lob, nach dem man strebte, wenn es vom Spielenden hieß, er spiele mit

Ausdruck, Nettigkeit und Fertigkeit […] In unserer Zeit, wo die Musik mit Fortepia-

nos in alle Zimmer und Stände gedrungen ist, weil der Luxus dieselben nun für et-

was Nöthigeres ansieht, als einen Wäschekasten oder Spinnrad, oder Nähtisch

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oder Schlüsselbrett, weil es also eines der vorzüglichsten des Meublements ge-

worden ist – in unsern Zeiten ist es anders, wenn auch nicht besser. Der Nachah-

mungstrieb, den der Schöpfer durch die Erschaffung der Affen personificiert hat,

und der im Menschen ein so bedeutendes Beförderungsmittel vieles Großen und

Schönen ist, hat in den niederen Ständen binnen den letzten zwanzig Jahren eine

ordentliche Musikomanie erregt, und die Taschen aller Hausväter, die von andern

zu den wohlhabenden gezählt werden, oder sich wenigstens selber dazu zählen,

in tüchtige Contribution gesetzt, denn es ward Mode, ein Fortepiano im Zimmer

stehen zu haben. Damit es gespielt wurde, musste man sich bequemen, es sogar

spielen zu lernen, oder wenn es junge Eheleute waren, abwarten bis Kinder die

Familie vermehrten oder heranwuchsen. Ja einige Väter und Mütter zogen mit al-

ler Gewalt an den Fingern der Kleinen, damit sie doch nur länger werden und die

Kleinen bald eine Octave oder auch weniger spannen möchten. Das schöne Ge-

schlecht fand bald einen grösseren Reiz darin, als in strenger Erlernung anderer,

einer Hausmutter nöthigen Geschicklichketien, und studierte oft heimlich, wenn

der Papa nicht zu Hause war, ganze Monathe lang ein einziges Stück – um ihn

zum Namensthage recht zu überraschen. [...]“ 60

Das Musizieren, das allgemein auch zur Modeerscheinung geworden ist, erzeugte aus sich

schließlich einen gesellschaftlichen Zwang, sich ihrer als Mittel zu bedienen, um gesellschaft-

liche Anerkennung zu erreichen. Durch diese Aussicht wurden Eltern motiviert, ihre Kinder

nicht ohne musikalische Fertigkeiten aufwachsen zu lassen, weswegen bereits in jungen Jah-

ren in entsprechenden Musikunterricht investiert wurde. Das vorgeführte Kind wurde zur in-

nerhäuslichen Attraktion.61

„Zuerst fällt uns ins Auge, dass nicht nur in den höheren und reicheren Familien,

sondern namentlich in den mittleren Ständen das Erlernen eines musikalischen In-

struments, namentlich des Klaviers, beinahe zu einem regelmäßigen unausweich-

lichen Unterrichtsgegenstand geworden ist. Sind die armen Kinder kaum 7-8 Jah-

re alt geworden, so halten die besorgten Eltern es schon für höchste Zeit, dem

Kind Musikunterricht geben zu lassen, es mag nun Talent und Lust haben oder

nicht; einige Jahre schleppen sich nun, wenn weder Lust noch Talent da ist, der

Schüler uns sein Lehrer mühsam miteinander herum, bis endlich der Junge, nach-

dem er jedwelche Märsche, Tänze und Opernarien hat vorspielen lernen, der älte-

ren Zucht entwachsen, sich auch vom Lehrer emanzipiert.“ 62

„[…] die einen möchten am liebsten das Kind im Mutterleibe schon […] musika-

lisch haben, oder dasselbe mindestens als musikalisches Wunderkind ans Licht

treten lassen […].“ 63

60 Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den Österreichischen Kaiserstaat, Wien 1818,

2. Jahrgang, Nr. 45 vom 7. November, Sp. 409-411, in: Google books: http://books.google.de/books?

id=oP4sAAAAYAAJ&hl=de&pg=PA391#v=onepage&q&f=true (02.02.2013)

61 Petrat, S. 98

62 Musikalisches Volksblatt, Hrsg. Alois Schmitt, Stuttgart 1842, 1.Jahrgang S. 121, in: Petrat, S. 99

63 Schlesische Zeitung für Musik 1833 , 1. Jahrgang Nr. 13, S. 1, in: Petrat, S. 1

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„Fast in jedem guten Wiener Bürgerhause werden jetzt die Kinder gut musikalisch

erzogen: treffliche Pianisten – und Quartettverein all überall. Kaum darf man

noch fragen: wer ist musikalisch? Sondern: wer ist es nicht?“ 64

In der Allgemeinen Wiener Musikzeitung hebt 1848 ein Autor den Dilettantismus deutlich

über das Virtuosentum, das er an Franz Liszt festmacht und in deutlichen Worten verab-

scheut. In seinem Artikel „Über Musik-Dilettantismus und seinen eigentlichen Zweck“ schreibt

er:

„Während […] sich das Virtuosenthum in der Musik überhaupt, wie in so vielem

andern, täglich breiter macht, […] er [Franz Liszt] sich täglich krötenhafter auf das

ekelhafteste aufbläst, und eben hierdurch, gleich einer plattgetretenen Rindsbla-

se dem Zerplatzen immer näher kommt, sieht man andererseits e c h t e n Dilet-

tantismus in steter Abnahme, d. i. jenen, der da Musik blos wegen Musik übt, und

nicht gewisser äußerer Nebenzwecke wegen. […]

Mädchen lernen oft sehr gut Musik, allein bloß, um damit in Gesellschaft zu glän-

zen, bewundert zu werden, die Aufmerksamkeit heirathslustiger Männer zu erre-

gen und so leichter zu sogenannten guten Partien zu kommen. Also ein Köder um

Männer zu fischen […]. Knaben dagegen lässt man Musik lernen, theils weil es

einmal, wie bei Mädchen , zu einer sogenannten guten Erziehung gehört, theils

und oft hauptsächlich, damit ihnen die erworbenen musikalische Kenntniß ihre

Carrière erleichtere. So mag sich immerhin gar Mancher schon durch seine Mu-

sikfertigkeit Freunde erworben und sich in der Welt mitunter zu den ausgezeich-

netsten Stellen hinausgesungen, gegeigt und geblasen haben! Wirklich ist die

Musik wohl ein gar mächtiges Mittel, um sich beliebt zu machen. Wie angenehm

wird nicht durch diesselbe oft eine ganze Gesellschaft unterhalten, wo man sonst

nichts reden würde, oder nichts zu reden wüßte. […]

Auf das aus seiner Sicht Wesentliche des Dilettantismus eingehend, führt er weiter aus:

„Nicht fertiges und nettes Spiel, aus Noten einstudiert oder vom Blatte weg,

scheint uns das, worauf ein Musiklehrer beim Unterricht seines Schülers im Be-

handeln eines Instrumentes zu sehen hätte; […] sondern es wäre der Schüler bei

Zeiten an freies Phantasieren auf seinem Instrumente zu gewöhnen. Bei Zei-

ten hätte er zu lernen fremde und eigene musikalische Ideen d. i. Gehörtes und Ei-

genes geschmackvoll und fertig auf seinem Instrumente auszudrücken. […] Gar

traurig scheint es uns nämlich, wenn ein Dilettant zu seiner eigenen oder Anderer

musikalischer Erholung stets erst ein Heft Noten braucht.“ 65

Andere Autoren kritisierten die allgemeine Verflachung häuslichen Musizierens, was folgen-

de Zitate eindrücklich vor Augen führen:

„In allen häuslichen Zirkeln wird immer nur Rossini, Mercadante, Casara, Racini et

Comp. getrillert, gegirt und gestöhnt; ernst gehaltene Instrumentalsätze solider

Meister haben sogar das Conscilium abeundi erhalten und werden nur sub condi-

64 K. Goldmark, Erinnerungen aus meinem Leben, Wien 1922, S. 88, in: Stahmer, S. 32

65 Wiener allgemeine Musik Zeitung. Hrsg. Ferdinand Luib, Wien 1848, 8. Jahrgang, 25. April, S. 198, in: Google

books: http://books.google.de/books?id=rNIqAAAAYAAJ&hl=de&pg=RA1-PA199#v=onepage&q&f=false

(02.02.2013)

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tione sine qua non toleriert. […] Dagegen haben Rondos, Bagatellen, Polonaisen,

Variationen, Potpourris und ähnliche Faseleien sich eingenistet, und werden […]

für ein nun plus ultra der Kunst gehalten.“ 66

„Seitdem die strengere Schreibart abgenommen, seitdem die Fuge, die Sonate,

das Streichquartett etc. immer seltener worden, seitdem haben wir uns Straußen-

magen angeschafft, um die Lieferung fremder Gastronomen gehörig verdauen zu

können […].“ 67

„Mehr als alles verwaist ist aber die Sonate und das Quartett […].“ 68

„Da stößt man auf Missgeburten, welche das Original in wahrhaft heilloser Ver-

stümmelung wiedergeben […].“ 69

4.3 Virtuosentum – Zeitgenössische Werturteile

Neujahrskonzert

Zum Neuen Jahr begrüßt Euch hier

Ein Virtuos auf dem Klavier

Er führ euch mit Genuss und Gunst

Durch alle Wunder seiner Kunst

(Wilhelm Busch)

Was Wilhelm Busch in Karikatur70 und Gedicht kritisch zum

Musikgeschmack der Epoche anzumerken hat, beschreibt

Paul Bekker 1916 in seinem Buch Das deutsche Musikleben

mit folgenden Worten:

„Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hatte zwei Ar-

ten des Konzerts ausgebildet. Die erste war das große

Instrumental- und Vokalkonzert, als Darstellung der damaligen Gesamtheitsidee:

des geschlossenen Gesellschaftskreises. Als zweite Konzertart erschien das Kam-

merkonzert. Es vereinigte eine bevorzugte Auswahl von musikalisch besonders in-

66 Allgemeine Musikzeitung zur Beförderung der theoretischen und praktischen Tonkunst, für Musiker und

Freunde der Musik überhaupt. Hrsg. Von einem Vereine von Tonkünstlern und Gelehrten, Frankfurt am Main,

Jahrgang 1.1827 Spalte 284, in: Petrat, S. 88

67 Neue Zeitschrift für Musik, Hrsg. R. Schumann, Leipzig1842,17. Band S. 107, in: Petrat, S. 89

68 Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den Österreichischen Kaiserstaat, Wien 1820,

4.Jahrgang, Sp. 763, in: Petrat, S. 89

69 Gemeint sind Arrangements bei Musikalienhändlern und Verlagen beliebt, weil sie Geld bringen.

Allgemeine musikalische Zeitung, Leipzig 1832, 34. Jahrgang, S. 447, in: Petrat, S. ???

70 Busch, Wilhelm: Der Virtuos. http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Virtuos (19.11.2012).

34

Abbildung 14: Wilhelm Busch Der Virtuos

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teressierten Persönlichkeiten jenes Kreises zu einer noch kleineren führenden

Gruppe. Zu diesen beiden, der sozialen Struktur der damaligen Gesellschaft ent-

sprechenden Konzertgattungen trat im Beginn des 19. Jahrhunderts noch eine

dritte: die des Virtuosenkonzerts. Sie entsprang keinem schöpferischen Gesell-

schaftswillen, sondern wurde von außen künstlich in die Gesellschaft hineingetra-

gen. Der Virtuose war eine besondere Art Musiker, dessen Begabung darauf ziel-

te, an der Stelle des sachlichen ein persönliches Interesse zu erwecken, die ge-

meinschaftliche Bildung der Form zu unterdrücken, den schöpferisch Teilnehmen-

den zum passiven Hörer zu machen und die Aufmerksamkeit auf die Zurschaustel-

lung besonderer persönlicher Fähigkeiten zu richten. Dieser Virtuose bot sich der

Gesellschaft an. Er formte sich aus ihren Elementen eine neue Gesellschaft: sein

Publikum, das des eigenen Gestaltungswillens entbehrte und ihn erst durch das

Virtuosentum empfing, das so sein Geschöpf wurde und gleichsam die für die Ent-

faltung seiner eigentümlichen Begabung erforderliche, an sich aber willenlose Re-

sonanz gab....“71

4.4 Musik in der Weltkrise

„Eben hat sich der moderne

Mensch in der Musik mit dämo-

nischer Gewalt erschlossen, da

kommt der Betrieb und will ihn in

seine Fahrstraße zwingen. Das

Unternehmertum bemächtigt

sich der Kunst und sucht sie in

seinem Sinne zu verwenden. Alle

mit ihm verbündeten Mächte

setzen sich in Bewegung. Auch

die genießende Öffentlichkeit

wirkt, ohne es zu wissen, mit,

Unternehmerträume zu erfüllen

und die Kunst von außen her zu

treiben. Künstlerisch gerichtet

Geister heben es schwer, in posi-

tiver Mitarbeit ihren Willen geltend zu machen. (…) Der Geist des Unternehmer-

tums, das in dem Impressario seinen Ahnen sieht, nun aber seine Beutegier, den

vergrößerten Verhältnissen entsprechen steigert, ist im Grunde seines Wesens

eine Kriegserklärung gegen das Schöpferische. Der Unternehmer will die denkbar

häufigste Wiederholung des schon Dagewesenen, allerdings durch die Hand oder

den Mund eines möglichst verblüffenden Künstlers; zumal des Opernsängers, den

er mehr und mehr als Rattenfänger in den Konzertsaal verpflanzt.“ 72

Eine umfassende Darstellung dieser Problematik einschließlich didaktischen Materials findet

man in Musik im 19. Jahrhundert, Aspekte bürgerlicher Musikkultur herausgegeben von Hart-

mut Fladt u. a. (s. Literaturverzeichnis S. 125)

71 Bekker, Paul: Das deutsche Musikleben, Berlin; Schuster und Löffler, 1916, S. 296f., in: Fladt u. a., S. 68

72 Weißmann, Adolf, Die Musik in der Weltkrise, Stuttgart und Berlin, Deutsche Verlagsanstalt, 1922, S. 29/32,

in: Fladt, u. a. , S. 68

35

Abbildung 15: Franz Liszt

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Abbildung 16: Wien Mitte des 19. Jahrhunderts

5 Die Kammermusik im Wien der Brahmszeit

Am 8. September 1862 unternahm Brahms seine erste Reise nach Wien, wohin er auf Grund

seiner Festanstellung als Chormeister bei der Wiener Singakademie im folgenden Jahr auch

übersiedelte.

Die Situation in Bezug auf die Nach-

frage nach anspruchsvoller Kammer-

musik war ernüchternd.

Bereits 1846 klagte Franz Gernerth in

der Wiener Allgemeinen Musikzei-

tung: „Die häuslichen musikalischen

Zirkel, in denen sonst gute Kammer-

musik ausgeführt wurde, werden

nachgerade eine Seltenheit.“ 73

Über 20 Jahre später beschrieb Karl

Landsteiner74, einer der scharfsinnigs-

ten Porträtisten der Wiener Bevölke-

rung im 19. Jahrhundert, den Musi-

kenthusiasten der Brahmszeit treffend in folgendem Charakterbild:

,,Er wohnt, wenn es möglich ist, täglich einem Konzerte oder doch wenigstens ir-

gend einer Musikaufführung bei. [...] Geht er abends nicht in die Oper, so veran-

staltet er eine kleine musikalische Soiree in seiner Wohnung. Er selbst spielt zur

Noth die 'Bratsche' und singt, je nach Umständen, den ersten Tenor oder den

zweiten Baß. Uebrigens ist er, wie er selbst sagt, mehr Theoretiker als Praktiker.

Aber er weiß alles, was sich auf die Musik bezieht, kennt alle halbwegs bekannten

Werke der Tonkunst und hat sich selbst in die kritischen Werke Nohls und Jahns,

nicht bloß in die geistvollen Recensionen von R[udolph] H[irsch] in der Wiener Zei-

tung, der etwas weniger bekannt ist, als der E[duard] H[anslick] in der Neuen

Fr[eien] Presse, vertieft. Er hat noch den Beethoven gekannt und weiß eine Men-

ge Anekdoten von ihm, Schubert war sein Schulgenosse und darauf thut er sich

sehr viel zu Gute. [...] Er rühmt sich, alle berühmten Meisterwerke der Tonkunst

schon gehört zu haben. Und das glaub ich auch, wenn man die abrechnet, die er

noch nicht gehört hat. Wird im Operntheater die Zauberflöte oder Fidelio aufge-

führt, dann nimmt sein Gesicht einen feierlichen Ausdruck an. Er sagt leise: ,Ein

Festtag für uns - Musiker!' Mozarts Requiem rührt ihn zu Thränen und Beetho-

vens große Messe macht ihn krank. Schuberts Lieder kann er alle auswendig und

trällert sie vor sich hin, wenn er spazieren geht. Kommt eine neue Oper oder eine

andere musikalische Neuigkeit, der eine tüchtige Reklame vorausgegangen, so

muß er, das ist unumgänglich nöthig, der ersten Aufführung beiwohnen und sollte

es ihm das Leben kosten. Er kämpft dann mit dem Heroismus eines Mannes, der

alles aufs Spiel setzt, um den Besitz einer Karte oder eines - Platzes. Ist er in ei-

73 Franz Gernerth „Umschau in den Wiener Musikzuständen“ in Wiener AMZ 6. 1846, S. 269

74 Karl Landsteiner (1835-1909). Ihm verdanken wir ein zwischen 1868 und 1870 verfasstes Charakterbild eines

Musik—Enthusiasten, einer ,,Spezialität der Wiener Bevölkerung", wie der Autor versichert. Otto Biba: Die Kam-

mermusik im Wien der Brahmszeit, in: Gruber, S. 47ff.

36

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nem Konzerte - im Musikvereinssaale hat er eine Loge, im großen Redoutensaale

steht er ganz hinten in dem Quergang, wo die Besitzer von Freibilleten sich stoßen

und drängen - so bleibt er keinen Augenblick ruhig. Entweder blickt er um seine

Wonne zu veranschaulichen, wie ‘verzückt' zur Saaldecke empor oder er sieht dich

an, so rührend, so verständnißinnig. Dann lauscht er, mit einem Ohr nach vor-

wärts neigend, als ob ihm etwas aufgefallen wäre, verzieht auch wohl die Mie-

nen, wenn er einen ‚falschen' Ton zu vemehmen meint. Er spricht auch während

der Aufführung 'Ach dieser Mozart - Nein dieser Satz! - Haben sie gehört? Das

war ein Strich! - Das muß man sagen, diese Florentiner haben es den 'Helmesber-

gern' noch zuvor gethan! - Ach, Freund! Beethovens A-Quartett ist eine der wun-

derbarsten Schöpfungen des großen Mannes! - So etwas kann man denn doch

nur bei uns in Wien hören!' "

Dieser gekürzte Ausschnitt mag uns genügen: Der uns vom Literaten als Typus und nicht als

bestimmte Person vorgestellte Musik-Enthusiast ist aktiv wie passiv in der Musikszene prä-

sent. Er nennt sich selbst Musiker, aber für die kritische Feder Landsteiners reichen seine Fä-

higkeiten als Bratschist nur ,,zur Noth“. Sattelfester scheint er in der Vokalmusik zu sein. Da

die Konzerte damals in der Regel immer noch um die Mittagsstunde stattfinden, gehören sei-

ne Abende der Oper oder der musikalischen Soirée daheim, also der Hausmusik oder dem

Hauskonzert. Für neue Musik kann man leicht seine Neugierde wecken, aber seine eigentli-

che musikalische Welt ist die anerkannter musikalischer Meister und musikalischer Meister-

werke. Er ist etwa gleich alt wie Schubert, also etwa 70 Jahre alt. Aber nicht nur Schubert,

auch Beethoven hat er noch gekannt - jener von Karl Landsteiner als Spezialität der Wiener

Bevölkerung kritisch wie liebevoll aufs Papier gebannte Musik-Enthusiast.

Der Dilettant spielte allenfalls noch Bratsche, besuchte - als leidenschaftlicher Traditionalist -

am liebsten Konzerte, in denen Werke der Komponisten der Wiener Klassik und vor allem

von Franz Schubert gespielt wurden. Diese in der Wiener Musiktradition verwurzelte, ja die-

se selbst repräsentierende Spezies hat auch den jungen Brahms beeindruckt. So lobt er in ei-

nem Brief vom 26. März 1863 das „teilnehmende, lebendige Publikum“ in Wien, das „anre-

gend für den Künstler“ ist und das er in keinem Generationen- oder sonstigen Konflikt zur

starken Präsenz der Tradition sieht:

„Und nun gar für uns das heilige Gedächtnis der großen Musiker, an deren Leben

und Schaffen hier man täglich erinnert wird. Da ist besonders Schubert, bei dem

man die Empfindung hat, als lebte er noch! Immer neue Menschen lernt man ken-

nen, die von ihm als einem guten Bekannten sprechen […].“75

In den Verlagskatalogen findet man – marktorientiert – hauptsächlich klassische und nach-

klassisch-biedermeierliche kammermusikalische Werke.76

Wien war demnach also bestimmt „nicht das Pflaster, wo man in der Musik nach den Sternen

75 Zitiert nach Otto Biba, in: Grube, S. 48

76 „Was die Compositionskräfte im Fach der Kammermusik betrifft, so gibt es deren in Wien gewiß zahlreiche

und anerkennungswerthe. Aber diese Compositionen sind die vom Musikalienhändler am wenigsten gesuchten;

sie gestehen es selbst, dass sie Opfer bringen, wenn sie ein Trio oder ein Quartett auflegen.“ Franz Gernerth in:

Wiener AMZ 6 (wie Anm. 73)

37

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griff – und in der Kammermusik schon gar nicht“.77

Trotz dieser wenig innovativen Musikszene trat Brahms bereits in seinem ersten Wiener Jahr

mit dem Klavierquartett g-Moll op. 25 erfolgreich in die Öffentlichkeit.78

Joseph Hellmesberger setzte es auf das Programm

des ersten Konzerts seines am 16.11.1862 begin-

nenden Quartettzyklus 1862/63.

Schließlich bleibt auch noch zu erwähnen, dass das

Kammermusikspiel im letzten Drittel des 19. Jahr-

hunderts in Wien zwar einen starken Rückgang ver-

zeichnete, jedoch nie völlig zum Erliegen kam und

in den Privataufführungen ausgewählter Familien

nach wie vor eine Domäne privaten Musizierens

war, dort sogar eine Art späte Blüte erlebte.

Mit der in den vorhergehenden Artikeln bereits diskutierten allmählichen Verlagerung der

kulturellen Führungsrolle des Adels hin zum Bürgertum ging seit dem 18. Jahrhundert die

Entwicklung des öffentlichen Konzertwesens im Bereich „klassischer“ Musik einher.

In der Mitte des Jahrhunderts wurden als öffentliche Konzerte vor allem Große Opern, Orato-

rien, zum Teil auch symphonische Musik – allerdings zumeist solche mit geringerem An-

spruch – aufgeführt.

In diesen Veranstaltungen, wie auch in dem sich zunehmend ausbreitenden musikalischen

Vereinswesen (Singakademien etc.), findet das Bürgertum eine Möglichkeit zur geselligen

Kultur mit Unterhaltungs- und Bildungsfunktion, die dem wachsenden Bedürfnis des Bürger-

tums nach öffentlicher Repräsentation seiner selbst Rechnung trägt. Anspruchsvolle Musik

gelangte hier jedoch selten zur Aufführung. Sie hätte auch eine Überforderung des Publi-

kums bedeutet. Diese Veranstaltungen waren per se bereits eine Art Protestaktion gegen die

Formen der Kulturpraxis zu Beginn des Jahrhunderts, d. h. gegen den Rückzug in die Privat-

heit und wurden als Demokratisierung des Musikgeschehens (i. S. v. Musik als Sache des Vol-

kes) zum Politikum.79

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war diese Entwicklung dann weitgehend abgeschlossen.80

Immer mehr Konzerte verzeichneten eine stetig wachsende Besucherzahl und benötigten

dementsprechend größere Konzertsäle. Diese wiederum konnten nur von einem ständig an-

wachsenden Orchesterapparat wirklich mit Klang gefüllt werden.

77 Otto Biba, in: Gruber, S. 53

78 „Der letzte Satz – ein Allegro Zingarese – übte vermöge seiner strammen und mannigfaltigen Rhythmik und

der concisen (Rondo)-Form einen günstigen Eindruck auf die Zuhörerschaft.“ Leopold Alexander Zellner, in: Blät-

ter für Theater, Musik und Kunst (8. Jg. 1862, Nr. 94, 21.November, S. 378), in: Gruber, S. 59

79 Kempinski-Racoszyna-Gander, S. 17f.

80 Tonart S. 164

38

Abbildung 17: Wiener Konzerthaus

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Abbildung 18: Großer Redoutensaal in der Hofburg in Wien. Gravur von

Joseph Schütz, Ende 18. Jhd.

Musiker, vor allem Solisten, profitierten vom technischen Fortschritt im Instrumentenbau,

der z. B. dem Konzertflügel die notwendige Klangfülle verlieh, um sich gegenüber einem groß

besetzten Sinfonieorchester durchsetzen zu können. Blechblasinstrumente konnten dank der

Entwicklung der Ventile, Holzblasinstrumente dank einer neuartigen Klappentechnik nun in

allen Tonarten chromatisch spielen und

neue Instrumente vergrößerten das klangli-

che Spektrum des Orchesterapparats.81

Aufführungen ließen sich kaum mehr vom

Cembalo oder Geigenpult aus leiten; ein

Dirigent wurde notwendig.82

Große Gattungen wie Symphonische Dich-

tung, Musikdrama, Virtuosenkonzert und

Große Oper waren seit dem Scheitern der

Revolution 1848/49 die Lieblinge des Publi-

kums.

Als Brahms in den Jahren 1853-1860/61 erstmals mit seinen frühen Kammermusikwerken an

die Öffentlichkeit trat, haben in Deutschland und Österreich Gattungen, die für Aufführungen

im kleinen Rahmen konzipiert waren (wie Lied und Kammermusik) im öffentlichen Musikle-

ben nur noch geringe Bedeutung.83

Zahlreiche Quellen belegen, dass für Brahms selbst das häusliche Musizieren ein fester Be-

standteil seines musikalischen Alltags blieb. Häufig traf er sich aus rein praktischen Gründen -

nämlich für eine Probe mit Berufsmusikern - bei befreundeten Familien zum gemeinsamen

Spiel und verband so das künstlerische Tun mit der gesellschaftlichen Verpflichtung.84

Hier ist auch der Grund für den

großen Erfolg, den Johannes Brahms

in Wien verzeichnen konnte, verwur-

zelt. Diese Tatsache liegt sehr wahr-

scheinlich an der sozialen Schichtzu-

gehörigkeit seiner Wiener Brahmsge-

meinde, deren Mitglieder hauptsäch-

lich den Kreisen gut situierter Akade-

miker, höherer Verwaltungsangestell-

ter und eines verbürgerlichten Adels

entstammten. „Größtenteils waren es

Universitätsprofessoren85, Ärztefamilien - alle Musiker oder Musikenthusiasten - oder Alt-

Wiener Patrizierfamilien, der Musik leidenschaftlich ergeben, der Hausherr doctor philoso-

81 Spielpläne S. 324, 277

82 Tonart S. 145

83 Kempinski-Racoszyna-Gander, S. 6

84 Belege finden sich beispielsweise in der Einleitung zum Briefwechsel Brahms-Schubring (Wien 1915, S. 168)

oder in K. Goldmarks Erinnerungen aus meinem Leben (Wien 1922, S. 65)

39

Abbildung 19: Joachim-Quartett mit (v.l.n.r.): Robert Hausmann, Joseph Joa-

chim, Emanuel Wirth und Carl Halir. Bild: Ferdinand Schmutzer

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phiae, selbst tüchtiger Pianist.86 Die Verschmelzung der Geistesaristokratie und der finanziel-

len Oberschicht Wiens zu einem funktionierenden Mäzenatentum „entsprang sowohl einem

echten Bedürfnis als auch einer allgemeinen Bildungsbeflissenheit. […] Der allgemeine Le-

bensstil und die konservativ-nationalistische Einstellung großbürgerlicher Kreise bildeten den

allgemeinen Hintergrund einer musikalischen Massenbewegung, die in Brahms den Exponen-

ten ihrer Anschauung gefunden zu haben glaubte.“ Er hatte das Alter, die Bürger die namhaf-

testen Pressekritiker, kurz die staatserhaltenden Elemente auf seiner Seite.87 Dieser Zeit der

prunkvollen Neubauten […], breit angelegten öffentlichen Gärten, […] , strahlenen Lichtver-

schwendung und aufblühenden Wirtschaft schien der Komponist des Triumphlieds […] der

ideale Vertreter zu sein.“ 88

Am 28.12.1880 schrieb Elisabeth von Herzogenberg:

„Übermorgen ist großer Brahmsabend, Emma [Engelmann] spielt A-Dur Quartett

[op. 26], Julius Röntgen [Klavier] das Quintett [op.34], und darum gruppieren sich

noch verschiedene Kleinigkeiten. Amanda, Julius Frau spielt das Violinkonzert aus-

wendig, so als kleine Zugabe, wenn die Familie etwa schon drei Stunden vorher

musiziert hat! Ja, wir haben große Mägen!“89

Eine besondere Bedeutung für Brahms kammermusikalische Tätigkeit und Schaffen in Wien

hatte der Konzertsaal des Chirurgen Theodor Billroth.

„Billroth ließ insbesondere den geräumigen Musiksaal mit künstlerischem Ge-

schmack auszieren. Wie viele schöne Erinnerungen hängen an diesem, durch die

beste Musik, die edelste Geselligkeit geweihten Saal! […] Das älteste Hellmesber-

ger-Quartett und Brahms am Klavier besorgen Kammermusik; auch Saint-Saëns,

Amalie Joachim, Georg Henschel und fremde Künstler gaben hier gerne ihr Bestes

[…] Billroth hatte bald die besseren musikalischen Geister Wiens an sich herange-

zogen.“90

„An den Wänden hingen wertvolle, von Künstlerhänden eigens für ihn verfertigte

Kopien nach guten italienischen Meistern, […] auf Konsolen und geschnitzten ve-

nezianischen Möbeln standen Marmorbüsten, Terrakotten, und Bronzen […].“91

85 Die ersten dauerhaften musikalischen Kontakte in Wien stellt Brahms z. B. bei einem sogenannten „Früh-

stück“ bei dem Konservatoriumsprofessor Epstein her, wo er mit Hellmesberger zusammentraf und musizierte.

Stahmer, S. 85

86 Goldmark, K.: Erinnerungen aus meinem Leben, Wien 1922, S. 88 in: Stahmer, S. 32

87 Friedrich Klose: Meine Lehrjahre bei Bruckner, Regensburg 1927, S. 26f. in: Stahmer, S. ???

88 Bernhard Paumgartner: Johannes Brahms und das musikalische Wien um die Jahrhundertwende, in: Musica

8, Wien 1937, Nr. 11, in: Stahmer, S. 32

89 Brahms-Briefwechsel, Berlin 1906-1922, Deutsche Brahms-Gesellschaft, Bd. 1, Brahms im Briefwechsel mit

Heinrich und Elisabeth von Herzogenberg. Hg: Max Kalbeck. Berlin 1906.

http://archive.org/stream/johannesbrahmsi01herzgoog#page/n178/mode/2up (17.02.2013)

90 Eduard Hanslick: Aus meinem Leben Bd. 2, Berlin 1894, S. 94, in: Stahmer, S. 89f.

91 Kalbeck, Max, Bd. III, S. 65f.

http://archive.org/stream/johannesbrahms01unkngoog#page/n91/mode/2up (17.02.2013)

40

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„Der Saal wurde im November 1875 von Brahms und dem Hellmesberger - Quar-

tett mit op. 60 eingeweiht und seitdem trafen sich dort zu sogenannten „Gesell-

schaften“ fast wöchentlich nur Künstler und wahre Freunde der Kunst. […]

Brahms hatte die von Billroth vorgeschlagene Liste von eingeladenen Gästen zu

genehmigen, und das Eigenartige dieser Abende war, dass nur Menschen, denen

Musik - insbesondere Brahmssche - Herzenssache ist, dabei sein durften.“92

92 Gottlieb – Billroth, C.A.T. (Hrsg.), Billroth und Brahms im Briefwechsel, Berlin/Wien 1935, S. 116. in: Stahmer,

S. 90

41

Abbildung 20: Hellmesberger-Quartett Joseph Anton Bauer nach Theodor Petter Lithographie, aufgewalzt, Ges. der Musik-

freunde in Wien

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6 Brahms und die Kammermusik

Neben dem sinfonisch-orchestralen und vokalem Schaffen (solistisch und chorisch), bildete

vor allem die Kammermusikproduktion von Johannes Brahms einen wesentlichen Teil, der

uns zum „Mittelpunkt seines kompositorischen Schaffens“93 führt. Um den Stellenwert, den

diese Gattung bei Brahms selbst hatte zu ermessen, ist nicht unwichtig zu wissen, dass die

überlieferte Kammermusik nur einen kleinen Teil der gesamten Brahmsschen Kammermusik-

produktion darstellt. Vielfach wissen wir von Werken, die nie den Weg zur Drucklegung ge-

funden haben. Die eigenhändige Vernichtung etwa der vielen frühen Werke hängt aber un-

mittelbar mit dem Verständnis der Person des Komponisten und seiner selbst definierten

Stellung innerhalb der Musikgeschichte als Bindeglied zwischen Tradition und Fortschritt zu-

sammen.

Ausgangspunkt der musikalischen Bildung war Brahms‘

Lehrer und Förderer Eduard Marxsen (1806-1887) und

die von ihm vermittelte Tradition der Klassik. Die Leh-

rer-Schüler-Verbindung hierzu reichte zurück bis Mo-

zart: Marxsen hatte bei verschiedenen Schülern Mo-

zarts und Beethovens bzw. auch Schuberts Musiktheo-

rie-, Kompositions- und Klavierunterricht.94 Somit lässt

sich ein unmittelbarer Zusammenhang von Mozart,

Beethoven über Schubert bis zu Brahms selbst herstel-

len.

Schon die ersten Nachrichten über den Pianisten

Brahms zeigen ihn uns als Kammermusiker. Er trat be-

reits 1843 als 10jähriger Pianist in die Öffentlichkeit, in-

dem er den Klavierpart von Beethovens Bläserquintett

op. 16 spielte sowie eines Klavierquartetts von Mozart.

Mit 18 Jahren erhalten wir Nachricht von einer eigenen

Trio-Komposition für Klavier, Geige und Violoncello, die er 1853 – zwanzigjährig – vielleicht

auch dem Ehepaar Schumann in Düsseldorf vortrug, wie der Biograph Max Kalbeck vermu-

tet.95 Jedenfalls sprach Brahms in einem Brief an Schumann von Trios für diese Besetzung, die

Clara und Robert als "Phantasie" bezeichneten und die Schumann ihm als erstes Opus vor-

schlug.

93 Fellinger, Imogen, in: Gruber, S. 11

94 Musiktheorie bei I. von Seyfried (1776-1841), Klavierschüler Mozarts und Kompositionschüler Albrechtsber-

gers; Klavierunterricht bei C.M. von Bocklet (1801-1881), enge Beziehungen zu Beethoven und Schubert

95 Kalbeck, Brahms I/1, S. 130

42

Abbildung 21: Eduard

Marxsen um 1840

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Brief von Brahms an Josef Joachim vom 17. Okt. 185396

Dr. Schumann betreibt meine Sachen bei Breitkopf & Härtel so ernstlich und so

dringend, daß mir schwindlig wird. Er meint, ich müsse vielleicht in sechs Tagen

die ersten Werke hinschicken.

Der Mannigfaltigkeit wegen schlägt er mir folgendes Programm vor:

op. 1 Phantasie in d moll für Piano, Violine und Cello (Largo und Allegro)

op. 2 Lieder

op. 3 Scherzo in es moll

op. 4 Sonate in C dur

op. 5 Sonate in a moll für Piano und Geige

op. 6 Gesänge

Schreibe mir doch deutlich Deine Herzensmeinung darüber. Ich weiß mich gar

nicht zu fassen. Ob das Trio (Du erinnerst es wohl) der Veröffentlichung wert ist?

Erst op. 4 ist ganz nach meinem Geschmack. Aber freilich meint Schumann, man

müsse mit den schwächeren Werken anfangen. Da het er recht, entweder damit

anfangen, oder sie ganz fortlassen und streben, hernach nicht zu fallen. Könnte

ich mit der C-Sonate anfangen? Die fis moll und das Quartett in h, meint der Dr.,

könnte jedem Werk nachfolgen. Wenn das Trio abgeschrieben ist, möchte ich es

Dir wohl hinschicke; daß ich einige Schwächen geheilt habe, versteht sich von

selbst.

Erfreue mich doch bald durch ein paar Zeilen.

Dein Johannes.

In größter Eile!

Leider existiert diese erste Kammermusikkomposition nicht

mehr, da sie Brahms, wie vieles andere auch, später vernich-

tet hat. Statt der Trio-Fantasie entschied sich Brahms auf An-

raten Joachims für die C-Dur Sonate für Klavier, welche seit-

her als op. 1 geführt wird. Überhaupt war Brahms nach der

großartigen Ankündigung Schumanns in dessen Artikel

"Neue Bahnen"97 sehr vorsichtig mit der Herausgabe seiner

Werke, da er Sorgen hatte, ob er dem gesetzten Anspruch

auch gerecht werden könne. Fatalerweise führte gerade die-

ses überschäumende Lob Schumanns zur Vernichtung zahl-

reicher Kammermusikwerke, die er vor 1853 geschrieben

hatte. Erst 20 Jahre später folgten – mit Ausnahme des H-

Dur-Trios op. 8 – weitere Kammermusikkompositionen, die

dann auch durch Editionen der Öffentlichkeit vorgestellt

wurden.

Die Beschäftigung mit den frühen Kammermusikkompositionen veranlasste Brahms mit sei-

nem neu gewonnenen Freundeskreis, zu dem vornehmlich Joseph Joachim und das Ehepaar

96 Brahms-Briefwechsel mit Joseph Joachim. Bd.1, S. 10f.

97 Vgl. S. 105

43

Abbildung 22: Johannes Brahms, Jugendbild-

nis von Jean-Joseph-Bonaventure Laurens auf

Veranlassung Robert Schumanns, 1853.

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Schumann gehörten, intensiv in Kontakt zu treten, um sich deren Meinung über die Qualität

seiner Kompositionen einzuholen (vgl. Kap. 9, S. 59). Neben einer gewissen Unsicherheit, die

bei Brahms bis zuletzt immer spürbar war, zeigt sich hierin vor allem die wichtige Bedeutung

der Freunde ihn.

Beispielhaft hierfür soll hier im Autograph der Brief des jungen Brahms an Joseph Joachim

vom 19. Juni 1854 gezeigt werden:98

Ich möchte die beifolgenden Sachen heraus-

geben und bitte Dich deshalb so dringend als ich

kann, Du mögest sie durchsehen und mir deine

wahrhafteste Meinung darüber schreiben.

Ich bin in Zweifel über den Werth od. Un-

werth derselben, daß ich mich zu nichts ent-

schließen könnte, ohne dein entschiedenes Ur-

theil zu wissen.

Ich möchte Dich hauptsächlich bitten, mir zu

jedem Stück u. zu jeder Variation ein entschiede-

nes Ja oder Nein, oder Dein Bedenken zu schreiben!

Ich dachte die Sachen unter folgendem Titel heraus-

zugeben: Blätter aus dem Tagebuche eines Musikers.

Herausgegeben vom jungen Kreisler.

1tes Heft: 4 Stücke für Pf. (Menuett oder ? In as moll,

Scherzino od. ? In h moll, Stück in d moll z. Andenken

an M. B.99 in h moll.) 2tes Heft: Variationen etc.

Was meinst Du dazu? Die Sachen sollten den

anonymen Titel nicht tragen um schlechter sein

zu dürfen als meine früheren, sondern nur um des

Witzes wegen und weil sie Gelegenheitsstücke

sind.

In der sich selbst auferlegten Studienzeit seit Beginn des Jahres 1855 setzte sich Brahms mit

verschiedenen Epochen der Musikgeschichte, vorzugsweise der der Klassik auseinander und

auch hier insbesondere mit der Gattung der Kammermusik. Er sammelte Werke, sowohl Au-

tographe (Die Sonnenquartette von Haydn) als auch diverse Erst- und Frühdrucke. In Brahms

Bibliothek fanden sich nahezu vollständig die Kammermusikwerke von Haydn, Mozart und

Beethoven. Ebenfalls waren vertreten Mendelssohn, Schubert und Schumann.

