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BsR 1837 Sharp Umbruch - ICNC...Dieses Buch ist ein Lehrbuch zum gewaltfreien Sturz von Diktaturen. Der Politikwissenschaftler Gene Sharp hat es ursprünglich für die Demokratie-bewegung

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  • Dieses Buch ist ein Lehrbuch zum gewaltfreien Sturz von Diktaturen. Der Politikwissenschaftler Gene Sharp hat es ursprünglich für die Demokratie-bewegung in Myanmar (Birma) geschrieben. Besonders bei der Befreiung von einigen der Diktaturen in Mittel- und Osteuropa hat es seit dem Jahre 2000 eine wichtige Rolle gespielt. Die serbische Widerstandsbewegung hat es beim Sturz Milosevics benutzt, es wurde von den Befreiungsbewegun-gen in Georgien, in der Ukraine, in Kirgisistan und Belarus (Weißrußland) verwendet. Der Klassiker der Widerstandsliteratur, der bisher in 28 Spra-chen übersetzt wurde, liegt jetzt erstmals auch in deutscher Sprache vor.

    Gene Sharp ist Politikwissenschaftler und Gründer der Albert Einstein In-stitution, die sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung und der Ver-breitung von gewaltfreien Lösungen weltweiter Konfl ikte beschäftigt.

    The Albert Einstein InstitutionPO BOX 455East Boston, MA 02128USA [email protected]

    Gene Sharp

    Von der Diktatur//zur Demokratie//

    Ein Leitfadenfür die Befreiung

    Aus dem Englischen vonAndreas Wirthensohn

    Verlag C. H. Beck

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  • © Verlag C. H. Beck oHG, München 2008Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenUmschlagentwurf: + malsy, WillichPrinted in GermanyISBN 978 3 406 56817 6

    www.beck.de

    Inhalt //

    Vorwort 9

    1. Diktaturen realistisch begegnen 13Ein noch immer virulentes Problem 14Freiheit durch Gewalt? 16Putsch, Wahlen, ausländische Retter? 18Der unangenehmen Wahrheit ins Gesicht sehen 20

    2. Die Gefahren von Verhandlungen 22Vorzüge und Grenzen von Verhandlungen 23Ausgehandelte Kapitulation? 24Macht und Gerechtigkeit in Verhandlungen 25«Akzeptable» Diktatoren 27Was für ein Frieden? 28Gründe zur Hoffnung 29

    3. Woher stammt die Macht? 31Die Fabel vom «Affenmeister» 31Unabdingbare Quellen politischer Macht 32Zentren demokratischer Macht 36

    4. Diktaturen haben Schwächen 39Die Achillesferse erkennen 39Die Schwachstellen von Diktaturen 40Die Schwachstellen von Diktaturen angreifen 42

    5. Macht ausüben 43Die Funktionsweise des gewaltlosen Kampfes 44Gewaltlose Waffen und Disziplin 45

    Der Übersetzung liegt folgende Ausgabe zugrunde:Gene Sharp: From Dictatorship to Democracy© 1993 Gene Sharp

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  • Offenheit, Heimlichkeit und hohe Standards 48Die Machtverhältnisse verschieben 49Vier Mechanismen der Veränderung 50Die Demokratisierungseffekte politischen Widerstands 53Die Vielschichtigkeit des gewaltlosen Kampfes 54

    6. Die Notwendigkeit strategischer Planung 55Realistische Planung 56Mögliche Hindernisse 57Vier Grundkategorien strategischer Planung 60

    7. Eine Strategie entwerfen 64Die Wahl der Mittel 65Für die Demokratie planen 66Unterstützung von außen 67Eine umfassende Strategie formulieren 68Kampfstrategien planen 70Die Idee der Nichtzusammenarbeit verbreiten 73Repression und Gegenmaßnahmen 74Am Vorgehensplan festhalten 76

    8. Politischen Widerstand leisten 77Selektiver Widerstand 78Symbolische Herausforderung 79Verantwortung streuen 80Auf die Macht der Diktatoren zielen 81Strategiewechsel 84

    9. Die Diktatur zerschlagen 86Die Freiheit vorantreiben 88Die Diktatur zerschlagen 90Verantwortungsvoll mit Erfolg umgehen 91

