Britta Hartmann / Hans J. Wulff Vom Spezifischen des Films ... · PDF filethetischer Normen bei Jan Mukarovsky verbindet), das im Hintergrund der Produktionsentscheidungen steht und

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  • Britta Hartmann / Hans J. WulffVom Spezifischen des Films: Neoformalismus - Kognitivismus - historische Poetik

    Eine Druckfassung dieses Artikels erschien in: Montage/AV 4,1, 1995, S. 5-22. Eine Online-Fassung ist greifbar unter der URL: http://www.montage-av.de/pdf/041_1995/04_1_Hartmann_Wulff_Vom_Spezifischen_des_Films.pdf.Bibliographische Angabe dieser Online-Fassung: http://www.derwulff.de/2-50.

    Wohl kaum eine Debatte ist in der mit einer bemer-kenswerten akademischen Streitkultur ausgestatteten angloamerikanischen Filmwissenschaft so erbittert und langanhaltend gefhrt worden wie die um den "Neoformalismus" des sogenannten "Wisconsin-Pro-jekts" [1], dessen Hauptvertreter David Bordwell und Kristin Thompson an der University of Madison in Wisconsin lehren. Wohl kaum ein Ansatz wird so angegriffen und ist zugleich zum Standard-Reper-toire in filmwissenschaftlichen Seminaren gewor-den. Bordwells und Thompsons Einfhrungswerk Film Art, dessen Publikation 1979 den Beginn des neoformalistischen Projekts markiert [2], liegt in-zwischen in der vierten Auflage vor, und auch Bord-wells Narration in the Fiction Film [1985] und die Gemeinschaftsarbeit The Classical Hollywood Cine-ma [1985] sind zentrale Texte der zeitgenssischen Filmwissenschaft. Auch montage/av widmete sich bereits einige Male dem Neoformalismus: Nachdem im ersten Heft einen Artikel von David Bordwell (1992) erschien, sind dessen Positionen mehrfach Gegenstand der Auseinandersetzung gewesen (vgl. Lowry 1992; Decker 1994). In dieser Ausgabe nun soll mit der bersetzung des Einleitungskapitels aus Kristin Thompsons Breaking the Glass Armor (1988) einer der zentralen programmatischen Texte neoformalistischer Filmanalyse in deutscher Sprache zugnglich gemacht werden. Fr das bessere Ver-stndnis und die Verortung des Ansatzes wird hier einleitend die "Architektur" des "Wisconsin-Pro-jekts" noch einmal kurz skizziert, die Hauptkritik-punkte aus der Diskussion um die einzelnen Teilpro-jekte aufgefhrt und auf die entsprechenden Quellen hingewiesen [3]. Es schliet sich eine Bibliographie von Hans J. Wulff zu den Arbeiten der Gruppe an, die die einschlgigen Rezensionsartikel und Diskus-sionsbeitrge umfat und so der weiteren Orientie-rung dienen kann.

    Sicherlich lt sich behaupten, da derzeit wohl kaum ein anderes filmwissenschaftliches Projekt sol-che Konsistenz aufweist wie die gemeinschaftliche

    Arbeit von Bordwell und Thompson; die einzelnen Teilstudien ordnen sich in einen umfassenden Rah-men ein und scheinen einem inneren Plan zu folgen, in dem das Gesamtprojekt immer weiter ausgearbei-tet und exemplifiziert wird: Die neoformalistische Filmanalyse, die wir hier vorstellen, ist nur eines der Teilstcke in einem Gesamtforschungsprojekt, das sich im "Dreieck" von Filmtheorie, -analyse und -ge-schichte bewegt. Die anderen Eckpfeiler des Pro-jekts bilden eine kognitiv orientierte Theorie des Films, die das interaktive Verhltnis von Zuschauer und filmischer Textstruktur zu bestimmen und den Proze filmischer Textverarbeitung schematheore-tisch zu modellieren sucht, sowie der Entwurf einer historischen Poetik des Films, die die theoretische und methodologische Grundlage fr eine Geschichte der filmischen Stile bereitstellt und als Bezugsrah-men des kognitiven Ansatzes wie der Analysen ein-zelner Filme angesehen werden mu. (Die einzelnen Entwrfe knnen dabei als sich ergnzende Arbeits-schritte in Richtung auf die Entwicklung einer um-fassenden stilistisch orientierten Filmhistoriographie beschrieben werden, die, betrachtet man die letzte Publikation des Teams [Thompson/Bordwell 1994], inzwischen unverkennbar im Mittelpunkt des For-schungsinteresses steht.)

    Am weitesten ausgefhrt ist das Projekt einer "histo-rischen Stilistik" [4] im Entwurf zum klassischen Hollywood-Kino (Bordwell/Staiger/Thompson 1985), das als Gemeinschaftsarbeit von Autoren mit je spezifischen Interessengebieten angelegt ist. Das Stilsystem Hollywoods wird hier als ein "Modus fil-mischer Praxis" ("mode of film practice") angese-hen, der eine spezifische Form filmischer Reprsen-tation mit einem Modus filmisch-industrieller Pro-duktion ("mode of film production") integriert:

    A mode of film practice, then, consists of a set of widely held stylistic norms sustained by and su-staining an integral mode of film production. Those norms constitute a determinate set of ass-

  • umptions about how a movie should behave, about what stories it properly tells and how it should tell them, about the range and functions of film technique, and about the activities of the spectator. These formal and stylistic norms will be created, shaped, and supported within a mode of film production - a characteristic ensemble of economic aims, a specific division of labor, and particular ways of conceiving and executing the work of filmmaking (xiv).