Neben seinen eigenen Kompositionen, in denen er als Pianist auftrat, spielte Brahms immer

wieder kammermusikalische Werke von J. S. Bach und aus dem klassisch-romantischen Re-

pertoire. Als Komponist und Kammermusiker trat er 1862 bei seinen ersten Auftritten in

98 Faksimile: http://www.brahms-institut.de/web/bihl_digital/jb_briefe/1989_033.html (17.02.2013).

Brahms-Briefwechsel, Berlin 1906-1922, Deutsche Brahms-Gesellschaft Bd. 5,I: Brahms im Briefwechsel mit Jo-

seph Joachim. Hg: Andreas Moser. Berlin 1921, S. 42f.

http://archive.org/stream/johannesbrahmsi01joacgoog#page/n54/mode/2up (17.02.2013)

99 Mendelssohn-Bartholdy

44

Abbildung 23: Autograph des Briefs an Joseph Joachim vom 19. Juni 1854.

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Wien mit den Klavierquartetten g-Moll und A-Dur vor das Publikum.

Die Gattung des Streichquartetts wurde von ihm eingehend studiert, bevor er 1873 seine

zwei Quartette c-Moll und a-Moll (op. 51/1+2) herausgab. Das bestätigte Brahms selbst,

wenn er seinem Jugendfreund Alwin Cranz anvertraute, dass er vor der Publikation der bei-

den Streichquartette „bereits über zwanzig Streichquartette“ komponiert habe100, diese aber

später wieder vernichtete, da sie seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht genügten. Das glei-

che Schicksal erlitten drei Violinsonaten, bevor die Sonate op. 78 G-Dur veröffentlicht wurde.

Ebenso erwähnt Clara Schumann den ersten Satz eines nicht mehr existenten Klaviertrios in

Es-Dur, das sie "gar so frisch gleich im Anfang"101 beschrieben hat.

Bisweilen hat Brahms auch Umarbeitungen vorgenommen, indem er die Gattung änderte,

wie z. B. beim Klavierquintett op. 34, das ursprünglich als Streichquintett konzipiert wurde,

später dann als Sonate für zwei Klaviere umgearbeitet wurde. Oft lagen auch lange Zeiträu-

me zwischen den ersten Fassungen und der Herausgabe, so etwa beim Klavierquartett c-Moll

op. 60, welches auf eine erste Fassung in cis-Moll aus dem Jahr 1850 zurückgeht, bevor es

dann 24 Jahre später vollendet wurde.

Große Bedeutung hatten für Brahms in diesem Zusammenhang die halb-öffentlichen Vorauf-

führungen im privaten Kreis und das daraus resultierende Urteil anderer Komponisten und

Musiker (z. B. Robert und Clara Schumann oder der Geiger Joseph Joachim), das dann auch in

brieflicher Korrespondenz diskutiert wurde. Zwar war er dabei wohl selbst sein schärfster Kri-

tiker, dennoch war ihm die Meinung der Musikerfreunde genauso wichtig. Ziel dieser Auffüh-

rungen war für Brahms die gesamte Klanglichkeit zu überprüfen, ob die notierten Parameter

die richtigen waren, ob die Musiker die Musik richtig verstanden hatten und ob sie sie in sei-

nem Sinne auch interpretieren konnten.

Wieso setzte sich Brahms selbst eine so große Hürde, bis seine Werke schließlich an die Öf-

fentlichkeit gelangten und die auf der anderen Seite zur großen Vernichtung vieler Werke

führte? Welche Bedeutung maß er folglich der Kammermusik zu?

Brahms war offensichtlich sehr daran gelegen das große Erbe der klassisch-romantischen

Kammermusik fortzuführen. Eingehende Studien mit seinen großen Vorbildern Mozart,

Haydn, Beethoven und auch Schubert setzten ihm einen Anspruch, um in jeder Beziehung

unanfechtbar zu sein. Scheinbar entsprachen die vernichteten früheren Werke bzw. früheren

Fassungen nicht dem Niveau, welches eine direkte Fort- und Weiterführung dieser Gattun-

gen aus der Klassik gewährleisteten. Auf der anderen Seite wollte er aber auch neue Wege

beschreiten, „in formaler Hinsicht, in der motivischen Entwicklung von Sätzen, in der Rhyth-

mik und in ihrer Harmonik, vor allem in der Behandlung von Dissonanzen und in der Erweite-

rung des Radius angewandter Tonarten und deren neuartigen Beziehung untereinander.“ 102

Als Gegenpol zur Neudeutschen Schule Liszts und zum Musikdrama Wagners – beide haben

bezeichnenderweise keine Kammermusik geschrieben – sah er sich in der Pflicht, aber auch

in der Verantwortung das klassische Erbe weiterzuführen, um zu zeigen, dass „auch noch in

seiner Zeit vollgültige Kammermusikwerke im Sinne seines Terminus von dauerhafter Musik

geschrieben werden kann,“ 103 währenddessen die Neudeutschen Zukunftsmusik schreiben

100 zitiert nach Schmidt, Johannes Brahms, S. 106

101 Billroth, Billroth-Brahms-Briefwechsel, S. 298f.

102 Imogen Fellinger in: Gruber S. 25

103 Imogen Fellinger in: Gruber S. 21

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wollten, um den Fortschritt und die Erneuerung der Musik voranzutreiben. Hierzu wählten

sie die eher extrovertierten Gattungen Musikdrama und Symphonische Dichtung, während

die Kammermusik Brahmsscher Ausprägung das Artifizielle und damit Introvertierte im Blick

hatte. Selbst die Sinfonien von Brahms sind nicht ganz zu Unrecht in die Nähe von Kammer-

musik gerückt worden. „Eine nach innen gekehrte Musik, die eher zur Zurücknahme neigt, als

dass sie zur Emphase drängt“ (Carl Dahlhaus)104. Bei Arnold Schönberg sehen wir, dass gerade

nicht die nach vorne gerichteten Neudeutschen maßgeblich für den Übergang in die Moder-

ne waren. Er knüpfte in der Analyse seiner eigenen Arbeit unmittelbar an das Prinzip der mo-

tivisch-thematischen Verarbeitung und der daraus entstandenen, von ihm so bezeichneten

entwickelnden Variation an. Somit wurde der Kammermusik des 19. Jahrhunderts, insbeson-

dere in der Brahmsschen Ausprägung, eine entscheidende Bedeutung als Bindeglied in der

Evolution der musikalischen Entwicklung zugeschrieben. Bemerkenswerterweise waren es

übrigens auch Kammermusikwerke, die bei Schönberg gerade diesen Übergang in die neue

Zeit kennzeichnen: die Kammersymphonie op. 9 und das 2. Streichquartett op. 10.

7 Das Klavierquintett – von den Anfängen bis zum Ende des 19.

Jahrhunderts 105

Die Entwicklung des Klavierquintetts steht in untrennbarem Zusammenhang mit der Entwick-

lung ihres Hauptinstruments, des Klaviers. Der musikalische Markt des ausgehenden 18.

Jahrhunderts verlangte zunehmend nach Kammermusik und v. a. zunehmend nach Musik auf

dem immer besser klingenden Tasteninstrument.

7.1 Vorläufer

Erste Vorläufer des Klavierquintetts sind Quintetti für Tasteninstrument und obligate Strei-

cher (ersatzweise Flöte/Oboe statt ViolineI/II) wie beispielsweise das Quintetto a Cembalo

concertato, due violini e basso von Johann Gottlieb Graun (1703–1771). Für diese frühen

Quintette wurden Sonatensätze geschrieben, die in ihrem Formkonzept noch stark in der Co-

relli-Tradition stehen (zweiteilige Formen mit modulatorischem Abschnitt). Harmonisch

schreiten sie von der Tonika zur Dominante oder Tonikaparallele und wieder zurück zur Toni-

ka. Dabei reicht der Dominantbereich von der zweiten Hälfte des ersten Teils bis an den An-

fang zweiten Teils. Ein modulatorischer Abschnitt führt dann zur Tonika zurück.

Später entwickelte sich dann zunehmend die Dreiteiligkeit (Exposition/Durchführung/Repri-

se) als Standardform für den Sonatensatz. Zunehmend gewann die Thematik und ihre Verar-

beitung an Bedeutung, während frühe Sonatensätze eher von ihrer Harmonik her betrachtet

wurden.

104 zitiert nach Schmidt, Johannes Brahms, S. 106

105 Die Überschrift des ist gleichlautend mit dem Titel der Dissertation von Gottfried Heinz-Kronberger, die als

Hauptquelle diesem Kapitel zu Grunde liegt.

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7.2 Giardini und Giordano - Ritornellfom

Eine erste Entwicklung der Frühform des Klavierquintetts fand zuerst auf der britischen Insel

mit ihrem musikalischen Zentrum London statt. Die Gründe hierfür liegen aller Wahrschein-

lichkeit nach in der großen Beliebtheit der klavierbegleiteten Kammermusik auf der Insel

(Vorreiterrolle Londons im Klavierbau).106

Die frühe Herausbildung der Besetzung „Klavierquintett“ ist von verschiedenen Entwicklungs-

strömungen bestimmt. Der eine Strom kommt dabei von der größeren Besetzung her aus der

Richtung des barocken Concerto in Ritornellform (auch konzertierendes Cembalo mit Ensem-

blebegleitung). Er wird durch die Werke der beiden frühen Quintetti-Komponisten in London,

Felice Giardini und Tommaso Giordani – zwei in London lebende Italiener - repräsentiert.107

Satztechnisch stehen sich „zwei Gruppen gegenüber, die in Tutti- bzw. Solo-Bereiche getrennt

sind. Dabei übernimmt in den meisten Fällen das Cembalo die tragende Rolle in den Soli, wo

die Streicher entweder ganz aussetzen oder stark zurückgenommen werden.“ 108 Während

der Tutti-Passagen füllt es dagegen weitestgehend den Generalbass aus. In weiten Teilen

geht die erste Violine parallel zur rechten Hand des Cembalos, bzw. die Streicherbass-Stimme

mit der linken Hand, das heißt mit dem Klavierbass. In den Tuttibereichen gibt es auch solis-

tisch hervortretende Streicherstimmen.

Von einem thematischen Austausch zwischen den Stimmen kann in dieser frühen Phase

noch nicht gesprochen werden. Es erfolgen lediglich direkte Beantwortungen und Fortfüh-

rungen in motivischer Hinsicht, jedoch keinerlei Entwicklung von Themen oder Motiven. Die

Sätze sind größtenteils noch von vielfachen Sequenzierungen geprägt. „Der Unterschied zur

Concertoform besteht zunächst nur in der solistischen Besetzung der Klavierquintette.“ 109

Das Tasteninstrument ist nicht mehr nur Soloinstrument wie beispielsweise in den konzertie-

renden Sonaten für Cembalo mit Streichern, dem Cembalokonzert mit chorischer Streicher-

begleitung und auch nicht Continuoinstrument, sondern wird nun in Ansätzen in der Satz-

technik so miteinbezogen, dass im Ensemble eine solistisch gleichberechtigte Besetzung aller

fünf Stimmen in Grundzügen angestrebt wird. Die Aufführung musste durch Solisten und

Amateure möglich sein, da alle Streicher-Cembalo-Kombinationen dem Adel oder dem geho-

benen Bürgertum gewidmet waren, in deren Salons sie stattfand.

106 Zu Beginn der Entwicklung wurden die Quintetti noch mit Cembalo besetzt. Durch die rasante Entwicklung

im Klavierbau ist das Tasteninstrument dem Streichensemble zunehmend klanglich gewachsen. Besonders Frau-

en waren als hervorragende Cembalistinnen ausgebildet, eine Laufbahn außerhalb des Privatrahmens blieb ih-

nen allerdings verwehrt. Erst ab ca. 1780 wurden Frauen von der Academy of Ancient Music London als Kon-

zertsolistinnen zugelassen.

107 Erste „Quintetti“ im eigentlichen Sinn erscheinen 1767 in London unter dem Titel “Sei quintetti per cemba-

lo, due violini, violoncello e basso“ von Felice Giardini opera XI. 1771 veröffentlicht ebenfalls in London Tom-

maso Giordano seine Sei Quintetti perdue Violini, Viola, Violoncello è cembalo obligato.

108 Heinz S. 218

109 Heinz S. 218

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7.3 Benda und Jackson - Begleitete Sonate

Der zweite Entwicklungsstrang erweitert die Stimmenzahl der Klaviersonate. Diese Werke

sind schon ihrer Benennung nach Sonaten110 und bilden im Bereich der begleiteten Sonate

eine Besetzungsvariante. Dieser Strang mit Melodiestimme, Begleitstimme und Accompagna-

to bildete später die Grundlage für zahlreiche Arrangementkompositionen, besonders im

Wiener Umkreis (Beispiel Haydn: Sinfonien für Streichquartett und Klavier, wobei letztes die

fehlenden Bläser ersetzt und gleichzeitig das Accompagnement übernimmt), die aufgrund ih-

rer vielfältigen klangtechnischen Möglichkeiten nach 1800 immer beliebter wurden. Das Pia-

noforte ist in diesen Stücken unverzichtbar und agiert als der zentrale Bestandteil des Satzes.

Das thematische Material wird ausschließlich von ihm exponiert. Georg Anton Benda (1722-

1795) äußerte im Vorbericht zu seiner Sammlung Vermischter Clavier- und Gesangsstücke

Teil I und III (1780/1781), dass das „Clavier“ (in diesem Fall Clavichord) als Ensembleinstru-

ment auf Grund seines schwächeren Klangs eindeutig dem „Flügel“ (in diesem Fall Cembalo)

vorzuziehen sei.111

7.4 Mozart – Klavierkonzertbearbeitungen

„Eine weitere Entwicklungslinie des späteren Klavierquintetts stellen die auch als Klavierquin-

tette veröffentlichten Klavierkonzerte W. A. Mozarts KV 414 (385 p), 413 (387 a) und 415

(387 b) dar. Dabei zeigen sich die Streicher natürlich weitgehend im Orchestersatz, so dass

auch hier das Klavier stark hervortritt. Dennoch ist dieser „Orchestersatz“ zum Streichersatz

der frühen Londoner Komponisten unterschiedlich, da er den Streichern eine motivische

Funktion einräumt.112 Die Klavierquintettfassungen Mozarts sind deshalb nicht als genuine

Kammermusikwerke zu bezeichnen, sondern bilden eindeutig eine Variante, die unter ver-

kaufsstrategischen Gesichtspunkten gewählt wurde.

Unter dem Eindruck Mozarts hat sicherlich Franz Anton Hoffmeister (1754-1812) sein Klavier-

quintett komponiert, was unter anderem an den stilistischen Bezügen in der Thematik er-

kenntlich wird. Dennoch versucht sich dieser an einer kammermusikalischen Schreibweise, in

welche Elemente der Orchesterimitation einfließen.“ 113

7.5 Zur Besetzung des Klavierquintetts von Giardini bis Schumann.

Bei der Besetzung des Klavierquintetts mit Streichern gibt es zwei bereits in der Frühphase

parallel verlaufende Stränge.

110 Die Bezeichnung in William Jacksons Preface seiner Eight Sonatas for Harpsichord, accompagnied with two

Violins, a Tenor ans Bass op. X (1773) lautet „The following SONATAS were composed and solely designed for a

select Musical Party [...]“. Heinz S. 48

111 „ […] Die Sonate aus dem C moll habe ich hauptsächlich für das Clavier, oder für die wenigen Spieler ge-

setzt, die den Vorrang kennen, den dieses Instrument, im Ausdruck, vor dem Flügel hat […].“ Heinz S. 48

112 Reimer 1984 S. 214 f. Reimer beschreibt den Wandel des Konzertsatzes, der sich im direkten Vergleich der

Klavierquintette von Felice Giardini und Tommaso Giordani mit den Klavierkonzerten Mozarts als offensichtlich

darstellt, dass sich nämlich „die Ritornellform in der kompositorischen Praxis schrittweise verändert“ hat. Heinz

S. 229

113 Heinz S. 229/230

48

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Die eine stilistische Ausrichtung wählte die Besetzung Klavier mit Violine, Viola, Violoncello

und Kontrabass in einfacher Besetzung mit nicht colla parte geführtem basso (diese Tren-

nung der beiden tiefen Streicher gab es in der Konzert- und Orchestermusik erst ab dem be-

ginnenden 19. Jahrhundert). Beiden Bassstimmen wird hier ein über die Begleitfunktion hin-

ausgehendes Gewicht verliehen, indem sie unabhängig voneinander in die thematische Ar-

beit miteinbezogen werden.

Die zweite stilistische Ausrichtung wählte die für das Streichquartett typische Besetzung mit

Violine I + II, Viola und Violoncello. Sie ist von Beginn des 19. Jahrhunderts an die gängigere

Besetzung. Ihre praktische Bedeutung ist offensichtlich, denn diese Besetzung erlangte zu-

nehmend Verbreitung, so dass es im Laufe des 19. Jahrhunderts nahezu in jeder Stadt soge-

nannte „Quartettvereinigungen“ gab.

Einer der frühesten Betreiber der sogenannten „Quartett-Unterhaltungen“ war Ignatz Schup-

panzigh (1776-1830) in Wien:

„Herr Schuppanzigh giebt diesen Winter abermals abonnirte Quartetten … von ei-

nem gewählten Zirkel besucht und worin die ausgezeichnetsten Werke Mozart’s,

Haydn’s, Beethoven’s, Spohr’s, Onslow’s, der beiden Romberg’s u. a. wahrhaft

vollendet vorgetragen werden .“ 114

Die Beliebtheit der Gattung bedeutete, dass es keine großen Probleme bereitete ein Streich-

quartett für eine Aufführung zu finden. Der Klavierpart wurde dabei meistens vom Kompo-

nisten selbst ausgeführt.

7.6 Konzentration der Entwicklungsströme in kammermusikalische und

virtuose Richtung um 1800 in Deutschland.

a) Luigi Boccherini op. 56 (1797) und op. 57 (1799) - Kammermusikalische Rich-tung

Komponiert wahrscheinlich als „Gebrauchsmusik“ für seinen Mäzen Friedrich Wilhelm II. von

Preußen, der selbst ein guter Cellist war und dessen Klavier spielender Neffe Louis Ferdinand

bekannt für seine Musikalität war, stellen diese Werke erstmals genuine kammermusikalische

Klavierquintette dar. Oberste Maxime von Boccherinis Kompositionen ist die gleichberechtig-

te Konstellation von Streichern und Tasteninstrument sowie von hohem und tiefem Register,

wenngleich das Klavier noch häufig Begleitfunktion ausübt. Jedes Instrument hat an irgendei-

ner Stelle des Werks eine solistische Partie.

Boccherinis Kompositionen erreichen zwar noch nicht die volle Reife thematischer Arbeit (im

Vergleich zu Kompositionen Joseph Haydns), sind aber aufgrund ihrer motivischen Fülle mit

ihren vielfältigen Bezügen untereinander trotzdem satztechnisch weit ausgereift und inter-

essant. Zeitgenossen bestätigen Luigi Boccherini ein einzigartiges Kompositionstalent. „In sei-

nem Ansatz und zeitlichem Rahmen steht er mit Joseph Haydn am Übergang zu einer neuen

Epoche. Doch Boccherini geht einen anderen Weg als Haydn, einen scheinbar einfacheren, in

kleinen Einheiten betrachtet aber ebenso schwierigen Weg wie Haydn. Nur dass Haydns Mu-

114 Allgemeine musikalische Zeitung XXVI (1824), No.50, den 9ten December 1824 Sp. 818, in: Heinz S. 6

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sikauffassung bald schon rezipiert, fortentwickelt und weiter gestaltet, auf eine viel stärkere

Art verbreitet wurde als das Werk Boccherinis.“115

Haydn war sowohl in größerem formalen Rahmen als auch in kleingliedriger thematischer Ar-

beit entwicklungstreibend.

b) Jan L. Dussek und Prinz Louis Ferdinand von Preußen - Klavierkonzert „en miniature“

Der enge persönliche Kontakt 1800 bis 1806 dieser beiden Klavierquintett-Komponisten fällt

genau in eine Umbruchszeit in der musikalischen Welt der Jahrhundertwende. Der junge pia-

nistisch hochbegabte Prinz Louis Ferdinand von Preußen (1772-1806) – Teil eines höfischen

Kulturbetriebs – konnte seiner eigentlichen Bestimmung nicht offiziell nachgehen, da die

Künstlerlaufbahn nicht dem aristokratischen Lebensstil entsprach und nicht standesgemäß

war. Er komponierte für einen kleinen, erlesenen Zirkel von Zuhörern „das erste genuine

Kammermusikwerk im Bereich Klavierquintett, dessen Intensität und Grad der Stimmver-

flechtungen, […] ein Werk und damit alle bisherigen Klavierquintette übertrifft.“116

Sein Freund Franz Josef Dussek (František Josef Dušík; 1766-1816) hingegen komponierte in

der Stadt mit der besten kammermusikalischen Infrastruktur – London – bereits für ein öf-

fentliches Konzertpublikum eine Art Klavierkonzert „en miniature“ , „dessen virtuose Ele-

mente den Pianisten zur Genüge hervortreten lassen. Er beschreitet damit einen Weg, auf

dem ihm viele Virtuosenkollegen in den folgenden zwanzig Jahren folgen werden.“117

In der Folgezeit wurde die Selbstpromotion für fast alle Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts

ein gängiger Anlass für die Komposition von klavierbegleiteter Kammermusik. Als „das kom-

positionsgeschichtliche Korrelat des bürgerlichen Konzerts im späten 18. und frühen 19. Jahr-

hundert“ stand für die meisten Virtuosenkomponisten „nicht das ästhetisch autonome son-

dern das publikumsorientierte Werk“ im Vordergrund.118

Die meisten Klavierquintettkompositionen dieser Art haben eine Streicherbesetzung mit ei-

ner Violine und Kontrabass. Diese Besetzung war bis dato als Besetzung für Bearbeitungen

anderer Werke populär und sowohl im kammermusikalischen als auch im das Klavierkonzert

betreffenden Rahmen eine gängige Alternative.

Diese virtuose Richtung war für das Klavierquintett von London aus weiter prägend.

c) F. Schubert Forellenquintett - Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Anfang des 19. Jahrhunderts war Wien zu einem Zentrum der europäischen Musikkultur ge-

worden. Einer großen Dichte von Komponisten und Musikern stand eine breitgefächerte Mu-

sikkultur gegenüber, deren verschiedenste Ansprüche befriedigt werden mussten. Der Musik-

115 Heinz S. 123

116 Heinz, S. 230

117 Heinz, S. 230

118 Zu nennen sind hier: F. Ries, J. Field, J. B. Cramer, F. Kalkbrenner, L. Spohr, in: Heinz, S. 230

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markt blühte, wobei die Kammermusik einen hohen Stellenwert einnahm.

Das Streichquartett war seit einigen Jahren etabliert und – wie in London bereits Ende des

18. Jahrhunderts – die Besetzung von Klavier und Streichquartett sehr gefragt, wenngleich

die gängigere Besetzung für Klavierquintette des kammermusikalischen Stils in dieser Zeit pri-

mär Klavierkammermusik mit Bläsern war.

In Wien wurden die ersten Klavierquintette als überragende Werke in Form von Johann Ne-

pomuk Hummels op. 87 (1821) und Franz Schuberts Forellenquintett D 667 (1827) kompo-

niert. „Diese beiden Werke sind die ersten herausragenden Leistungen in dieser Besetzung.

Dabei zeigt sich als zentrales Element in jedem der beiden Werke neben der Individualisie-

rung der einzelnen Stimmen, die sich vor allem in der Auflösung der üblichen parallel geführ-

ten Streichgruppen wie z. B. Violine I und II, Violine II und Violoncello, die zyklische Gestal-

tung. Diese zyklische Gestaltung als formales und die Individualisierung als stilistisches Ele-

ment sind es, welche die beiden Werke [...] über alle virtuosen Stücke dieser Zeit erheben.

Gleichzeitig werden aber auch in der Satzstruktur die Grenzen des Klavierquintetts mit Kon-

trabass deutlich. Franz Schuberts Forellenquintett ist auch in stilistischer Weise ein vermit-

telndes Werk zu der leichten Muse, die vor allem in Wien in Form von Arrangementkomposi-

tionen vorgeführt wurde.“ 119

In dieser leichteren Form bedeutete das Klavierquintett sozusagen ein Vehikel für die Ver-

breitung und wurde in dieser Arrangementform gewissermaßen popularisiert.

7.7 Das Klavierquintett als Arrangementform – Fortführung des virtuosen

Elements

In der Besetzung mit Streichern waren besonders beliebt Arrangements über populäre The-

men z. B. Opern – oder Arienpotpourris aber auch Sinfonien, Variationen, Konzerte, Introduk-

tionen etc. diverser Komponisten in Klavierquintettfassung, die im privaten Rahmen zur Auf-

führung gelangten. Diese Spezies des Klavierquintetts diente ausschließlich der Unterhaltung

und hatte nicht den Anspruch Kunstmusik zu sein. Die Faktur der einzelnen „Klavierquintet-

te“ war simpel. Das Klavier war die führende Stimme, das Streichquartett hatte lediglich Be-

gleitfunktion. Die einzelnen Streicherstimmen mussten auch für mittelmäßige Ensembles

spielbar sein und durften spieltechnisch keine zu großen Anforderungen stellen.

Diese Musikstücke waren reine virtuose Bravourstücke der Pianisten und gelangten nur in

privatem Kreise zur Aufführung. Sie standen so bewusst im Gegensatz zu dem in seiner Kom-

plexität für Dilettanten immer seltener spielbaren Streichquartett der Haydn-Mozart-Beetho-

ven-Tradition.120

Auch wenn diese Stücke auf die satztechnische Weiterentwicklung der Gattung keinen Ein-

fluss hatten, so waren sie dennoch hilfreich und wichtig. Das Arrangement nahm in der Un-

terhaltungsmusik einen unglaublich hohen Stellenwert ein und steigerte so gleichzeitig die

119 Heinz, S. 231

120 Zahlreiche Belege für die Fülle und Bedeutung dieser Werke finden sich z. B. in den Verzeichnissen der Mu-

sikalien des K. K. Hoftheater-Musik-Verlags (Mozart-Opern in Klavierquintettform) u. a.

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Popularität dieser Besetzung. Hier trafen populäre Themen auf eine populäre Form. Die Fol-

ge dieser Beliebtheit war, dass man ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von einer auf-

kommenden Standardbesetzung in Bezug auf das Klavierquintett sprechen kann.

7.8 Paris – Vorübergehender Stillstand

Im Gegensatz zu London und Wien konnte die Kammermusik in Paris nicht ohne Unterbre-

chung fortgeführt werden. Die französische Revolution lähmte deren Entwicklung völlig. Im

Gegensatz zu dem kleinen intimen Zuhörerkreis, der in Frankreich vor der Revolution zudem

noch aristokratisch bestimmt gewesen war, wurde nun die öffentliche Musik vor großem,

nicht-adeligem Publikum bevorzugt. Diese sogenannten „Revolutionsmusiken“ waren Mas-

senveranstaltungen mit großen Ensembles. Die Kammermusik fristete unterdessen ein Schat-

tendasein und war auf einen kleinen Kreis von Liebhabern beschränkt, die in privatem Rah-

men Aufführungen veranstalteten. Erst ab ca. 1825 regte sich einen neue Aufbruchstim-

mung. Sie ging hauptsächlich von den privaten Salons aus, wo vor allem wieder die Virtuosen

ihr Publikum fanden und diesen Rahmen fortan intensiver zu nutzen begannen, so dass sich

allmählich eine regelrechte Salonkultur entwickelte. „Diese war zwar anfangs noch sehr auf

solistische Musik (vor allem Klaviermusik) ausgerichtet, es fanden jedoch mit der Zeit auch

zunehmend Aufführungen anderer Kammermusikwerke statt. […] Durchgehend am verbrei-

tetsten im kammermusikalischen Bereich waren Kompositionen von Beethoven, die in der

Regel mindestens ein Viertel der Programmpunkte abdeckten […]. Das Konzertleben belebte

sich und wurde vielfältiger.“ 121 Ab 1830 entwickelte sich das Kammermusikwesen verstärkt.

In den folgenden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Bild zusehends und der

Stellenwert der Kammermusik gewann an Bedeutung. Dies zeigte sich auch in einer Zunahme

der privaten Konzertveranstaltungen. Das gewachsene musikalische Interesse spiegelt sich

auch in der Zunahme der absoluten Zahl der Aufführungen von Instrumentalkompositionen,

die sich bis Mitte des Jahrhunderts nahezu verdoppelten. Bezeichnend für das private Kon-

zertleben in Paris ist, dass Berichte und Besprechungen im Vergleich zu anderen europäi-

schen Metropolen erst relativ spät einsetzen.

7.9 Robert Schumann op. 44 – Kulminationspunkt

Schumanns Klavierquintett markiert einen Wendepunkt, indem es sowohl stilistisch als auch

formal die bisher betrachteten Kennzeichen des Klavierquintetts in seinen unterschiedlichen

Ausrichtungen bündelt. Komponiert wurde es in Schumanns sogenanntem Kammer-

musikjahr, einer Phase intensiver Auseinandersetzung mit dem Genre122. Gewidmet war es

seiner Frau Clara. Ob der Kompositionsanlass eine für das Jahr 42 geplante Russlandreise

war, für die das Ehepaar eine “Konzertreduktionsfassung“ benötigte, oder das schlechte Ge-

wissen, weil er bis zu diesem Zeitpunkt noch kein Klavierkonzert für sie beendet hatte, ist his-

torisch nicht belegt. Relativ sicher ging Robert Schumann in der Konzeption des Klavierquin-

tetts aber davon aus, dass es zunächst primär von seiner Frau Clara aufgeführt werden sollte.

Dabei wollte er ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Klavierpart komponieren, der sie in

121 Heinz S. 205

122 1842 komponiert er drei Streichquartette op. 41, das Klavierquintett op.44 und das Klavierquartett op.47

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einem vorteilhaften Licht erscheinen ließ und ihr die Möglichkeit bot, auch virtuose Elemente

einfließen zu lassen. Die Aufführungssituation auf den Reisen scheint prädestiniert dafür ge-

wesen zu sein diese Komposition zum Besten zu geben. Das liegt natürlich auch daran, dass

es mittlerweile überall Quartettvereinigungen gab, die unter dem Hinzutreten eines Klavier-

solisten sich so zu einer Klavierquintettbesetzung vereinten. Eine andere Notwendigkeit auf

das kammermusikalische Klavierquintett auszuweichen lag in der einfachen Notlage, beson-

ders in kleineren Städten, eine nicht genügende Anzahl von Musikern für ein Orchester fin-

den zu können.123

Auf eine Detailanalyse des Werks muss an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang ver-

zichtet werden. Für Interessierte ist eine solche jedoch in diversen Kammermusikführern

nachzulesen oder der entsprechenden Schumann-Literatur zu entnehmen. Insbesondere sei

hier auf die Arbeit von Hans Kohlhase, die Kammermusik von Robert Schumann hingewiesen.

„Zusammenfassend sollen jedoch die wesentlichen Punkte einer Analyse genannt werden,

die Robert Schumanns Klavierquintett op. 44 zu einem Werk machen, das neuartige Züge in

die bisherige Gattungslandschaft des Klavierquintetts bringt:

1. Die Thementransformation, die mehr oder weniger deutlich das ganze Werk durchzieht,

hat als wesentliches Vehikel die ...

2. … Individualisierung der Einzelstimmen des Klavierquintetts,denn nur dadurch gelangt ein

Thema „auf verdeckten Wegen“ in den Begleitstimmen zu einer gewichtigeren Stellung

innerhalb des Satzes. Der thematische Austausch zwischen den Stimmen wird durch die-

se Individualisierung erst ermöglicht. Die Individualisierung des Satzes ist daher zum

Großteil Voraussetzung für die Entwicklung dieser komplizierten Thementransformations-

technik, die Jahre später im Zusammenhang mit Brahms’ Technik der Themenbildung

„entwickelnde Variation“ heißen wird.124

3. Poetisierung durch Themenbezüge zwischen Sätzen 125

4. Eignung jedes einzelnen Instruments als Soloinstrument

5. Konzertante Züge im Klavierpart und orchestrale Züge im Streicherpart sind erkennbar,

treten jedoch nur noch an wenigen Stellen auf

123 Schumann/Tagebücher, Bd. 2 S. 360: „Sontag, den 28/16 April. Wir hatten seit einigen Tagen immer Regen.

Robert machte heute den oben erwähnten Orchester-Operationen, aber eben ohne Erfolg. Eine Schande ist es

solche Leuet wie Johannes und Schmidt Künstler zu nennen – reine Handwerker sind es, dabei ebenso wie Sol-

che ungebildet. Kudelski (Violinist) war noch der Einzige, mit dem etwas anzufangen war, und der es dann auch

soweit brachte, dass wir wenigstens Roberts Quintett zusammenbrachten. „ in: Heinz S .218

124 Schönberg, Arnold, Brahms, der Fortschrittliche, in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (=Gesammelte

Schriften, Bd. I),herausgegeben von Ivan Vojtêch, Frankfurt/Main 1976, S. 35-71, hier S. 38. Im übrigen hat Jo-

hannes Brahms für Clara Schumann das Scherzo des Klavierquintetts für Klavier arrangiert und sich dabei spitz-

bübisch gefreut [folgende Textverteilung ist original]: „Ich freue mich über einen kleinen Witz, den ich gemacht

Piano)

habe. Das Scherzo habe ich für allein arrangiert“

Frau Schumann)

Siehe dazu Moser, Andreas (Hg.) Johannes Brahms im Briefwechsel mit Joseph Joachim, 2 Bände, Berlin 1921,

hier Bd. I , S. 60, in: Heinz S. 223

125 Schumann schafft im vierten Satz (Takt 319 ff.) mit der Übernahme des Hauptthemas des ersten Satzes als

Thema einer Fuge und dem Thema des vierten Satzes als obligatem Kontrapunkt eine Synthese zwischen An-

fang und Schluss des Werkes, die gegenüber der Rahmenbildung in Schuberts Forellenquintetts nochmals eine

Steigerung in der Verflechtung des thematischen Materials darstellt. in Heinz, S. 226

53

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6. Freie Handhabung der Streicherbassstimme und damit Ablösung von ihrer zwangsweisen

Grundtonrolle

7. Vielfältige Stimmenkombinationen (polyphone Stimmführung)126

8. Verwendung der Gattung durch einen der führenden Komponisten“ 127

„Schumann komponiert als erster Komponist ein Klavierquintett, welches als ein zusammen-

hängender Klangkörper anzusehen ist, dessen Klangqualitäten er jedoch nicht trennt, son-

dern ständig mischt. Die Anwendung einer permanenten Simultaneität der Klangebenen er-

laubt ihm neben einem ständigen Wandel des Klangs vor allem eine Intensivierung der moti-

visch-thematischen Arbeit. […] In der Folgezeit werden sich auch Komponisten von „Rang

und Namen“ mit dieser Gattung beschäftigen, der Rückbezug auf Robert Schumanns op. 44

muss zumindest bis einschließlich des nächsten großen Klavierquintetts, dem von Johannes

Brahms op. 34 in f-Moll, 1865 erschienen, immer wieder berücksichtigt werden.“128

Zusammenfassend gilt: „Als signifikant für die bisherigen Klavierquintette sollte die unter-

schiedliche Entwicklung in den unterschiedlichen Zentren aus unterschiedlichen Richtungen

gelten. Diese Richtungen der begleiteten Sonate, des Orchestersatzes, des Konzertsatzes, der

virtuosen Elemente, des kammermusikalisch sublimierten wie des unterhaltenden leichten

Satzes finden einen Höhepunkt in J. N. Hummels und F. Schuberts Klavierkonzerten. Ihre Ver-

einigung und vorläufige Überhöhung geschieht in Robert Schumanns op. 44.“ 129

7.10 Klavierquintette nach Schumann

Michael Aschauer bespricht in seinem 2006 erschienen Buch „Einheit durch Vielfalt? Das Kla-

vierkammermusikwerk ausgewählter ‚Konservativer‘ um Johannes Brahms“ das reichhaltige

kammermusikalische Schaffen heute eher unbekannter bzw. wenig gespielter Komponisten

auf, die mehr oder eng mit Brahms in Kontakt standen.

Aus dem Bereich der Gattung Klavierquintett werden folgende Werke genannt130:

a) Hermann Goetz (1840-1876): Klavierquintett c-Moll, op. 16 (1874)

Das Klavierquintett entstand 1874 und hat einen durchwegs ernsten, düsteren Charakter. Als

Motto stellte Goetz dem Werk folgende Verse Goethes voran, die diese Grundstimmung vor-

wegnehmen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen,

was ich leide. Bemerkenswert ist ferner die ungewöhnliche Streicherbesetzung mit einem

Kontrabass statt der zweiten Violine, so wie es Franz Schubert in seinem Forellenquintett D

667 vorexerzierte. Im Unterschied zu Schubert werden bei Goetz Violine und Viola sowie Vio-

loncello und Kontrabass häufig parallel geführt, was eine orchestrale, volle Klangwirkung her-

vorruft.

126 Schumann schafft einen bis dahin nie erreichten Grad der Durchbrechung des Satzes. Die Melodielinien al-

ler Instrumente werden ständig gegenseitig verflochten, alle Instrumente pausenlos beschäftigt. in Heinz, S. 226

127 Heinz, S. 225

128 Heinz, S. 227

129 Heinz, S. 232

130 Die folgenden Kurzbeschreibungen sind direkt entnommen aus: Aschauer: Einheit durch Vielfalt?

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b) Karl Goldmark (1830-1915): Klavierquintett B-Dur, op. 30 (1879)

Das Klavierquintett op. 30 entstand 1879 und ist ein besonders umfangreiches Kammermu-

sikwerk von Goldmark. So umfasst die Partitur ganze 85 Seiten, und deren Inhalt ist gekenn-

zeichnet durch eine überbordende Musizierfreude, die nur mehr schwer gewissen Formsche-

mata anzupassen ist. Im ersten Satz beispielsweise ist zwar die Sonatenhauptsatzform noch

als solche auszumachen, doch vor allem die Formteile Exposition und Durchführung sind sehr

stark ausgeweitet und durch Rückblenden oder Einschübe mancher Abschnitte verschleiert.

c) Karl Goldmark (1830-1915): Klavierquintett cis-Moll/Des-Dur, op. 54 (1914)

Dieses letzte Kammermusikwerk des Komponisten, das zunächst als Quartett konzipiert war,

entstand 1914 unter abenteuerlichen Umständen: Auf einer Reise nach Gmunden verlor

Goldmark seinen Koffer mit dem Manuskript; dieser tauchte aber wieder auf, wie er in einem

humorvollen Brief an Hermine Schwarz berichtete. […] Bereits in diesem Brief spricht Gold-

mark den ersten Weltkrieg dezidiert an und wird in Bezug auf das Finale des ausgedehnten

Quintetts in einem weiteren Brief ernster und deutlicher: Endzeit, nicht lange vor dem eige-

nen Tod: Mein letzter Satz ist trotz Mord und Totschlag fertig […]. Nicht nur die Entstehungs-

geschichte, sondern auch die Komposition selbst ist ausgesprochen ungewöhnlich: Es

scheint, als stelle dieses Werk einen endgültigen Abschied von der langen klassisch-romanti-

schen Kammermusiktradition dar. So ist die Form nahezu aufgelöst, eine Sonatenhauptsatz-

form beispielsweise kaum mehr erkennbar, und die einzelnen Sätze sind in unzählige Bin-

nenepisoden gegliedert, die sich durch viele Takt- und Vorzeichenwechsel voneinander abhe-

ben. Karl Goldmark bleibt zwar innerhalb des tonalen Rahmens, doch er treibt die Alterati-

onsharmonik oft bis zum Äußersten, was teilweise kühne harmonische Fortschreitungen

nach sich zieht. Überdies wechseln die Tonarten sehr häufig, - beispielsweise ist die Ausgang-

stonart eines Satzes nie zugleich die Zieltonart - weshalb die Angaben zu Beginn lediglich we-

sentliche Zentren darstellen. Trotz dieser fantasieartigen Tendenzen erreicht der Komponist

durch motivische Verflechtungen und feinsinnige Stimmungsvarianten sehr wohl einen inne-

ren Zusammenhang des Werkes […].

d) Heinrich von Herzogenberg (1843-1900): Klavierquintett C-Dur, op. 17 (1876)

Dieses Klavierquintett, Herzogenbergs erstes KJavierkammermusikwerk, ist deshalb von be-

sonderem Interesse, da es noch nicht zu jenen vielen Werken gezählt werden kann, in denen

sich der Einfluss von Brahms deutlich bemerkbar macht. In seinen weit ausladenden Dimen-

sionen, seiner ausgesprochen freien Anlage, seiner auffallenden Virtuosität und seinen ton-

malerischen Spielfiguren erinnert es eher an Werke der „Neudeutschen". So merkt etwa Her-

mann Kretzschmar im Leipziger Musikalischen Wochenblatt etwas überspitzt an: Endlich

wagt es wieder einmal Einer, keinen Sonatensatz zu schreiben!

e) Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901): Klavierquintett C-Dur, op. 114 (1876)

Dieses Klavierquintett entstand 1876 in einem für Rheinberger ungewöhnlich langen Kompo-

sitionsprozess und zählt zu den reifsten und geschlossensten Werken des Komponisten.