    10. Grundlagen für eine dauerhafte Demokratie 94Eine drohende neue Diktatur 95Staatsstreiche verhindern 95Eine Verfassung entwerfen 96Demokratische Verteidigungspolitik 97Verdienstvolle Verantwortung 98

    Anhang 101Die Methoden gewaltlosen Vorgehens 101Anmerkungen 109Weiterführende Literatur 110Glossar 112

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    Vorwort

    Seit vielen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Frage, wie die Menschen Diktaturen verhindern und zerschlagen können. Dieses Interesse gründete zum Teil auf der Überzeugung, daß menschliche Wesen von derartigen Regimen nicht beherrscht und zerstört werden dürfen. Diese Überzeugung wurde bestärkt durch Vorlesungen zur Bedeutung menschlicher Freiheit, zum Wesen von Diktaturen (von Aristoteles bis zu den Totalitarismustheorien) sowie zu ihrer Geschichte (insbesondere zu den Systemen desNationalsozialismus und des Stalinismus). Im Lauf der Jahre hatte ich die Gelegenheit, Menschen kennen-zulernen, die unter der NS-Herrschaft gelebt und gelitten hatten, unter ihnen einige Überlebende der Konzentrationslager. In Nor-wegen traf ich Menschen, die sich der faschistischen Herrschaft widersetzt und überlebt hatten, und erfuhr von denen, die dabei umgekommen waren. Ich sprach mit Juden, die den Fängen der Nationalsozialisten entkommen waren, und mit Menschen, die zu ihrer Rettung beigetragen hatten. Mein Wissen über die Schrecken der kommunistischen Herr-schaft in verschiedenen Ländern verdanke ich eher den Büchern als persönlichen Kontakten. Der Terror dieser Regime erschien mir besonders bitter, denn diese Diktaturen waren im Namen der Be-freiung von Unterdrückung und Ausbeutung errichtet worden. In den letzten Jahrzehnten gewann die Wirklichkeit heutiger Diktaturen durch Besuche von Menschen aus diktatorisch regier-ten Ländern wie Panama, Polen, Chile, Tibet und Birma realere Ge-stalt. Tibeter, die gegen die Aggression der chinesischen Kommu-nisten gekämpft hatten, Russen, die den Putschversuch im August 1991 niedergeschlagen hatten, und Thailänder, die auf gewaltlose Weise eine Rückkehr zur Militärherrschaft verhindert hatten, ver-

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    mittelten mir oftmals beklemmende Einblicke in das heimtücki-sche Wesen von Diktaturen. Das Gefühl von Mitleid und Wut angesichts der Brutalitätensowie die Bewunderung für den sanften Heldenmut unglaublich mutiger Männer und Frauen verstärkten sich oft noch, wenn ich Orte besuchte, an denen die Gefahren noch immer groß waren und wo tapfere Menschen dennoch weiterhin Widerstand leisteten. Dazu gehörten Panama unter Noriega; das litauische Wilnius wäh-rend der sowjetischen Unterdrückung; der Platz des Himmlischen Friedens in Peking während der beeindruckenden Freiheitsbekun-dung in jener verhängnisvollen Nacht, als gleichzeitig schon die ersten gepanzerten Mannschaftswagen auffuhren; und die Haupt-quartiere der demokratischen Opposition im «befreiten Birma», die sich mitten im Dschungel von Manerplaw verbargen. Mitunter besuchte ich die Orte der Gefallenen, etwa den Fern-sehturm und den Friedhof in Wilnius, den Stadtpark von Riga, wo Menschen niedergeschossen worden waren, das Zentrum von Fer-rara, wo die Faschisten Widerstandskämpfer aufgereiht und er-schossen hatten, oder einen schlichten Friedhof in Manerplaw, wo all die Männer lagen, die viel zu früh ihr Leben gelassen hatten. Es ist eine traurige Erkenntnis, daß jede Diktatur Tod und Zerstörung mit sich bringt. Aus diesen Erfahrungen und Erlebnissen erwuchs die feste Hoffnung, daß sich Tyrannei verhindern läßt, daß sich Diktatu-ren mit Erfolg bekämpfen lassen, ohne daß man sich gegenseitigmassenhaft abschlachtet, daß man Diktaturen zerschlagen und ver-hindern kann, ohne daß sich aus ihrer Asche sogleich neue er-heben. Ich habe versucht, gründlich darüber nachzudenken, wie sich Dik taturen am effektivsten und mit so wenig Leid und Todes-opfern wie möglich zersetzen lassen. Dabei konnte ich mich auf meine langjährige Forschungsarbeit über Diktaturen, Widerstands-bewegungen, Revolutionen, politisches Denken, Regierungssy-steme und besonders über realistischen gewaltlosen Widerstand stützen.