    Im Vordergrund der Untersuchung stehen Produkti-on, Stil und Technologie, die Teilsysteme des Holly-wood-Modus bilden. Eine Geschichte der Distributi-ons- und Rezeptionsweisen wird zwar eingefordert, aber nicht ausgefhrt [5]. In diesem Entwurf sind die berlegungen zur "revisionistischen" Filmge-schichtsschreibung aufgenommen, die auf eine Hin-terfragung filmischer Kanonbildung und Autorenori-entierung sowie der Negierung der Filme als alleini-ge primre Quellen der Filmgeschichtsschreibung zugunsten der Einbeziehung bislang vernachlssigter Dokumente wie Firmenunterlagen, Vertrge, Ge-richtsurteile, Anzeigen in der Fachpresse, Abrech-nungen etc. abzielt. Gemeinsamer Fluchtpunkt "revi-sionistischer" Anstze ist die Synthetisierung stheti-scher, soziologischer, konomischer und technologi-scher Anstze zur Historiographie des Films [6].

    The Classical Hollywood Cinema gliedert sich die-ser Vorgabe geschuldet in mehrere Abschnitte, in de-nen technologische Vernderungen, die Arbeitsorga-nisation im Studio-System, Machtverhltnisse und konomische Bedingungen der Hollywood-Filmpro-duktion beschrieben werden. Im Mittelpunkt der Un-tersuchung steht dabei der klassische Hollywood-Film als spezifisches stilistisches System, andere mgliche Ansatzpunkte der Beschreibung treten da-gegen in den Hintergrund: Das eigentliche Untersu-chungsinteresse gilt spezifisch filmisch-sthetischen Strukturen. Allerdings wird der gesellschaftlich-his-torische Rahmen nicht vollends ausgeblendet: Stil-bildung im Hollywood-System hngt eng zusammen mit technischen und produktionslogischen Bedin-gungen [7].

    Stil ist dabei gefat als systematischer Gebrauch ki-nematographischer Mittel (vgl. Bordwell 1985, 50), der im spezifischen Produktionszusammenhang Hol-lywoods standardisiert und zum Regelwerk erhoben wird, so da eine strikt arbeitsteilige Gliederung und damit Kosteneffizienz der Produktion mglich wird.

    Das Hollywood-System kann beschrieben werden als ein solches "set" von Regeln und Normen (genau dies ist im brigen eine der Schnittstellen, die das "Wisconsin-Projekt" mit den Entwrfen des Forma-lismus, vor allem aber auch mit der Konzeption s-thetischer Normen bei Jan Mukarovsky verbindet), das im Hintergrund der Produktionsentscheidungen steht und zugleich das implizite filmisch-sthetische Wissen der Zuschauer ausmacht.

    Stil meint nun nicht die pure Erfllung einer histo-risch spezifischen Norm, sondern wird gefat als dy-namisches System, als Abfolge von Erfllung und Versto gegen die Normen, als Proze von Automa-tisierung und Verfremdung. Zum Teil sind Vernde-rungen des stilistischen Systems bedingt durch Ver-nderungen der technologischen Voraussetzungen (Farbe, Ton, Breitwandformate, 3-D-Verfahren etc.), aber auch wesentlich durch konomische Vernde-rungen (Marktanpassung, Medienkonkurrenz etc.) sowie institutionell sich verndernde Anforderungen wie z.B. Zensurbestimmungen ("Hollywood produc-tion code"). Jedoch ist Stil nicht vollstndig erklr-bar durch gesellschaftliche Einflunahmen, sondern ihm wird eine gewisse Tendenz zur Eigendynamik zugestanden: Das sthetische bildet ein autonomes Element des "mode of film practice". Hier schliet sich das Konzept eng an Mukarovskys Konzeption "historischer Reihen" knstlerischer Texte an, die ei-gene Entwicklungslinien ausbilden, ohne unmittel-bar von gesellschaftlichen Bedingungen tangiert zu sein bzw. diese zu beeinflussen. Nichols akzentuiert in seiner Kritik an diesem Konzept einer "histori-schen Poetik" gerade diese implizite Annahme einer Autonomie des Stilistischen, wenn er ein "Eigenle-ben formaler Systeme" und ihre "Immunitt gegen-ber materialistischer Geschichte", mithin Ahistori-zitt bei Bordwell konstatiert (vgl. Nichols 1989, 500). Nichols fhrt ein weiteres Argument an: Die Isolation der einzelnen historischen Modi voneinan-der berdeckt ihre tatschliche Koexistenz sowie ihre sich verndernden politischen Implikationen in den jeweiligen Verwertungskontexten [8] - bis hin zum postmodernistischen und parodistischen Ge-brauch distinkter filmischer Stilebenen.

    Obwohl eine historische Stilistik des Films vom Ein-zelwerk fortschreiten knnte auf einzelne stilistische Ausdrucksmittel (szenischer Aufbau, Lichtsetzung, Ausstattung, Kostme, Schauspiel, Ton, Kinemato-graphie, Transitionstechniken, Prinzipien der filmi-

  • schen Auflsung etc.), bleibt die filmische Werk-struktur als Bezugspunkt der Analyse in Kraft:

    Das Werk wird genommen als Gesamtensemble aller formalen Gegebenheiten, jedes Element hat formale Funktion, so da eine Beschreibung ge-funden werden mu, die diese formalen Wirk-krfte im Werk als 'aesthetic systems' bestimmbar macht (Wulff 1991, 394).

    Der Status des Einzeltextes erweist sich hier als am-bivalent: Stil tritt am Werk auf, der Text selbst ist da-her nur so etwas wie der Ort, an dem ein spezifischer Stil aufgefunden werden kann; andererseits ist aber das Werk als formale und sinnhafte Ganzheit Gegen-stand der Beschreibung selbst. Diese Doppelcharak-teristik des Werks wirkt sich auch in einigen Einzel-analysen in Breaking the Glass Armor aus: Das Be-