55

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8 Zur Entstehung des Klavierquintetts f-Moll op. 34

Die Entstehung des 1864 fertiggestellten Klavier-

quintetts f-Moll verlief nicht gradlinig, sondern

quasi „auf Umwegen“ 131.

Zunächst entstand eine heute nicht mehr vorhan-

dene Fassung für Streichquintett mit zwei Violon-

celli (1862), anschließend fand eine Umarbeitung

zur Sonate für 2 Klaviere f-Moll (1863/64) statt,

die Brahms später als op. 34bis herausgab, und

schließlich das Klavierquintett op. 34 (1864). Maß-

geblich zu diesem Prozess haben Brahms‘ engste

Freunde (Joseph Joachim, Clara Schumann und

Hermann Levi) beigetragen. Sie beeinflussten Ent-

stehung und Umarbeitung der verschiedenen

Werkfassungen.

Alle Werkniederschriften der Urfassung als

Streichquintett wurden vom Komponisten ver-

nichtet. Der einzige erhaltene Beleg ist Brahms‘

mit September 1862 datierte Niederschrift der ersten vier Takte des Kopfsatzes auf einem Al-

bumblatt für die Familie von Elisabeth Roesing, in deren Haus in Hamm bei Hamburg Brahms

1861 und 1862 wohnte und das Streichquintett komponierte.

Über die Entstehung der Streichquintett-Fassung geht aus Brahms‘ eigenhändigem Werkver-

zeichnis und der Korrespondenz132 lediglich hervor, dass die ersten drei Sätze im August 1862

in Hamm bei Hamburg fertiggestellt wurden und das gesamte Werk spätestens Anfang Sep-

tember beendet war. Noch im August 1862 schickte Brahms die ersten drei Sätze an Clara

Schumann, die sich sehr positiv über das Werk äußerte. Deutliches Indiz dafür, wie hoch der

überaus selbstkritische Komponist das neu entstandene Streichquintett schätzte, war seine

Absicht es im September 1862 auf seine erste Wien-Reise mitzunehmen, wie er Albert Diet-

rich schrieb, um sich auch mit diesem Werk dem anspruchsvollen Wiener Publikum als Kom-

ponist vorzustellen. Brahms hatte sich indes das Streichquintett zu diesem Zeitpunkt noch

nicht vorspielen lassen können und so wollte er noch seinen Freund, den renommierten Gei-

ger und Komponisten Joseph Joachim, konsultieren, dem er bereits kurz nach seiner Ankunft

in Wien Mitte September die Partitur des viersätzigen Werkes schickte, um es von ihm begut-

achten zu lassen. Trotz Begeisterung Joachims konnte sich dieser nicht vollkommen mit dem

Quintett anfreunden. Die zusammen mit Clara Schumann erfolgten Proben – die erste am 5.

Januar 1863 in Hannover – stärkten die Zweifel, ob das Werk so schon veröffentlicht werden

könne. Kritikpunkte waren hier weniger die Gesamtanlage der Komposition, als vielmehr

klangliche Mängel. Nachdem noch der damalige Hofkapellmeister in Oldenburg und Zugehö-

riger zu Brahms’ Freundeskreis, Albert Dietrich, die Komposition begutachtet hatte, fiel wohl

der Entschluss zu einer Umarbeitung, die zwischen Mai 1863 und Ende Februar 1864 erfolg-

te.

131 Zur Entstehung des Klavierquintetts: ausführlich im Vorwort der Neuen Brahmsausgabe zum Klavierquin-

tett, (Debryn/Struck), S. XI ff.

132 Siehe Quellenanhang, der die Auseinandersetzung um die Entstehung des Werkes vor allem im Freundes-

kreis eindrücklich dokumentiert.

56

Abbildung 24: Brahms am Flügel, Jugendbildnis um 1860.

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Aus einem Streichquintett entwickelte Brahms eine Sonate für 2 Klaviere, die er selbst im

Rahmen eines eigenen Konzertes zusammen mit Carl Tausig im Wiener Musikvereinssaal der

Öffentlichkeit vorstellte. Vergleicht man diese Neufassung mit den erhaltenen Anfangstakten

aus dem Albumblatt (s. o.), erkennt man bereits kleine Veränderungen in Hinblick auf Phra-

sierung und Dynamik. So wurde die einleitende piano-Anweisung der Streichquintett-Urfas-

sung durch ein mf in der Sonate für zwei Klavier ersetzt. Ob es darüber hinaus weitere, auch

tiefer greifende kompositorische Revisionen gab, bleibt unklar. Joachim jedenfalls war von

dieser Umarbeitung viel eher überzeugt, wie die Korrespondenz deutlich macht (s. Anhang).

Das von ihm im Brief angesprochene, ungeliebte „zweite Motiv“ behielt Brahms übrigens so-

wohl in der Sonatenfassung als auch im späteren Klavierquintett bei.

Doch auch die Klavierfassung fand im Freundes-

kreis keine durchweg positive Resonanz. So kriti-

sierte Clara Schumann in ihrem Brief vom 22. Juli

1864 (s. S. 111) vor allem die ausschließliche In-

strumentierung für Klavier. Sie äußerte das Ge-

fühl, das Stück wirke „arrangiert“. Ebenso verhielt

sich wohl auch Hermann Levi, zu jener Zeit Ka-

pellmeister in Karlsruhe.

Nach intensiven Proben und Diskussionen ließ

sich Brahms erneut zu einer Umarbeitung bewe-

gen – möglicherweise auf Hermann Levis Anre-

gung hin.

Bereits Ende Oktober 1864, ca. ein halbes Jahr

nach Fertigstellung der Klavierfassung, hatte

Brahms die Niederschrift des Klavierquintetts133 in

Wien fast abgeschlossen und schickte Anfang No-

vember die Partitur an Clara Schumann und Her-

mann Levi nach Karlsruhe. Diese neue Fassung

galt ihnen als „über alle Maaßen schön“, wenn

auch in einzelnen Fragen der Instrumentierung noch Kritik geübt wurde, die Brahms teilweise

in der anschließenden weiteren Um- und Überarbeitung umgesetzt hat, wie zahlreiche Tin-

ten-, Blei- und Blaustift-Korrekturen, die jedoch weit über die von den Freunden bemängel-

ten Einzelheiten hinausgehen, aufweisen. Die Haupteinwände allerdings, die schwerwiegen-

de Reduzierung der „vier letzten Seiten“ des 4. Satzes, die die Freunde für unumgänglich hiel-

ten, ließ Brahms unangetastet. Er ließ sich in der formalen Intention seines Werkes nicht be-

irren.

Es brauchte noch ein knappes Jahr, bis Brahms schließlich am 22. Juli 1865 die nun endgülti-

ge Fassung des Werkes dem Verleger Jakob Melchior Rieter-Biedermann zur Veröffentlichung

schickte, worauf es dann um die Jahreswende 1865/66 im Druck erschien.134

Die Widmungsträgerin, Prinzessin Anna von Hessen (1836-1918), geb. von Preußen, lernte

Brahms auf Vermittlung von Clara Schumann im Sommer 1864 in Baden-Baden kennen. Die

hoch musikalische und im Klavierspielen ausgebildete Prinzessin war schon von dem Werk in

133 Faksimile im Internet: http://imslp.org/wiki/Special:ReverseLookup/108280 (1.2.2013)

134 Faksimile des Erstdrucks im Internet:

http://erato.uvt.nl/files/imglnks/usimg/a/a1/IMSLP22985-PMLP04673-BraWV__S._123.pdf (1.2.2013)

57

Abbildung 25: Joseph Joachim und Johannes Brahms,

Klagenfurt 1867

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der Fassung für zwei Klaviere sehr begeistert. Clara Schumann und Brahms haben ihr das

Stück mehrfach vorgespielt, worauf sie aus Dankbarkeit Brahms die autographe Partitur der

g-Moll-Sinfonie (KV 550) von Mozart schenkte, die dann später dem Archiv der Gesellschaft

der Musikfreunde in Wien vermacht wurde.

Die erste Ankündigung einer öffentlichen Aufführung haben wir aus Florenz im Januar 1866,

von der jedoch nichts weiter bekannt ist. Eine erste analytisch-theoretische Besprechung er-

folgte im April in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung (s. S. 116), während die

deutsche Erstaufführung in der Öffentlichkeit am 22. Juni 1866 in Leipzig im Rahmen einer

„Musikalischen Abendunterhaltung des Conservatoriums für Musik“ stattfand. Anders als

lange Zeit angenommen135, erfuhr das Klavierquintett einen interessierten Widerhall in der

damaligen Konzertlandschaft. So sind für die ersten 15 Jahre nach Vollendung des Werkes

insgesamt rund 90 Aufführungen im In- und Ausland belegt. Dass hierbei die Komposition

nicht immer auf positive Resonanz stieß, geht unter anderem aus einer Äußerung von

Brahms hervor, der nach einer gelungenen Aufführung im Oktober 1869 konstatierte:

„Wenn die Zuhörer aller Orten so gütig gegen mich und Stück wären, würde ich

damit reisen.“ 136

Neben enthusiastischen Reaktionen gab es durchaus auch vernichtende Kritiken, wie zum

Beispiel vermutlich von Eduard Bernsdorf, der das Werk nach der Leipziger Aufführung am 4.

Dezember 1876 als „die geradezu häßlichste Hervorbringung dieses Componisten“ bezeichne-

te.137 Bemerkenswerterweise berichtete Clara Schumann gerade über diese Aufführung, sie

habe das Werk „mit großem Beifall gespielt“.138

Von einer Londoner Aufführung des gleichen Jahres schrieb sie:

„Wir haben Dein Quintett in F moll gespielt und einen ganz riesigen Erfolg damit

gehabt; mit jedem Satze steigerte sich der Enthusiasmus, und nach dem Schlusse

wurden wir unter Hurra-Geschrei gerufen. Daß wir nicht wenig begeistert ge-

spielt, kannst du Dir denken! Ich dachte, weiß ich gleich, daß Du nicht viel Freude

hast, Deine Sachen von andern zu hören, Du hättest doch ein Behagen empfun-

den. Ich war von der Tiefinnigkeit und Sinnigkeit, der Glut der Empfindung dieses

Stückes wieder ganz hingerissen – es ist ein wunderbar ergreifendes Werk!“ 139

Das Klavierquintett wurde im Verlauf des ausgehenden 19. Jahrhunderts immer wieder sehr

kontrovers diskutiert: einerseits wegen seiner Modernität und Eigenwilligkeit kritisiert, ande-

rerseits als zukunfts- und richtungsweisend bezeichnet. Immer häufigere Begegnungen mit

dem Werk ließen jedoch die Bereitschaft des Publikums und der Kritiker wachsen, sich mit

den Ansprüchen der Komposition auseinanderzusetzen, so dass es zunehmend zu den be-

deutendsten kammermusikalischen Kompositionen gerechnet wurde. Wie sehr sich die Auf-

nahmebereitschaft innerhalb weniger Jahre geändert hat, zeigt eine Erinnerung Hermann

Kretzschmars: ein Wiener Kritiker hatte noch 1870 das Werk als ein Beispiel des Ungesunden,

Geschraubten und der grauen Reflexion bezeichnet, genau derselbe erklärte es aber sieben

135 Angelika Horstmann ermittelte fälschlicherweise lediglich 20 Aufführungen bis 1880. Horstmann S. 40.

136 Brief an Melchior Rieter-Biedermann vom Oktober 1869. Briefwechsel XIV, S. 183.

137 Signale, Jg. 35, Nr. 1 (Januar 1877), S. 4

138 Schumann-Brahms Briefe II, S. 86

139 Schumann-Brahms Briefe II, S. 66

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Jahre später als die größte Leistung der Kammerkomposition seit Beethoven.140

Abbildung 26: Autograph der ersten Partiturseite

9 Das Netzwerk um Brahms – der Freundeskreis

Zweifellos war für Johannes Brahms der engere Freundeskreis von großer Bedeutung. Die

ihm näher stehenden Freunde, wozu in erster Linie Joseph Joachim, Robert und Clara Schu-

mann und Albert Dietrich gehörten, waren seit Brahms' erstem Besuch im Schumannschen

Haus freundschaftlich und künstlerisch verbunden. Ein reger Austausch unter ihnen, der sich

eindrücklich in dem dokumentierten Briefverkehr zur Genese des Klavierquintetts manifes-

tiert hat, verdeutlicht die große Bedeutung der Freunde für den Kompositionsprozess: die

erste Sichtung des Notenmaterials, das Musizieren im häuslichen Kreis und das Führen eines

kritischen Diskurses, der zu nicht unwesentlichen Veränderungen an dieser und auch ande-

ren Kompositionen geführt hat und schließlich die Verbreitung der Komposition durch die ei-

gene künstlerische Tätigkeit. Freilich war der Freundes- und Künstlerkreis um Brahms noch

viel größer, es bestand quasi ein „Netzwerk“ 141, in das Brahms eingebettet war und das ihn in

vielerlei Hinsicht getragen hat.

Hier beschränken wir uns (abgesehen von Robert Schumann) auf die Personen, die zur

Werksgenese des Klavierquintetts unmittelbar beigetragen haben.

140 Kretschmar, S. 185

141 Sandberg, S. 44

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9.1 Robert Schumann (1810-1856)

Er ist der Ausgangspunkt und die Grundlage der Musikerfreun-

de. Er wurde von allen hoch verehrt und „Meister“ genannt.

Sein Haus bot in den 1850er Jahren das Zentrum, aus dem sich

die Verbundenheit entwickelte.

Die Freundschaft zu Robert Schumann dauerte, bedingt durch

die frühe Einlieferung des Komponisten in die Heilanstalt En-

denich im März 1854 und dessen Tod am 29. Juli 1856, nur we-

nige Monate. Am 30. September 1853 kam Johannes Brahms

das erste Mal in das Schumannsche Haus in Düsseldorf. Aus

diesem ersten Besuch entwickelte sich eine enge Freundschaft

zu Robert und Clara, die für Brahms lebenslang prägend sein

sollte.

Der Ausdruck dieser tiefen Verehrung spiegelt sich auch in den

Briefen wider, so etwa im Antwortbrief Brahms' auf Robert

Schumanns ersten Brief an den jungen Komponisten:

„Hamburg, den 2. Dezember 1854

Geliebtester Freund!

Wie kann ich Ihnen meine Freude über Ihren teuren Brief sagen! Schon so oft

machten Sie mich glücklich, wenn Sie in den Briefen an Ihre Frau meiner so lie-

bend gedachten, und jetzt gehört mir ausschließlich ein Brief! Es ist der erste, den

ich von Ihnen habe, er ist mir so unendlich wert.

Ich empfing ihn leider in Hamburg, wohin ich gereist war, um meine Eltern zu be-

suchen; viel lieber hätte ich ihn aus der Hand Ihrer Frau empfangen. In einigen Ta-

gen denke ich wieder nach Düsseldorf zu gehen, ich sehne mich dahin.

Mit freudigem Mut erfüllt mich das übergroße Lob, dessen Sie meine Variationen

wert halten. Seit diesem Frühjahr studiere ich fleißig Ihre Werke, wie gerne hörte

ich auch darüber Ihr Lob! Dieses Jahr verlebte ich seit dem Frühling in Düsseldorf;

es wird mir unvergeßlich sein, immer höher lernte ich Sie und Ihre herrliche Frau

verehren und lieben.

Noch nie habe ich so froh und sicher in die Zukunft gesehen, so fest an eine herrli-

che Zukunft geglaubt als jetzt. Wie wünsche ich sie nah und näher, die schöne

Zeit, wo Sie uns ganz wiedergegeben sind. Ich kann Sie dann nicht mehr verlas-

sen, ich werde mich bemühen, mir immer mehr Ihre teure Freundschaft zu erwer-

ben.

Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner in Liebe.

Ihr Sie innig verehrender Johannes Brahms“ 142

142 Max Kalbeck: Johannes Brahms, Bd.1, Berlin 1904-14, Deutsche Brahms-Gesellschaft, S. 193. Ein Faksimile dieses Briefes

findet sich unter: http://www.brahms-institut.de/web/bihl_digital/jb_briefe/1989_040.html (17.02.2013)

60

Abbildung 27: Robert Schumann, Zeich-

nung von Adolph Menzel nach einer Da-

guerreotypie aus dem Jahr 1850

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1873 schrieb Brahms über den längst verstorbenen Robert Schumann:

„Das Andenken Schumanns ist mir heilig. Der edle, reine Künstler bleibt mir stets

Vorbild, und schwerlich werde ich je einen bessern Menschen lieben dürfen – hof-

fentlich auch nie ein schreckliches Schicksal in so schauerliche Nähe treten sehen

– so mitempfinden müssen.“143

Die enge Beziehung zu Schumann

zeigte sich bald in einer Gemein-

schaftskomposition, der „F.A.E“-So-

nate („frei, aber einsam“) für Geige

und Klavier, die zusammen mit Albert

Dietrich entstanden ist. Schumann

übernahm hierbei den zweiten und

vierten Satz, Dietrich den ersten und

Brahms den dritten (Scherzo = WoO 2).

Die von Hamburg mitgebrachten

Kompositionen (Lieder, Klaviersona-

ten und Kammermusik) des jungen

Brahms fanden im Hause Schumann

so viel Anklang, dass Schumann

Brahms Ratschläge gab, welche Wer-

ke sich am besten für die ersten Edi-

tionen eignen und sogar in welcher

Reihenfolge sie herauszubringen sei-

en (s. Brief an Joachim vom 17. Okt.

1853, S. 43). Er schrieb Empfehlun-

gen für Leipziger Verleger, die Schu-

mann Brahms mitgab. Diese öffneten

ihm dort die Türen und so erschienen

noch Ende 1853, Anfang 1854 die

ersten sechs Opera.

Schumann tat noch mehr: in der von ihm gegründeten Neue Zeitschrift für Musik erschien

unter dem Titel „Neue Bahnen“ der „in der Musikgeschichte wohl einmalige prophetische Ar-

tikel“ 144, der den 20-jährigen in die musikalische Öffentlichkeit einführte (vollständiger Ab-

druck auf S. 105). Schumanns frühen Tod erlebte Brahms unmittelbar mit und unterstützte

dessen Witwe in ihrem Leid so gut es ging.

143 Briefwechsel III, S. 123, zitiert in: Sandberger, S. 48

144 Schmidt, Brahms, S. 15

61

Abbildung 28: Titelblatt der F.A.E.-Sonate mit dem Schriftzug von Robert Schu-

mann

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9.2 Clara Schumann (1819-1896)

Schumanns Frau Clara war die zentrale Frauengestalt in

Brahms' Leben.145 Über diese Verbindung, die vielschichtig

und komplex war, ist oft spekuliert worden. Wollte man sie,

wie dies mancherorts fälschlicherweise schon geschehen, auf

ein leidenschaftliches Liebesverhältnis reduzieren, wird man

ihr nicht nur nicht gerecht, man verkennt die wahrlich große

Dimension, die diese Beziehung bis in den Tod für beide hatte.

Clara beschrieb nach dem Tod ihres Mannes in einem Brief die

Beziehung folgendermaßen:

„Er kam, um als treuer Freund alles Leid mit mir zu tra-

gen; er kräftigte das Herz, das zu brechen drohte, er er-

hob meinen Geist, erheiterte, wo er nur konnte, mein

Gemüt, kurz er war mein Freund in vollstem Sinne des

Wortes“ 146

Die Beziehung zwischen dem Komponisten und der Pianistin war natürlicherweise zunächst

getragen durch die Musik. Wie der gut dokumentierte Briefverkehr zeigt, tauschte sich

Brahms mit der ihm eng verbundenen Freundin über seine noch nicht der Öffentlichkeit vor-

gestellten Werke rege aus. Clara spielte sie im häuslichen Kreis und kommentierte sie. Des

weiteren spiegelt sich im Briefverkehr aber auch das musikalisch-gesellschaftliche Leben des

19. Jahrhunderts wider: Clara schrieb oft

von ihren Tourneen, von ihren Erfahrungen,

Begegnungen und Konzerten.

Aber auch außerhalb der Musik bestand ein

enges Band: Reisepläne, Geld- und andere

praktische Fragen wurden ebenso bespro-

chen wie sehr persönliche Erlebnisse und

Empfindungen. Brahms hat sich Zeit seines

Lebens keiner anderen Person gegenüber

emotional so offen zu zeigen vermocht, wie

gegenüber Clara Schumann. Er gestand ihr

1874:

„Laß Dir diese ernste Liebe

auch etwas Tröstliches sein - ich

liebe Dich mehr, als mich und ir-

gend wen und was auf der

Welt“.147

Brahms überlebte Clara, die im Alter von 77

starb, nur um ein knappes Jahr.

145 Sandberger, S. 48

146 Zitiert nach Sandberger, S. 49

147 Schumann-Brahms Briefe II, S. 45

62

Abbildung 29: Clara Schumann, 1854

Abbildung 30: Clara Schumann. Pastell-

zeichnung von 1879

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9.3 Joseph Joachim ( 1831-1907)

Mit dem nur zwei Jahre älteren Geigenvirtuosen und königli-

chen Konzertmeister verband Brahms bis zuletzt eine sowohl

künstlerisch wie persönlich tiefgehende Freundschaft. Eine ers-

te „Begegnung“ fand zwar schon 1830 statt, als Brahms den

schon damals gefeierten Instrumentalisten in Hamburg mit

Beethovens Violinkonzert hörte, das „Kennenlernen“ folgte

dann aber fünf Jahre später. Gegenseitige Hochachtung in

künstlerischer und freundschaftliche Verbundenheit in persön-

licher Hinsicht prägten die Beziehung (Joachim: „Brahms ist ein

ganz ausnahmsweises Kompositionstalent.“ – Brahms: „In sei-

nem Spiele ist ganz das intensive Feuer […] und Präzision des

Rhythmus […] und seine Kompositionen zeigen schon jetzt so

viel Bedeutendes, wie ich es bis jetzt noch bei keinem Kunstjün-

ger seines Alters getroffen.“)148.

Die Widmung der gemeinsam von Schumann, Albert Dietrich

und Brahms entworfenen F.A.E.-Sonate (nach Joachims Wahl-

spruch: „frei, aber einsam“) spricht für sich: „In Erwartung der Ankunft des verehrten und ge-

liebten Freundes Joseph Joachim“.

Beide Musiker begaben sich auch hinsichtlich ihrer produktiven Arbeit in gemeinsame Studi-

en. So vertieften sie sich in eine Auseinandersetzung mit der Form der Variation und studier-

ten ältere Musik, beschäftigten sich mit kontrapunktischen Problemen und auch Choralsät-

zen. Auch Joachim hatte unmittelbaren Anteil an Entstehung, Diskussion, Revision vieler

Werke. Eines der wichtigsten Zeugnisse künstlerischer Zusammenarbeit war die Urauffüh-

rung des Violinkonzerts op. 77.

Die ansonsten harmonische Freundschaft verlief allerdings nicht ohne Krisen: Anfang der

1880er Jahre kam es zum Bruch im Zusammenhang mit der Scheidungsaffäre des Ehepaars

Joachim, bei der sich Brahms auf die Seite von Amalie Joachim geschlagen hatte. Zum Zeug-

nis eines künstlerischen Bemühens um Wiedererlangung der alten Freundschaft wurde das

Doppelkonzert op. 102, das zur Versöhnung beitrug.

Joachim überlebte Brahms um zehn Jahre und hielt eine Laudatio auf ihn anlässlich der Ent-

hüllung eines Denkmals. Darin äußerte er, dass er „dem großen Künstler länger als irgendje-

mand in diesem Kreise, beinahe ein halbes Jahrhundert, nahe gestanden habe.“ 149

148 zitiert in: Neunzig, S. 23

149 Zitiert nach Sandberger, Brahms Handbuch, S. 51

63

Abbildung 31: Joseph Joachim im Alter

von ca. 35 Jahren

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9.4 Albert Dietrich (1829 – 1908)

Albert Hermann Dietrich wurde schon in jungen Jahren an der

musikalisch ausgerichteten Kreuzschule in Dresden in Kompositi-

on unterrichtet. Zwischen 1847 und 1851 studierte er Philoso-

phie in Leipzig, erhielt aber währenddessen am dortigen Konser-

vatorium Privatunterricht bei Moscheles, Rietz und Haupt-

mann.150 Albert Dietrich kam 1851 als Zweiundzwanzigjähriger

nach Düsseldorf, um bei Robert Schumann Unterricht zu erhal-

ten. Da er nach eigenen Angaben täglich im Haus der Schu-

manns verkehrte, war es also nur eine Frage der Zeit, dass er

auch Brahms kennenlernte. Wie die anderen, war auch er so-

gleich fasziniert von dem jungen Komponisten, was er in einem

Brief so formulierte:

„Joachim will ihn nicht von der Seite lassen. Schumann schwärmt für ihn, so wie ich

auch. Unsere Freundschaft ist die herzlichste.“151

Den geistigen Zusammenbruch Schumanns und dessen Tod erlebte er, der inzwischen Städti-

scher Musikdirektor in Bonn geworden war, aus unmittelbarer Nähe. Die Verbundenheit mit

ihm zeigte sich auf dem Weg zum Grab:

„Brahms und Joachim eilten herbei und so begleiteten wir drei Freunde, gleich hinter

dem Sarge schreitend, den heißgeliebten und verehrten Meister zur letzten Ruhestät-

te.“152

1861 wechselte Dietrich an das Oldenburgische Staatstheater als Hofkapellmeister, wo er fast

dreißig Jahre tätig war. Auf Drängen einiger Freunde veröffentlichte er ein Jahr nach Brahms‘

Tod seine „Erinnerungen an Johannes Brahms“, die ein eindrückliches und persönlich gepräg-

tes Lebensbild des Komponisten vermitteln.

150 Philip Förter in: www.schumann-portal.de

151 Brief von Dietrich an Ernst Naumann, Musikdirektor in Wien, in dem er ein „Charakterbild“ von Brahms zu-

sandte, in: Dietrich, S. 6

152 Dietrich, S. 26

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Abbildung 32: Hermann Dietrich

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9.5 Hermann Levi (1839 – 1900)

Der sechs Jahre jüngere Levi war 1861 als junger Kapellmeister der

Rotterdamer Oper eigens nach Hamburg gereist, um Brahms kennen-

zulernen. Drei Jahre später trafen sie sich in Baden-Baden im Haus

Clara Schumanns, das dem Freundeskreis um Brahms insgesamt als

Anziehungspunkt diente. Aus diesen Begegnungen entwickelte sich

ein reger und zum Teil sehr freundschaftlicher Briefverkehr153, der je-

doch leider nicht vollständig erhalten ist. „Jugendlicher Frohsinn und

Humor und manch gemeinsames Abenteuer knüpften die Bande

noch enger“, wie Leopold Schmidt, Herausgeber des Briefwechsels,

anmerkt154, wenngleich er den Leser darüber im Unklaren lässt,

worin diese bestanden.

Ab 1864 war Levi für acht Jahre als Operndirigent am Großherzoglichen Hoftheater Karlsruhe

angestellt, gefolgt von einem Engagement am königlichen Hof- und Nationaltheater Mün-

chen. In dieser Tätigkeit beschäftigte er sich mehr und mehr mit dem Schaffen Richard Wag-

ners und geriet so auf die „Gegenseite“ der Konservativen: er wurde ein Wagnerianer. Ein

Höhepunkt seiner Laufbahn war das Dirigat der Uraufführung des Parsifals 1882 in Bayreuth.

Brahms hat diesen schleichenden Verlust des Freundes sehr schmerzhaft empfunden. Im

Hinblick auf Levi schrieb er: „Das Leben raubt einem mehr als der Tod“155.

Levi, der zusammen mit Clara Schumann in Baden-Baden die aus einem Streichquintett um-

gearbeitete Sonate für 2 Klaviere in Augenschein nahm und probierte, war wohl auch we-

sentlich daran beteiligt, dass Brahms eine weitere Umarbeitung - nun zu einem Klavierquin-

tett - vornahm.

153 Johannes Brahms, Briefwechsel VII.

154 Brahms, Briefwechsel VII, S. 3

155 Brahms, Briefwechsel VII, S. 4

65

Abbildung 33: Hermann Levi

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10 Tradition und Innovation im Klavierquintett in f-Moll op. 34156

Über das Klavierquintett in f-Moll von Brahms - eines seiner „grandiosesten, zupackendsten

und von der Konzeption her zwingendsten Kammermusik-Werke“157 - ist häufig zu lesen, wel-

che Schwierigkeiten nicht nur er selbst mit diesem Stück hatte, das ja zunächst als Streich-

quintett und danach als Sonate für zwei Klaviere konzipiert wurde. Max Kalbeck nannte es

„ein Schmerzenskind seines Geistes", das „nicht stehen und gehen lernen" wollte und „alle

Liebe und Sorgfalt seines Erzeugers mit hartnäckigem, passivem Widerstande" vergalt. Selbst

eine positive Besprechung des Klavierquintetts wie die von Daniel Gregory Mason158 aus dem

Jahre 1933 beginnt mit der Bemerkung, es habe kein anderes Werk von Brahms so langsam

Anerkennung gewonnen, es gehöre zu denen, die am schwierigsten zu verstehen seien, vor

allem wegen seiner epischen Breite und der vielen verschiedenen Themen etwa im Scherzo

oder im Finale, an die man sich erinnern müsse, da sie alle aufeinander bezogen würden. Die

motivische Dichte des Werks heben viele Analysen hervor; bereits die Rezension in der Leip-

ziger AMZ von 1866 konstatierte ein „Uebermaass des Stoffs wie der Verarbeitung" (siehe

Seite 116ff).

Wenn das Werk besprochen wird, so steht meist seine enge Beziehung zu älteren Vorbildern

im Vordergrund; von Anfang an wurden Ähnlichkeiten mit Beethoven und Schubert ausge-

macht. Besonders von dessen Streichquintett ist in diesem Zusammenhang oft die Rede.

Häufig erwähnt wird z. B. das Ende des Scherzos im Klavierquintett, das in c-Moll steht und

mit einer Appogiatur des-c endet, genau wie das Finale in Schuberts Quintett. Man könnte

dies ergänzen: nicht nur der Schlussklang ist ähnlich, sondern auch die Struktur oder viel-

mehr der Gestus der vorhergehenden Takte: Es handelt sich um die Reduzierung des thema-

tischen Materials auf eine markante rhythmische Figur um den Grundton c. In Schuberts Fi-

nale erscheint diese Figur im Oktav-Unisono (ab T. 417), in Brahms' Scherzo wird das Unisono

der Streicher (ab T. 177) von Klavierakkorden ausgefüllt; unverkennbar ist aber der ähnliche,

ausgesprochen ruppige Gestus.

Schubert, Streichquintett, IV. T. 417f. Brahms, Klavierquintett, III. T. 177f.

Auch melodische Bewegungsabläufe ähneln sich. In beiden Werken z. B. kommt es vor, dass

eine Melodie in mehreren Aufschwüngen nach oben geführt wird und danach die abschlie-

ßende Abwärtsbewegung in eine Kadenz mit Schleifer ausläuft. Bei Schubert endet die Phra-

156 Nur leicht gekürzte bzw. um Notenbeispiele ergänzte und angepasste Fassung des gleichnamigen Artikels

von Marie-Agnes Dittrich. Auf die weiterführenden Hinweise der Autorin in Form von Fußnoten wurde der

Übersichtlichkeit weitgehend verzichtet. Gruber, S. 175-184

157 Kross, S. 381

158 Mason, S. 34

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se mit dieser Kadenz (I., T. 203) ; Brahms erweitert die Kadenz

mit dem Schleifer (II., T. 102) noch durch einen Anhang.

Trotzdem ist der Gestus sehr ähnlich.

Ähnlich ist bei beiden Komponisten auch die Idee, eine melodische Fortspinnung in eine

Synkopenbewegung zu überführen, deren bremsende Wirkung das Ende des Formteils vor-

bereitet. Bei Brahms finden sich die Synkopen in der Fortspinnung des Seitensatzes aus dem

ersten Satz (1. Violine und Klavier, ab T. 69) . Die-

selbe formale Funktion erfüllen - ebenfalls in der Fortspinnung des Seitensatzes - die Synko-

pen im ersten Satz von Schuberts Streichquintett (zunächst 1. Violine, T. 105)

.

Auch der verschleierte Reprisenbeginn im ersten Satz des Klavierquintetts erinnert an Schu-

bert. In dessen Streichquintett wird der charakteristische Schleifer des Hauptthemas im

Übergang zur Reprise des ersten Satzes vorweggenommen (T. 263, T. 265), so dass man mit

Eintritt der Reprise (T. 267) weniger Beginn als vielmehr eine Fortspinnung empfindet - zumal

die Reprise mit einer Phrasenverschränkung einsetzt; man hört also einen harmonischen

Schluss, und noch dazu im pianissimo. Bei Brahms setzt die Reprise auf harmonisch sehr un-

bestimmtem Fundament ein, nämlich auf einer ausgedehnten Dominante (T. 160).

Noch wichtiger als derartige Gesten sind aber gewiss strukturelle Ähnlichkeiten mit Schubert,

etwa in der Satztechnik. Brahms verwendet in seinem Quintett den durchbrochenen Satz

kaum; häufig liegen, wie bei Schubert, langgezogene Melodien in einem Instrument; oder es

gibt Doppelmelodien, die auch bei Schubert so häufig sind; oder auch lange rhythmische Os-

tinati in einer Stimme, die den Melodien der anderen Instrumente eine untergründige Unru-

he verleihen; und es kommt auch vor, dass verschiedene rhythmische Ostinati sich überla-

gern. Typisch ist auch, dass den eigentlichen Themen oft einige Takte Begleitfiguren vorange-

hen (vgl. dazu etwa die Einleitung zum Seitensatzthema (T. 35) im ersten Satz bei Brahms).

Der langsame Satz im Klavierquintett - er steht in As-Dur - erinnert mit seinen immer wieder-

holten Figuren im Klavier an Lieder von Schubert, in denen das Klavier eine Laute imitiert,

etwa an „Pause" aus der Schönen Müllerin. Dort wenden sich diese lautenartigen Akkorde

übrigens auch nach As-Dur, dann sogar nach as-Moll, genau wie es bei Brahms geschieht. Bei

Schubert geht es an dieser Stelle um den Nachklang der Liebespein.

Auch im Bereich der Rhythmik gibt es manche Gemeinsamkeit mit den großen Vorbildern

Beethoven und Schubert; ich denke hier vor allem an die Taktwechsel in den beiden letzten

Sätzen des Klavierquintetts und an die Tatsache, dass Themen am Satzende in veränderten

Taktarten kombiniert werden. Im Finale von Schuberts B-Dur-Trio erklingen zunächst (in T.

250) ein 2/4-Takt (in der Violine) und ein 3/2-Takt (im Violoncello und der Unterstimme des

Klaviers) gleichzeitig, hinzu kommt, nicht notiert, noch ein 3/4-Takt (T. 255, Violoncello). Bei

Brahms treten zwei Themen zunächst im 2/4-Takt auf (T. 42ff. und T. 94ff.). Am Schluss wer-

den sie - als „Ziel der gesamten formalen Bewegung " im 6/8-Takt kombiniert (T. 423ff.).

Ein weiteres strukturelles Moment, das Brahms' Klavierquintett mit anderen Werken, nicht

nur von Schubert, verbindet, ist die Bedeutung der neapolitanischen Ebene; anders ausge-

drückt, die Ebene, die um einen Halbton über der Grundton- bzw. Dominantgrundton-Ebene

liegt. In Schuberts Streichquintett zeigt sich diese Ebene teils melodisch, z. B. in der bereits

erwähnten Appogiatur des-c im Schlussklang oder bei dem emphatischem Wechsel zwischen

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Dominante und Neapolitaner (z. B. im ersten Satz, T. 117f.). Formal prägt die Halbtonebene

die Tonartendisposition in den Mittelsätzen; etwa die Beziehung zwischen E-Dur und f-Moll

im langsamen Satz oder zwischen dem C-Dur-Scherzo und dem Beginn des Trios in Des-Dur.

Auch bei Brahms spielt die Halbtonebene melodisch und formal eine Rolle. Der erste Satz hat

eine Drei-Tonarten-Exposition, wie sie bei Haydn und Mozart selten, bei Beethoven und be-

sonders Schubert häufiger vorkommt. Der Seitensatz beginnt bei Brahms in cis-Moll. In der

Literatur wird allgemein cis-Moll (bzw. Cis-Dur) als des-Moll (oder -Dur) interpretiert; und

man sieht hier einen Zusammenhang zwischen dieser Tonart und dem Ton des, der im gan-

zen Stück wesentlich ist. Von seiner Bedeutung für den Schluss des Scherzos war schon die

Rede. Bereits im Hauptsatzthema des ersten Satzes ist der Ton des melodisch exponiert. Die-

ses Thema ähnelt übrigens dem Anfang von Beethovens Appassionata. Beide Stücke begin-

nen mit einem Unisono in f-Moll; in beiden Themen herrschen Dreiklangsbrechungen vor; in

beiden Stücken ist der erste Akkord der C-Dur-Akkord. Beethoven schließt, anders als

Brahms, die neapolitanische Ebene unmittelbar an.

Bei Brahms ist der fallende Halbton als Motiv in allen Themen des ersten Satzes wesentlich

(z. B., um nur die exponiertesten Momente zu zeigen, im Hauptthema in T. 1f. des-c, T. 5ff. f-

e, as-g, in der Überleitung T. 23 des-c, T. 25 des-c, ges-f, T. 28 as-g, T. 33 a-gis, im Seitensatz T.

36f. cis-his, T. 38 gis-fisis, T. 39f. a-gis, T. 48 cis-his, in seiner Fortspinnung T. 69 im Violoncello

f-eis und g-f und zugleich, die bereits erwähnten Synkope in der 1. Violine betonend, der auf-

steigende Sekundschritt c-d, in der Schlussgruppe T. 75f. ges-f und T. 86 as-g). Diese Bezie-

hung wird durch die rhythmische Verwandtschaft der Themen noch deutlicher (wesentlich ist

z. B. das Motiv der vier Achtel, etwa T. 1ff., T. 12, T. 24, T. 36, T. 75).

Cis-Moll taucht als Tonart eines Formteils unerwartet auch noch einmal im Finale auf, expo-

niert durch den Taktwechsel (T. 343). Und im ersten Satz wird die Ausnahmestellung von cis-

Moll dadurch betont, dass der Seitensatz in der Reprise zunächst als fis-Moll erscheint (T.

194), ehe es in f-Moll weitergeht.

Für eine derartige Formbildung könnte man auf Schubert verweisen, etwa auf die B-Dur-So-

nate, deren Seitensatz in fis-Moll steht und in der Reprise in h-Moll wiederholt wird. Oder

auf das Oktett: Dort gibt es im ersten Satz innerhalb des Seitensatzes, der regulär in der Do-

minanttonart C-Dur steht, einen Abschnitt in Des-Dur. In der Reprise erscheint dieselbe Be-

ziehung noch einmal, hier also zwischen Ges-Dur und der Haupttonart F-Dur. Ein weiteres be-

rühmtes Beispiel für eine derartige Ausnutzung der Halbton-Ebene ist Beethovens Hammer-

klaviersonate, in der das Hauptthema nicht nur in B-Dur, sondern auch in h-Moll erscheint.

Und das Finale des cis-Moll-Quartetts op. 131 interpoliert in die Ebenen von cis-Moll Ab-

schnitte in D-Dur.

Als letzte der vielen Gemeinsamkeiten mit Schubert sei noch auf die langsame Einleitung des

Finalsatzes verwiesen, die im Satzverlauf kurz vor Schluss noch einmal aufgegriffen wird. Es

folgt danach das Hauptthema des Allegros als Stretta. Genauso ist es in Schuberts Oktett.

Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass das Netz bereits bekannter Beziehungen,

das Brahms' Klavierquintett mit der durch Beethoven und Schubert geprägten Tradition ver-

bindet, mühelos noch dichter geknüpft werden kann.

Wie aber ist es mit der Innovation? Ohne hier auf das Innovative im vermeintlich Konservati-

ven bei Brahms - das ja spätestens seit Schönberg bekannt ist - noch einmal eingehen zu wol-

len, möchte ich auf einen Aspekt kommen, der meines Wissens in der Literatur zum Klavier-

quintett kaum eine Rolle spielt: Es geht um die Frage, ob nicht gerade eine auf den ersten

Blick ganz konventionelle Formbildung [vgl. dazu auch die grobe Formübersicht am Ende von

Teil 1 der Handreichung] einzelne, wiederum ebenfalls durchaus nicht gänzlich neue Ideen in

ein ungewohntes Licht stellen kann. Dieser Frage sei anhand der chromatischen Passagen im

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ersten und im letzten Satz nachgegangen, besonders angesichts der Bedeutung, die ihnen

der durch das Moll-Tongeschlecht geprägte Kontext verleiht.