    Aus diesen Überlegungen ist das vorliegende Buch entstanden. Es ist zwei fellos alles andere als vollkommen. Aber vielleicht kann es eine Art Leitfaden für Denken und Planung bieten, auf daß machtvollere und effektivere Befreiungsbewegungen entstehen, als dies sonst der Fall wäre. Notwendigerweise und ganz bewußt konzentriert sich dieser Essay auf das allgemeine Problem, wie sich eine Diktatur zerschla-gen und das Entstehen einer neuen verhindern läßt. Es liegt außer-halb meiner Kompetenz, eine detaillierte Analyse und Anleitung für ein spezifi sches Land zu liefern. Ich hoffe jedoch, daß dieseallgemeine Analyse den Menschen in – leider – viel zu vielen Län-dern von Nutzen ist, die heute mit den Realitäten diktatorischer Herrschaft konfrontiert sind. Sie müssen prüfen, inwieweit diese Analyse auf ihre Situation zutrifft und in welchem Maße sich ihre zentralen Empfehlungen für den eigenen Befreiungskampf anwen-den oder nutzbar machen lassen. Bei der Abfassung dieses Textes habe ich verschiedenerlei Dan-kesschuld auf mich geladen. So hat mein Mitarbeiter Bruce Jenkins einen unschätzbaren Beitrag geleistet, indem er mich auf inhalt-liche und darstellerische Probleme aufmerksam machte und prä-g nante Empfehlungen zur genaueren und klareren Darstellung schwieriger Sachverhalte (insbesondere im Hinblick auf die Strate-gie), zu einer veränderten Gliederung und zu redaktionellen Ver-besserungen gab. Für redaktionelle Unterstützung danke ich über-dies Stephen Coady. Wichtige kritische Hinweise und Ratschläge kamen von Dr. Christopher Kruegler und Robert Helvey. Dr. Ha-zel McFerson und Dr. Patricia Parkman lieferten mir Informatio-nen zu Befreiungskämpfen in Afrika bzw. Lateinamerika. Die vor-liegende Arbeit hat enorm von dieser freundlichen und großzügigen Unterstützung profi tiert, doch für die darin enthaltenen Analysen und Schlußfolgerungen trage selbstverständlich ich allein die Ver-antwortung. In dieser Abhandlung behaupte ich an keiner Stelle, daß der Wi-derstand gegen Diktatoren ein leichtes oder kostenloses Unterfan-gen ist. Alle Formen des Kampfes sind kompliziert und haben

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    ihren Preis. Der Kampf gegen Diktatoren wird natürlich Men-schenleben kosten. Ich hoffe jedoch, daß meine Darlegungen die Anführer des Widerstands dazu veranlassen, Strategien ins Augen zu fassen, die ihre Handlungsfähigkeit steigern und gleichzeitig dasrelative Maß an Opfern reduzieren. Ebensowenig sollte man meine Analyse dahingehend interpre-tieren, daß nach dem Ende einer spezifi schen Diktatur auch gleich alle anderen Probleme verschwinden. Der Sturz eines Regimes bringt kein Utopia mit sich. Er macht vielmehr den Weg frei für harte Arbeit und lange dauernde Bemühungen, gerechtere gesell-schaftliche, wirtschaftliche und politische Verhältnisse zu etablie-ren und andere Formen von Unrecht und Unterdrückung aus der Welt zu schaffen. Meine Hoffnung ist, daß diese knappe Unter-suchung darüber, wie sich eine Diktatur zerschlagen läßt, überall dort von Nutzen sein kann, wo Menschen unter diktatorischen Verhältnissen leben und frei sein wollen.