In der Coda des ersten Satzes (T. 261ff.) erscheint plötzlich neues thematisches Material. Es

hat mit dem bisherigen Satzverlauf nichts zu tun, außer dass hier die schon immer latent vor-

handene Chromatik vorherrschend ist. Die Intervallgestalt - ein Halbtonschritt, ein Sprung

und wieder ein Halbtonschritt - erinnert sehr an das thematische Material, das in Beethovens

späten Streichquartetten so bedeutend ist, etwa im Anfang des a-Moll-Quartetts oder in der

Großen Fuge. Die Ähnlichkeit zu Beethoven wird bei Brahms noch dadurch betont, dass das

Klavier hier kaum eine Rolle spielt; es steht so im Hintergrund, dass man meinen könnte, ein

Streichquartett zu hören. Die Klangfarbe trägt also dazu bei, diese Passage bei Brahms als et-

was Besonderes herauszustellen. Auf mich wirkt sie ähnlich wie ein Noema in einer polypho-

nen Messe, dies auch wegen der rhythmischen Veränderung: Es ist die einzige ruhige Stelle

im sonst sehr temperamentvollen Satz, und man kann kaum umhin zu fragen, was hier ge-

sagt werden soll. Der „tiefere poetische Gehalt" des Satzschlusses wird in der AMZ von 1866

so gedeutet:

„Wir glauben einen Kampf mit einem unerbittlichen Geschick zu vernehmen, welches uns, in-

dem wir mancherlei Wünsche verfolgen und frei hinausstreben möchten, vor dem Eingreifen

des scheinbar Erreichten scheu zurückschrecken lässt.“ (s. S.118)

Das in Kombination der beiden Violinen angedeutete b-a-c-h - Motiv (ihre jeweiligen Spitzen-

töne in den Takten 271 f. lauten es-d-f-e) erhöht die geheimnisvolle Ausdruckskraft dieser

Passage.

In der langsamen Einleitung zum Finale erscheint ein sehr ähnlicher Gestus - und wirkt dort

weit weniger befremdlich, denn in langsamen Einleitungen erwartet man einen gewissen

spannungsvollen Kontrast mit dem Folgenden. So hätte auch Brahms den merkwürdigen Ef-

fekt der Passage im ersten Satz mindern können: Würde auch diesem Satz eine langsame Ein-

leitung vorangehen, auf die die Chromatik in der Coda etwa zurückverwiese, so ergäbe sich

eine ähnliche Formbildung wie z. B. in Schuberts Oktett. Es ist also weniger die chromatische

Passage an sich als vielmehr die fehlende Integration ins Satzganze, die sie so irritierend - und

damit bedeutungsvoll - wirken lässt. Dass das Hauptthema (ab T. 273), dazukommt, schafft

übrigens noch keine Integration dieser eigenartigen Passage ins Satzganze; den Eindruck ei-

ner hier ausnahmsweise einmal fast parataktischen Formbildung hebt auch das wie nachträg-

lich hinzugefügte Hauptthema nicht auf.

Obwohl die Chromatik in der langsamen Einleitung zum Finale weniger verwirrend ist, war

sie doch für den Rezensenten der AmZ gewöhnungsbedürftig (s. seine Bemerkungen zum Fi-

nale auf S. 120).

Friedrich Brand sah hier 1937 ein Vorspiel, „das hinsichtlich seiner dramatisch gespannten

Größe nicht nur unter den sämtlich rasch beginnenden Schluss-Sätzen, sondern innerhalb der

gesamten Kammermusik von Brahms einzigartig ist".159

Man kann nicht leugnen, dass dieses Motiv hier, im Finale, wegen der schmerzlichen Disso-

nanzen eine große Eindringlichkeit gewinnt. Der Kontext verschärft auch hier die Wirkung der

Chromatik. In beiden Sätzen, im ersten Satz und im Finale, werden die chromatischen Passa-

gen mit dem Material des jeweiligen Hauptthemas konfrontiert, das sich auf fast brutale Wei-

se durchsetzt. Im Finale wird das chromatische Material verändert und zum Seitensatzthema,

und wir haben schon gehört, wie es im 6/8-Takt mit dem Hauptthema des Satzes kombiniert

wird. An dessen Charakter passt es sich dabei so sehr an, dass es seine frühere Wirkung ver-

liert. Ähnlich ist es im ersten Satz, in dem auf die chromatische Passage eine Stretta folgt, die

wieder in f-Moll steht und ihre ätherische Wirkung zerstört.

159 Brand, S. 136

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Die starke Molltendenz dieses Stückes, die die Wirkung der Chromatik erhöht, beruht auch

auf der ungewöhnlichen Tonart des Seitensatzes cis- bzw. des-Moll. Dass im ersten Satz des

Klavierquintetts der Seitensatz (T. 33ff.) im Terzabstand zur Haupttonart steht, wird in der Li-

teratur oft hervorgehoben. Mindestens ebenso ungewöhnlich - und für die Stimmung des

Satzganzen vielleicht sogar wichtiger - ist aber, dass der Seitensatz in Moll steht, dass also der

Tongeschlechterkontrast zwischen Haupt- und Seitensatz entfällt. Zwar beginnt im Klavier-

quintett die Schlussgruppe in Des-Dur (T. 74ff.), aber auch sie hat eine starke Molltenden-

denz. Über lange Zeit hört man in diesem Satz also fast ausschließlich Moll. Natürlich gibt es

auch hier Vorbilder, etwa das Finale von Beethovens Mondschein-Sonate, in dem der Seiten-

satz in der Molldominante steht. In der Appassionata ist es ebenso. Von diesen Stücken un-

terscheidet sich der erste Satz bei Brahms aber durch die Tatsache, dass sich in der Reprise

von der Fortspinnung des Seitensatzes an eine klare Aufhellung nach F-Dur ergibt (T. 235ff.):

Die Stimmung ändert sich gänzlich, und dieses helle F-Dur führt in die rätselhafte chromati-

sche Passage. Die Chromatik wirkt also als Höhepunkt der Aufhellung, als ein Resultat der

veränderten Stimmung. Umso stärker empfindet man dann den Schluss-Satz, in dem die fu-

riose Fortspinnung des Hauptsatzthemas den Ton angibt - und zwar wieder in f-Moll.

Mit der großen, bis zur Seitensatzreprise aufgesparten Aufhellung nach Dur, die in der rätsel-

haften chromatischen Passage gipfelt, dann aber in der Coda zunichte gemacht wird, ist hier

eine tragische Komponente nicht zu verkennen. Bedenkt man außerdem den Charakter der

Tonart f-Moll (dem die AMZ in der Rezension von 1866 den „Ausdruck pathetisch-tragischer,

düsterer und trüber Seelenstimmungen" zuordnete; s. S. 116), die Seltenheit der Tonart cis-

oder des-Moll innerhalb von f-Moll und die große Bedeutung des Neapolitaners gerade in f-

Moll, so wird - bei aller temperamentvollen Kraft dieses Stückes - seine tragische Komponen-

te umso deutlicher.

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11 Brahms in der Analyse von Arnold Schönberg160

Auf die historische Verbindung seiner Art der motivisch-thematischen Verarbeitung zu

Brahms hat Schönberg selbst in einem 1933 verfassten und 1947 überarbeiteten Vortrag

»Brahms, der Fortschrittliche« hingewiesen. Die Erkenntnisse Schönbergs haben nachhaltig

das Bild von Brahms, der seither lediglich als Traditionalist betrachtet wurde, verändert.

Schönberg konstatiert vielmehr tiefgreifende Neuerungen des kompositionstechnischen

Handwerks, das er selbst als Komponist aufgreifen und produktiv weiterentwickeln konnte.

Kern der Schönbergschen Argumentation ist die Erkenntnis, dass sowohl für die Gestaltbil-

dung als auch die Formgebung Tonhöhen-Modelle, sogenannte diastematische Modelle, zu-

grunde liegen, denen eine zentrale Bedeutung zukommt. Zum einen beschränkt sich Brahms

auf wenige Tonhöhenkonstellationen und nimmt diese als Ausgangspunkt der motivischen

Arbeit. Zum anderen wird das Formganze durch ein Netzwerk von diastematischen Beziehun-

gen zusammengehalten, wodurch er eine Vereinheitlichung des musikalischen Verlaufs im

Kleinen wie im Großen erreicht.

Dieses Verfahren ist zwar gattungsübergreifend, wird aber vor allem in der Kammermusik

vorangetrieben.

Zwar hat Schönberg erst 1947 den Blick auf diese Zusammenhänge gelenkt, aber bereits

1869 wies Adolf Schubring, ein feinsinniger Kenner und Beschreiber der Brahmsschen Musik,

am Beispiel des III. Satzes auf die thematische Vereinheitlichung in dem ein Jahr zuvor urauf-

geführten Deutschen Requiem op. 45 hin (Allgemeine Musikalische Zeitung, Leipzig, 13. 1.

1869, S. 10):

„Sämmtliche Melodien aller acht Abschnitte sind aus folgenden drei im dreifachen Contra-

punkte erfundenen Hauptthemen durch Umkehrung, Diminution, Vor- und Nach-Zusätze

u.s.w. entstanden:

Sogar das Fugen-Thema:

lässt deutlich seinen Ursprung aus Thema III erkennen. Selbstverständlich kann in-

dessen an diesem Orte nicht der strikte Beweis meiner Behauptung der themati-

schen Einheit sämmtlicher acht Abschnitte geführt werden.“

Bemerkenswert ist nun, dass Brahms auf diese Darstellung - dies ist einer der ganz seltenen

Fälle, in denen er sich auf eine gleichsam analytische Diskussion eines seiner Werke eingelas-

sen hat - kritisch reagiert hat; im Februar 1869 schreibt er an Schubring161:

160 Exzerpt aus Schmidt, Johannes Brahms. Reclams Musikführer, S. 108-116

161 Brahms Briefwechsel VIII, S. 216f.

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„Als ich Deinen letzten Aufsatz las (ich schweige von der Freude, die er mir, und

alles, was Du schreibst, machte) habe ich mir lächelnd denken müssen: Du habest

Deine Theorie von der Ausbildung und Umformung der Motive nur sehr schüch-

tern angewandt.

Wenige eilige und flüchtige Worte davon. Ich streite, daß in Nr. 3 [III. Satz] die

Themen der verschiedenen Sätze [Abschnitte] etwas miteinander gemein haben

s o l l e n . (Ausgenommen das kleine Motiv ) I s t e s n u n d o c h

s o (ich rufe mir absichtlich nichts ins Gedächtnis zurück): So will ich kein Lob da-

für, sondern bekennen, daß meine Gedanken beim Arbeiten nicht weit genug flie-

gen, also unabsichtlich öfter mit demselben zurückkommen. W i l l ich jedoch die-

selbe Idee beibehalten, so soll man sie schon in jeder Verwandlung, Vergröße-

rung, Umkehrung deutlich erkennen. Das andere wäre schlimme Spielerei und im-

mer ein Zeichen armseligster Erfindung. Leider ist die Fuge in Nr. 6 [»Herr, du bist

würdig«] ein Beweis, daß ich (dem >Schwung< zu Gefallen?) nicht gerade streng

bin.

Im >Rinaldo< fällt mir ein drolliges Beispiel von Umwandlung auf. Armida zaubert

zu Anfang lieblich, und dasselbe Motiv beschreibt hernach die Zerstörung der

Gärten und Paläste.“

Die von Brahms selbst stammenden Hervorhebungen (Sperrungen) sind überaus bedeu-

tungsvoll. Der Satz »Ich streite ...« erhält durch die Hervorhebung von »sollen« überhaupt

erst seinen spezifischen Sinn. Denn Brahms bestreitet nicht die Beziehung der Motive als sol-

che, sondern lediglich, dass sie innerhalb des kompositorischen Prozesses beabsichtigt sind.

Und er räumt ein, dass sich derartige Beziehungen sehr wohl auch ohne die bewusste Kon-

trolle des Komponisten ergeben können.

Aus dem Gedankenaustausch zwischen Schubring und Brahms ergibt sich eine Feststellung,

der besondere Bedeutung zukommt: Brahms war sich über die theoretischen Grundlagen der

Arbeit mit diastematischen Modellen vollkommen im Klaren. Sein Verfahren der Vereinheitli-

chung durch mannigfache Umwandlung einer Tonhöhenkonstellation, in seinen Worten

»desselben Motivs«, verdankt sich somit nicht bloß der kompositorischen Intuition, sondern

ist Resultat rationaler Verfügung.

Voraussetzung der Konzeption diastematischer Modelle ist die Loslösung der Tonhöhenkon-

stellation aus ihrer konkreten Einbindung in eine rhythmische Erscheinungsform und Rück-

führung auf eine gemeinsame, übergeordnete und potentiell nicht im Tonsatz erscheinende

Tonhöhenkonstellation als Bezugspunkt.

Zentrales Mittel diastematischer Umwandlung ist die althergebrachte Bildung der kontra-

punktischen Varianten Krebs, Umkehrung und Umkehrungskrebs, wie Schubrings Ausführun-

gen zeigen.

Brahms' Beispiel aus Rinaldo zeigt eine andere Art der Variation diastematischer Konstellatio-

nen: die Vergrößerung bzw. Verkleinerung einzelner Intervalle. In jenem Beispiel wird die fal-

lende kleine Terz der Ausgangsgestalt in der Wiederaufnahme zur verminderten Quart ge-

spreizt. Das Moment des Identischen beruht in diesem Fall nicht auf der diatonisch bestimm-

ten Größe, sondern auf der richtungsmäßigen Zuordnung der Intervalle.

Eine Kombination der beiden vorgenannten Arten der Transformation, der kontrapunkti-

schen Variantenbildung und der Spreizung bzw. Raffung einzelner Bestandteile, bietet das

Hauptthema des I. Satzes aus dem Klavierquartett op. 25:

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Das zugrunde liegende Modell ist die viertönige Konstellation der Takte 2 und 3: fallende

Quart + steigende Terz + fallende Sekunde.

Die Figur des Taktes 1 kehrt die Konstellation um und weitet das erste Intervall in beiden

Richtungen um eine Sekunde, d. h., aus der Quart wird eine Sext.

Das Thema aus op. 25 belegt indes noch eine weitere Möglichkeit der Variantenbildung,

nämlich die Reduktion des Modells durch Aussparung einzelner Elemente. In T. 4 werden die

beiden mittleren Elemente zur Gleichzeitigkeit zusammengezogen: Die Zahl der horizontal

entfalteten Elemente reduziert sich auf drei, die Intervallfolge wandelt sich zum Terzklang

und die melodische Kontur zieht sich von mehrfachen Richtungswechseln auf die in eine

Richtung nach unten verlaufende Linie zusammen.

Die Reduktion und die Abspaltung gehören zu einer Kategorie der Variierung diastematischer

Konstellationen, die man als mengenmäßige Veränderung der Elementzahl beschreiben kann

– entweder eine Verkürzung oder eine Erweiterung. Auf letztere Möglichkeit spielt Schubring

in dem gegebenen Zitat durch »Vor- und Nach-Zusätze« an; doch die Erweiterung durch neue

Elemente kann sich in vielfältigerer Weise realisieren als durch bloße Addition am Anfang

oder Ende einer hinsichtlich der Intervallfolge bewahrten Konstellation. Möglich ist gleicher-

maßen, die neuen Elemente in den Verlauf der Ausgangskonstellation selbst einzufügen; das

Modell kann so als Rahmen dienen, es kann Gerüstfunktion übernehmen (man denke an die

diminuierte Choralbearbeitung, deren Verfahren vielleicht auch Schubring mit »Diminution«

meint) oder sich mit anderen gleichberechtigten Elementfolgen verschränken.

Es lassen sich mithin drei Grundtypen der Variation eines diastematischen Modells festhal-

ten: die kontrapunktische Transformation, die Modifikation der Intervallgröße innerhalb der

Konstellation selbst und die mengenmäßige Veränderung der Elementzahl. Die drei Typen

sind zwar deutlich unterschieden, schließen einander aber nicht aus; und ihre Kombinatio-

nen geben Brahms ein reiches Instrumentarium zur Gewinnung gestaltlicher Vielfalt an die

Hand.

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12 Anmerkungen zu einigen ausgewählten Kammermusikwerken

12.1 Kammermusik ohne Klavier

a) Streichsextette Nr. 1 B-Dur op. 18 u. Nr. 2 G-Dur op. 36

Das Streichsextett Nr. 1 war das erste veröffentlichte Kammermusikwerk von Brahms ohne

Klavier. Bereits im November 1859 erwähnte er in einem Brief an Clara Schumann den ersten

Satz. Im Jahr darauf schickte er es an den Verleger Simrock, ohne das Werk vorher von Josef

Joachim durchsehen zu lassen, was er im Brief an ihn später bedauerte:

"Mein Sextett habe ich mit Unlust und Herzklopfen vor längerem an Simrock ge-

schickt. Auch jetzt ist es mir der unangenehmste Gedanke, es nicht, wie ich wollte,

vorher noch Dir geschickt zu haben."162

Der Verlag Simrock nahm das Werk rasch entgegen und brachte es zusammen mit einem Ar-

rangement für vierhändiges Klavier heraus, ebenso wie eine damals für diese Besetzung un-

übliche Edition in Partiturform, die Brahms extra verlangte. Nach Korrekturen, die Josef Joa-

chim zugingen, erschien das Werk schließlich im Januar 1862.

Das vier Jahre später erschienene Streichsextett Nr. 2 erging zunächst an Clara Schumann, die

zu Neujahr 1865 dafür warmherzig dankte und im langsamen Satz ein Motiv erkannte, das

Brahms ihr schon am 7. Februar 1855 brieflich mitgeteilt hatte. Berühmt wurde ein für

Brahms bemerkenswertes programmatisches Motiv, das im Seitensatz des ersten Satzes auf-

taucht: mit der Tonfolge a-g-a-h-e hat er seiner Liebe zu Agathe von Siebold ein Erinnerungs-

zeichen gesetzt („Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht“ 163). Nachdem das

Werk zwar zügig komponiert worden war, zog sich die Edition hin, da Simrock die Druckle-

gung ablehnte und der Verlag Breitkopf und Härtel unter Hinweis auf ein „fremdes Urteil“164

seine bereits erstellte Zusage zurückzog. Brahms konnte nach heftigen Protesten schließlich

doch bei Simrock seine Komposition edieren.

Die Schwierigkeiten der Edition mögen damit zusammenhängen, dass ein Streichsextett vor

Brahms keine eigene Gattungstradition hatte. Zwar sind von Boccherini die Sestetti concer-

tanti von 1776 überliefert, diese konnten aber zusammen mit einigen anderen Werken heute

eher unbekannter Komponisten keine Gattungstradition begründen. Das bekannteste Werk

auf diesem Gebiet blieb das Sextett op. 140 von Ludwig Spohr (ediert 1850), das Brahms ge-

kannt haben mag.

Bei Gustav Schillings „Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften“ von 1838

wird zwar auf das Sextett als Gattung verwiesen, jedoch festgestellt, dass diese den Anforde-

rungen der Quartette entsprächen.165 Bemängelt wurde „das häufige Verdoppeln zweier In-

strumente“ und auch der Mangel an „Partien, […] in denen wirklich sechs Stimmen beschäf-

162 Brief an J. Joachim, Sep. 1861. Briefwechsel V, S. 299f.

163 Brahms an Auguste Brahndt, in: Max Kalbeck, Johannes Brahms. 8 Bd. Berlin 1904-1914.

164 Hinter dem „fremden Urteil“ wurde u. a. der Komponist Carl Reinecke vermutet, der für B&H als Verlagsbe-

rater arbeitete.

165 Schilling 1838, S. 354, in: Sandberger, S. 383f.

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tigt sind“.166 Erst nach den beiden Kompositionen von Brahms kann von einem deutlichen Zu-

wachs an Sextetten gesprochen werden und insofern hat er für diese Gattung offenbar Maß-

stäbe gesetzt. In beiden Sextetten umrahmen Sonaten- bzw. Rondoformen einen langsame-

ren Variationssatz und ein dreiteiliges Scherzo.

b) Streichquartette Nr. 1 c-Moll, Nr. 2 a-Moll op. 51 und Nr. 3 B-Dur op. 67

Angesichts der Bedeutung des Streichquartetts für die Kompositionsgeschichte seit der Zeit

der Klassik scheint diese Gattung bei Brahms angesichts der geringen Zahl an Kompositionen

nicht sonderlich hervorzutreten. Man darf aber nicht verkennen, dass ein großer Teil (über

zwanzig) an Streichquartetten von Brahms vernichtet wurde, da er sie für nicht wert erachte-

te in die Nachfolge der Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven zu treten. So gesehen bedeu-

tet die kleine Anzahl an Quartetten weniger eine Geringschätzung der Gattung als vielmehr

einen großen Respekt vor den Vorbildern, die Brahms stets vor Augen hatte. Aus der briefli-

chen Korrespondenz mit Joachim und Robert Schumann ist sogar zu entnehmen, dass es so-

gar darum ging, ob nicht ein Streichquartett als op. 1 das Oeuvre von Brahms eröffnen solle,

wie es Schumann vorschlug. Es sollte ein Streichquartett in h-Moll sein, wie Brahms Joachim

am 17. Oktober 1853 schrieb.

Allerdings vergingen rund 20 Jahre, bis die ersten beiden Quartette schließlich 1873 erschie-

nen – nach eindringlichem Nachfragen des Verlegers Simrock. Brahms reagierte wieder mit

dem Hinweis auf seine klassischen Vorbilder: da aber „Mozart sich gar besonders bemüht“

habe „sechs schöne Quartette zu schreiben, so wollen wir uns recht anstrengen, um ein und

das andre passabel zu machen“.167 Belegt ist auch eine Partitur der Haydnschen Quartette,

die er von Joachim bekommen hatte sowie Kenntnis eines Quartetts von Schubert, das er in

einem Brief erwähnt.

Bevor Brahms seine Quartette herausgab, wollte er sich ihrer Qualität wirklich sicher sein.

Clara hatte im Juni 1869 ihm noch geschrieben, dass sie „nicht ganz recht zu sein schienen“

und, um sich noch eine weitere Meinung einzuholen, lud er am 24. Juni den Verleger Simrock

selbst zu einer Erprobung der Werke ein. Zum Abschluss kamen die Stücke allerdings doch

erst vier Jahre später, im Sommer 1873. Eine korrigierte Eintragung in sein eigenhändiges

Werkverzeichnis belegt, dass er noch sehr daran gefeilt haben muss, um seinen hohen An-

sprüchen an diese Gattung selbst zu genügen.

Die Rezeption der Werk fiel unterschiedlich aus: von Freunden begeistert aufgenommen,

wurden sie von Kritikern zurückhaltend und mit Befremden besprochen. Über das c-

Moll-Quartett wurde in Wien geschrieben, es sei „tiefernst“ und „erst nach wiederholter Vor-

führung“ finde die Komposition „ihre rechte Würdigung“. In Hamburg: „bedeutend in seinen

drei ersten Sätzen, schwächer im letzten“, und in Berlin: es biete zwar „manches

Interessante“, mache aber einen „recht wenig erquicklichen Eindruck“168. In einer eingehen-

den Besprechung für die Allgemeine Musikalische Zeitung besprach Hermann Deiters 1878

die Quartette. Anders als seine Vorgänger hob er auch die Momente ihrer Modernität hervor,

doch wich die Skepsis dann zunehmend der Auffassung, Brahms sei in op. 51 der legitime

Erbe der klassischen Tradition.169 Schönberg zog gerade die Streichquartette heran, um zu

166 Allgemeine musikalische Zeitung I, 1866, S. 407.

167 Krummacher, Friedhelm, in: Sandberger, Wolfgang (Hg.), Brahms Handbuch. Stuttgart 2009, S. 389.

168 zitiert nach Krummacher, a.a.O, S. 390

169 Krummacher, a.a.O, S. 390f.

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zeigen, dass Brahms nicht nur als Erbe der Klassiker zu gelten habe, sondern als „der Fort-

schrittliche“, als Bindeglied zwischen sich und der traditionellen Musik. Seine Formel der

„entwickelnden Variation“ – der Herauslösung anfänglich gesetzter Intervalle zur Ableitung

weiterer Ereignisse - wurde für spätere Analytiker zur Grundlage ihrer Versuche, die innere

Einheit der Musik primär an intervallischen Relationen zu belegen, wozu er gerade in den

Streichquartetten Beispiele heranzog. Dabei lief er allerdings Gefahr die Motivik (ähnlich

auch Akkordwechsel und unregelmäßige Taktgruppen) aus ihrem harmonischen Kontext zu

lösen, „so dass nicht nur die konstitutive Bedeutung der Harmonik, sondern der Zusammen-

hang aller Momente des Tonsatzes aus dem Blick geriet“170, wie Krummacher betont.

c) Streichquintett Nr. 1 F-Dur op. 88 und Streichquintett Nr. 2 G-Dur op. 111

Während die Gattung des Streichsextetts wenig richtungsweisende Vorläufer kannte, war das

Streichquintett im 19. Jahrhundert durch einige bekannte Werke etabliert, sei es durch Ver-

dopplung der Bratschen (Mozart) oder der Violoncelli (Schubert). Das klanglich zu erreichen-

de Ziel war stets die Mittellage zu verstärken.

Im Mai 1882 schloss Brahms sein erstes Streichquintett F-Dur ab, nachdem er 20 Jahre vor-

her mit dieser Gattung schon einmal experimentiert hatte, was schließlich nach einem kom-

plizierten Arbeitsprozess zur Entstehung des Klavierquintetts op. 34 führte. Dies merkt man

dem Streichquintett freilich nicht an. Nach einer zweimaligen Erprobung im privaten Kreis er-

folgte am 29. Dezember die öffentliche Uraufführung in Frankfurt am Main und im Jahr dar-

auf erschien das Werk bereits, nachdem der Verleger Simrock zuvor noch das Arrangement

für zwei Klaviere erhalten hatte. Somit verging kaum ein halbes Jahr zwischen erster Erwäh-

nung und der Drucklegung – zumindest gibt es keine Hinweise über einen längeren Entste-

hungsprozess, wenn man von der Arbeit des Klavierquintetts absieht, das zunächst ja auch

aus einem Streichquintett entwachsen ist.

Die Reaktionen auf die Quintette waren unterschiedlich, so etwa in Hamburg, wo man in op.

88 „ein namentlich in seinem ersten Satz besonders anziehendes Werk“ sah, während es die

Leipziger „weder durchweg abgestoßen, noch […] durchweg sympathisch berührt“ hat.171 In

der Neuen Zeitschrift für Musik hieß es gar, dass „trotz aller Formgewandheit [!]“ das Quin-

tett – gemeint ist hier op. 111 – „den Mangel an Originalität nicht ganz verbergen“ könne.

12.2 Kammermusik mit Klavier

a) Klaviertrio H-Dur op. 8

1854, mit 21 Jahren, fertigte Brahms das Klaviertrio in H-Dur an, das als sein op. 8 in sein

Werkverzeichnis aufgenommen wurde. 35 Jahre später, mit 56 Jahren, überarbeitete er es.

Somit stellt diese Kammermusikproduktion eine Besonderheit im Schaffen Brahms‘ dar, da es

zwei Fassungen gibt, von denen die Spätfassung im Allgemeinen im gängigen Konzertreper-

toire anzutreffen ist. Von den hohen Ansprüchen, die er selbst an seine Werke legte, war be-

reits die Rede. In einem Brief an Schumann äußerte er sich 1853:

170 Krummacher, a.a.O, S. 391

171 Signale für die musikalische Welt 41, 1883, 106

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„Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf

meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich

denselben einigermaßen gerecht werden kann. Vor allen Dingen veranlaßt es mich zur

größten Vorsicht bei der Wahl der herauszugebenden Sachen. Ich denke keines meiner

Trios herauszugeben […] Sie werden es natürlich finden, daß ich mit aller Kraft strebe,

Ihnen so wenig Schande als möglich zu machen“172

Die Konsequenz dieses Ansatzes war bei den meisten Kompositionen, die nicht seinen Kriteri-

en entsprachen, dass sie verbrannt wurden. Leider können wir somit nur sehr spärlich in den

Schaffensprozess und die genauere Genese blicken.

Anders verhält es sich nun bei vorliegendem Trio, das, bereits veröffentlicht, nicht mehr der

Vernichtung zum Opfer fallen konnte, obwohl Brahms schon kurz nach Erscheinen Skrupel

hatte. Er gestand seinem Freund Joachim, er hätte das Trio „gern noch behalten“, um später

daran noch zu arbeiten – was er ja dann, allerdings viel später, auch umsetzte.

Warum hat Brahms sich nun nach so vielen Jahren wieder mit dem Jugendwerk beschäftigt?

Hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen?

Zunächst einen Blick auf die Anlage des Werks, ohne in eine nähere Analyse einzugehen:

Thematisch geprägt ist der erste Satz der viersätzigen Komposition vom Kontrast eines kanta-

bel erscheinenden ersten Themas und eines ungleich heterogeneren Seitensatzes, der einige

Merkwürdigkeiten enthält, die wahrscheinlich Clara Schumann nach einem Hauskonzert am

22. November 1854 bei Joachim zu der Äußerung veranlasst hatten, dass sie dem Trio „nichts

wünschte als einen andern ersten Satz, denn ich kann mich mit diesem nicht befreunden“ 173.

Das Seitensatzthema mutet in seiner oktavierten Einstimmigkeit fast rezitativisch an, gefolgt

von einer historisierenden, an eine barocke Orgelfuge erinnernden Passage, die zu Engfüh-

rungen und kontrapunktischen Merkwürdigkeiten führt. In der Reprise wird nun vollends das

Thema zu einem Fugato ausgebaut, dass der Kontrast zum gesanglichen Hauptsatz ironisie-

rend wirkt.

Nach einem Scherzo folgt ein in kontemplativer Sphäre gehaltener Satz mit choralartigem Be-

ginn im Klavier, gefolgt von einem Bicinium der beiden Streicher. Der Mittelteil wird oft mit

Schubert in Verbindung gebracht („Am Meer“). Der wiederholte A-Teil erinnert dann wieder

an das Reprisen-Fugato im ersten Satz. Dies alles könnte eine historisierende Rückblende und

Verbeugung vor der musikalischen Herkunft sein.

Im Finale wird ebenfalls ein Zitat angenommen: Beethoven („Nimm sie hin denn, diese Lie-

der, die ich dir, Geliebte, sang“), der wiederum von Schumann in dessen C-Dur-Sinfonie zi-

tiert wird, was als Referenz an Clara gilt.

Inwieweit wurde das Werk nun 35 Jahre später verändert?

Nach einem mühevollen Prozess, dem einige intensive Proben und öffentliche Aufführungen

vorausgingen, konnte er es 1889 schließlich unter der alten Opus-Nummer seinem Verleger

zusenden, obgleich er es, wie er Clara mitteilt, „noch einmal geschrieben“ hat und man es

nun „op. 108 statt op. 8 nennen“ könnte.

172 zitiert nach Siegried Öechsle in Brahms Handbuch, a.a.O, S. 408

173 zitiert nach Sigfried Oechsle in: Sandberger, Brahms Handbuch, S. 409.

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Wichtige Änderungen betreffen die Sätze 1, 3 und 4. Im Kopfsatz wurde der Seitensatz kom-

plett neu komponiert. Ihm fehlen nun sämtliche Fugenandeutungen zugunsten eines canta-

blen, aus großen Gesten bestehenden Duktus. Im Adagio (3. Satz) wurden die A-Teile im Prin-

zip stehen gelassen, wobei der an Schubert erinnernde B-Teil neu konzipiert wurde und nur

noch in Andeutungen, sehr versteckt, eine melodische Reminiszenz an die alte Thematik zu-

lässt. Vielmehr bemüht sich dieser Abschnitt weniger um eine Kontrastbildung als vielmehr

eine Fortsetzung des kontemplativen Weges, der am Anfang eingeschlagen wird.

Ähnlich dem Kopfsatz wurde auch im Finalsatz der biografische Bezug im Seitensatz zu

Beethoven und damit auch zu Schumann, bzw. eventuell auch zu Clara eliminiert. Insgesamt

wurde der gesamte Satz formal „eingeebnet“, was bedeutet, dass eine komplizierte Rondo-

Sonatensatzform eine quasi homogenisierte, durchsichtigere und im Umfang gekürzte Aus-

prägung fand.

Gottfried Scholz führte die analysierten Änderungen auf folgende Prinzipien zurück, die der

Homogenisierung dienten: Vermeidung unterschiedlicher Tempi (Eliminierung drei unter-

schiedlicher Haupttempi im 1. Satz), Vermeidung abrupter Trennungen, in harmonischer Hin-

sicht Einsatz von Medianten anstatt weitläufiger Modulationen (3. + 4. Satz), eine Verwoben-

heit der Stimmen ineinander, wodurch eine dichtere Textur entsteht. Dadurch gewinnt das

Werk an innerer Konsistenz, an Geschlossenheit und Aussagekraft.174

b) Klavierquartette

Die Arbeit an der Gattung des Klavierquartetts geht ebenso auf die Frühzeit zurück wie die

anderer Kammermusikwerke. Leider bleibt auch hier diese frühe Kompositionsgeschichte

von Brahms im Dunkel. Erwähnung findet bereits 1859 eine private Aufführung in Hamburg,

wobei nicht klar ist, um welches Werk es sich handelt. Gesichert ist indes eine Übersendung

einzelner Sätze im Juli 1861 an Clara Schumann und eine Sichtung der Quartette in g-Moll

und A-Dur im Spätsommer 1861 durch Joachim. Die erste Aufführung des g-Moll-Quartetts

fand mit Clara Schumann am Klavier am 16. November 1861 in Hamburg statt, so dass nach

weiteren unermüdlichen Korrekturen („ich [habe] es am Sonnabend dem Publikum hier vor-

geführt und während der Proben fleißig daran korrigiert […], wodurch es freilich für den Ste-

cher nicht an Liebenswürdigkeit zugenommen haben wird.“)175 die Drucklegung 1863 erfolgen

konnte.

Die drei erhaltenen Klavierquartette bilden Beispiele dafür, dass Brahms, obgleich zeitlich

dicht im Schaffensprozess, doch jeweils zu unterschiedlichen Konzeptionen gelangt, die tra-

dierten Form- und Analyseschemata nur bedingt entsprechen, ohne sie aber eine Betrach-

tung wiederum als unmöglich erscheinen lassen. Dass die Freunde von Brahms, Joachim und

Clara, die in gewohnter Weise zu den ersten gehörten, die die Quartette zu Gesicht und auch

Gehör bekamen, ähnliche Schwierigkeiten hatten wie spätere Musikwissenschaftler, zeigen

Äußerungen über den ersten Satz.

So schrieb Joachim:

„Ganz wundervoll geraten sind die drei letzten Sätze des g moll-Quartetts […] Die

Erfindung des 1ten Satzes ist nicht so prägenant, wie ich’s von Dir gewohnt bin.“

174 Gottfried Scholz, Klaviertrio in H-Dur op. 8, in: Gruber: Die Kammermusik von Johannes Brahms, S. 139-148

175 Begleitbrief an den Verleger Simrock bei der Übersendung des A-Dur-Quartetts. Oechsle, S. 421

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„[…] Mir ist’s überhaupt als merkte man (immer die Durchführung ausgenom-

men) bei diesem Satz den Kitt mehr wie bei andern Deiner Kompositionen, und es

ist bei mir die Frage entstanden, ob Du nicht teilweise früheres Material Deiner

jetzigen Größe gemäß habest recken wollen!?“ 176

Und Clara in Bezug auf das schnelle Verlassen der Grundtonart in der Exposition:

„Der erste Teil dünkt mir zu wenig G moll, und zu viel D dur, ich finde, er verliert

durch den Mangel an G moll an Klarheit. […] Der ganze Satz könnte mir, glaube

ich, sehr lieb sein, wenn nur der erste Teil im Anfang ruhiger G moll verbliebe und

nicht etwas zu lang im Verhältnis zum 2. schiene“.177

Betrachtet man nun den Beginn dieses Satzes, erkennt man schwerlich eine klar den bekann-

ten Formprinzipien unterliegende Faktur. Vielmehr haften dem Beginn Züge eines „Mottos“

an, die „erst im Laufe der nachfolgenden Geschehnisse thematischen Funktionsrang erlan-

gen“.178 Was sich daraus entwickelt, galt Schönberg als Musterfall der sich „entwickelnden Va-

riation“. Die insgesamt vier Themen, die sich im weiteren Verlauf finden, stellen die Begriff-

lichkeit „Haupt-“ bzw. „Seitenthema“ in Frage. Wenn man dann noch innerhalb des Hauptsat-

zes Züge der bekannten Großform in quasi komprimierter Gestalt ausmacht, „kommt dies ei-

nem intarsienhaften Einschluss der Form in die Form gleich“. 179

c) Trio für Violine, Horn und Klavier Es-Dur op. 40

Über die Entstehungsgeschichte des Horntrios ist nur weniges bekannt. Das 1866 bei Simrock

in Bonn erschienene Werk geht zurück auf den Aufenthalt von Brahms in Bichtenthal bei Ba-

den-Baden im Frühjahr 1865. Die fehlenden Hinweise auf die weitere Entstehungsgeschichte

ist angesichts der wahrhaft ungewöhnlichen Besetzung erstaunlich und hat den Brahms-Bio-

grafen Max Kalbeck hinsichtlich des Kompositionsmotivs zu der Vermutung veranlasst,

Brahms habe im dritten Satz den Tod seiner Mutter beklagt, doch fehlen hierzu weitere Hin-

weise. Auch soll er laut Kalbeck im Finale auf das Volkslied Dort in der Weiden steht ein Haus

zurückgegriffen haben, wofür es aber ebensowenig Hinweise gibt.

Brahms hatte das Horntrio zunächst für das modernere und im Klang voluminösere Ventil-

horn eingerichtet, später jedoch die Stimme überprüft und sie so revidiert, dass sie auf dem

ventillosen, gedämpfter klingenden Waldhorn spielbar ist, was dann im originalen Titel Trio

für Pianoforte, Violine & Waldhorn seinen Niederschlag gefunden hat.

Formal gibt es bei diesem Werk folgende Eigentümlichkeit:

Entsprechen die Sätze zwei bis vier als Scherzo, Liedform und Sonatenform mit Rondocharak-

ter weitgehend der Norm, so steht der Erste hinsichtlich seiner formalen Anlage im gesamten

Brahmsschen Kammermusikwerk für sich: er ist der einzige Kopfsatz, der sich nicht in der So-

natenform entfaltet. Es handelt sich bei ihm vielmehr um eine Reihungsform, die zwischen

zwei auch in der Taktart unterschiedenen thematischen Bereichen alterniert. Kennzeichnend

ist die graduelle Verjüngung, d. h. die Verkürzung der Formteile, die erst in der Coda wieder

aufgefangen wird.180

176 Briefe von Joachim an Brahms vom 2. bzw. 15. Oktober 1861, in: Briefwechsel V, S. 303 bzw. 306

http://archive.org/stream/johannesbrahmsi01joacgoog#page/n314/mode/2up

177 Brief von Clara an Brahms vom 29. Juli 1861, in: Schumann-Brahms-Briefe I, S. 370

178 Siegfried Oechsle in: Gruber: Brahms Handbuch, S. 421 Zur Genese des Werkes s. vor allem auch Quel-

lenanhang, der die Auseinandersetzung vor allem im Freundeskreis eindrücklich dokumentiert.

179 Siegfried Oechsle, in: Gruber: Brahms Handbuch, S. 421

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13 Überblick der Kammermusikkompositionen181

13.1 Kammermusik ohne Klavier

1. Streichsextett B-Dur op. 18Vollendet Sommer 1860. Druck Dezember 1861. - Arrangement für Klavier zu vier Händen sowie Arran-

gement des II. Satzes für Klavier zu zwei Händen vom Komponisten.

I Allegro ma non troppo, 3/4

II Andante ma moderato d-Moll, 2/4

III Scherzo: Allegro molto / Animato F-Dur, 3/4

IV Rondo: Poco Allegretto e grazioso, 2/4

2. Streichsextett G-Dur op. 36Komponiert September 1864 (I. bis III. Satz) und Mai 1865 (IV. Satz). Druck April 1866. - Arrangement

für Klavier zu vier Händen vom Komponisten.

I Allegro non troppo, 3/4

II Scherzo: Allegro non troppo / Presto giocoso g-Moll/G-Dur, 2/4 und 3/4

III Adagio e-Moll - E-Dur, 4/4

IV Poco Allegro, 9/8

1. Streichquartett c-Moll op. 51/1Vollendet Sommer 1873 in Tutzing. Theodor Billroth gewidmet- Druck November 1873. - Arrangement

für Klavier zu vier Händen vom Komponisten.

I Allegro, 3/2 und 2/2

II Romanze: Poco Adagio As-Dur, 3/4

III Allegretto molto moderato e comodo / Un poco piü animato, f-Moll / F-Dur, 4/8 und 3/4

IV Allegro, 2/2

2. Streichquartett a-Moll op. 51/2Vollendet Sommer 1873 in Tutzing. Theodor Billroth gewidmet. Druck November 1873. - Arrangement

für Klavier zu vier Händen vom Komponisten.

I Allegro non troppo, 2/2

II Andante moderato A-Dur, 4/4

III Quasi Minuetto, moderato / Allegretto vivace, a-Moll / A-Dur, 3/4 und 2/4

IV Finale: Allegro non assai - Più vivace, 3/4

180 Schmidt: Brahms, S. 153f.

181 Nach Schmidt, S. 122-148

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3. Streichquartett B-Dur op. 67Komponiert 1875 in Zicgelhausen bei Heidelberg. Theodor Wilhelm Engelmann gewidmet. Druck No-

vember 1876. - Arrangement für Klavier zu vier Händen vom Komponisten.

I Vivace, 6/8 und 2/4

II Andante F-Dur, 4/4

III Agitato (Allegretto non troppo) d-Moll/a-Moll - D-Dur, 3/4

IV Poco Allegretto con Variazioni - Doppio Movimento, 2/4 und 6/8

1. Streichquintett F-Dur op. 88Komponiert Mai 1882 in Ischl. Druck November 1882. - Arrangement für Klavier zu vier Händen vom

Komponisten.

I Allegro non troppo ma con brio, 4/4

II Grave ed appassionato / Allegretto vivace / Presto cis-Moll / A-Dur, 3/4, 6/8 und 2/2

III Allegro energico - Presto, 3/2 und 9/8

2. Streichquintett G-Dur op. 111Komponiert Frühjahr und Sommer 1890. Druck Februar 1891. - Arrangement für Klavier zu vier Händen

vom Komponisten.

I Allegro non troppo, ma con brio, 9/8

II Adagio d-Moll, 2/4

III Un poco Allegretto g-Moll/G-Dur, 3/4

IV Vivace ma non troppo presto, 2/4

Quintett für Klarinette (oder Bratsche), 2 Violinen, Bratsche und Violoncello h-Moll op. 115Komponiert Sommer 1891 in Ischl. Druck März 1892.

I Allegro, 6/8

II Adagio H-Dur, 3/4 und 4/4

III Andantino / Presto non assai, ma con sentimento, 4/4 und 2/4

IV Con moto, 2/4 und 6/8

13.2 Kammermusik mit Klavier

Klavierquintett f-Moll op. 34(Fassung für zwei Klaviere: op. 34bis)

Komponiert 1862 und 1864. Prinzessin Anna von Hessen gewidmet. Druck Dezember 1865.

I Allegro ma non troppo, 4/4

II Andante, un poco Adagio As-Dur, ¾

III Scherzo: Allegro c-Moll/C-Dur, 6/8 und 2/4

IV Finale: Poco sostenuto – Allegro non troppo – Presto non troppo, 2/2, 2/4 und 6/8

1. Klavierquartett g-Moll op. 25Nach Kompositionsanfängen wohl schon 1855 vollendet Herbst 1861. Reinhard von Dalwigk gewidmet.

Druck Spätsommer 1863. Arrangement für Klavier zu vier Händen vom Komponisten.

I Allegro, 4/4

II Intermezzo: Allegro ma non troppo / Animato, c-Moll/As-Dur, 9/8

III Andante con moto - Animato Es-Dur, 3/4

IV Rondo alla Zingarese: Presto / Meno Presto - Poco più Presto - Molto Presto, 2/4

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2. Klavierquartett A-Dur op. 26Nach Kompositionsanfängen wohl schon 1855 vollendet Herbst 1861. Dr. Elisabeth Rösing gewidmet.

Druck Juni 1863. Arrangement für Klavier zu vier Händen vom Komponisten.

I Allegro non troppo, 3/4

II Poco Adagio E-Dur, 4/4

III Scherzo: Poco Allegro A-Dur/d-Moll, 3/4

IV Finale: Allegro, 2/2

3. Klavierquartett c-Moll op. 60Nach früheren Kompositionsanfängen am 1. (1855) und II. Satz vollendet Winter 1873/74. Druck No-

vember 1875.

I Allegro non troppo, 3/4

II Scherzo: Allegro, 6/8

III Andante E-Dur, 4/4

IV Finale: Allegro comodo, 2/2

1. Klaviertrio H-Dur op. 81. Fassung vollendet 1854, 2. Fassung Sommer 1889. Druck November 1854 bzw. Februar 1891.

I Allegro con brio [1. Fassung: Allegro con moto], 2/2

II Scherzo: Allegro molto / Meno Allegro [1. Fassung: Più lento], h-Moll/H-Dur, 3/4

III Adagio [1. Fassung: Adagio non troppo], 4/4

IV Finale: Allegro [1. Fassung: Allegro molto agitato], 3/4

2. Klaviertrio C-Dur op. 87Komponiert 1880(1. Satz) bis Juni 1882. Druck Dezember 1882.

I Allegro, 3/4

II Andante con moto a-Moll, 2/4 und 6/8

III Scherzo: Presto / Poco meno presto, c-Moll/C-Dur, 6/8

IV Finale: Allegro giocoso, 4/4

3. Klaviertrio c-Moll op. 101Komponiert Sommer 1886 in Thun. Druck April 1887.

I Allegro energico, 3/4

II Presto non assai c-Moll/f-Moll, 2/2 und 4/4

III Andante grazioso C-Dur, 3/4 (2/4), 9/8 (6/8) und 9/8

IV Allegro molto c-Moll/ C-Dur, 6/8

1. Violinsonate G-Dur op. 78Komponiert Sommer 1878 und 1879. Druck November 1879.

I Vivace ma non troppo, 6/4

II Adagio / più andante, Es-Dur, 2/4

III Allegro molto moderato - Più moderato, g-Moll/G-Dur,

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2. Violinsonate A-Dur op. 100Komponiert Sommer 1886. Druck April 1887.

I Allegro amabile, 3/4

II Andante tranquillo / Vivace, F-Dur, 2/4 und 3/4

III Allegretto grazioso (quasi Andante), 2/2

3. Violinsonate d-Moll op. 108Komponiert Sommer 1886. Hans von Bülow gewidmet. Druck April 1889.

I Allegro, 2/2

II Adagio D Dur, 3/8

III Un poco presto e con sentiment, fis-Moll, 2/4

IV Presto agitato, 6/8

1. Violoncellosonate e-Moll op. 38Komponiert 1862 (I. und II. Satz) und 1865 (III. Satz). Josef Gänsbacher gewidmet. Druck Juni 1866.

I Allegro non troppo, 4/4

II Allegretto quasi Menuetto a-Moll/fis-Moll, 3/4

III Allegro, 4/4

2. Violoncellosonate F-Dur op. 99Komponiert Sommer 1886. Druck April 1887.

I Allegro vivace, 3/4

II Adagio affettuoso Fis-Dur, 2/4

III Allegro passionato f-Moll/F-Dur, 6/8

IV Allegro molto, 2/2

Trio für Violine, Horn (oder Violoncello bzw. Bratsche) und Klavier Es-Dur op. 40Komponiert Mai 1865 in Baden-Baden. Druck November 1866.

1 Andante / Poco piü animato, 2/4 und 9/8

II Scherzo: Allegro / Molto meno Allegro, Es-Dur/as-Moll, 3/4

III Adagio mesto es-Moll, 6/8

IV Finale: Allegro con brio, 6/8

Trio für Klarinette (oder Bratsche), Violoncello und Klavier a-Moll op. 114Komponiert Sommer 1891 in Ischl. Druck März 1892.

I Allegro, 2/2

II Adagio D-Dur, 4/4

III Andantino grazioso A-Dur/D-Dur, 3/4

IV Allegro, 2/4 (6/8), 6/8 und 9/8

1. Sonate für Klarinette (oder Bratsche bzw. Violine) und Klavier f-Moll op. 120/1Komponiert Sommer 1894. Druck Juni 1895.

I Allegro appassionato, 3/4

II Andante un poco Adagio As-Dur, 2/4

III Allegretto grazioso As-Dur/f-Moll, 3/4

IV Vivace F-Dur, 2/2

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2. Sonate für Klarinette (oder Bratsche bzw. Violine) und Klavier Es-Dur op. 120/2Komponiert Sommer 1894. Druck Juni 1895.

I Allegro amabile, 4/4

II Allegro appassionato / Sostenuto, es-Moll/H-Dur, 3/4

III Andante con moto - Allegro - Più tranquillo, 6/8 und 2/4

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14 Quellenteil:

14.1 Entwicklung der Tasteninstrumente

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14.2 Zur Entstehungsgeschichte des Streichquartetts182

Joseph Haydn als "Inventor", als Schöpfer des Streichquartetts und damit als Begründer der Gattung zu bezeich-

nen, ist dann gerechtfertigt, wenn man die Faktur des Satzes als wesentlich geprägt von einer alle Stimmen er-

greifenden motivisch-thematischen Arbeit, mithin also den musikalischen Gehalt zum Gegenstand der Betrach-

tung macht, darüber hinaus aber nicht übersieht, dass eine lange Entwicklung zum Streichquartett als Klangap-

parat geführt hat. Diese Unterscheidung vorausgesetzt wird jene Musiziersituation auf Schloss Weinzierl, als

Karl Joseph, Edler von Fürnberg, drei weitere Instrumentalisten zu kammermusikalischem Musizieren einlud

und Haydn für diese Besetzung komponieren sollte, wohl zur Ursprungssituation für das Streichquartett als mu-

sikalischer Gattung, selbst wenn jene "Quadri" Haydns mit ihrem Divertimentocharakter im eigentlichen Sinn

diese Etikettierung noch nicht verdienen; für die Geschichte des Streichquartetts als Klangapparat bleibt diese

Begebenheit dagegen zufällig.

Die Entwicklung des Streichquartetts als Geschichte der inhaltlichen Ausformung seiner Sätze und ihres Zusam-

menschlusses zu architektonischer Einheit umfasst näher die Zeit zwischen 1755 oder 1750 bis 1781, also von

Haydns Quadri und Cassationes op. 1 bis zu seiner Werkreihe op. 33, den "gantz neuen a quadro für 2 Violin,

Alto, Violoncello concertante". Die Quartette begründen mit ihrem hohen ästhetischen Anspruch die Klassizität

der Gattung, von ihnen wird die Gattungstheorie abgeleitet, sie werden zum Modell für die Streichquartett-

Komposition bis ins 20. Jahrhundert.

Kann man die Oper in ihrem Ursprung als aristokratische Gattung bezeichnen, so gilt für das Streichquartett,

dass seine ersten Werke vom musizierenden Adel in Auftrag gegeben oder wenigstens angeregt und zunächst

auch aufgeführt wurden, Quartettpflege ehemals also eine Sache der Wiener höfischen Gesellschaft, der adeli-

gen Salons war. Bald setzte jedoch eine doppelte Entwicklung ein. Einerseits wird der künstlerische und spiel-

technische Anspruch der Quartette so hoch, dass die Ausführung den professionellen Musiker verlangt und die

Rezeption den Kenner voraussetzt; andererseits wird das bürgerliche Musikzimmer zur Pflegestätte einer Quar-

tettkultur, die sich von den großen Werken Haydns herleitet, ohne deren Niveau allerdings erreichen zu können.

Diese "Popularisierung des Streichquartetts"[1] hatte die Produktion einer Flut von Quartetten im einfachen Stil

zur Folge, deren Komponisten neben dem Haydnschüler Ignaz J. Pleyel (1757 - 1831) die in Wien wirkenden

böhmisch-mährischen Musiker Paul Wranitzky (1756 - 1808), J. B. Vanhal (1739 -1813) und L. A. Kotzeluch (1747

- 1818) waren. Dem Bürger und seinem Musizierbedürfnis ist mit solchen eher anspruchslosen Stücken ebenso

Rechnung getragen worden, wie er durch Aufführungen reisender Quartettensembles von Berufsmusikern, die

sich nun bald etablierten, mit dem hohen Stil dieser Gattung vertraut gemacht worden ist.

Die historische Bedeutung Haydns als Begründer der Gattung schmälert auch nicht die Tatsache, dass Boccher-

ini fast zur gleichen Zeit, 1761 in Paris, mit seinen "Six - Quatours, op. I, dédiées aux veritables Dilettantes et

'Connaisseurs en musique" einen anderen Typus des Streichquartetts ausprägte, das konzertante Quartett; das

zwar im Quatour brillant des frühen 19. Jahrhunderts eine Fortsetzung gefunden hat, für die Entwicklung des

klassischen Quartetts aber ohne Bedeutung blieb.

Wie stellt sich die Vorgeschichte des Streichquartetts als eines solistischen Klangensembles dar? Welche klangli-

chen Voraussetzungen waren Bedingungen für die Gattung, welche Entwicklungstendenzen zeichnen sich ab?

Der Zusammenschluss der Streichinstrumente zu einer klanglich einheitlichen Gruppe bedeutete einen ersten

Schritt. Schon Monteverdi hat den „Streicherchor“ zum Klangfundament seines Qrfeo-Orchesters gemacht. In

dem bunt besetzten Klangkörper finden sich neben zwei ‘violini piccoli.al1a francese' vor allem zehn 'viole da

braccio‘, eine Bezeichnung, die nach dem damaligen Verständnis wohl ein fünfstimmiges Streichorchester

meint.

Die frühen deutschen Suitenkomponisten bis 1630, Melchior Frank, Paul Peuerl, Johann Hermann Schein und

Samuel Scheidt, die in der Regel mit einer Ad-libitum-Besetzung aus Bläsern und Streichern rechneten ( „ auf

182 Gekürzter Abdruck des Artikels von Heinz Kölbel in: VDS-Handreichungen zum Musikunterricht. Heft 10,

1987

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allerley Instrumenten zu spielen“ als Ausführungsvorschlag ist bezeichnend dafür ), weisen auf den Vorzug einer

reinen Streicherbesetzung gelegentlich hin: 'sonderlich auf Violinen‘, oder ‘auf allen musikalischen Saitenspielen

zu gebrauchen' schreibt Peuerl vor. Diese letzte Formulierung lässt in Zusammenhang mit der Entwicklung der

Violinmusik in Italien (L. Marenzio, M.A. Ingegneri, Cl. Monteverdi, A. Corelli) sowie angesichts des hohen Stan-

des der deutschen Violinkunst die Deutung zu, dass wohl Violinchöre gemeint waren, also eine chorische Beset-

zung mit Streichinstrumenten aus einer Familie.

Für das Jahr 1626 ist am französischen Hof Ludwig XIII. neben der Hofkapelle ein Streichorchester bekannt, die

"vingt-quatre violons du Roy", ein fünfstimmig besetzter Klangkörper mit 6 Violinen, mit drei Gruppen von je-

weils 4 Bratschen und mit 6 Violoncelli. Ein zeitgenössisches Urteil über dieses Orchester (1636):

"Und diejenigen, die die '24 Violons du Roi‘ gehört haben, beschwören, dass sie niemals etwas bezau-

bernderes und mächtigeres gehört haben; das dieses Instrument das geeignetste ist, zum Tanz anzufeu-

ern, wie man es in den Balletten versucht hat, und auch für alle anderen Gelegenheiten."[2]

Über die chorische Verfestigung des Streicherklanges hinaus ist im Zuge der Entwicklung der Monodie eine Ten-

denz zum instrumentalen Solo und zur solistischen Besetzung mehrstimmiger Stücke festzustellen, auf die spä-

ter einzugehen ist.

Eine Wurzel des Streichquartetts als Klangapparat reicht zurück in die Renaissance, als nach Vorbereitung in der

Notre – Dame - Schule die vokale Vierstimmigkeit in chorischer und solistischer Besetzung als klangliches und

satztechnisches Ideal sich durchsetzte und Regel wurde. Im instrumentalen Bereich wurde dieser ‘vollkomme-

ne‘ Satz vom Gamben-, Blockflöten- und Krummhörnerquartett übernommen. Der Fortschritt im Geigenbau

und die Ausbildung der Violintechnik zur Virtuosität hin waren ursächlich, dass das Gambenquartett allmählich

abgelöst wurde vom Violenquartett.

In der Reihe des vierstimmigen Instrumentalsatzes stehen die italienischen Konzertsinfonien a quattro G.B.

Sammartinis (1700 - 1775) und seine Concerti grossi mit Streichquartett als Concertino, sowie die Sonata a

quattro G. Tartinis (1692 - 1770). Die Concerti a quattro bei G. Torelli (1658 - 1709) stehen neben seinen Concer-

tinos a quattro, die eine Weiterführung finden im Quatuor concertante Boccherinis. Die Quartettsinfonien der

Mannheimer Franz Xaver Richter (1709 - 1789) und Johann Stamitz (1717 -1757) wie die Symphonia a quattro

des Österreichers Georg Mathias Monn (1717- 1750) und des Münchner Hofmusikers Placidus von Camerloher

(1718 - 1782) bilden ein weiteres Glied in dieser Reihe, in der die Quartett Divertimenti Joseph Starzers (1728 -

1787) direkt zu Haydns Quadri und Cassationes führen. Mit diesen Werkbezeichnungen ist die Frage nach chori-

scher oder solistischer Besetzung noch nicht geklärt. Auch ist Kammermusik, musica da camera nicht ein Termi-

nus im heutigen Verständnis für einfache Besetzung, sondern meint alle Musik, die nicht für Kirche (da chiesa)

oder Theater bestimmt war. Diese musica da camera hat aber mit der späteren Kammermusik jedenfalls ge-

meinsam, dass sie ohne Rücksicht auf großräumige Kirchen und Theater, ohne den Zwang einem Handlungsab-

lauf folgen zu müssen, sich auf die Ausformung des Satzes nach rein musikimmanenter Gesetzmäßigkeit kon-

zentrieren konnte, ein Umstand, der letztlich Voraussetzung war für jenen hohen ästhetischen Anspruch des

klassischen Streichquartetts.

Ob im Rahmen einer A-quattro-Besetzung solistisch oder chorisch musiziert wurde, mag auch von äußeren Um-

ständen abhängig gewesen sein. So haben sich die Concertinisten eines Concerto grosso Sammartinis sicher ad

hoc zu solistischem Streichquartettspiel zusammengefunden, so konnte eine Suite wohl in beiden Besetzungsar-

ten gespielt werden. Allerdings lässt auch die Struktur eines Werkes auf die Intention eines Komponisten schlie-

ßen; Selbständigkeit in der Führung der Stimmen, ob sie konzertierend oder kontrapunktisch geprägt sind, legt

eher eine Musizierweise in Einzelbesetzung nahe. Auch das Vorhandensein oder das Fehlen des Basso continuo

lässt entsprechende Rückschlüsse zu.

Solistische Ensembles verzichten früher auf die klangliche Stütze, während die Orchesterbesetzung bedeutend

länger am Continuo festhält, wofür als Beweis gelten kann, dass Haydn noch bei der Aufführung seiner Sinfoni-

en in London das Continuo spielte. Stimmbehandlung, Besetzung und Basso continuo stehen also in einer en-

gen Beziehung zueinander.

Für die Zeit nach 1700 können zwei Bedingungen für den Klangapparat Streichquartett als erfüllt angesehen

werden, die Herausbildung einer klanglich homogenen Gruppe von vier Streichern aus einer Familie und die so-

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listische Besetzung. Damit ist näher einzugehen auf die Abstoßung des Continuo "als letzter Schranke gegen die

'moderne Welt'[3] auf das generalbasslose Musizieren als weitere Tendenz auf dem Weg zum Streichquartett.

Verweist die Bezeichnung 'col violoncello e basso continuo‘ noch eindeutig auf die alte Praxis und lässt 'e basso'

eine exakte Bestimmung nicht zu, so zeichnet sich eine Entwicklung zum Rückzug des Generalbasses ab an der

Beischrift 'col basso continuo ossia violoncello' mit 'e Violoncello concertante' ist das Ziel erreicht. Das Fehlen ei-

ner Bezifferung sagt dagegen ebenso wenig über die Funktion der Bassstimme etwas aus, wie bezifferte Ausga-

ben Von frühen Haydn-Quartetten mehr der Tradition folgen als die Absicht des Komponisten wiedergeben.Ist

das frühe Quadro bei E. F. Dall'Abaco (1675-1742) und bei G. Ph. Telemann (1681-1767) durchaus ein noch ge-

neralbassgebundener Satz im Stil der alten Kirchensonate, so kündigt sich in den späteren Werken des nord-

deutschen Meisters ein Verzicht auf das klangfüllende Cembalo an.

Ein Grund, den Basso continuo fallen zu lassen, ist sicher in dem Bestreben zu sehen, den Klangreichtum einer

virtuos gespielten Violine voll zur Geltung kommen zu lassen. G. Tartini (1692-1770) schreibt Sonaten ‘per vi-

olino e basso continuo o violino solo "ad libitum".[4]

Zur Sonate XVII gibt er die Anweisung für den Satz Furlana:

Nell' esecuzione per violino sologuesto movimento deve essere sostituito dal Menuet posto in_Appendice (bei

der Ausführung mit Solovioline ist der Satz zu ersetzen von dem Menuett im Anhang)

Zum Menuett: Minuet invece della Furlana.

Bei Tartini, der die Geigentechnik bemerkenswert erweiterte und sich als Violinvirtuose vom Instrument inspi-

rieren ließ, legt der Klang seiner im Verhältnis zur übrigen Kammermusik wenigen Quartette die Annahme eines

homogenen Streichquartettsatzes ohne Generalbassbegleitung nahe.[5]

Ebenso schreibt G. B. Sammartini (1691-1775) Quatuors ohne Continuo; T. Giordani (1740-181?) verwendet den

Werktitel Quartetti per due violini, viola e violoncello. Der Mannheimer Chr. Cannabich (1731-1898) verlangt in

seinen Quartetten op. l noch die Continuobegleitung, zeigt in seinen Six quatuors pour deux violons. Alto et Vio-

loncelle… schon eine große Vertrautheit mit dem Streichquartettklang und verzichtet daher auf die füllende

Funktion des Continuo.

Für die Wiener Komponisten ist festzuhalten: Die Quartette und Quartettfugen G. M. Monns, im strengen Stil

geschrieben, waren für die Aufführung in der Wiener Hofkapelle bestimmt, wurden im Hinblick auf die Raum-

verhältnisse wohl chorisch besetzt gespielt und sind mit einer Continuostimme versehen. Die Quartette Georg

Albrechtsbergers (1736-1809), obwohl stilistisch ähnlich, aber ohne diese funktionale Bindung, verzichten auf

den Basso continuo. Die Quartett-Divertimenti J. Starzers, unmittelbare Vorgänger der Quadros von Haydn, ken-

nen ebenso wenig eine Continuobegleitung wie die Quartette Emanuel Aloys Försters (1748-1823), der als

Freund Beethovens und hochgeschätzter "alter Meister" (Beethoven) dessen frühes Quartettschaffen beein-

flusst hat.

Parallel zur Entwicklung einer continuolosen Musizierpraxis geht die Tendenz, die Klangeigentümlichkeit und

Selbständigkeit der Instrumente im Zuge der Verfeinerung ihrer Spieltechnik herauszustellen. Damit treten zum

rein klanglichen Aspekt verstärkt satztechnische Fragen. Im monodischen Streichquartett des 18. Jahrhunderts,

einem Typus, der vor allem von den Italienern gepflegt wurde, ist die erste Violine nicht nur Quartettoberstim-

me, sondern auch die führende Stimme, eine Funktion, die allerdings auch zuweilen anderen Instrumenten des

Ensembles übertragen wurde. Zunehmend prägt die Primgeige in Läufen, Umspielungen und Verzierungen rei-

nen konzertanten Charakter aus, eine Stimmbehandlung die besonders für das solistisch besetzte Concertino a

quattro Sammartinis typisch ist, später für Boccherinis Quartetto concertante.

Das spätere Quatuor brillant funktionierten in Verkehrung der Gattungsidee seine Komponisten, die selbst

Violinvirtuosen waren, wie A. Romberg (1767-1821) und P. Rode (1774-1830), zum Violinkonzert um, mit dem

Primgeiger als Solisten, während die übrigen Spieler zu Ripienisten wurden. Auch L. Spohr (1784-1859), der in

Beethovens F-Dur Quartett op. 18 das Ideal der Gattung verwirklicht sah, komponierte seine ersten Quartette

der Mode und dem Hang zur Virtuosität gemäß in diesem Stil. Seine Äußerung, er sei beim Streichquartettspiel

mehr oder weniger gut begleitet worden, weist in die Richtung des Quatuor brillant.

Die historischen Wurzeln für die Besetzung des Streichquartetts mit zwei Violinen mögen in der Triosonate gele-

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gen haben. Dort bildeten beide Violinen ein Paar gleichberechtigter Stimmen. Nachdem die große Zeit der Trio-

sonate bereits vorbei war, schreibt Johann Joachim Quantz 1752:

"Ein Trio muss so beschaffen sein, dass man kaum erraten kann, welche von beiden Stimmen die erste ist.“[6]

Bei J. F. Fasch (1688-1758) - J.S. Bach hat zwei Sätze seiner Triosonate c-moll auf die Orgel übertragen[7] - hat

dieses Stimmenpaar oft dialogisierenden Charakter.

Auch in den Quartetten von Tartini bis zu den Mannheimern ist dieses Verhältnis des Stimmenpaares gegeben,

die zweite Violine wird aber der ersten untergeordnet in Terzen und Sexten zu ihr parallel geführt.

Der Verzicht auf den Basso continuo hatte nicht nur die Verdünnung des Klanges zur Folge, auch die Harmonie

füllende Stütze wurde damit abgestoßen. Die Notwendigkeit einer beide Funktionen übernehmenden zweiten

Mittelstimme war gegeben, die Übernahme der Viola in das Ensemble die Konsequenz. Im Orchester diente die

Viola zunächst der Verstärkung des Basses, lediglich in langsamen Sätzen hatte sie die Funktion einer harmoni-

schen Füllstimme. Um im Quartett die Lücke zu schließen, die durch den Wegfall des Continuo entstanden war,

bedurfte es der generellen Lösung der Viola vom Bass, vor allem in den Streichquartetten des Violinisten G.C.

Cambini (l746-1815) wird die Bratsche aufgewertet und ihr solistische Funktion zugewiesen, während die übri-

gen Stimmen die Begleitung übernehmen.

Am Violoncello vollzieht sich geradezu die Geschichte des Streichquartetts, an seiner Aufwertung vom bloßen

Continuoinstrument zum klanglich gleichberechtigten Partner. Allerdings bleibt im monodischen Quartett die

Basslinie noch wenig entfaltet, weitgehend leblos und blass. Carlo Guiseppe Toeschi (1731-1788), Violinist im

Orchester und später Nachfolger von J. Stamitz in der zweiten Mannheimer Komponistengeneration, bezieht in

seinen Quartetten den Gesamtklang des Cellos bis in die Tenorlage mit ein.

Im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit dem Streichquartett hat Haydn Gleichberechtigung und Ausgewogen-

heit der vier beteiligten Stimmen erreicht als Vorbedingung für eine organische Verarbeitung des thematischen

Stoffes. Damit ist der musikalische Gehalt des Streichquartetts angesprochen.

Vor Haydn stehen an Stilen nebeneinander: der strenge kontrapunktische Stil mit gleichberechtigt geführten

Stimmen, der monodische Stil mit einer figurativen und sequenzierenden Oberstimmenmelodik, der galante Stil

mit einer Melodieführung, die geprägt ist von gefälliger Kantabilität, leichtfasslicher Symmetriebildung und va-

riativer Ornamentik.

Im strengen Stil geschrieben sind die Quartettfugen Monns. Auf Initiative des alten Albrechtsberger, des Kontra-

punktlehrers Beethovens und Komponisten von ebenfalls sechs Quartettfugen, wurden die “Six Quartuors pour

deux Violons, Alto et Violoncelle“ Monns nach seinem Tod als 'Oeuvre posthume' veröffentlicht. In einer zeitge-

nössischen Rezension heißt es dazu:

"Die Erscheinung dieser Quartetten gehört unter die musikalischen Seltenheiten unserer Zeit, da sie

sind durchgehends in der gebundenen Schreibart abgefasst, deren sonst bekanntlich anjetzt so sehr

vernachlässigt wird."

Haydn greift diese stilistische Tradition auf in seinen Quartetten op. 17 und op. 20 aus dem Jahre 1772, die eine

deutliche Tendenz zur selbständigen Stimmführung bis zu ausgeprägter Fugentechnik zeigen. Die homophone

Schreibweise, die zu einer Vorherrschaft der Violine im Ensemble führte - daher rührt der Terminus Violinquar-

tett - zeigen die Quartette italienischer Provenienz. Dieser Satzart begegnet man in den mittleren Sätzen von

Haydns Quartetten, z. B. im Adagio von op. 33.3. Der galante Stil mit seinem zuweilen tändelnden Charakter fin-

det sich bei Haydn selbst nicht, wohl aber in der großen Zahl von Quartettschöpfungen der konventionellen

Wiener Gesellschaftsmusik. Haben die frühen Quartette Haydns durchaus noch einen leicht wiegenden Diverti-

mento- oder Cassationscharakter, sind sie geprägt von einem trotz aller Tendenz zu Stilisierung eher volkstümli-

chen Ton so zeigt sich bald das Bestreben, diesen Tonfall abzustreifen in der Erkenntnis, dass diese Art dem An-

spruch der Gattung nicht gerecht wird. Aber auch den kontrapunktischen Stil musste Haydn als widersprüchlich

empfunden haben. Die große kompositorische Leistung Haydns in den Quartetten op. 33 liegt in der Vermitt-

lung zwischen homophonem und polyphonem Stil, in der Synthese beider Satzarten im Rahmen motivisch-the-

matischer Arbeit.

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2. Zu Beethovens Streichquartetten op. 18

Dass Beethoven relativ spät sich der Komposition von Streichquartetten zugewendet hat, mag begründet sein in

dem Wissen um die Empfindlichkeit gerade dieser Gattung. Bedeutende Werke für Klavier waren bereits ge-

schrieben wie die Sonaten op. 10, die Pathetique op. 13, aber auch für Streicher wie die drei Trios op. 9.

1793 schreibt H. C. Koch in seinem „Versuch einer Anleitung zu Composition“ über das Streichquartett: es sei

"eine der aller schwersten Arten der Tonstücke... , woran sich nur der vorgebildete und durch viele Ausarbeitun-

gen erfahrene Tonsetzer wagen darf ." [8]

Schon 1745 schreibt J. A. Scheibe in seinem 'Critischen Musikus' über das Quadro:

"Ueberhaupt gehöret viel gründliche Arbeit, eine große Erfahrung und Behutsamkeit zu diesen Stücken,

... Und gewiß, wir werden wenige Componisten antreffen die in dergleichen Arbeiten glücklich sind." [9]

1752 bemerkt J. J. Quantz in seinem 'Versuch die Flöte traversiere zu spielen':

"Ein Quatuor, ... ist eigentlich der Probierstein eines ächten Contrapunctisten; aber auch eine Gelegen-

heit, wobey mancher, der in seiner Wissenschaft nicht recht gegründet ist, zu Falle kommen kann." [10]

Die Äußerung C.F. Pohls mag wohl zunächst das Quartett des 19. Jahrhunderts betreffen, ist aber in der wesent-

lichen Aussage auch auf die Gattung als solche zu beziehen:

“Das Quartett wurde von jeher als die keuscheste, edelste Musikgattung betrachtet, … Durch ihre klare,

mit keinem Kunstgriffen zu umgehende Durchsichtigkeit ist die Quartettmusik der sicherste Prüfstein

gediegener Komposition, denn in ihr, die des sinnlichen Reizes der Klangwirkung und der Kontraste ent-

behrt, zeigt sich die musikalische Erfindungsgabe und die Kunst einen musikalischen Gedanken zu ver-

werten.“ [11]

Bezeichnend mag auch sein, dass die erste Anregung zur Komposition eines Streichquartettes im Jahr 1795 von

Seiten des Grafen Apponyi im Hause des Fürsten Lichnowsky, des Freundes und Mäzens Beethovens, das

Streichtrio in Es op. 3 und das Streichquintett in Es op. 4 als Resultate hatte. Beide Werke gehen allerdings auf

Konzepte Beethovens aus der Bonner Zeit zurück; das Quintett ist eine Bearbeitung des Oktetts für Blasinstru-

mente (op. 103). Über diese Anregung berichtet E.G. Wegeler in den ‚Biographischen Notizen über Ludwig van

Beethoven’ (1838):

"Hier trug Graf Apponyi Beethoven auf gegen ein Honorar ein Quartett zu komponieren, deren er bis-

her noch keines geliefert hatten. Auf meine wiederholte Erinnerung an diesen Auftrag machte sich

Beethoven ans Werk, allein beim ersten Versuch entstand ein großes Violintrio op.3, beim zweiten ein

Violinquintett op. 4."

Weniger dieser konkrete Auftrag dürfte auslösendes Moment für Beethovens Quartettschaffen gewesen sein,

bestimmender waren die Eindrücke, die Quartettaufführungen von Werken Haydns und Mozarts jeden Freitag-

morgen im Lichnowskischen Haus vermittelten. Der damals sechzehn Jahre alte Ignaz Schuppanzigh (1776-

1830) spielte in diesem Quartett, das später viele Werke von Beethoven uraufführte, die erste Geige.

Wesentliche Anregungen für seine Quartettkompositionen erhielt Beethoven von seinem Freund Emanuel Aloys

Förster (1748-1823), den er, nachdem Albrechtsberger sich zurückgezogen hatte, für den größten Lehrer des

Kontrapunktes und der musikalischen Komposition in Wien hielt und dessen “Anleitung zum Generalbaß" auf

Beethovens Rat hin im Druck erschien.

Die Arbeiten Beethovens an den ersten Streichquartetten fallen in die Jahre 1798 bis 1800, in eine Zeit, in der er

sich von der Komposition gemischt besetzter Kammermusikwerke und von Werken in Bläserbesetzung abwand-

te. Das Septett op. 20 (wohl 1798/99) bildet diesbezüglich einen Abschluss. Vorausgegangen waren das Quintett

op. 16 für Klavier und vier Blasinstrumente in Es, das Sextett für Blasinstrumente op. 71, das Sextett für Strei-

cher und Blasinstrumente in Es op. 8lb aus den Jahren 1796 bis 1797, sowie das Trio op. 11 für Klavier, Klarinet-

te und Cello (1798/99). Die Beschäftigung mit Kammermusikwerken für Streicher allein, die für Beethovens Ge-

samtschaffen von entscheidender Bedeutung wurde, begann mit dem Trio op. 3 und führte über das erwähnte

Quintett op. 4, die Serenade für Streichtrio op. 8 und die hochbedeutsamen drei Streichtrios op. 9 (in G, D, c) zu

den Quartetten op. 18.[...] Zeitlich ist es möglich, dass Beethoven nicht nur die Quartette Haydns op. 71 und 74

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(1793 erschienen), sondern auch die Werkgruppe op. 76 von 1797, die einen absoluten Höhepunkt der Gattung

darstellen, vor Beginn seiner Arbeit an op. 18 kennengelernt hat. Zuweilen wird auf die Ähnlichkeit der Haupt-

themen von op. 18.3 und Haydns op. 76.4 hingewiesen. […] Hatte Mozart für seine Haydn-Quartette den älte-

ren Meister zum Vorbild, so scheint am Beginn des Quartettschaffens Beethovens der Einfluss beider, Haydns

und Mozarts, zu stehen.

[...]

3. Zur Bedeutung der Gattung in der Kompositionsgeschichte

Weniger die sinfonische Musik und damit die 'Große Form', die sich eher traditionsgebunden gibt, scheint prä-

destiniert gewesen zu sein, kompositorisch innovativ zu wirken; diese Funktion kommt im hohen Maße der

Kammermusik zu und in deren Bereich dem Streichquartett. Offenbar gehört es zum Wesen dieser ranghöchs-

ten Gattung der Kammermusik, die sich nicht an die große Öffentlichkeit wie die Sinfonie, wendet sondern an

den Kenner, satztechnische Entwicklungen anzubahnen, wegweisend zu sein in der Ausprägung der Form, dem

Experiment und damit vielfältiger Wandlung gegenüber offen zu sein. Bilden Haydns‘ op. 76 und op. 77 die

Quintessenz seines Quartettschaffens, so ist op. 33 aus dem Jahr 1781 gattungs- und kompositionsgeschichtlich

die bedeutendere Werkreihe. In dem Brief Haydns an den Fürsten zu Öttingen und Wallerstein ist zu lesen: "sie

sind auf eine gantz neue Besondre art... geschrieben".

Merkmale dieser Quartette sind schon in früheren Werken Haydns zu entdecken. Fehlte in den ersten Sinfonien

Haydns noch eine organische Durcharbeitung der Motive, so ist in den Pariser Sinfonien dieses Verfahren be-

reits ansatzweise vorgebildet. Auch die Viersätzigkeit weisen die von kontrapunktischem Stil bestimmten Quar-

tette op. 20 (1772) bereits auf. Offenbar empfand gerade diesen gebundenen, Stil Haydn als für das Quartett

unbefriedigend; eine zehnjährigen Pause in der Quartettkomposition war die Folge. In den "gantz neue(n) qua-

dro" wird eine organische Vermittlung zwischen dem strengen Stil und freier musikalischer Gestaltung erreicht,

motivisch-thematische Arbeit, deren Meister Haydn nun ist, wird zum Kompositiossprinzip ebenso wie das obli-

gate Akkompagnement; Ausgewogenheit in der gesamtformalen Anlage geht über bloße Viersätzigkeit hinaus.

Handschin sagt: “Hier hatte er selbst das Gefühl, etwas erreicht zuhaben, was ihm schon lange vorgeschwebt

hatte.“[12]

Mit op. 33 wurde damit nicht nur das klassische Streichquartett geschaffen, das kompositorische Ergebnis wur-

de für jegliche am Sonatenprinzip orientierte Musik, für Kammermusik ebenso wie für sinfonische Musik, maß-

geblich. Steht bei Beethoven jedes Werk im Spannungsverhältnis von Musterhaftigkeit und Einmaligkeit, so gilt

das in besonderem Maße für seine letzten Quartette, die Höhepunkt der Kammermusik schlechthin sind.

Am Quartett op. 132 in a-Moll können einige Momente des Spätstils Beethovens aufgezeigt, Tendenzen ver-

deutlicht werden, an denen sich eine Auflösung des Erreichten abzeichnet.

Eine weitgehende Modifikation des Themabegriffes ist als erstes festzustellen. Das in sich geschlossene, symme-

trische Thema als Inbegriff klassischer Themenbildung, weicht im l. Satz einer viertönigen 'Formel', einer Ton-

konfiguration, aus der ein Netz von Beziehungen über die einzelnen Satzabschnitte hin abgeleitet wird. Der

funktionale Zusammenhang zwischen den großformalen Teilen, Exposition, Durchführung und Reprise ist aufge-

hoben, die Teleologie der Form ist in Frage gestellt. ‘ Das Quartett ist fünfsätzig konzipiert, alle Sätze sollen ohne

Unterbrechung ineinander übergehend gespielt werden (vgl. dazu das Quartett op. l3l mit seinen sieben inein-

ander übergehenden Sätzen).

Ein Merkmal des Spätstils ist in der Ausbildung des unmittelbaren Kontrastes zu sehen. Der langsame Satz,

‘Danksagung eines Genesenden an die Gottheit', ist ein Variationssatz mit einem solchen Kontrast im Mittelteil,

„neue Kraft füh1end“. Eine derartige Kontrastbildung findet ihre Begründung in der Formidee des Sonatensat-

zes. Der lydische Choral verleiht dem Satz einen archaisierenden Charakter. Der Schlußsatz zeigt eine weitere

Verschränkung zweier Formideen, der der Sonate und der des Rondos zum Sonatenrondo.

Der letzte Satz des B-Dur Quartetts op. 130 dagegen ist nach R. Stephan eine Rondosonate. Sie "fügt einer

Form, deren Teile organisch entwickelt erscheinen, unorganisch wirkende Abschnitte ein und verselbständigt zu-

sätzlich noch einzelne Satzglieder, als ob sie Teile eines alten Rondos wären.“[13]

Charakteristisch für die letzten Quartette, im a-moll Quartett allerdings weniger ausgeprägt, ist die polyphone

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Arbeit, die Fugentechnik. In ihrem Bestreben, die tradierte Form der Sonate frei zu behandeln, treten die letz-

ten Quartette in eine Beziehung zu den letzten Klaviersonaten als einer Vorstufe dieser stilistischen Entwick-

lung. Beide Gattungen, Sonate und Quartett, stehen damit der Sinfonie gegenüber, in der Beethoven die Formi-

dee derartigen Modifikationen nicht unterwirft. Diese Tendenzen zur Auflösung klassischer Formkategorien wei-

sen voraus auf die Entwicklung bei Mahler. J. Handschin unterscheidet einen doppelten Formbegriff die archi-

tektonische Form, die auf dem Prinzip der Symmetrie der Perioden und auf einer tonartlich fest umrissenen Dis-

position beruht, und eine logische Form, die resultiert aus einer engen motivischen Verknüpfung der Formteile.

Bei der Entwicklung der Sonatenform von der Klassik bis ins 20. Jahrhundert hinein zeichnet sich eine Tendenz

zu einer immer individuelleren Differenzierung der Innenstruktur ab, die sich manifestiert in einer zunehmen-

den Abkehr von symmetrischen Bildungen im Periodenbau, von der Form als 'Rhythmus im Großen' [14]. Die

Harmonik zeigt eine Kompliziertheit und eine Individualisierung, die es ihr nicht mehr möglich machen, die

Form gliedernde Funktion noch restlos erfüllen zu können. Das bedeutet, dass die architektonische Form sekun-

däre Kategorie wird gegenüber der logischen Form. In dieser Entwicklung spielt die Kammermusik von J.

Brahms eine wichtige Rolle.

In seinem Aufsatz 'Brahms, der Fortschrittliche[15]' führt Schönberg den Beginn des Streichquartetts c-moll op.

51,1 als Beispiel einer für die "Ohren der Zeit" gewagten Harmonisierung eines Hauptthemas an. Am Andante

aus dem Streichquartett a-moll op.51,2 verdeutlicht er eine für Brahms wesentliche Kategorie, das Prinzip der

entwickelnden Variation, ein Verfahren, bei dem ein einfaches Motiv durch Ableitung zum Keim für weitere Mo-

tivgestalten und melodische Phrasen wird. Paradigma für die entwickelnde Variation ist das Klavierquartett g-

moll op. 25, das Schönberg instrumentiert hat. Diese Kompositionsweise wird maßgeblich für die Neue Musik

[….]

[1] Finscher, Ludwig: Studien zur Geschichte des Streichquartetts. Kassel 1974

[2] Mersennes, Harmonie universelle, in: W.Kolneder, Das Buch der Violine. 1984. S. 287

[3] Sandberger, A.: Zur Geschichte des Haydnschen Streichquartetts, in: Ausgewählte Aufsätze zur Musikgeschichte. 1921;

Nachdruck Olms 1973.S. 240

[4] Le Opere di G. Tartini, Vol.XX. Carisch S.p.Ä. Milano

[5] Vgl. die praktische Ausgabe in Partitur und Stimmen von Tartinis Quartett D-Dur (Sonata ‘a quattro) im Verlag F.E.C.

Leuckart, München.

[6] J. Quantz, Versuch einer Anleitung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin 1752; Kassel 1953, S. 303

[7]Neue Bachausgabe IV. 8, Kassel 1979

[8] Koch, H.Chr.: Versuch einer Anleitung zur Composition. 1782; Nachdruck Hildesheim 1969; S. 326 Bd. III

[9] Scheibe, J.A.: Critischer Musikus. Leipzig 1740; Nachdruck Hildesheim 1970; S. 679

[10] Quantz, J.J.: Versuch einer Anleitung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin 1792; Kassel 1953; S. 302

[11] Pohl, C.F.: Joseph Haydn, 1878, 1927. Bd. I S. 328

[12] Handschin, J: Musikgeschichte. Wilhelmshaven 1981. S. 336

[13] Stephan, R.: Zu Beethovens letzten Quartetten, in: Die Musikforschung 1970/XXIII. S. 250

[14] Hanslick

[15] Ursprünglich ein Vortrag anlässlich des hundertsten Geburtstags von Brahms. In Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke.

Frankfurt/Main 1976. S. 35

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14.3 Historische, ästhetische und analytische Betrachtungen zum Streichquartett183

Wohl selten sind Form und Inhalt einer musikgeschichtlichen Gattung so entscheidend aus der persönlichen

und geistigen Freundschaft zweier Genies geprägt worden, wie das Streichquartett in seinen wechselnden Aus-

prägungen bei Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart. Obgleich grundverschieden an Charakter und ver-

schiedenen Generationen angehörend, spricht aus ihren schriftlichen Bekenntnissen Hochschätzung und tiefe

Verehrung, die alle Formelhaftigkeit der damaligen österreichischen Maria-Theresianischen Epoche abstreift

und aus tiefempfundener und ehrlicher Aufrichtigkeit entspringt. Was sich hier im Spannungsfeld zweier schöp-

ferischer Geister zu einer Größe entwickelte, die bis heute von nichts an Klangästhetik, Architektur, Satzkunst

oder tonsprachlicher Qualität übertroffen wurde, das geschah nicht im spektakulären Blickfeld der Wiener 'Au-

gartenkonzerte' oder brillianter Matinées, sondern es war ein echtes und uneigennütziges, ganz persönliches

Geben und Nehmen zweier Großer, die ihren Kunstverstand scharf und kritisch am Werk des andern maßen.

Dabei gingen sie kaum die Gefahr ein, dem Sog des andern völlig zu erliegen. Wenngleich manche Quartettsätze

in Haydns op.33 und Mozarts 'Haydn-Quartettern' oberflächlich betrachtet gemeinsame Züge aufweisen, so

wuchs durch die außerordentliche stilistische Sicherheit des einzelnen das Kraftfeld der Grundlage stets zu neu-

en Dimensionen aus. Am Ende dieser sich jeweils am anderen schöpferisch entzündenden Phantasie stand das

motivisch und thematisch vollkommen durchgearbeitete Streichquartett, ein neues Ideal, erstanden aus nieder-

ländisch-barocken Erbe der Polyphonie und dem betörenden Belcanto italienischer Geigerschulen; dieser sinn-

betörende Schmelz, den sie beide, Haydn wie Mozart, persönlich erlebt und erfahren hatten, wurde nun allen

vier Stimmen zugeteilt; keine sollte leer ausgehen. Und so haben sie, und mit ihnen selbst der "ungeigerische"

Beethoven, das Höchste ihrer Kunstfertigkeit, ihrer Inspiration in Stretchquartetten niedergelegt wie in einem

gemeinsamen Bekenntnis: dass eben dies die Krönung aller Kammermusik bedeute, die 'obligate' Stimmführung

mit dem Ziel, zyklische Musik von umfassend innerer Logik zu schaffen, gegründet auf motivisch-thematischer

Durchdringung der einzelnen Sätze.

In seinen "Studien zur Geschichte des Streichquartetts" geht Ludwig Finscher den historisch weit zurückliegen-

den Quellen noch, aus denen abwechselnd Haydn und Mozart geschöpft haben. Nur in groben Linien seien hier

einige Ergebnisse mitgeteilt.

Er verweist auf den Topos vom vierstimmigen Satz als einem 'Gespräch' unter vier Personen oder Charakteren,

auf den sich die einzigartige Stellung des Streichquartetts gründe, einer alten ehrwürdigen Tradition entspre-

chend. Beide Vorstellungen, die des 'Gesprächs' und die der unterschiedlichen 'Charaktere' seien sehr alt und

schon früh miteinander verschmolzen.

1528 schon lobt Castiglione in seinen 'Libro Cortegiano' eben die 4-stimmige Streichermusik als 'dolce' und

kunstvoll, besonders für die intime Hausmusik geeignet.

1565 vergleicht Thomas de Sancta Maria in seiner musiktheoretischen Abhandlung 'Arte de tanner fantasia' die

4-stimmige Instrumentalphantasie mit vier vernünftigen Männern. Zarlino charakterisiert in seinem Buch 'Insti-

tutioni harmoniche' (1558) die vier Stimmen eines Satzes mit den vier Elementen. Er hatte eine Grundforderung

seiner Zeit, die 'imitazione della natura' in sein duales Dreiklangsprinzip einbezogen, und so die Natürlichkeit

der Intervallproportionen als tragendes System der Dur-Moll Akkorde in Einklang gebracht. Damit wurde er zu

einem beredten Fürsprecher selbständiger und natürlich anmutender Instrumentalmusik innerhalb der 'Vene-

zianischen Schule', die ganz in der Vorstellung vokaler Vorherrschaft atmete.

Der Engländer Thomas Campion berichtete in seinen 1613 in London veröffentlichten Traktat: "A New Way of

Making Foure Parts in Counter Points": "The Base expresseth the true nature of the earth ... The Tenor is likened

to the water, the Meane (Alt) to the Aire, and the Treble (Sopran) to the Fire ..." Die Vorstellung von der Ausge-

wogenheit des vierstimmigen Vokalsatzes - Grundlage jeder Kontrapunktlehre - wurde auch zum Maßstab vier-

stimmiger Instrumentalkompositionen.

Dass auch Mozart bei seinen Quartettkompositionen von dieser Vorstellung einer äquivalenten Vierstimmigkeit

ausging, das offenbaren aufschlussreich die Kompositionsstudien seines Schülers Thomas Attwoods (1785-

183 Gekürzter Abdruck des Artikels von Albrecht Scheytt, in: VDS-Handreichungen zum Musikunterricht. Heft 1,

1981.

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1787). Im strengen Satz, bis hin zur vierstimmigen Fuge, sind sie in alten Schlüsseln notiert - sicher auf Verlan-

gen des Meisters. In freien Satz dagegen in der Schlüsselung (G,G,C,F).

Mozarts eigene Orchesterskizzen sind weitgehend nur durch Melodie- und Bassstimme festgehalten, während

seine Quartettentwürfe stets auf vier getrennten Systemen notiert sind. Die Wortbezeichnung 'voix, vox, voice,

voce' in der europäischen Musikliteratur mag zu dieser Vorstellung einer humanisierten oder sprechenden In-

strumentalstimme beigetragen haben. So stellt J.A. Scheibe, der besonders für die dänische Musikkultur von

Bedeutung wurde, in seiner Abhandlung vom 'Critischen Musicus' fest, ein Instrumentalkompositeur müsse sich

"allemal den Charakter einer Person oder eine Situation, eine Leidenschaft" vorstellen, "bis er eine in diesen

Unständen sich befindende Person glaubt reden zu hören."

Bei Haydn selbst finden wir diese Vorstellung sich unterhaltender Personen z. B. in seinen beiden liebenswürdi-

gen Werken 'Il Maestro e lo solare' für Klavier zu vier Händen ('Maestro' im Bass) und im Divertimento 'Mann

und Weib' (1764).

Beiden Meistern, Haydn und Mozart, scheint die obligate Fünfstimmigkeit in der Vorstellung eines sinnvollen

Gesprächs ungeeignet gewesen zu sein, obgleich die Musikergenerationen vor Bach in der vokalen Fünfstimmig-

keit den abgerundeten, ausgewogenen Klang sahen und auch Bach - selbst bis in die Instrumentalbesetzung sei-

ner vorleipziger Zeit hinein - der obligaten Fünfstimmigkeit häufig den Vorzug vor dem vierstimmigen Satz gab.

Von Ferdinand Ries ist eine Anekdote über Haydn überliefert, in der mitgeteilt wird, dass er einen Auftrag zur

Quintettkomposition nicht habe ausführen können, weil er 'die 5. Stimme nicht finden könne.' Aus seinem Ver-

suche sei am Ende ein Quartett geworden. Er habe mit vier Stimmen immer genug gehabt.

Wer die Mozartschen Streichquartette schon einmal selbst mitmusiziert hat, wird auch hier die Feststellung ma-

chen, dass eben die Hauptgesprächsteilnehmer die Violine, die Viola und das Violoncello sind und die zweiten

Instrumente (2. Violine und 2. Viola) nicht ebenbürtig am Gespräch der fünf teilhaben dürfen.

Vor wenigen Jahren wurde in der Abituraufgabe Baden-Württembergs im Fach Musik im Zusammenhang mit

Schuberts Streichquartett in a-moll die Vorstellung Goethes zitiert, die er nach einem Konzertbesuch Paganinis

als ein Gespräch unter vernünftigen Leuten wiedergab. Vermutlich griff Goethe hier ein Bild seines Musikfreun-

des J.Fr. Reichhardt auf, der in seiner Vorrede zu "Vermischte Musikalien" schreibt (Riga 1773): "Bei dem Quar-

tett habe ich die Idee eines Gesprächs unter vier Personen gehabt."

Wie damals, bei der Aufgabe zum Schubert'schen a-moll-Quartett die Aufforderung an den Schüler ging, eben

diese 'vernünftige Unterhaltung', diese obligate Stimmführung anhand einiger Stellen aufzuzeigen, ebenso legi-

tim wird dies bei Mozart und Haydn sein.

Ein späterer Hinweis soll ferner verdeutlichen, wie eben um diese Gleichstellung der Quartettpartner von der

frühen Klassik an von Werk zu Werk gerungen wird.

Haydns op.33, Mozarts op. X und Beethovens op.18 haben eine stilistisch-technische Plattform von solcher All-

gemeingültigkeit erreicht, dass sie von nachkommenden Genies europäischer Tonsprache stets als höchstes Ide-

al 'obligater Schreibweise' betrachtet wurden.

Der wohl profundeste Mozartkenner und Musikwissenschaftler Alfred Einstein äußert sich über dessen 'Haydn-

Quartette' (op. X): "Mozart hat sich selbst gefunden, es gibt kaum persönlichere Werke von ihm als diese sechs

Quartette ... sie sind und bleiben das Hauptwerk Mozarts auf diesen Felde." Ferner schreibt er: "Die Bekannt-

schaft mit diesen Quartetten Haydns (op. 33) war einer der tiefsten Eindrücke in Mozarts künstlerischen

Leben." Einstein bezeichnet Haydns op. 33 (Nr. 1-6), die für Mozart künstlerische Richtschnur waren, als "eine

Großtat menschlicher Erfindung - ganz abgesehen von ihrer historischen Bedeutung."

Unter dem Eindruck dieser Haydn-Quartette (op. 33) verfasste Mozart seine berühmt gewordene, den Rahmen

diplomatisch-höflicher Widmungen sprengende Vorrede an sein geniales Vorbild Haydn. Was Haydn und Mozart

mit ihrem Beispiel setzenden Quartett-'Gesprächen' schufen, wirkte weit über ihre Zeit hinaus.

So unterscheidet Robert Schumann in seiner Neuen Musik Zeitung (1836) die Quartettbesetzung von der größe-

ren Quintettbesetzung: "Hat man im Quartett vier einzelne Menschen gehört, so glaubt man jetzt eine Ver-

sammlung vor sich zu haben."

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Wenige Jahre nach ihrem Erscheinen urteilt Heinrich Christian Koch in seinem 'Versuch einer Anleitung zur

Composition' (Leipzig 1793) über Mozarts Quartette op. X: "Weil aber die modernen Quartetten in der galanten

Schreibart gesetzt werden, so muss man sich an vier Hauptstimmen begnügen, die wechselweise herrschend

sind ... Auch dersel. Mozart hat in Wien sechs Quartetten für zwey Violinen, Viole und Violoncello unter einer

Zuschrift an Haydn stechen lassen, die ... wegen ihrer eigentümlichen Vermischung des gebundenen und freyen

Stils, und wegen der Behandlung der Harmonie einzig in ihrer Art sind."

Auch auf Carl Maria von Weber verfehlten die Haydnschen und Mozartschen Quartette ihre Wirkung nicht, und

er berichtet darüber in der in Leipzig erscheinenden 'Allgemeinen musikalischen Zeitung' (1818): "Die Genie-

ßenden dieser gediegenen Kost sind schon durchaus Nahrhaftes und Gewürztes gewöhnt, ja verwöhnt vielleicht

durch die Größe und Höhe, auf welche diese Musikart durch Mozart und Haydn gestellt worden ist ... . Das rein

Vierstimmige ist das Nackende in der Tonkunst."

So rückte zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Streichquartett als Kompositionsgattung immer weiter ab vom ga-

lanten Divertimento einer Abendmusik oder vom Quatuor brillante des Konzertsaales.

Außerdeutsche Komponisten wie Pleyel in Paris, Haydns persönlicher Schüler, oder Boccherini in Madrid und

Italien versuchten den von Mozart und Haydn gesetzten Maßstäben gerecht zu werden.Es bildeten sich um die

Jahrhundertwende die ersten Interpretations-Quartette, die mit einstudierten Programmen auf Reisen gingen.

Hand in Hand damit entstanden, aus dem Wunsche von meist wohlhabenden Kennern entsprungen, erste Stu-

dienpartituren.

So ließ sich Friedrich August III von Sachsen bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen Mozarts Quartette op. X auf

zwei Klaviere setzen und in Partitur bringen; und Beethoven spartierte sich Haydns Quartett op.20, Nr.1 und das

Finale des Mozartschen G-Dur Quartetts, KV 387.

Pleyel veröffentlichte in den Jahren 1798-1804 die Quartette seines Lehrers Haydn in seinen Musikverlag (Paris)

in einer 10-bändigen 8vo Ausgabe. Er wurde somit zum Erfinder der Taschenpartitur und zum Multiplikator des

Streichquartetts als Kunstwerk im strengen Wortsinn. Soweit L. Finschers Studienmaterial.

Wenden wir uns nun unmittelbar Mozarts Quartettschaffen unter dem Einfluss Haydns zu.

In Frühjahr 1773 kehrten Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart aus Wien zurück. Enttäuscht in zweifacher

Hinsicht: einmal keine Anstellung des 17 jährigen Sohnes als Florentiner Kapellmeister und zum andern kein

Opernauftrag für die Mailänder Karnevalspielzeit wie im Vorjahr; dies ließ den Vater nach neuen Möglichkeiten

finanzieller Sicherheit umschauen. Die sah Leopold am Wiener Hofe. Deshalb reisten beide im Juli 1773 wieder

dort hin; doch im Vergleich zu Italien zeigte sich die kaiserliche Residenzstadt noch kühler und gesellschaftlich

verkrusteter; eine Aussicht auf Anstellung verschloss sich. Die Audienz bei Kaiserin Maria-Theresia war eine bit-

tere Enttäuschung. L. Mozart schreibt dazu in einen Brief an seine Frau: „Die Kayserin war zwar sehr gnädig mit

uns, allein dieses ist auch alles und ich muß es dir zu mündlich erzehlen auf unsere Rückkunft ersparen ..." .

Doch fand in diesen zwei Monaten eine der nachhaltigsten Begegnungen des jungen Mozart mit der neuen,

richtungsweisenden Kunst des 41-jährigen Haydn statt; er fand hier einen Sinn für geschliffenes 'Handwerk' sub-

tilster Art, das Ausgewogenheit zwischen Form und Inhalt zeigte, das den Zeitgeschmack neu verarbeitete auf

dem Hintergrund 'größter Kompositionswissenschaft', einer ererbten und erarbeiteten Beherrschung der Satz-

künste in Haydns 12 Streichquartetten op.17 und 20. Er fand den heiter tändelnden Divertimentostil überwun-

den, eine stets viersätzige Anlage mit einem festen Platz für das Menuett und schließlich waren barock-kontra-

punktische Satzkünste nahezu nahtlos eingeschmolzen. Bald im Miteinander, bald im Nebeneinander war hier

der Ausgleich zwischen frühklassischer Homophonie und der als zopfig angesehenen spätbarocken Polyphonie

gefunden. Unter diesem überwältigenden Eindruck - Alfred Einstein beschreibt ihn so: " er wirft Mozart völlig

aus der Bahn, so wie ihn etwa zehn Jahre später die Begegnung mit J.S. Bach aus der Bahn wirft" - schreibt Mo-

zart seine sogenannten 'Wiener Quartette' KV 168-173 mit den Tonarten F, A, C, Es, B und d. Sie sind die Ant-

wort auf Haydns 'Sonnenquartette' op.20, die zwischen den Extremen einer gesteigerten Expressivität einer-

seits, und einer motivischen, harmonischen und kontrapunktischen Konzentration der Stimmbehandlung and-

rerseits, eingespannt sind.

Drei der Schlusssätze von Haydns op.20 sind durchgefeilte Fugen. Seine langsamen Sätze atmen Serenadencha-

rakter, bestimmt durch die dominierende erste Violine. Motivisch-thematische Arbeit kennzeichnet die Durch-

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führungen. Genau dies finden wir bei Mozarts 'Wiener Quartetten" wieder. Quartettspielern sei das erste der

Reihe (KV 168) in Erinnerung gerufen. In F-Dur-Eröffnungssatz zeigt Mozart im Durchführungsteil, was er bei

Haydn gelernt hat: Die vier Stimmen durchwandert in strengen Imitationen Motivmaterial des Eröffnungsthe-

mas: im langsamen Satz nimmt er Haydns Fugenthema aus op.20 Nr.5 umgeformt auf und eröffnet den f-moll-

Satz in kanonischer Form. Auch der Final-Satz ist seinen Vorbild entsprechend als Fuge gehalten: streng, schwer-

fällig unpersönlich-barock, selbst die Engführung einbeziehend, wird Mozart seinem erfahrenen und bewunder-

ten Vorbild noch nicht gerecht.

Ähnliches begegnet uns in Finalsatz des letzten der 'Wiener Quartette' in d-moll, KV 173: Auch dort verwendet

Mozart nochmals die 'gelehrte' Fugenform, durch absteigende Chromatik dem Bereich des Galanten noch fer-

ner gerückt. Allerdings horcht man immer wieder auf, wenn eingestreute homophone Wendungen eine freiere

Handhabung der Form anklingen lassen.

Geldknappheit und Enttäuschung zwangen die beiden Mozarts nach dem wenig geliebten Salzburg und dem da-

mit verbundenen 'Musikfrondienst' bei Fürstbischof Coloredo zurückzukehren.

Das fruchtbare Geben und Nehmen, das sich zwischen Haydn und Mozart in solch uneigennütziger Lauterkeit

vollzogen hatte, kam zu einen vorübergehenden Ende. Erst acht Jahre später nahm Haydn den Künstlerdialog im

Jahre 1781 wieder auf durch die Veröffentlichung seiner sechs Quartette op.33. Sie erschienen, wie drei Jahre

später Mozarts Quartette, beim Verlag Artaria in Wien und waren, auf Vermittlung des Verlags hin, dem Groß-

fürsten Paul, dem späteren russischen Zaren, gewidmet; deshalb erhielten sie bei ihrem Erscheinen im Jahr

1782 die Bezeichnung 'Russische Quartette'. In seinem Begleitschreiben zeigt Haydn seine Quartette an als von

einer 'ganz neuen, besonderen' Art. Dies wollte besagen, dass er nach langer, 10-jähriger Pause ('denn ich habe

seit 10 Jahren keine geschrieben') in seinem Quartettstil zu neuen Ergebnissen gekommen war. Es war die naht-

lose Verschmelzung gelehrten und galanten Stils, polyphoner und homophoner Satztechnik.

Klare Eigenschaften hatten sich herauskristallisiert: Zyklische Abfolge der Sätze; alle Stimmen wurden ständig

mit obligatem Eigenleben erfüllt. Die Eröffnungssätze waren mehrthemige Sonatensätze, deren Durchführun-

gen durch thematische und kontrapunktische Arbeit bereichert und verfeinert wurden; die langsamen Sätze

hatten überwiegend die Anlage der dreiteiligen Liedform; die Finalsätze waren der Form nach Rondi, Variations-

sätze oder Sonatensätze mit Fugenabschnitten.

Mozarts künstlerische Auseinandersetzung mit den 'Russischen Quartetten' Haydns findet ihren Niederschlag in

einer Reihe von sechs Quartetten, die Mozart, nun seit 1781 in Wien ansässig, zwischen Dezember 1782 und Ja-

nuar l785 schrieb.

Diese sechs sogenannten 'Haydn-Quartette' - wegen ihrer ausführlichen Widmung an Haydn so benannt - ließ

Mozart In der 'Wiener Zeitung' im September 1785 wie folgt ankündigen:

"In der Kunsthandlung Artaria zu haben: Von Herrn Kapellmeister W.A. Mozart 6 ganz neue Quartetten für 2

Violinen, Viola und Violoncell, Opus X, gestochen, pr. 6 fl. 30 Kr. Mozarts Werke bedürfen keines Lobes, einiges

auszuführen würde also gänzlich überflüssig sein; nur kann man sich dessen um so mehr versichern, da der Ver-

fasser dieses Werk seinem Freund, Joseph Haydn, fürstl. Esterhaz. Kapelln. zueignete, der es mit allen Beyfalle

beehrte, dessen nur ein Mann von großen Genie würdig ist ..."

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14.4 Musikleben im 19. Jahrhundert - Überall Musik – und oft nichts weiter

Dass Musik aus verschiedenen Jahrhunderten unterschiedlich klingt, dass sie sich also im

Laufe der Geschichte gewandelt hat, ist eine Erfahrung, die wir unmittelbar beim Hören ma-

chen, und demzufolge eine Tatsache, die uns selbstverständlich ist.

Ist es für uns genauso selbstverständlich, dass sich auch das Musikleben, die Art des Um-

gangs mit Musik, die Funktion von Musik im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, dass sich

die Anlässe zum Musikmachen und -hören, die Institutionen, welche Musik veranstalten, die

Kreise der Ausübenden, die Kreise der Hörer geändert haben, dass die Räume gewechselt ha-

ben, in denen Musik gemacht worden ist?

Wandlungen des Musiklebens sich ins Bewusstsein zu heben ist deshalb notwendig, weil wir

historische Musik im Konzert heute, im Rundfunk oder von der Schallplatte immer losgelöst

von den Lebenszusammenhängen hören, in denen sie einst ihren Platz gehabt hat.

Text 1: Adolph Bernhard Marx, Die Musik des 19.]ahrhunderts und ihre Pflege, Leipzig

1855, S. 130-132.

Alles (...), was von Alt und Neu geschaffen und nachgebildet worden, ergiesst sich gleich ei-

nem hundertquelligen und hundertarmigen Strom in das Leben des Volks. Neben Musikfest

und Singakademien stellen sich zur Aufnahme und Beförderung bereit alle Arten kleinerer

Singvereine für Übung und Unterhaltung (in Berlin ist sogar auf der Stadtvogtei für die ju-

gendlichen Strafgefangenen von 18 bis 22 jahren Gesangsübung eingerichtet), namentlich

jene zahllosen Männerchöre und Männerquarterte, die beiläufig unsern Tenorstimmen so

verderblich werden. Den freiwilligen Vereinen sind die Gesangklassen auf allen Schulen, die

Universitäts-Institute, die besoldeten Kirchen- und Theaterchöre zuzurechnen. Neben die

Aufführungen im Kunstsaale drängen sich Gartenkonzerte, Harmonievereine nebst den ver-

einzelten Musikmachern, die Symphonien, Ouverturen, Tänze, Märsche, eingerichtete

Opernsätze (. . .) bunt durcheinander mischen. (. . .)

Dazu nun die Hausmusik. Kaum darf man noch fragen: wer ist musikalisch? sondern: wer ist

es nicht? ln den sogenannten höhern oder gebildeteren Kreisen galt Musik längst als uner-

lässlicher Theil der Bildung; jede Familie fordert ihn, wo möglich für alle Angehörigen, ohne

sonderliche Rücksicht auf Talent und Lust; in gar vielen beschränkt sich, wenigstens für die

weibliche jugend, die ganze freiere Bildung, sogar die gesellige Unterhaltung nur auf Musik,

neben der etwa noch ein Paar neuere Sprachen und eine höchst ängstlich und prüde gesich-

tete und beschränkte Lektüre Raum findet (, . .).

Was im Kreise der günstiger gestellten ,,Gesellschaft" so begonnen, dem eifert, schon vom

Beispiel von Unkunde, von falschem Ehrgeiz bezwungen, unerschrocken und unberechnend

die Menge nach; bis in die Kreise des Kleinhandels und Gewerks hinein wird der endlos drän-

genden Arbeitsnoth Zeit, dem knappen Erwerbe Geld abgelistet und abgerungen, um we-

nigstens für die Töchter Klavier, Noten, Lehrer, Musikbildung zu erbeuten, vor allem in der

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Hoffnung, damit zu den ,,Gebildeten“ zu zählen. Was allerwärts erübt und erlernt ist, ergießt

sich in Überfülle über den häuslichen Kreis, will sich in der Gesellschaft, in der Halböffentlich-

keit der Singvereine geltend machen, nährt sich (wie Orchideen, die ihre Wurzeln in der Luft

haben) an all‘ den Konzerten und Opern, ohne die jetzt das kleinste Mädchen nicht zu ath-

men, kein Gastwirt zu bestehen vermeint. Es ist ein Kreislauf ohne Anfang und Ende: man

lernt Musik, weil überall Musik gemacht wird, und man macht überall Musik, weil man es

überall gelernt hat — und oft nichts weiter.

Text 2: Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Neues Handbuch der Musikwissen-

schaft, Bd. 6. Wiesbaden 1980, S. 19.

Die Gewohnheit, die Romantik als Gegensatz zur Klassik aufzufassen und begrifflich zu kon-

struieren, verdeckt nicht selten die grundlegende Bedeutung (...) des Sachverhalts, daß das

19. Jh. die Epoche war, in der sich das Bewußtsein einer musikalischen Klassik überhaupt erst

herausbildete und in der eine Auswahl von Werken der Vergangenheit sich in Oper und Kon-

zert als ,,Repertoire" behauptete und etablierte. Das fundamental Neue in der Musikkultur

des 19. Jh. war die übermächtige Präsenz älterer Musik, eine Präsenz, die im 20. Jh., wie es

scheint, unwiderruflich geworden ist.

Text 3: Carl Dahlhaus, Soziale Gehalte und Funktionen von Musik, in: Funkkolleg Musik,

Band 2. Frankfurt am Main 1981, S. 207ff.

Die Institution des Sinfoniekonzerts, wie sie sich aus Vorformen des 18.]ahrhunderts im 19.

Jahrhundert entwickelte, ist dadurch charakterisiert, dass

• erstens Sinfonien das Rückgrat der Programme bilden;

• zweitens auch die übrigen Teile — die Ouverture und das Solokonzert — zum sinfoni-

schen Stil tendieren;

• drittens die Instrumentalmusik sich zum Rang einer Kunst erhebt, die um ihrer selbst

willen da ist;

• viertens die Hörer die Verhaltensnorm der ästhetischen Kontemplation — der selbst-

vergessenen Versenkung in musikalische Vorgänge — akzeptieren;

• fünftens Konzerte prinzipiell öffentlich und — gegen Bezahlung — allgemein zugäng-

lich sind und

• sechstens die Musik in geschlossenen, oft eigens für musikalische Zwecke gebauten

Räumen, in Konzertsälen gespielt wird. (. . .)

Die aufgezählten Teilmomente des Idealtypus Sinfoniekonzert hängen untereinander eng zu-

sammen: Das kontemplative Verhalten der Hörer bildet die Entsprechung oder Kehrseite des

Kunstanspruchs, zu dem sich die Instrumentalmusik (in früheren Epochen eher ein Stück Un-

terhaltung) in der Gattung der Sinfonie erhoben hat; eines Kunstanspruchs, der im 19. Jahr-

hundert allmählich auch das Solokonzert ergreift, so daß es sich vom virtuosen zum sinfoni-

schen Konzert wandelt; und der Bau von Konzertsälen — nicht selten mit Tempelfassade —

erscheint als architektonischer Ausdruck eines Kunstenthusiasmus, der sich - als ,,Kunstreligi-

on“ — neben die Religion oder sogar an deren Stelle drängt.

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14.5 Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert

Text 4: Aus dem „Musikalischen Lexikon“ von Heinrich Christoph Koch. Frankfurt am Main,

1802184

Concert […] [Man] verstehet […] darunter eine vollstimmige Musik, die entweder ein Regent

zu seiner und seines Hofes Unterhaltung von seiner Kapelle aufführen läßt, oder die man für

das Publikum veranstaltet, so daß jeder Liebhaber der Kunst mit gleichem Rechte, gegen Er-

legung eines bestimmtern Einlaß-Geldes, daran Antheil nehmen kann, und die von einer sich

dazu besonders vereinigten Gesellschaft Tonkünstler oder Dilettanten aufgeführet wird. Bey

einem solchen Concerte hat man, außer demjenigen, was über jede vollstimmige Musik in

den Artikeln Ausführung, Orchester, Stellung und Besetzung bemerkt wird, noch insbesonde-

re auf eine schickliche Wahl und Folge der verschiedenen aufzuführenden Tonstücke zu se-

hen, wenn jedes in seiner Art die beste Wirkung thun, und die Aufmerksamkeit der Zuhörer

nicht ermatten, sondern vielmehr in fortdauernder Spannung erhalten werden soll. Verschie-

denheit des Charakters und Abwechslung der Gattungen der aufzuführenden Tonstücke ist

ohne Zweifel ein Haupterforderniß einer solchen Musik.

Text 5: Marcel Proust (1871 - 1922) – Tage der Freude (Kapitel 8, XI) (frz. 1892; dt. 1926)185

Lob der schlechten Musik

Werft auf die schlechte Musik euren Fluch, aber nicht eure Verachtung! Je mehr man die

schlechte Musik spielt oder singt (und leidenschaftlicher als die gute), desto mehr füllt sie

sich allmählich an mit den Träumen, den Tränen der Menschen. Deshalb soll sie euch vereh-

rungswürdig sein. Ihr Platz ist sehr tief in der Geschichte der Kunst, ungeheuer hoch aber in

der Geschichte der Gefühle innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Die Achtung (ich sage

nicht, die Liebe) für die üble Musik ist nicht allein sozusagen eine Form der geschmackvollen

Nächstenliebe oder ihr Skeptizismus, vielmehr ist es das Wissen um die soziale Rolle der Mu-

sik. Wie viele Melodien, die in den Augen eines Künstlers ganz wertlos sind, sind aufgenom-

men in den Kreis der vertrauten Freunde von tausend jungen Verliebten oder romantisch Le-

benshungrigen. Da gibt es »Goldringelein« und »Ach, bleib lange vom Schlummer

gewiegt ...«, es sind Notenhefte, die Abend für Abend zitternd von Händen umgewendet

werden, die mit Recht berühmt sind. Die schönsten Augen der Welt haben Tränen über ihnen

vergossen, einen traurig-wollüstigen Tribut, um den der reinste Meister der Kunst sie benei-

den könnte – es sind Vertraute von Geist und Gedankenflug, die den Kummer veredeln, den

Traum steigern; und als Dank für das ihnen anvertraute brennende Geheimnis geben sie be-

rauschende Illusionen von Schönheit zurück. Das Volk, das Bürgertum, die Armee, der Adel

haben immer dieselben Briefträger und Trauerträger bei schwerem Unglück und hellstem

Glück, und so haben sie auch dieselben unsichtbaren Liebesboten, dieselben sehr geliebten

184 Quelle: www. Koelnklavier.de/quellen/koch/concert.html (14.11.2012)

185 Quelle: www.gutenberg.spiegel.de/buch/1296/8, 15.11.2012

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Beichtväter. Es sind die schlechten Musiker. Hier, dieser grauenhafte Refrain, den jedes gut

veranlagte und guterzogene Ohr beim ersten Hören von sich weist, er hat den Schatz von

tausend Seelen empfangen, er bewahrt das Geheimnis von unzähligen Lebensläufen, denen

er blühende Inspiration bedeutet hat und immer bereite Tröstung – denn immer lag das No-

tenheft halbgeöffnet auf dem Klavierpulte –, es bedeutete ihnen träumerische Anmut und

das Ideal. Diese Arpeggien, diese Kadenz haben in der Seele von vielen Verliebten oder Träu-

mern mit paradiesischen Harmonien widergeklungen oder gar mit der Stimme der vielgelieb-

ten Frau. Ein Heft schlechter Romanzen, abgenutzt von vielem Gebrauche, sollte uns rühren

wie eine Gruft oder wie eine Stadt. Was liegt daran, daß die Häuser keinen Stil haben, daß

die Gräber unter dummen Inschriften oder banalen Ornamenten verschwinden? Auch von

diesem Staubhaufen kann sich, kraft einer wohlwollenden, achtungsvollen Einbildungskraft,

die im Augenblick ihren ästhetischen Widerwillen zurückstellt, eine Wolke von Seelen erhe-

ben, die zwischen den Lippen noch den grünen Zweig des Traumes trägt, im Vorgefühl der

anderen Welten, im Nahgefühl zu Schmerz und Freude hier, in der unseren.

Text 6: Heinrich Heine (1797 – 1856): Lutetia II - Die parlamentarische Periode des Bürger-

königtums - Kapitel 8186

Musikalische Saison von 1843 - Erster Bericht

Paris, den 20. März 1843

….Aber die herrschende Bourgeoisie muß ihrer Sünden wegen nicht bloß alte klassische Tragödien und Trilogi-

en, die nicht klassisch sind, ausstehen, sondern die himmlischen Mächte haben ihr einen noch schauderhaften

Kunstgenuß beschert, nämlich jenes Pianoforte, dem man jetzt nirgends mehr ausweichen kann, das man in al-

len Häusern erklingen hört, in jeder Gesellschaft, Tag und Nacht. Ja, Pianoforte heißt das Marterinstrument, wo-

mit die jetzige vornehme Gesellschaft noch ganz besonders torquiert und gezüchtigt wird für alle ihre Usurpa-

tionen. Wenn nur nicht der Unschuldige mit leiden müßte! Diese ewige Klavierspielerei ist nicht mehr zu ertra-

gen! (Ach! meine Wandnachbarinnen, junge Töchter Albion's, spielten in diesem Augenblick ein brillantes Mor-

ceau für zwei linke Hände). Diese grellen Klimpertöne ohne natürliches Verhallen, diese herzlosen Schwirrklän-

ge, dieses erzprosaische Schollern und Pickern, dieses Fortepiano tötet all unser Denken und Fühlen, und wir

werden dumm, abgestumpft, blödsinnig. Dieses Überhandnehmen des Klavierspielens und gar die Triumphzüge

der Klaviervirtuosen sind charakteristisch für unsere Zeit und zeugen ganz eigentlich von dem Siege des Maschi-

nenwesens über den Geist. Die technische Fertigkeit, die Präzision eines Automaten, das Identifizieren mit dem

besaiteten Holze, die tönende Instrumentwerdung des Menschen, wird jetzt als das Höchste gepriesen und ge-

feiert. Wie Heuschreckenscharen kommen die Klaviervirtuosen jeden Winter nach Paris, weniger um Geld zu er-

werben, als vielmehr um sich hier einen Namen zu machen, der ihnen in andern Ländern desto reichlicher eine

pekuniäre Ernte verschafft....

Text 7: Eduard Hanslick (1852 - 1904): Ein Brief über die "Clavierseuche"

<163> Sie wünschen meine Ansicht über jene unbarmherzige moderne Stadtplage zu hören, die es heute glück-

lich zu der ehrenvollen Bezeichnung "Clavierseuche" gebracht hat. [...] Ich halte die herrschende Seuche für un-

heilbar und glaube, daß wir nur mittelbar, auf weiten ästhetischen und pädagogischen Umwegen dahin gelan-

gen können, ihren verheerenden Fortgang allmälig einzudämmen.

Die Qualen, die wir täglich durch nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercierende Schüler erdulden, sind

186 Quelle: www.gutenberg.spiegel.de/buch/372/8, 15.11.2012

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in allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube <164> allen Ernstes, daß unter den hunderterlei Geräuschen

und Kißklängen, welche tagsüber das Ohr des Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musika-

lische Folter die aufreibendste ist. In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste Lectüre vertieft, der Ruhe bedürf-

tig, oder nach geistiger Sammlung ringend, müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns

zuhören; mit einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord, den das liebe

Fräulein jedesmal falsch greift; wir zittern vor dem Laufe, bei welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und

nun von vorn anfangen wird. [...]

<165> Es sind mir im Moment nur zwei Arten erinnerlich von behördlichem Einschreiten gegen die Belästigung

durch Clavierspiel. Die Pariser Polizei hat einzelne Beschwerden dahin entschieden, daß ohne Erlaubniß der

Nachbarn nicht vor sieben Uhr früh und nach elf Uhr abends musicirt werden darf. [...]

Eine zweite polizieliche Fürsorge besteht, den Zeitungen zufolge, jetzt in Weimar, wo es gegen zwei Mark Strafe

verboten ist, bei offenen Fenstern zu musiziren. Es ist dies eine wohltätige Verordnung – beschämend nur durch

den Gedanken, daß eine Obrigkeit erst befehlen mußte, was das eigene Anstandsgefühl einem jeden von selbst

diktieren sollte.

<166> Auf diesem Gebiete musikalischer Attentate darf ich mich der schmerzlichen Erfahrungen rühmen. Es

war eine angeblich "ruhige", etwas enge Gasse, in welcher ich vor einigen Jahren das Glück hatte, ein clavier-

freies Haus zu bewohnen. Aber mir gegenüber stürmten aus drei Stockwerken alle bösen Geister zu den stets

offenen Fenstern heraus. Während im ersten Stock mehrere musikalische Schwestern von schwachem Gehör

und stets verstimmtem Clavier Beethoven, Strauß, Offenbach und Chopin durch einander schüttelten, blutete

über ihnen ein junges Opfer musikalischer Dressur stundenlang unter Tonleitern und Uebungen. Am frühesten

begann die Sopran-Dame im dritten Stock ihr Tagwerk mit italiensichen Arien aus "Lucia" und der "Nachtwand-

lerin". Es schien ihr Appetit zum Frühstück zu machen, wir Anderen verdienten keine Rücksicht und Donizetti

war ja längst todt. So ging es des Morgens. Der Abend pflegte im anstoßenden Hause durch vierhändiges Ab-

schlachten altersschwacher Ouvertüren gefeiert zu werden, und [...] niemals, gar niemals kam diesen kunstsin-

nigen Gemüthern der Gedanke, es könnten ihre musikalischen <167> Orgien uns wehrlose Leute in der Nach-

barschaft belästigen. [...]

<171> Nur mittelbar, so bemerkte ich Eingangs, wird eine allmälige Besserung dieser Zustände sich anbahnen

lassen, nur mittelbar und auf weitem Umwege. [...] Diejenigen, die heute bereits Clavier spielen – worunter

wohl fünfzig Stümper auf einen Künstler kommen – vermögen wir am Ausüben ihrer Fertigkeit nicht zu <172>

hindern; wir können aber – Jeder in seinem Kreise – dahin wirken, daß künftig nicht mehr so Viele Clavier spie-

len lernen. Nurdann wird weniger und wird besser gespieltwerden. [...] Jedes Kind zum Clavierlernen zu zwin-

gen, es stundenlang an's Piano zu schmieden, gleichviel ob es Lust und Talent dazu hat, ist ein Unsinn, eine Ver-

sündigung. Der unverhältnißmäßige Zeitaufwand, den unsere Jugend dem Clavierspiele opfert, wird zum Raube

an der ernsteren wissenschaftlichen Ausbildung. [...]

<178> Nur wenn einflußreiche Stimmen nicht müde werden zu warnen, – wenn unsere Conservatorien der Ue-

berproduction an Pianisten und Pianistinnen entgegenwirken, anstatt sie leichtsinnig noch zu befördern, – wenn

endlich Jeder von uns im eigenen Kreise seine Kraft dagegen einsetzt: dann und nur dann ist es zu hoffen er-

laubt, daß die Geißel, die man schauerlich genug "Clavierseuche" nennt, allmälig mildere Formen annehmen

und künftighin weniger Opfer, auf der spielenden wie auf der hörenden Seite, fordern werde.

Auszüge aus:

Eduard Hanslick, Gemeine, schädliche und gemeinschädliche Klavierspielerei; erschienen in: E. Hanslick, Aus

neuer und neuester Zeit. Der Modernen Oper IX. Theil. Musikalische Kritiken und Schilderungen. Berlin 1900.

Quelle: http://www.koelnklavier.de /kuriosa/hanslick.html (29.11.2012)

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14.6 Robert Schumann: „Neue Bahnen“

(Aus: „Neue Zeitschrift für Musik“, 28. Oktober 1853)187

Es sind Jahre verflossen, – beinahe eben so viele, als ich der früheren Redaktion dieser Blätter widmete, näm-

lich zehn –, daß ich mich auf diesem an Erinnerungen so reichen Terrain einmal hätte vernehmen lassen. Oft,

trotz angestrengter productiver Thätigkeit, fühlte ich mich angeregt; manche neue, bedeutende Talente erschie-

nen, eine neue Kraft der Musik schien sich anzukündigen, wie dies viele der hochaufstrebenden Künstler der

jüngsten Zeit bezeugen, wenn auch deren Productionen mehr einem engeren Kreise bekannt sind[1]. Ich dach-

te, die Bahnen dieser Auserwählten mit der größten Theilnahme verfolgend, es würde und müsse nach solchem

Vorgang einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen

berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva,

gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut,

an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in

dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer188 gebildet in den

schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. Er

trug, auch im Aeußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Clavier sitzend,

fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu

kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen

machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu

kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht, – einzelne Clavier-

stücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form, – dann Sonaten für Violine und Clavier, –

Quartette für Saiteninstrumente, – und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen

zu entströmen schienen. Und dann schien es, als189 vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alle wie zu einem

Wasserfall, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmet-

terlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet.

Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre

Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn

der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Beschei-

denheit, innewohnt. Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gang durch die Welt, wo seiner viel-

leicht Wunden warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Strei-

ter.

Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die Ihr zusammengehört, den Kreis

fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Segen verbreitend.

187 http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10527896_00206.html (10.2.2013)

188 Ich habe hier im Sinn: Joseph Joachim, Ernst Naumann, Ludwig Norman, Woldemar Bargiel, Theodor Kirch-

ner, Julius Schäffer, Albert Dietrich, des tiefsinnigen, großer Kunst beflissenen geistlichen Tonsetzers C. F. Wilsing

nicht zu vergessen. Als rüstig schreitende Vorboten wären hier auch Niels W. Gade, C. F. Mangold, Robert Franz

und St. Heller zu nennen. [Originalfußnote]

189 Eduard Marxen in Hamburg [Originalfußnote]

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14.7 Briefwechsel zum Klavierquintett op. 34190

14.7.1 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Interlaken, den 29. August 1862

Nur einige Zeilen heute, lieber Johannes, warum mein Dank und mehreres für Deine schöne Sendung so lange

ausbleibt. Ich erhielt diese zu meiner Freude noch am Morgen meiner Abreise von Rigi, wo wir es vor Kälte

nicht mehr aushielten. In Luzern mietete ich mir eine Wohnung am See, telegraphierte mir ein pianino von Zü-

rich und freute mich schon auf den ruhigen Genuß Deines Quintetts, das sich gar reich ausnimmt, […]

14.7.2 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Luzern, den den 3. September 1862

Mein lieber Johannes,

ich weiß nicht recht, wie ich’s anfangen soll, Dir mit ruhigen Worten zu sagen, welche Wonne ich an Deinem

Quintett habe. Ich habe es viele Male gespielt, und ist mir das Herz ganz voll davon! Das wird ja immer schöner,

herrlicher! Welch innere Kraft, welcher Reichtum in dem ersten Satze, wie gleich das erste Motiv so ganz einen

erfassend! Wie schön für die Instrumente, wie sehe ich sie da ordentlich streichen. Du müßtest Dich mit jeder

Komposition selbst mitbringen, damit man so recht über jeden Takt mit Dir sprechen könnte. Wie ist da wieder

alles so wundervoll ineinander gewoben. Wie kühn ist der Übergang beim Buchstaben B, wie innig das zweite

erste Motiv, dann das zweite in Cis moll, wie dann die Durchführung dieses und der Übergang wieder ins erste,

wie da die Instrumente sich so wunderbar verschmelzen, und am Schluß die träumerische Stelle, dann das ac-

cell. und der kühne, leidenschaftliche Schluß – ich kann’s nicht sagen, wie’s mich rührt, so mächtig ergreift. Und

welch Adagio, wonnig singt und klingt das bis zur letzten Note! Immer fange ich es wieder an und möchte nicht

aufhören. Auch das Scherzo liebe ich sehr, nur kommt mir das Trio etwas sehr kurz vor? Und wann kommt der

letzte Satz? Ich habe es gestern Kirchner und Stockhausen vorgespielt – sie sind ebenso entzückt davon, und wir

ließen Dich nachher in Champagner leben. Zürne mir nicht, daß ich Dir nicht eher darüber schrieb, aber wirk-

lich, ich konnte nicht, weil mir zu voll ums Herz war – wie kann man recht ordentlich schreiben, wenn einem in-

nen alles singt und klingt. Du mußt nun auch heute fürlieb nehmen, ich fühle es besser, als ich’s sagen kann.

Habe 1000 Dank, und bitte, schicke mir bald den Schluß! […]. Du hast mir nichts geschrieben, daß ich Dir das

Quintett wiederschicken soll – läßt Du es mir, bis der Schluß dabei ist? Bitte! […] Nun sage ich Dir Adieu! Grüße

alle Deinigen herzlichst, und laß Dir innigst die Hand drücken von Deiner

alten treuen Freundin Clara

14.7.3 Brief von Johannes Brahms an Albert Dietrich 191

Hamburg, [Anfang September 1862]192

Lieber Freund!

Ich gehe also am Montag nach Wien! Freue mich, wie ein Kind darauf. Wie lange ich bleibe, weiß ich natürlich

nicht; wir wollen’s darauf ankommen lassen und hoffe, wir sehn uns doch den Winter einmal. Die C-moll-Sinfo-

nie ist nicht fertig, dagegen aber ein Streich-Quintett (2 V.-Celli) in f-Moll, das ich am Liebsten Dir schickte und

mir darüber schreiben ließ, aber ich will’s doch lieber mitnehmen. […]

Dein Johannes

14.7.4 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

[Wien, Ende September 1862]

Lieber Joseph,

[…] Ich bin seit beinahe vierzehn Tagen in Wien, und so kam mir auch Dein Brief zu spät, als daß ich wohl noch

nach England hätte antworten können. […]

190 Der Briefwechsel von Johannes Brahms mit seinem Freundeskreis (außer mit Clara Schumann) ist größten-

teils online nachlesbar unter: http://de.wikisource.org/wiki/Johannes_Brahms

191 Albert Dietrich (1829-1908), Schüler von R. Schumann, gehörte zum engsten Freundeskreis von J. Brahms

192 Datierung laut Carmen Debryn und Michael Struck in: JBG II/4. S. XI. Bei Dietrich heißt es wohl fälschlicher-

weise 1863. Brahms kam aber schon am 8. Sept. 1862 in Wien an.

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Einen Beweis unveränderter Gesinnung, der nie nötig ist, magst Du darin sehen, daß sich das beiliegende Quin-

tett doch gar nicht umsehn mag in der Welt, ehe Du es nicht gesehen.

Nun wünschte ich aber freilich, Du hättest in diesen Tagen Zeit es anzusehn, damit ich baldmöglichst es zurück

habe und weiß, was Du dazu meinst.

Solltest Du gar Luft haben es klingen zu machen, so bitte ich Dich, es auf meine Kosten ausschreiben zu lassen.

Nur bitte ich sehr, auch in diesem Fall es zu beschleunigen, damit ich es bald wieder habe und über den Effekt

höre.

In diesem Fall müßte ich Dich auch bitten, die Bogenstriche und Doppelgriffe und was Du willst recht zu korri-

gieren. Es ist mir natürlich alles recht, was Du tust.

Ich sitze hier doch mit etwas Heimweh nach Hamburg. […]

Meine Adresse ist: Jägerzeil, Novaragasse 39, 2te Stiege, 2ter Stock. Laß mich doch recht bald ein Wort hören

und grüße Scholz, Dein Quartett und sonstige Freunde von

Deinem

Johannes

14.7.5 Brief von Joseph Joachim an Johannes Brahms

London, 5. November [1862]

Lieber Johannes,

Erst gestern, nach oftem Erinnern, daß man mir ein von Dir in Hannover eingelaufenes Manuskript hierher schi-

cken sollte, habe ich Dein Quintett! Es ist, soviel ist mir gleich klar, ein Stück von tiefster Bedeutung, voll männli-

cher Kraft, und schwungvoller Gestaltung. Alle Sätze bedeutend, sich ergänzend. Ich gratuliere, und will glück-

lich sein, das Stück zu hören. Falls Du das Quintett jetzt in Wien brauchst, so schreibe, oder telegraphiere nach

40, Pall Mall, London, und ich schicke es augenblicklich.

Freilich wäre es mir lieber, ich könnte es Dir zuerst vorspielen; denn (unter uns braucht’s keines Rückhaltes)

Hellmesberger193 würde es Dir nicht zu Dank spielen. Es fehlt ihm an Kühnheit und Kraft, die für Deine Sachen

durchaus nötig sind. Es ist schwer, das Quintett, und ich fürchte, daß es ohne energisches Spiel leicht unklar

klingen wird. Ich würde, wenn’s Dir recht wäre, Dein Werk hier ausschreiben lassen, und anfangs Dezember

nach Hannover mitnehmen – und wann Dir vorspielen? Ja, darüber erwarte ich eben Deine Ansicht. Bleibst Du

in Wien?

[…] vor allen Dingen aber lasse hören, wie Du’s mit dem Quintett gehalten wünschest.

Von Herzen

Dein Joseph.

14.7.6 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

[Wien, 7. November 1862]

Lieber Freund,

Es sind nun wohl vier Wochen, daß ich Dir ein Quintett schicke, da möchte ich denn doch einmal anfragen, wo

es geblieben. Ich dachte mir schon damals, daß Du in Hannover sehr beschäftigt sein und doch eigentlich vor al-

lem nach Ruhe verlangen würdest, ich hätte es Dir deshalb auch nicht geschickt, wenn Du nicht um die Sinfonie

geschrieben hättest.

Geniere Dich also nicht im geringsten, sondern laß es Rabe194 einfach einpacken und zur Post bringen. Ich möch-

te es gern hier einstweilen probieren und will mich dabei immer darauf freuen, wenn Du einmal dabei mit-

sprichst.

[…]

Herzlich

Dein Johannes

14.7.7 Brief von Joseph Joachim an Johannes Brahms

London, 8. November [1862]

Mein lieber Johannes,

Ich kann mich nicht wundern, daß Du über das Ausbleiben Deines Quintetts sehr erstaunt und verstimmt warst.

193 Joseph Hellmesberger (1828-1893), künstlerischer Direktor der Musikfreunde, Violinist, Begründer und Lei-

ter des Hellmesberger-Quartetts, künstlerischer Direktor der Musikfreunde. Spielte eine prägende Rolle im Wie-

ner Kammermusikleben.

194 Joachims Diener

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Du bist derlei von mir nicht gewohnt, und hättest auch nie Gelegenheit zu solcher Erfahrung gehabt, wären

nicht die außerordentlichsten Verhältnisse da.

Ich hatte sofort nach der Nachricht aus Hannover, daß ein Manuskript von Dir da wäre, an Scholz dringende Bit-

te gesandt, Deine Musik umgehend nach London zu schicken. Er schrieb mir darauf, es würde demnächst ein-

treffen – aber erst nach dreimaligem Mahnen kam es vor grade acht Tagen in meine Hände! An mir hatte es

nicht gelgen. Deine drei Mahnbriefe kommen eben erst aus Hannover: Woran das liegt, weiß ich auch nicht,

denn ich hatte eingeschärft, mir alle Briefe umgehend zukommen zu lassen. Man kann sich eben auf niemand

als auf sich selbst verlassen. Es tut mir herzlich, leid, wirklich von Herzen, daß Du in irgendeinem Wunsch der

Aufführung durch mich gestört worden bist; würde es mir ja selbst einem jeden andern gegenüber unlieb sein.

[…]

Der ich herzlichst um Entschuldigung bitte, und Dir Dein Quintett übermache. J. J.

14.7.8 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

[Wien, 9. November 1862]

In aller Eile – daß ich Deinen Brief erhalten und mein Quintett wirklich zu haben wünsche, wie Du übrigens wohl

aus meinen Briefen hättest sehen können. Ich hoffe nun kommen wenigstens keine Weitläufigkeiten mehr da-

zwischen. Eine Aufführung in meinem Konzert ist freilich wohl jedenfalls unmöglich geworden, da das Stück

schwer ist und ich sehr mit Muße hätte probieren müssen. Ich möchte indes jetzt wirklich bestimmt hoffen mö-

gen, daß ich’s nächster Tage habe.

[…]

Dein J. B.

Wenn meine Briefe so bös ausschauen wie sie gemeint waren, so tröste Dich damit, daß ich in Gedanken noch

viel böser schreiben wollte und in der Tat werde ich mich hüten, mir durch Deine Unzuverlässigkeit wieder Är-

ger zu bereiten. Welches hoffentlich ganz begreiflich gefunden wird.

14.7.9 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

[Wien] abermal Freitag, [14. November 1862]

Ich sehe in Gedanken wieder vier Wochen verflossen und mich ohne Brief von Dir und Quintett.

So angenehmes Gefühl es mir sonst ist, meine Sachen bei Dir zu wissen, kann ich doch jetzt, in so langer Zeit

nicht wissend, ob Dein Blick darauf fällt, die unangenehmsten Gedanken nicht los werden. Es ist mir, als wenn

ich in tonloses Leere hinausrufe, wo ich freundlichen Widerhall erwartete. Ich bitte also auf das dringendste,

daß Du eine Minute Zeit daran wendest, Raben meine Adresse zu sagen und das Quintett zum Einpacken und

Besorgen zu geben. […]

Ich schreibe übermorgen wieder, jedoch der Einfachheit wegen nur ein Kuvert, das Dich durch die 4 gr. [Gro-

schen], die Du dafür bezahlen mußt, erinnern mag

an Deinen J. Br.

14.7.10 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

[Wien, November 1862]

Höchst verdrießlich kann ich mich nur wieder hinsetzen und um mein Quintett schreiben:

Ich bitte und verlange es aufs Ernstlichste, und Du könntest bedenken, daß ich das Recht habe, hier mehr zu

empfinden als andere, deren Manuskripte bei Dir herumliegen.

Ich habe vollauf genug und wünschte nur, die Sache wäre, indem ich meine Noten hätte, soweit zu Ende, daß

ich anfangen könnte wiederzukäuen an den ärgerlichen Empfindungen dieser Tage. […]

J. B.

14.7.11 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

[Wien November 1862]

Der ich mein Quintett wünsche und verlange.

J. B.

Wien, Jägerzeil, Novaragasse 39, II, 2.

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14.7.12 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Berlin, den 18. Dezember 1862

Lieber Johannes,

[…] Gestern bin ich hier wieder angelangt, nachdem ich noch in Breslau gespielt, und nun will ich Dir aber gleich

sagen, wie sehr Dein Quintett mich wieder erfreut hat; ich finde den letzten Satz prächtig, das Ganz beschlie-

ßend, voller Schwung, die Introduktion gar schön, das 2. Motiv als Gegensatz des ersten so wohltuend, und in

der Durcharbeitung wieder so geistvolles Ineinandergreifen aller Motive, kurz, eben ganz meisterlich. Könnte

ich es nur erst‚ mal hören, denn das Spielen so mühsam am Klavier genügt so gar wenig. Hast Du es denn in

Wien gehört? Schickst Du nicht die Stimmen an Joachim? Tue es doch, dann könnte ich es doch im Januar, frei-

lich müßte es in den ersten Tagen des Januar sein, hören. […]

Deine Clara.

14.7.13 Brief von Clara Schumann an Theodor Kirchner195

[5. Januar 1863]

[…]

Es wurde auch Brahms‘ neues Quintett probiert, was uns natürlich sehr interessierte, mich jedoch nicht so ent-

zückte, wie ich’s mir nach dem Durchlesen am Clavier gedacht. Es wird oft so orchestral, daß die paar Instru-

mente bei weitem nicht ausreichen, und das gerade z. B. gleich bei dem Hauptmotiv des ersten Satzes. Hinge-

gen sind auch wieder wunderschöne Klänge darin und die Durchführung in allen Sätzen meisterhaft, ent-

zückend namentlich im ersten Satze. Schroffe Stellen sind aber auch darin, die Einen unangenehm berühren,

doch solche gibt er nie auf, was mich oft genug betrübt hat. […]196

14.7.14 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

(Anm.: Joachim hatte zwischenzeitlich das Quintett wieder erhalten)

[Wien] Karfreitag [3. April 1863]

Mein lieber Jussuf,

[…]

Da sich Dir aber alles immer lustiger drehen mag, so bitte ich, Du mögest mir auch gelegentlich – mein Quintett

schicken, damit das nicht ganz verlassen und einsam in Hannover bleibt. […]

Herzlich Dein

Johannes

14.7.15 Brief von Joseph Joachim an Johannes Brahms

[Hannover, 7. April 1863]

Lieber Johannes,

[…]

Dein Quintett darf ich unter obwaltenden Umständen (Joachim und Brahms wollten sich eventuell in Hamburg

treffen) ja wohl noch bei mir behalten, und Dir bald vorspielen. Solltest Du’s aber dennoch in Wien haben wol-

len, so telegraphiere ein Wort, und es kömmt augenblicklich nach demselben zu Dir geflogen. So wie es ist,

möchte ich es nicht öffentlich produzieren – aber nur weil ich hoffe, Du änderst hie und da einige selbst mir zu

große Schroffheiten, und lichtest hier und da das Kolorit. Ich rede nicht leichtsinnig, denn wir haben’s zwei Male

gespielt.

[…]

Addio für diesmal von Deinem Jussuf.

195 Theodor Kirchner (1823-1903). Komponist, Dirigent, Organist und Pianist. Gehörte zum engeren Freundes-

kreis von Brahms.

196 Schumann-Kirchner Briefe, S. 141. Zitiert nach Debryn/Struck, S. XII.

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14.7.16 Brief von Joseph Joachim an Johannes Brahms

[Hannover, 15. April 1863]

Lieber Johannes,

Ungern gebe ich das Quintett aus den Händen, ohne es Dir vorgespielt zu haben. Es wäre das beste, ja das einzi-

ge Mittel gewesen, Dir dabei zu nützen. Denn an Einzelheiten schulmeistern mag ich bei einem Werk nicht, das

in jeder Zeile Zeugnis einer fast übermütigen Gestaltungskraft gibt, das durch und durch voll Geist ist. Klangreiz,

um’s annähernd mit einem Wort zu bezeichnen, ist’s was mir daran zum ungetrübten Genuß fehlt. Und ich mei-

ne, bei ruhigem Anhören nach einiger Zeit müßte Dir das auch fühlbar werden.

Gleich auf der 2ten Zeile z. B. ist mir die Instrumentation für die mächtigen rhythmischen Rückungen nicht ener-

gisch genug; es klingt fast ohnmächtig dünn für den Gedanken. Oft wieder liegt alles ununterbrochene Strecken

lang zu dick. Du mußt’s eben selbst hören, wo es dem Ohr an Ruhe gebricht, und, ich wiederhole es, am liebs-

ten hier, wo wir Dir’s gewiß mit Liebe vorspielen würden.

Wirklich unsympathisch ist mir nur die Stelle im letzten Satz mit den barocken Scheinquinten […] und der nicht

bedeutenden Melodie; auch die unruhige kanonische Fort

setzung auf der nächsten Seite. Das kann Dir auch nicht gefallen; es klingt gemacht! […]

Dein J.

14.7.17 Brief von Johannes Brahms an Joseph Joachim

[Wien, 18. April 1863]

[…] Nun bitte ich also, daß Du mir doch mein Quintett hierher schicken mögest an Wessely & Büsing, Kohlmarkt.

Ich will’s denn doch lieber, komme ich überhaupt dazu, ohne überflüssige Schroffheiten, wenn möglich, hören.

[…]

Herzlich Dein Johannes

14.7.18 Brief von Johannes Brahms an Albert Dietrich

April 1863

Liebster Freund!

[…] Bis zum ersten Mai werd ich wohl noch hier [Anm.: in Wien] bleiben; […]

Schließlich lege ich noch ein Quintett bei, auch, bis ich nach Hamburg komme, zu behalten.

14.7.19 Brief von Johannes Brahms an Albert Dietrich

Mai 1863

Lieber Albert!

Besten Dank für Deinen freundlichen Gruß am 7. Mai197. Dein Bild und das Deiner Frau paradirt schon mit allem

Anstand neben meinen schönen Madonnen, die ich mir [Anm.: aus Wien] mitgebracht.

Mein Quintett bitte ich ja nicht zu probieren, sondern im Gegentheil mir herzuschicken, damit ich noch etwas

darin herumwirthschaften kann, was leider sehr nöthig ist.

[…] Deiner Frau küsse ich die Hand, was ich in Wien sehr schön gelernt habe, und so leb‘ wohl!

Herzlich

Dein Johannes

14.7.20 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Baden-Baden, den 23. Juni 1864

Nun bist Du ja endlich ‘mal wieder in Hamburg, lieber Johannes! […]

Schicke mir doch Dein Duo198, lieber Johannes – ich werde es studieren, damit ich es kann, wenn Du kommst.

197 Brahms‘ 30. Geburtstag, den er wieder in Hamburg bei seinen Eltern verbrachte.

198 Brahms hatte das Quintett inzwischen als Sonate für 2 Klaviere umgearbeitet.

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Ich habe zwar nicht zwei Flügel nebeneinander stehen, erhalte aber dieser Tage ein neues Pianino von Scheel in

Cassel, was ich mir eigentlich zum Spielen für 2 Klaviere angeschafft, da ich zu 2 Flügeln in meinem Zimmer kei-

nen Platz habe. So ist mir denn Dein Duo doppelt willkommen, weil ich es nun doch auch gleich mit Rubin-

stein199 probieren kann, aber, bitte, laß mich nicht lange darauf warten – Du spielt es doch wohl in Hamburg mit

niemand! […]

So leb denn wohl, lieber Johannes – grüße die Deinigen schönstens, und sei Du es herzlichst von Deiner

Clara

14.7.21 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Baden-Baden, den 19. Juli 1864

Lieber Johannes,

[…] Für das Duo meinen Dank. Du irrst, wenn Du meinst, ich würde mich nicht damit abgequält haben – im Ge-

genteil, ich habe mich ein paar Tage ganz schwindlig damit gemacht, denn ich wollte es gern mit Rubinstein

spielen und mußte, da nur eine Stimme ausgeschrieben, aus Deiner ersten Partitur spielen, und das war wahr-

lich nicht leicht. Ich war aber reichlich belohnt durch die Freude, dich ich beim Spielen hatte, und auch Rubin-

stein wurde ganz warm dabei; der erste Satz namentlich entzückte mich, eigentlich aber liebe ich alle Sätze, nur

finde ich hier und da in der Bearbeitung etwas schwülstig und für den Zuhörer wohl kaum verständlich, wenn er

es nicht genau kennt, dann scheint es mir hier und da sehr schwer technisch, was sich leicht ändern ließe, ohne

die Wirkung irgendwie zu beeinträchtigen, wohl aber die Verbreitung des Werkes zu fördern. Willst Du nicht mit

dem Druck noch warten, bis wir es hier noch einige Male gespielt, wo Dir dann vielleicht selbst noch dies oder

jenes auffällt. Daß es mich nur freuen kann, solches Werk gedruckt zu sehen, versteht sich von selbst. Ich schi-

cke es nicht gern, da ich es nächster Tage noch ‘mal mit Rubinstein spielen wollte, jedoch will ich Dich auch

nicht warten lassen, und so erhältst Du es mit dem Bachband zusammen. […]

Deine Clara

[Am Rand] Das Duo schicke ich übermorgen ab, ich hoffe, es noch ‘mal mit Rubinstein zu spielen, wenn ich ihn

habhaft werden kann.

14.7.22 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Baden-Baden, den 22. Juli 1864

Nach den genußreichen Stunden, die ich mit Levi durch Deine Sonate verlebt, muß ich Dir, lieber Johannes,

doch einiges noch darüber sagen, das mir wahrlich tief am Herzen liegt. Das Werk ist so wundervoll großartig,

durchweg interessant in seinen geistvollsten Kombinationen, meisterhaft in jeder Hinsicht, aber – es ist keine

Sonate, sondern ein Werk, dessen Gedanken Du wie aus einem Füllhorn über das ganze Orchester austreuen

könntest – müßtest! Eine Menge der schönsten Gedanken gehen auf dem Klavier verloren, nur erkennbar für

den Musiker, für das Publikum ungenießbar. Ich hatte gleich beim ersten Male Spielen das Gefühl eines arran-

gierten Werkes, glaubte mich aber befangen und sagte es darum nicht. Levi aber sprach es, ohne daß ich ein

Wort gesagt, gleich ganz entschieden aus. Könnte ich Dir nur gleich alle die Stellen, die mich entzücken, hierher-

setzen. Eine, der Übergang nach dem 6/8-Takt, ist mir über alle Beschreibung ergreifend! Mir ist nach dem

Werk, als habe ich eine große tragische Geschichte gelesen! Aber bitte, lieber Johannes, folge nur diesmal, ar-

beite das Werk nochmal um, und fühlst Du jetzt Dich nicht frisch genug dafür, so laß es 1 Jahr liegen und nimm

es dann wieder vor – gewiß, die Arbeit wird Dir selbst zur größten Freude.

Ich sende es Dir ungern, hoffe aber, Du bringst es wieder mit, damit wir es zusammen spielen, dann will ich Dir

(glaube ich) noch manches zeigen, was für meine Behauptung spricht.

[…]

Mit herzlichem Gruße

Deine Clara.

199 Der Pianist und Komponist Anton Rubinstein (1829 – 1894) besuchte Clara Schumann in Baden-Baden für

zwei Monate. Clara schreibt im Brief vom 1. Juni 1864: „Er will dort arbeiten - ihm muß man wünschen, daß er

es tue, ich fürchte aber, er spielt wieder [im Casino].“

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14.7.23 Brief von Johannes Brahms an Josef Joachim

Baden-Baden, 29. August 1864

Lieber Freund,

[…]

Bist Du, wie ich hoffe, im Besitz meiner f moll-Sonate für zwei Klavier, so laß sie mir doch umgehend zukommen,

Lichtenthal 14, durch Frau Schumann. Magst Du, so schreibe doch eine Zeile dazu, und ob die Sonate wohl ge-

druckt werden soll???

Ich bin hier länger geblieben, und da nächstens Frau Schumann wieder aus der Schweiz kommt, so werde ich

auch wohl noch bleiben. Wie fandest Du Dietrich?

Grüße Deine Frau herzlich und laß mit der Sonate auch einen Brief kommen.

Dein Johannes

14.7.24 Brief von Josef Joachim an Johannes Brahms

[Hannover, Anfang September 1864]

Liebster Johannes,

Mit dem beifolgenden Deiner Stücke habe ich wirklich Unglück; diesmal muß ich Dich ernstlich um Entschuldi-

gung bitten, es mehrere Tage später zu schicken. Du wolltest es gewiß mit Frau Clara spielen. Wäre ich dabei!

Mir gefällt alles in der Komposition ausnehmend, das zweite Motiv des letzten Satzes ausgenommen, mit dem

ich mich noch immer nicht befreunde. Ich wollte auch indes, ich schriebe Sachen, von denen Du mir sagen

könntest, eine Stelle gefiele Dir nicht! […]

Joseph J.Brief von Johannes Brahms an Clara Schumann

[Wien] Ende Oktober 1864

Meine liebste Clara

ich kann nur ganz rasch und kurz sagen, daß ich Dir die herzlichsten Grüße nach Karlsruhe täglich mit der ra-

schesten Post schicke – mit den liebevollsten Gedanken!

Seit ein paar Tagen sitze ich jede ruhige Stunde, das Quintett Euch schicken zu können. Aber man läßt es nicht

eine Stunde werden, neue Abhaltung und Störung und Beschäftigung nach der andern, und Besuch auf Besuch.

[…]

Und so leb wohl, es ist mir so leid, daß ich Euch nicht das Quintett der Tage fertig schaffen kann, aber gerade

jetzt habe ich durchaus keine Ruhe. […]

Dein Johannes

14.7.25 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Karlsruhe, Donnerstag den 3. November 1864

Liebster Johannes,

ein Dankeswort will ich Dir heute doch wenigstens senden, damit Du wissest, wie innig Du mich mit Deinem lie-

ben Empfangsbrief hier erfreut, und dann, wie entzückt wir sind, das herrliche Quintett zu haben. Levi und Da-

vid sitzen wie angenagelt beim Kopieren, und Levi erzählt mir, wie wundervoll es instrumentiert sei. Zum Glück

fügte es sich so, daß ich noch einige Tage hier bleiben kann, und am Sonntag morgen wollen wir es bei Levi pro-

bieren – da sei Du denn unter uns in Gedanken, wie wir mit Dir.

Über das Quintett habe ich nun so meine ganz besondere Freude noch, denn abgesehen davon, daß ja während

dem Schaffen selbst Dir dies reinste höchste Freude wurde, bringt es Dir noch eine, die nicht zu den kleinsten

gehört. Ich benutzte einen Augenblick des Entzückens der Prinzeß über die Dedikation, ihr ein schönes Ge-

schenk für Dich vorzuschlagen, auf das ich zu glücklicher Stunde kam, und sie beauftragte mich gleich, es zu be-

sorgen – daß ich es mit Wonne tat, wirst Du glauben, wenn Du es siehst.200 […]

Wie froh bin ich, daß Du eine behagliche Wohnung hast – ich dressiere dahin, das ist mir viel gemütlicher. Wie

freue ich mich, wenn wir da erst `mal bei einer Tasse Kaffee traulich zusammensitzen.

Sei herzlichst gegrüßt, mein lieber Johannes, und denk Deiner

alten Clara

200 Das Geschenk war das Originalmanuskript von Mozarts g-Moll-Sinfonie.

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14.7.26 Brief von Hermann Levi an Johannes Brahms

Carlsruhe, 9. Nov. 64

Das Quintett ist über alle Maaßen schön; wer es nicht unter den früheren Firmen: Streichquintett und Sonate

gekannt hat, der wird nicht glauben, daß es für andere Instrumente gedacht und geschrieben ist. Keine Note

macht mir den Eindruck des Arrangements, alle Gedanken haben eine viel prägnantere Färbung; au der Mono-

tonie der beiden Klaviere ist ein Musterstück von Klangschönheit geworden, aus einem, nur wenigen Musikern

zugänglichen Klavier-Duo, - ein Labsal für jeden Dilettanten, der Musik im Leibe hat, ein Meisterwerk von Kam-

mermusik, wie wir seit dem Jahre [18]28 kein zweites aufzuweisen haben.201 Wenn mir nicht Deine ironisch-zu-

ckenden Mundwinkel vor Augen ständen, würde ich Dir noch ganz andere Dinge sagen! Ich wollte, Du hättest

unsere Gesichter sehen können bei der ersten Probe. Clara schmunzelte und wackelte auf ihrem Klavierstuhle

noch mehr als gewöhnlich hin und her; ich ging nach der Probe mit David202 und Allgeyer203 in den Erbprinzen

und betrank mich in Champagner; David meinte zwar, es sei die pure Eitelkeit von mir, weil ich mit Schuld sei an

dem neuen Arrangement, oder weil ich durchaus in die Biographie kommen wolle; ich versichere dich aber, daß

ich trotz der gesicherten Stellung noch etwas von Musik verstehe, und daß ich, wenn ich nicht wüßte, daß Du

mich auslachst, noch Bogenlang über das Quintett fortschreiben könnte. Sonntag spielte es Clara hier, gestern

mit Koning in Mannheim; ich war natürlich auch dort, obgleich David meinte, ich sei der reine Commis-voyageur

und mache „in Brahms“.

Einige Kleinigkeiten möchte ich Dir wohl noch sagen, ein richtiger Kapellmeister kann bekanntlich nicht leicht et-

was ungerupft lassen, aber die Feder ist bei mir gewöhnlich eher die Verdreherin, als der Ausdruck meiner Ge-

danken. Die Stretta des letzten Satzes204 macht mir noch immer denselben Eindruck wie früher; nach den ff-Ak-

korden205 Seite 66 habe ich das eines baldigen brillanten […] Schlusses; was später noch kommt, macht den Ein-

druck des Gearbeiteten, Absichtlichkeiten; Bezeichnungen wir p, tranquillo206 kann ich mir nach allem Vorange-

gangenen nicht mehr denken, ebensowenig einen Halt. Doch darüber haben wir mündlich schon genug gespro-

chen. Im Talmud, links beim Eingang, steht geschrieben: Wenn einer kommt und sagt: Du bist ein Maulesel,

glaub’s ihm nicht, wenn aber noch einer kommt und sagt: Du bist ein Maulesel, kauf‘ Dir `nen Sattel und laß‘

Dich reiten. – Das heißt auf Deutsch: Wenn Frau Schumann oder ich eine Bemerkung machen, höre nicht auf

uns; wenn aber, wie ich in diesem Falle glaube, alle Musiker oder ein Freund wie Joachim dasselbe sagen, so

scheue die Mühe nicht und verändere und reduziere die 4 letzten Seiten. An und für sich betrachtet, ist der

ganz 6/8 Takt mir nicht minder lieb, wie alles Andere, nur als Schlußsatz scheint er mir (von der bezeichneten

Stelle an) nicht zu passen. –

Die Solostelle der Streichinstrumente Seite 23207 klingt wundervoll. – Das Triolenthema im E-dur-Satz des An-

dante ist für Cello sehr schwer; würde Bratsche zu schwach sein?208 Soll die Stelle gestoßen sein? Seite 36 Takt 7

habe ich das Bedürfniß eines volleren Basses. (Cello arco?) – Doch ich sehe, das läßt sich schriftlich wirklich

nicht verhandeln. Mit Bezeichnungen bist Du diesmal besonders splendid gewesen; findest Du nicht, daß Stellen

wie

nicht gut aussehen? Zähle einmal, wieviel espressivo’s im ersten Theile des ersten Satzes vorkommen; es er-

scheint mir fast wie ein Mißtrauensvotum gegen die Ausführenden.

201 1828 ist Franz Schubert gestorben. Der Hinweis bezieht sich auf das Forellenquintett.

202 Paul David, Sohn Ferdinand Davids, Konzertmeister in Karlsruhe

203 Julius Allgeyer gehörte ebenfalls zum Freundeskreis von Brahms. In seinem Haus in Karlsruhe komponierte

Brahms u. a. Teile des Requiems.

204 T. 342ff. Presto, non troppo

205 T. 392ff.

2064. Satz, T. 439ff.

2071. Satz, T. 261ff. Poco sostenuto

2082. Satz, T. 34 – 41. Brahms entsprach der Bitte und hat die Stelle der Bratsche übertragen.

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Noch eins: Daß im ersten Takte von S. 17 das Klavier das Motiv übernimmt, hat mir bei der Ausführung matt ge-

klungen209; achte einmal darauf. In den Stimmen werden noch einige Fehler sein. Sorge, daß ich recht bald die

gedruckten bekomme. […]

Frau Schumann wird Dir gestern geschrieben haben; ich freute mich an ihrer Freude über das Quintett; wenn

Ihr im Januar in Wien zusammen seid, gedenket meiner in Freundschaft!

Lebe wohl. Mit den Herzlichsten Grüßen Dein

Hermann Levi

14.7.27 Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms

Mannheim, den 10. November 1864

Am liebsten hätte ich einige Zeilen an Dich, mein lieber Johannes, gleich vorigen Sonntag fliegen lassen – das

Herz war mir voll genug, aber wir wollten das Quintett doch erst noch `mal mit besseren Kräften, wenigstens ei-

ner besseren ersten Geige, spielen, und das taten wir denn gestern und haben Wonnestunden gefeiert! Die ers-

ten drei Sätze klingen durchweg wundervoll (ein paar ganz kleine Stellen ausgenommen), der erste Satz ent-

zückend, die Durchführung, wie kommt sie jetzt zur Geltung, wie klar wird sie, welche Klänge! Wie hast Du alles

so wunderbar schön gemacht! Könnte ich es Dir doch so recht sagen, wie wonnig es war. Aber, liebster Johan-

nes, am letzten Satz mußt Du noch einiges ändern, es sind da so einige Stellen, wo einem die Arbeit gar so to-

cken auf das warme Herz fällt! Bedenke nur, in welcher Stimmung man nach drei solchen durchlebten Sätzen

ist! Es ist in dem letzten Satz (im 2. Motiv) kein rechter Zug (d. h. vor dem 6/8-Takt), und doch möchte ich es

auch wieder nicht missen, nur müßte man nach dem etwas bewegteren 2. Motiv nicht wieder langsamer wer-

den müssen! Doch Levi will Dir das ganz ausführlich schreiben, und der kann es ja viel besser und klarer und mit

der Berechtigung des Verstandes neben dem Gefühl. Laß mich Dich aber inständigst bitten, daß das Werk, das

wunderbar schöne, nicht zugrunde gehen am letzten Satz! Du kannst ja alles, was Du willst, und ist Dir jetzt

nicht darnach zumute, so warte ein Weilchen, es kommt Dir die Stimmung schon wieder; und nun noch `mal

Dank, daß Du uns die Freude bereitet, das Quintett zu schicken. Durch Levi erhältst Du es jetzt, wie Du ge-

wünscht, zurück.

Meinen Brief aus Karlsruhe hast du doch erhalten? Auch den ersten aus Baden? Sag`mir das doch immer, ich

beunruhige mich sonst, da so oft Briefe in Österreich verloren gehen. […]

So leb denn wohl, liebster Freund, und gedenke bald mit einem Worte

Deiner Clara.

14.7.28 Albert Dietrich, aus den „Erinnerungen“210

Das neue Streichquintett, das Brahms in Hamburg vor der Wiener Reise beendet hatte, war wieder Mal ein

Meisterwerk: Prächtig, immer schöner, immer vollendeter, geistvoller wurde die Ausführung seiner Sachen. In

dem Werk ist eine große Fülle von Geist und können, aber vielleicht ist auch eine seiner herbsten Stimmungen

darin ausgesprochen.

Er hat es später in das berühmte Clavierquintett und zu einer Sonate für 2 Claviere, Beides unter op. 34, umge-

arbeitet.

14.7.29 Brief von Johannes Brahms an Jakob Melchior Rieter-Biedermann

Baden-Baden, den 22. Juli 1865

Lieber Herr Rieter.

Hier kommen denn ‚Quintett‘, Variationen und einige Randbemerkungen.

Vor allem bitte ich nochmals den Stich möglichst zu beschleunigen und vom ‚Quintett‘ mir sobald als möglich

(vielleicht nach der 1. Revision) ein brauchbares Exemplar zukommen zu lassen. Joachim kommt noch hierher,

und überhaupt möchte es gespielt werden.

NB. die Stimmen vom ‚Quintett‘ müssen noch nach der Partitur korrigiert werden.

Ferner möchte ich, wir behielten das Werk auch als ‚Sonate für 2 Klaviere‘ in Aug‘ und Sinn. Es ist mir und allen,

2091. Satz, T. 190ff.

210 Albert Dietrich, Erinnerungen an Johannes Brahms in Briefen besonders aus seiner Jugendzeit. Leipzig 1898,

S. 46

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die es gespeilt oder gehört, doch einmal besonders lieb in dieser Gestalt, und möchte ein interessantes Werk

für 2 Klaviere doch wohl gern empfangen werden. Ein 4händiges Arrangement kann ich Ihnen jedenfalls (für

spätere Herausgabe jedoch) geben. […]

Schließlich hätte ich den großen Wunsch, keinen Wechsel zu empfangen, sondern womöglich Gold oder preußi-

sches Papier. Vielleicht haben Sie französisches Gold? Das mir ganz recht wär‘. […]

Frau Schumann grüßt Sie wie ich herzlich.

Ihr ergebener Johs Brahms

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14.8 Zeitgenössische Werkbesprechungen

a) „Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung“ vom 25. April bzw. 2. Mai 1866

(Teil 1 - 25.4.1866)

Ein neues Werk von Brahms drängt bei uns, wie

man erwarten kann, jedes andere musikalische In-

teresse für den Augenblick zurück. Indem wir die-

ses aussprechen, sind wir schon darauf gefasst, von

subjektiver Kritik, blindem Partei-Enthusiasmus

und dergl. reden zu hören. Da wir uns bewusst

sind, bei früheren Besprechungen Brahms‘scher

Werke uns niemals von blossem Enthusiasmus lei-

ten gelassen zu haben, sondern durch genaues Stu-

dium uns ein Urtheil gebildet, dasselbe in Beglei-

tung einer detaillirten Beschreibung ausgesprochen

und so unsere Meinung nirgendwo ohne Begrün-

dung gelassen zu haben, wobei gar nicht selten

Ausstellung und Tadel mit unterlief: so können uns

dergleichen Ausrufe nicht berühren. Wir wissen,

dass wir vor jenen, die uns in Beurteilung Brahms'

der Subjektivität zeihen, wenigstens das eine vor-

aus haben: die Werke desselben ordentlich zu ken-

nen. Aber auch für die allmälige Anerkennung des

Talents und der Tüchtigkeit der Brahms‘schen Kom-

positionen machen uns jene Vorwürfe nicht be-

sorgt; denn dergleichen ist zu allen Zeiten da gewe-

sen. Mozarts Quartette erschienen den Kritikern

seiner Zeit zu stark gewürzt. Beethoven erhielt

nach seinen ersten Sonaten von einem wohlmei-

nenden Rezensenten in der A. M. Ztg. den Rath,

sich mehr an die Natur zu halten. Als seine herrli-

chen Trios Op. 70 erschienen waren, setzten sich

drei vorzügliche Musiker, unter ihnen des Meisters

Schüler F. Kies (wir wissen dies aus zuverlässiger

Mittheilung) zusammen, um dieselben zu spielen,

und was war das Resultat dieser ersten Kenntnis-

nahme? — Beethoven müsse wahnsinnig gewor-

den sein. Nicht viel gelinder lauteten die Urteile

über seine letzten Quartette, deren Verständnis

noch jetzt kein allgemeines ist. Die Zahl derer end-

lich, welche aus entschiedenen Gegnern Robert

Schumanns seine Verehrer und Freunde geworden

sind, durfte heute schon nach Hunderten zu be-

rechnen sein. — Man verstehe uns. Wir haben mit

all dem Gesagten keine Vergleichungen anstellen

wollen; es steht weder uns zu, noch ist es über-

haupt an der Zeit, über die Stellung von Brahms zu

den Künstlern der Vergangenheit und Gegenwart

eine endgültige Meinung abzugeben; wir wollten

nur zeigen, wie wenig bei der Würdigung des wah-

ren Wertes desselben auf den Geschmack des Pu-

blikums, auf die Auslassungen der keineswegs im-

mer gewissenhaften Kritik, auf das Urteil der kei-

neswegs immer vorurteilsfreien, zur Erfassung

fremder Individualität sofort fähigen Kunstgenos-

sen unbedingter Werth zu legen sei und dass es

hier wie überall der Zukunft überlassen bleiben

müsse, zu entscheiden, was bleibend und echt war.

Unterdessen wollen wir wie bisher versuchen,

durch detaillierte Betrachtung des Gebotenen über

den Inhalt und die Absicht des vorliegenden Werks

zu bestimmterer Anschauung zu gelangen.

Das neue Quintett geht aus f-Moll, einer Tonart, in

welcher wir gewohnt sind, den Ausdruck pathe-

tisch-tragischer, düsterer und trüber Seelenstim-

mungen zu erblicken. Den Charakter des Patheti-

schen atmet gleich das Hauptthema des ersten Sat-

zes (f-Moll 4/4 Allegro non troppo), welches in brei-

tem Unisono anhebt und im vierten Takte auf dem

Dominantakkorde schließt:

Auf diesen kräftigen Eingang lässt das Klavier in

dreimal wiederholtem Ansätze eine harmonische

Sechszehntelfigur folgen, welche aus dem vorigen

Achtelmotiv hervorgeht, und worauf die Instru-

mente mit mächtigen Akkordschlägen antworten;

beim dritten Male spinnt sich dieselbe etwas wei-

ter aus, schließt noch einmal mit aller Kraft auf der

Dominante, worauf das Thema von neuem in den

Instrumenten unisono auftritt, mit kräftigen har-

monisch begleitenden Achtelgängen des Klaviers.

Zu den Fortsetzungen derselben im Clavier erklin-

gen die Sechszehntelfiguren in den Instrumenten;

kühne Modulationen fuhren zum Abschluss in f-

Moll. Nun folgt in der Violine ein Gegenthema von

kontrastierendem Charakter, welches sowohl durch

den Rhythmus selbst, als durch die Harmonie,

worin wir namentlich den Ton des als kleine None

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fortwährend durchklingen hören, eine unruhig, un-

geduldig klagende Empfindung ausspricht:

Nach einer kurzen Wiederholung desselben durch

die Bratsche nimmt es die Violine auf, erhebt sich

damit in schneller, kräftiger Steigerung und fuhrt in

kühner, unerwarteter Modulation nach cis-Moll,

worin, nach kurzer Vorbereitung durch eine unruhi-

ge Triolenbewegung im Bass, ein zweites Thema

von ganz eigentümlichem Charakter einsetzt:

Es liegt etwas wild-phantastisches in den springen-

den Figuren und ausgespannten Gängen; durch ein

folgendes Motiv der Bratsche, während dessen die

Triolenfigur im Klavier weitergeht, und durch das

sich anschließende Moduliren nach Cis-Dur und D-

Dur (pp) wird unser Sinn in träumender Erwartung

festgehalten, bis das Thema in den Instrumenten

wieder auftritt, durch den letzten Gang desselben

sich Fortsetzungen anschließen und der Abschluss

vorbereitet wird, der lange zwischen Dur und Moll

schwankt, bis lang gezogene ausdrucksvolle Figuren

der ersten Violine zur Sechszehntelbewegung des

Klaviers nach Des-(Cis-) Dur fuhren. In den Figuren

glaubten wir einige Verwandtschaft mit entspre-

chenden Partien des Beethoven’schen f-Moll-Quar-

tetts (Op. 95) zu erkennen; auch findet sich eine

Analogie mit demselben in der Folge der Tonarten,

indem der Abschluss des ersten Teiles nicht in der

Paralleltonart, sondern in der Unterdominante der-

selben, erfolgt. Aber abgesehen von einzelnen Ähn-

lichkeiten sind wir mehrfach sowohl in diesem wie

andern Werken Brahms an die eigentümlich-innige

Weise der späteren Beethoven'schen Werke erin-

nert worden, und glauben, dass darin mehr wie Re-

miniszenzen und Anklänge, dass vielmehr ein inne-

rer, verwandtschaftlicher Zug darin erkannt werden

darf, der, wenn wir uns in dieser Beobachtung nicht

täuschen, Brahms' Talent schon darum als vielseiti-

ger und tiefer als das der meisten seiner Zeitgenos-

sen erscheinen lässt, weil in ihm sich neben voll-

ständiger Beherrschung des modern-romantischen

Stils der Geist der großen Vergangenen lebendig er-

weist, während wir bei der großen Mehrzahl der

Lebenden nur einseitige Nachahmung Mendels-

sohn'scher und Schumann'scher Weise finden.

Doch wir kehren zu unserm ersten Satze zurück.

Noch ist der Schluss des ersten Teils nicht erreicht;

sondern wie, um frohe Erhebung nach erreichtem

Ziele auszudrücken, setzt noch ein Schlussthema in

Des ein:

welches in anderer Form wiederholt wird und wo-

bei die punktierte Bewegung sich zu Achteln ab-

schwächt. Der Schluss erhält durch die fortwähren-

de Betonung der schwächeren Takttheile etwas Un-

sicheres, Zweifelndes und bildet dadurch eine, wie

man fühlt, innerlich wohl motivierte Vermittlung

zwischen dem letzten Thema und der Wiederho-

lung des Anfangs. Die unsichere, zaghafte Bewe-

gung geht im Anfange des zweiten Teiles noch lan-

ge fort, man hört zwischen den leise, gegen den

Takt angeschlagenen Akkorden der Instrumente

eine gebundene Figur des Claviers, zweimal er-

scheint auch die Bewegung des ersten Themas ,

aber nicht mit der früheren pathetischen Kraft,

sondern ebenfalls zweifelnd und ängstlich; und die

oft und überraschend wechselnde Modulation in

diesem Abschnitte vollendet den Charakter des

Zaghaften, fast Unheimlichen. Nach einem Ab-

schlusse auf b-Moll weicht dasselbe einem unruhi-

gen, aus gebrochenen Figuren zusammengesetzten

Thema, welches in eiliger Bewegung einem kräfti-

gen Schlüsse auf der Dominante von b-Moll zu-

führt, worin dann das zweite Thema (früher cis-

Moll) wieder einsetzt; in verschiedener Lage, mit

117

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manchen Veränderungen, namentlich in den An-

hängen, wird dasselbe durchgeführt, bis es noch

einmal in voller Kraft in c-Moll einsetzt und darin

ausklingt. Jeder wird sich aus vielen Werken

Beethovens, namentlich der größeren Symphonien

(Eroica, c-Moll) erinnern, dass in der Durchfüh-

rungspartie des zweiten Teiles einmal eine Stelle

eintritt, in welcher der Ausdruck des ganzen Stücks

gleichsam seinen Höhepunkt erreicht, an welchem

der Ausdruck sich gleichsam konzentriert und zur

höchsten Kraft und Fülle steigert. Auch in den

Brahms'schen Kompositionen ist es leicht, diesen

Gipfelpunkt, zu welchem alles Vorhergehende hin-

leitet, zu finden, und er weiß denselben mit

großem Geschick vorzubereiten. Doch kann dersel-

be auch zur Klippe werden. Es kommt nämlich dar-

auf an, nicht nur dass derselbe sich organisch aus

den thematischen Grundelementen und dem Cha-

rakter des Stücks entwickele, sondern dass diesel-

ben auch in ihm selbst fortwährend erkennbar und

fühlbar bleiben, dass namentlich das Aufbieten al-

ler Kraft nicht zu Gewaltsamkeiten, zum Verlassen

der musikalischen Schönheit führe, und dass wir

uns an solchen Stellen nicht ganz von dem Grund-

typus des Stücks entfernt fühlen. Wir glauben —

und müssen das aufrichtig aussprechen — dass

Brahms in einigen seiner früheren Werke an dieser

Stelle zu weit gegangen ist, und auch wenn wir die

Stelle betrachten, welche in unserm Quintett den

oben angeführten starken Eintritt auf c-Moll vorbe-

reitet, die Imitation mit dem Motive des zweiten

Themas und die darauf folgenden punktierten Figu-

ren, so glauben wir im Allgemeinen aussprechen zu

dürfen, dass hier die Stelle ist, wo Brahms zu jenen

früher erwähnten Herbigkeiten und Gewaltsamen,

welche zum Teil in einem Vorwiegen der Reflexion

vor dem ununterbrochenen Strome des Empfin-

dens am meisten hinneigt, und wo daher besonde-

re Vorsicht Not tut, dass nicht vor einer beabsich-

tigten großen Wirkung die Schönheit zurücktrete.

— Nach diesem ff beginnt nun, schnell und uner-

wartet, der Rückgang zum ersten Thema, dessen

gleichsam verdeckter Wiedereintritt zu den abstei-

genden Akkorden des Klaviers und dem C der Bäs-

se, einmal sogar zwischen Dur und Moll sich gleich-

sam besinnend, uns noch einmal an jenes Zweifeln

und Zagen zu Anfang des zweiten Teiles zurückerin-

nert, bis das Klavier mit jener uns bekannten Sechs-

zehntelfigur durchbricht und mit denselben Modu-

lationen, wie ganz zu Anfang, zu der kräftigen Wie-

derholung des Hauptthemas führt. Nun wiederholt

sich im Ganzen der frühere Verlauf; der notwendi-

ge Wechsel der Tonart wird kurz dadurch herbeige-

führt, dass das Gegenthema vom Violoncell sofort

statt in f-Moll, in b-Moll eingeführt wird, so dass

nun der Einsatz des zweiten Themas in fis-Moll er-

folgt. Aus den Fortsetzungen desselben bildet sich

ein rascher Übergang nach f-Moll, worin das The-

ma wiederholt wird — aber nur harmonisch über-

einstimmend, während die springenden, abgebro-

chenen Figuren in eine zusammenhangende ruhige

Achtelbewegung übergegangen sind — das Phan-

tastische, Wilde hat einer schwermütigen Resigna-

tion Platz gemacht. Die früheren Schlusswendun-

gen treten nun in f-Moll auf und führen nach lan-

gem Zuge noch einmal zu F-Dur, worin das dritte

Thema, in veränderter Verteilung (warum?) auf-

tritt. In schönen harmonischen Gängen über dem

tiefen F als Orgelpunkt werden wir zu einer Coda

(poco sostenuto) hingeführt, in welcher zu dem

noch immer festgehaltenen tiefen F des Klaviers die

Instrumente im Wechsel Achtelfiguren, die sich aus

dem Thema entwickeln, mannigfaltig sich verschlin-

gend anstimmen, nach B-Dur führen und (während

das Klavier verstummt) in synkopierten Akkorden

ganz leise hinauf- und wieder hinabsteigen; das

Cello deutet in der schon früher gehörten zweifeln-

den Weise das Thema wieder an, und als dasselbe

immer deutlicher erklingt, fällt auch das Clavier

wieder ein, eine mächtige Steigerung an Kraft und

Schnelligkeit führt zu f-Moll zurück, und mit der

Sechszehntelbewegung und den begleitenden Ak-

korden, zuletzt mit dem Motiv des Hauptthemas

wird der Schluss in wahrhaft grandioser Weise her-

beigeführt. Sagten wir oben, dass die Durchfüh-

rungspartie, namentlich der Höhepunkt derselben,

eine Klippe sei, an welcher Brahms' Neigung zu

herben Modulationen und zu verständnismäßiger

Durcharbeitung mitunter zu scheitern Gefahr laufe:

so dürfen wir im Gegensatz hierzu die Schlussparti-

en durchweg als Glanzpunkte seiner Satze bezeich-

nen. Man beobachte die meisten seiner früheren

Werke, um zu erkennen, mit welcher Feinheit er

hier die Hauptmotive noch einmal zu unerwarte-

ten, ganz wunderbaren Wirkungen zu verwenden

versteht. — Wenn wir auf den ganzen ersten Satz

zurückblicken, auf den Reichthum selbständiger,

ausdrucksvoller, dem Ausdruck nach vollkommen

von einander verschiedener Themata, auf die ge-

schickte, ganz ihrem Charakter entsprechende Vor-

bereitung und Entwicklung derselben, auf die Si-

cherheit thematischer, harmonischer und über-

haupt formeller Behandlung, so müssen wir ihn als

der Anlage wie der Ausführung, dem Gehalt wie

der Form nach bedeutend bezeichnen. Auch der

äußerliche Punkt der Instrumentierung zeigt einen

Fortschritt gegen früher: die Instrumente treten in

mehr geschlossener Weise dem Klavier gegenüber,

die einzelnen sind einfacher und mehr ihrer Natur

gemäß behandelt, nur selten finden sich auch wie-

der Figuren denselben zugeteilt, die wir als klavier-

mäßig bezeichnen dürfen. Und auch der tiefere

poetische Gehalt muss bei tieferem Eindringen er-

greifen: wir glauben einen Kampf mit einem uner-

bittlichen Geschick zu vernehmen, welches uns, in-

dem wir mancherlei Wünsche verfolgen und frei

hinaus streben möchten, vor dem Eingreifen des

scheinbar Erreichten scheu zurückschrecken lasst.

(Schluss folgt)

118

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Teil 2 – 2.5.1866:Im z w e i t e n S a t z e , Andante un poco Adagio

(As-Dur 3/4), kommt das Element süßer Schwärme-

rei, eines sehnsüchtigen Verlangens, zum Ausdru-

cke. Derselbe zerfällt in drei Theile, wovon freilich

der dritte nur eine Wiederholung des ersten ist.

Der erste ist eigentlich nur eine lange, weit ausge-

sponnene Periode, aus diesem Motiv des Klaviers:

gebildet, welches in Abschnitten von je vier Takten,

durch Hebung und Hinabsteigen sowie durch die

Abschlüsse verschieden, von abgebrochenen Ach-

teln der Instrumente begleitet, in schwelgender

Anmut wie eine unendliche Melodie (hier konnte

man diesen Ausdruck anwenden) sich ausdehnt.

Der lange und schön vorbereitete Schluss führt mit

einer unerwarteten enharmonischen Rückung nach

E-Dur, der Tonart des Zwischensatzes. Nach kurzer

Vorbereitung erklingt in den Mittelinstrumenten

ein Triolenmotiv:

welchem das Klavier mit einem langsameren Motiv

antwortet, von ruhig-seligem Ausdruck; dasselbe

wird nach einem Abschlusse auf der Dominante in

versetzter Lage wiederholt, durch die Achtelbewe-

gung des Klaviermotivs, welche nach der Mollton-

art hinüber schwebt, fortgesetzt (sempre poco ac-

celerando) und zu einem vollen, frohen Abschluss

auf E-Dur geführt; der Komponist macht hier von

der Verbindung von Triolen und Achteln, die er

überhaupt liebt, wieder einen schönen Gebrauch.

— Nun folgt ein eigentümlicher Rückgang. Nach-

klingende Akkorde des Klaviers deuten die beglei-

tende Bewegung des ersten Themas wieder an,

während die Instrumente die punktierte Figur des

Auftakts zu dem Zwischenthema wiederholt an-

stimmen, und mit derselben in sonderbaren No-

nensprüngen zur Anfangstonart zurückleiten; offen

gestehen wir, dass wir uns mit denselben nicht be-

freunden können und die kleine Übergangspartie

(12 Takte) nicht glücklich finden. Sehr schon ist wie-

der, nachdem das Motiv des ersten Themas zwei-

mal in G-Dur und g-Moll angedeutet worden ist,

der rasche Aufschwung der ersten Violine, welcher

nach As-Dur zurückführt. In der Wiederholung des

ersten Teils folgt nun keine formelle Veränderung,

nur geht das Thema sehr bald in die Instrumente

über und die ganze Behandlung wird voller und rei-

cher. In dem lang ausgeführten Schlüsse erscheint

das angeführte punktierte Motiv wieder; derselbe

ist harmonisch interessant und erhält namentlich

durch die Behandlung einer ganz einfachen Figur:

eine eigentümliche Färbung von Innigkeit und Wär-

me. Ganz vernehmlich werden wir hier wieder auf

die spät-Beethoven'sche Weise hingewiesen.

Ein phantastisches, ganz von hergebrachter

Form abweichendes Stück ist das nun folgende

S c h e r z o (Allegro c-Moll 6/8). Es hat drei getrenn-

te Bestandtheile, die sich, in demselben Rhythmus

natürlich, immerfort ablösen. Nachdem das Cello

pizz. den Rhythmus angedeutet, bringen Violine

und Bratsche in Oktaven ein synkopiertes Motiv,

unstet und ruhelos hineilend, mit herber harmoni-

scher Begleitung, auf der Dominante ohne Terz

schließend. Es folgt (2/4) ein etwas festeres, doch

auch unruhiges Motiv:

welches ebenfalls, unsicher und fragend, nach 9

Takten mit dem Dominantakkorde aufhört. Nach

kurzer Pause setzt in C-Dur in größter Fülle und

Kraft eine glänzende Melodie, wie einen Siegeszug

begleitend, ein (ihr Hauptmotiv war in dem Schlüs-

se der punktierten Bewegung schon angedeutet),

welche nach zweimaligem Auftreten glänzend ab-

schließt. Nun folgt das erste Motiv (welches schon

zu einem herb-kräftigen Anhange des eben ge-

nannten Motivs benutzt worden war) wieder wie

zu Anfang, führt aber vermittelst anderer Harmoni-

en zu D als Dominante von g-Moll; das sich an-

schließende 2/4 -Motiv erscheint in ganzer Kraft von

allen Instrumenten gespielt, wird dann zu einer fu-

gierten Verarbeitung mit einer kontrapunktischen

Begleitung in Achteln benutzt, welche mit der Do-

minante von es-Moll schließt, und wieder folgt das

rauschende Siegesthema in Es-Dur. Das nun wie-

derkehrende erste Thema tritt diesmal nicht in Syn-

kopen, sondern mit dem Takte fest und kräftig auf,

an Fülle und Kraft sich immer steigernd: ein mächti-

ger Abschluss, wild und herb klingend, wird mit

dem 2/4-Motiv herbeigeführt. Ein Kampf von Unru-

he, Heftigkeit und siegesgewissem Stolze wird uns

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in diesem Stücke mit fast dramatischer Lebendig-

keit vorgeführt — wir müssen nur, ehe wir eine

vollkommene Darstellung des Stücks gehört haben,

zweifeln, ob die Fülle des Stoffs und das Verlassen

der hergebrachten Form der Wirkung desselben

günstig ist. — In dem nicht entsprechend langen

T r i o (C-Dur) kommt eine kontrastierende, wir

möchten sagen weiblich-sanfte Stimmung zum

Ausdruck. Das Klavier ergeht sich in ruhig friedli-

chen harmonischen Gängen voll süßen Ausdrucks,

namentlich in der Modulation; nur das Cello bringt

in der Tiefe eine etwas bewegtere Begleitung hin-

zu. Die melodische Periode wird von den Instru-

menten aufgenommen. Den Anfang des zweiten

Teils bildet eine kurze Periode in 2/4-Takt, gebunde-

ne Figuren, welche aufsteigen. und kontrapunkti-

sche Achtelbegleitung. Zur Wiederholung des The-

mas klingt das B im Bass besonders hübsch; auch

wird die Wiederkehr des synkopierten Anfangmo-

tivs mit Feinheit angedeutet. Vielleicht dürfte man

wünschen, dass das Trio etwas weiter ausgeführt

wäre; namentlich scheint uns der Anfang des zwei-

ten Teiles im Verhältniss zum Übrigen nicht bedeu-

tend genug. Nur möchten wir die, welche etwa hier

und anderwärts an einem gewissen Übermaß des

Stoffs Anstoß nehmen wollten, aufmerksam ma-

chen auf die Klarheit der Gegenüberstellung, aller

Motive und Perioden, auf die vollkommene Sym-

metrie in den einzelnen Abschnitten, auf die sorg-

same rhythmische Gliederung, auf die Abwesen-

heit jeder Phrase und jeder verschwimmenden Un-

bestimmtheit. Der Stoff strömt dem Komponisten

reichlich zu, und wenngleich es vielleicht der Wir-

kung mancher seiner Sätze günstiger wäre, wenn er

weniger gäbe, als er zu geben hat, so wird doch

niemand sich der Beobachtung verschließen kön-

nen, dass er das Gegebene mit bewusster Meister-

schaft beherrscht und gestaltet. Und man nenne

uns den zweiten lebenden Komponisten, bei dem

man nur entfernt versucht wäre zu sagen: gib uns

weniger, so wird es mehr sein!

Das F i n a l e wird durch ein kurzes poco soste-

nuto (f-Moll 2/2) eingeleitet, worin sich mit einem

unscheinbaren Octaven-

motiv

die Stimmen nach und

nach sammeln, um wie-

der abzubrechen, da sich durch die chromatischen

Töne und Vorhalte keine rechte Harmonie bilden

will; es ist wie ein unsicheres Suchen im Dunkeln,

nach dem ungestümen Drange des Scherzos ist al-

les verstummt und nichts übrig geblieben, als das

Gefühl der Ohnmacht und der Notwendigkeit der

Ergebung. In dem von dem ausgehaltenen Des (als

kleine None zu f-Moll) absteigenden, an Schumann

erinnernden Gange erhält dies Gefühl einen

schmerzlichen Ausdruck. Am Schluss wird, nach-

dem das Oktavenmotiv noch einmal erklungen ist,

das Motiv des Allegros schon leise angedeutet.

Man wird sich an diese Einleitung gewöhnen müs-

sen — ähnlich wie man sich an die berühmte Einlei-

tung des Mozart'schen C-Dur-Quartetts gewöhnt

hat. — Das folgende Allegro non troppo (2/4) be-

ginnt mit einem bestimmt und ruhig einherschrei-

tenden Thema des Cellos, welches in seiner rhyth-

mischen Bewegung uns an den letzten Satz des

4händigen Duos von Franz Schubert erinnerte, nur

viel dunkler gefärbt ist. Dasselbe wird vom Klavier

übernommen, es kommen abwechselnde Figuren,

und in F-Dur scheint ein sanft einschlummernder

Schluss sich vorzubereiten, aus dem wir durch hef-

tige Stöße mit dem Hauptmotive aufgeweckt wer-

den. Nach einer durch Sechszehntelfiguren, die

zum Motive hinzutreten, heftig bewegten Periode

erfolgt ein Schluss auf G, und in etwas gesteiger-

tem Tempo setzen die Instrumente ein zweites

Thema ein:

dessen Tonart offenbar c-Moll ist, welches aber

durch die wieder frei eintretenden Vorhalte, das

sichtliche Vermeiden der eigentlichen harmoni-

schen Töne, wie durch seine ganze Bewegung einen

Eindruck unwilligen Zögerns hervorbringt, der

durch die Versetzungen und Modulationen noch

verstärkt wird — wir müssen unserer Überzeugung

gemäß hinzufügen, nicht in musikalisch schöner

Form. Es scheint uns besonders ungünstig zu sein,

dass dieses seiner Natur nach harmonisch nicht

ganz bestimmte Thema im Folgenden zur Verarbei-

tung mit benutzt wird, was großen Teilen des letz-

ten Satzes etwas Unklares, harmonisch Herbes gibt.

Das Thema geht in eine heftige Triolenbewegung

über, welche, mit synkopierten Figuren verbunden,

einen lang ausgeführten, stürmischen Schluss her-

beiführt, in welchem sich nur zuletzt die Achtelbe-

wegung des Themas wieder ankündigt. Schön ist

eine kleine aus dieser Achtelbewegung gebildete

Coda, dunkel und trübe gefärbt; schön auch der zö-

gernde Wiedereintritt des ersten Themas; man

fühlt den Ausdruck einer unerbittlichen Notwen-

digkeit, der man gern, aber vergeblich ausweichen

möchte. Mit kleinen Modifikationen kehrt der an-

fängliche Verlauf wieder, das zweite Thema mit sei-

nen Anhängen in f-Moll, die Schlusspartie, die klei-

ne Coda diesmal in verändertem, ganz ruhigem

Charakter, so dass man nur an der Harmonie die

Übereinstimmung erkennt. Die immer leiser verhal-

lenden Töne, die zurückhaltende Bewegung, ohne

dass ein eigentlicher harmonischer Abschluss er-

reicht ist, spannt unsere Erwartung aufs Höchste,

und höchst genial und phantastisch entwickelt sich

ein Presto (6/8) in cis-Moll mit einem hastig erreg-

120

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ten Thema, welches bei genauerem Aufmerken als

aus dem ersten Thema entstanden sich darstellt,

wenn es auch rhythmisch und harmonisch von

demselben gänzlich verschieden sich zeigt. Nach 8

Takten schließt es auf h-Moll, nach weiteren acht

auf a-Moll, jedesmal durch gebundene Gänge des

Klaviers vermittelt; die Violinen steigen in höchste

Lage bis b (wir glauben, nicht mit günstiger Klang-

wirkung), wo sich plötzlich die Modulation nach f-

Moll vollzieht; die Instrumente steigen in voller

Kraft hinab, und das neue Thema tritt in der Grund-

tonart ein, und führt, durch verschiedene Tonarten

modulierend, einen kräftigen Schluss herbei — und

hier, meinen wir, hätte das Ganze schließen kön-

nen. Dass mit diesem neuen Motiv das oben abge-

druckte zweite Thema verbunden zu neuer Verar-

beitung benutzt wird, woraus sich, der eigentümli-

chen harmonischen Beschaffenheit desselben zu-

folge, natürlich noch mancherlei kühne harmoni-

sche Verbindungen entwickeln und wobei viel the-

matische Kunst aufgeboten wird, um endlich in hef-

tigster Aufwallung zum Schlüsse zu gelangen — das

kann nicht zur günstigen Wirkung des Stücks bei-

tragen, es vollendet den schwankenden, einheitslo-

sen Charakter des letzten Satzes, den man in dem

so fest auftretenden ersten Thema gar nicht erwar-

tet. Nirgendwo so sehr wie hier fühlten wir uns zu

der Forderung des Maßhaltens veranlasst, nirgends

stobt das Übermaß des Stoffs wie der Verarbeitung

einer bestimmten Wirkung so entgegen; wir kön-

nen uns nicht denken — so große Überwindung es

uns kostet es auszusprechen — dass dieser Satz

einen befriedigenden, wirklich künstlerischen Ein-

druck hinterlassen könne.

Man wird Beschreibungen von Tonwerken, wie

die vorhergehende, zu ausführlich finden, und das

wird, wir fürchten es, Manchen abhalten sie zu le-

sen. Indessen haben dieselben ihren großen und

berechtigten Vorteil darin, dass solchen, welche ein

Werk nur durch Studium kennen zu lernen Gele-

genheit haben, dieses Studium erleichtert wird von

Jemanden, der dasselbe für sich durchgemacht hat;

und nur ein solcher, der Beschreibung und Ton-

stück zugleich und vergleichend durchnimmt, wird

im Stande und berechtigt sein zu sagen, in wieweit

unser Urteil zutreffend, in wieweit es zu enthusias-

tisch oder vielleicht hin und wieder nicht hinläng-

lich gerecht sei. Nur das Urteil solcher, die sich

nicht dem oberflächlichen Eindrucke hingeben

oder gar der Meinung des Haufens anschließen,

sondern die sich einer ausgeprägten Künstlerindivi-

dualität mit Interesse nähern und auf sie eingehen,

kann für uns von Bedeutung sein; nur von ihnen

werden wir lernen können, inwieweit wir mit dem

Gesagten und noch zu Sagenden Recht haben oder

nicht. Die technische Arbeit, die formelle Gestal-

tung, die kontrapunktische, harmonische, rhythmi-

sche Behandlung — alles das sind Dinge, über die

bei Brahms gar nicht zu reden ist; der oberfläch-

lichste Blick auf irgend eine Seite zeigt ihn als ferti-

gen und sichern Meister in all diesen Dingen. Aber

wir finden darüber hinaus das, was dem schaffen-

den Künstler eigen ist, einen Reichthum origineller

Gedanken, die ihm ungesucht in größerer Menge

zuströmen, als er sie gerade notwendig braucht;

Gedanken voll des verschiedenartigsten Ausdrucks,

jeder Stimmung entsprechend und in passenden

Kontrasten einander gegenübergestellt. Sie lassen

unverkennbar eine ganz selbständige Anlage her-

vortreten; jeder Gedanke sagt etwas Bestimmtes in

fester, knapper Form, und jeder Satz bildet ein Gan-

zes, welchem man kein Stückwerk anmerkt, wel-

ches aus einem Gusse entstanden ist. Das schließt

nicht aus, dass wir Anschlüsse, ja auch Anklänge an

Frühere wahrnehmen; hier hat er einmal das vor

den meisten Gleichzeitigen voraus, dass es nicht

die Weisen eines Einzelnen sind, die er reprodu-

ziert, dass er nicht Schumann'sch etc. schreibt, son-

dern von Allen sich geistig berührt zeigt, ohne dass

seine Selbständigkeit dabei gelitten hatte; und von

besonderem Interesse ist hier eine nicht zu verken-

nende Verwandtschaft seines musikalischen Den-

kens mit der Eigentümlichkeit der spät-Beethoven'-

schen und daneben der Franz Schubert'schen Wei-

se. Alles das haben wir auch bei früheren Gelegen-

heiten gesagt; wir wiederholen es, da Brahms in-

zwischen mehrfach und keineswegs immer mit der

auch schon dem künstlerischen Streben gebühren-

den Anerkennung besprochen worden ist, und um

daher gerade jetzt eine wirklich eingehende gründ-

liche Prüfung auch von anderer Seite hervorzuru-

fen, die uns zeigen würde, ob unsere Meinung rich-

tig oder nur in welchen Punkten sie unrichtig sei.

Denn wir können es weder für gewissenhaft halten,

wenn ein Kritiker ohne eigene Prüfung auf die

Stimmung des Publikums hin absprechend urteilt,

noch für angemessen und würdig, wenn die mo-

mentane Unlust eines Orchesters dem Dirigenten

einen willkommenen Anlass bietet, ein ihm unbe-

quemes Werk zurückzulegen. Wie von den

menschlichen Dingen überhaupt, so gilt auch von

Künstlern und Kunstwerken das bekannte Wort: wir

sollen sie weder beklagen noch verlachen, sondern

sie zu verstehen trachten.

Hermann Dieters

121

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b) „Neue Zeitschrift für Musik“ vom 18. Oktober 1867

Von Brahms‘ vorliegenden Werken macht unleug-

bar den günstigsten, bedeutendsten Eindruck sein

der Prinzessin Anna von Hessen gewidmetes

großes Q u i n t e t t für Klavier und Streichquartett

Op. 34 in f-Moll, dessen hervorragende Konzeption

überhaupt Veranlassung gibt, dieses Werk viel ein-

gehender zu betrachten, als alle anderen vorliegen-

den. Wie mächtig erfasst uns sofort der wahrhaft

originale Anfang mit seinem prächtigen Schwunge:

Außer diesem nochmals und conciser vorgeführten

Gedanken treten im ersten Satze hauptsächlich

noch hervor: ein aus dem Schlußtacte desselben

ausgesponnenes Motiv

folgender breitere Seitensatz

und ein wiederum ganz prächtig sich aufschwin-

gender Schlußsatz

Der zweite Theil bietet nach einem etwas kahlen

Syncopen-Gange hauptsächlich nur eine nicht tiefe

Verarbeitung des Seitensatzes; fesselnder dagegen

erhebt sich der Schluß des ganzen Satzes mit einem

eigenthümlichen Contrapunct-Inganno211, welches

durch einen kraftvollen Tutti-Abschluß gekrönt

wird. Der ganze Satz aber mit seiner consequent

festgehaltenen herben, tiefernsten Stimmung ist

trotz einiger später zusammenzufassender Mängel

von mächtig packender, wahrhaft großartiger Wir-

kung. Sehr wohlthuend folgt demselben folgender

durchweg in dieser Weise

begleitete seelenvolle Gesang,

welcher mit seinem kürzeren, später nicht mehr

wiederkehrenden Seitensatze

211 Spezielle Art einer unterbrochene Kadenz (bei

Giovanni Artusi: Second aparte dell’Artusi, 1603)

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sich durchweg in einfachster Liedform abspinnt

und, wenige launische oder matte Stellen abge-

rechnet, eines der gemüthvollsten, klarsten Stim-

mungsbilder der gegenwärtig arg verkümmerten

Adagio-Literatur genannt werden kann. Auch die

beiden folgenden Sätze, Scherzo und finale erhal-

ten das Interesse fast durchgängig durch prägnante

Gedanken, scharfe und logische Gliederung, pi-

quante Würfe und consequente wie rege themati-

sche Arbeit in Spannung.

Im Scherzo werden meist ziemlich herb und brüsk,

aber energisch und wirksam folgende drei Gedan-

ken

gegeneinandergetrieben, von denen sich der mitt-

lere mit Hülfe einer continuirlichen Gegenstimme

zu einem nicht üblen Fugato ausspinnt. Das nach

längerem Kampfe zwischen diesen sich ziemlich

schroff begegnenden Elementen beruhigend ein-

tretende, farblosere Trio ist nicht ohne melodi-

schen Reiz, ändert jedoch zu bald und unstet seine

Stimmung, um entsprechend wirksam contrastiren

zu können. Das Finale aber entpuppt sich nach ei-

ner schwermüthig in interessanten harmonischen

Speculationen grübelnden Einleitung als ein zuerst

munter ins Zeug gehendes, charakteristisch ent-

worfenes Rondo.

Ein etwas simpel und billig erfundener Seitensatz

muß ab und zu zu contrapunctischen Piquanterien

dienen, erhebt sich aber erst gegen den Schluß

durch energischere Behandlung zu etwas mehr Be-

deutung. Die Stimmung neigt überhaupt in diesem

Satze am Meisten zu dem Launischen und Unsteten

hin, wodurch Brahms den Genuß so manches ande-

ren seiner Werke trübt. Bald ist sie neckisch und

munter, bald leidenschaftlich, wild, grell, ja bizarr,

bis sie gegen den Schluß durch verschiedene wirk-

same Orgelpuncte zusammengerafft wird. Das Uns-

tete im Wesen des Autors zieht sich überhaupt

auch in diesem Werke von vornherein durch die ge-

sammte Anlage, nur lange nicht so störend als in

anderen seiner Schöpfungen. In der Regel fängt er

mit seinem Thema schon an zu arbeiten, ehe er

dasselbe einmal abgerundet ausgesprochen hat,

und verzettelt dadurch mehr oder weniger von

vornherein die volle Macht plastischen Eindrucks.

Und sobald Brahms das festere Satzgefüge verläßt,

um sich sobald als möglich gangartig zu ergehen,

verzerrt auch seine Lust am Bizarren, wenn auch

nur für Augenblicke, oft sofort das kaum gebotene

prächtige Bild durch häßliche Grimassen. Jenes lau-

nisch Unstete aber hält ihn auch ab, seine Gedan-

ken stets zu voller Geltung zu bringen. er stellt sie

uns zuweilen zwei, drei Mal unvermittelt hin und

vergräbt sich dann in so leidenschaftlichem Wüh-

len, daß auch seine wahrhaft glanzvolle contra-

punctische Meisterschaft sich selten zu voller Gel-

tung durcharbeitet. In der Klangwirkung meist sehr

wirkungsvoll gehalten, finden sich doch auch zu-

weilen kahle, in der Stimmführung und Zusammen-

stellung der Instrumente verzettelte Stellen. Die

Klavierpartie ist dankbar, zweilen aber auch zum

Verzweifeln vertract in der Applicatur212 und erfor-

dert jedenfalls einen sehr gewandten Künstler.

Trotz all dieser Ausstellungen ist dieses Quintett

eine erhebliche Bereicherung der gegenwärtigen

Literatur in Folge der mächtig fesselnden Großar-

tigkeit und Consequenz seiner Conception.

Hermann Zopff 213

212 Fingersatz

213 Musikwissenschaftler und Komponist (1826-

1883)

123

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Hinweis: Die Bildmaterialien sind sämtlich frei zugänglichen Internetseiten entnommen.

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