    Gene Sharp 6. Oktober 1993

    1. Diktaturen realistisch begegnen //

    In den letzten Jahren sind verschiedene Diktaturen – sowohl inne-ren wie äußeren Ursprungs – zusammengebrochen oder ins Strau-cheln geraten, als sie sich Widerstand leistenden, mobilisierten Menschen gegenübersahen. Einige dieser Diktaturen, die oftmals als fest verankert und unerschütterlich galten, waren nicht in der Lage, dem konzertierten politischen, wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Widerstand des Volkes standzuhalten. Seit 1980 sind die Diktaturen in Estland, Lettland und Litauen, in Polen, der DDR, der Tschechoslowakei und Slowenien, in Ma-dagaskar, Mali, Bolivien und auf den Philippinen angesichts des vorwiegend gewaltlosen Widerstands der Menschen zusammen-gebrochen. In Nepal, Sambia, Südkorea, Chile, Argentinien, Haiti, Brasilien, Uruguay, Malawi, Thailand, Bulgarien, Ungarn, Zaire, Nigeria und verschiedenen Teilen der früheren Sowjetunion (ins-besondere bei der Niederschlagung des Putschversuchs im August 1991) hat gewaltloser Widerstand die Demokratisierung vorange-trieben. Zudem kam es in den letzten Jahren in China, Birma und Tibet zu massenhaftem politischen Widerstand (mass political defi ance).1 Zwar wurden die herrschenden Diktaturen oder Besatzungen da-mit nicht beendet, doch wurde der Weltgemeinschaft die Brutalität dieser repressiven Regime vor Augen geführt, und die Bevölkerung sammelte wertvolle Erfahrung mit dieser Form des Kampfes. Der Zusammenbruch der Diktaturen in den oben genannten Ländern hat mit Sicherheit nicht all die anderen Probleme indiesen Gesellschaften gelöst: Armut, Kriminalität, ineffi ziente Ver-waltung und Umweltzerstörung sind oftmals die Hinterlassen-schaften brutaler Regime. Doch der Sturz dieser Diktaturen hat zumindest das Leid der Opfer der Unterdrückung deutlich gelin-

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    dert und die Möglichkeit eröffnet, diese Gesellschaften mit größe-rer politischer Demokratie, mit mehr persönlichen Freiheiten und mit größerer sozialer Gerechtigkeit neu aufzubauen.

    Ein noch immer virulentes Problem

    In den letzten Jahrzehnten gab es denn auch weltweit einen Trend in Richtung Demokratisierung und mehr Freiheit. Laut der Orga-nisation Freedom House, die alljährlich einen internationalen Überblick zum Stand der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten veröffentlicht, ist die Zahl der Länder, die als «frei» ein-gestuft werden, in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen:2

    frei teilweise frei unfrei1983 55 76 641993 75 73 38

    Diese positive Entwicklung wird jedoch dadurch gedämpft, daß noch immer sehr viele Menschen unter den Bedingungen der Ty-rannei leben. So lebten im Januar 1993 31 Prozent der Gesamtwelt-bevölkerung von 5,45 Milliarden Menschen in Ländern und Ge-bieten, die als «unfrei» eingestuft werden,3 das heißt in Gegenden mit extrem eingeschränkten politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten. Die 38 Länder und zwölf Territorien, die unter dieKategorie «unfrei» fallen, werden regiert von Militärdiktaturen (wie in Birma und im Sudan), traditionellen repressiven Monar-chien (etwa in Saudi-Arabien und Bhutan), Einparteienregimen (wie in China, im Irak und in Nordkorea) oder ausländischen Be-satzern (wie in Tibet und Osttimor) oder sie befi nden sich in einer Phase des Übergangs. Zahlreiche Länder befi nden sich heute in einem Stadium desrasanten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandels. Zwar hat die Zahl der «freien» Länder in letzten zehn Jahren zugenom-men; es besteht jedoch die große Gefahr, daß sich viele Nationen

    angesichts derart grundstürzender Veränderungen in die entgegen-gesetzte Richtung bewegen und neue Formen von Diktatur erle-ben. Cliquen von Militärs, ambitionierte Einzelpersonen, gewählte Offi zielle und doktrinäre politische Parteien werden immer wie-der versuchen, ihren Willen durchzusetzen. Staatsstreiche sind und bleiben ein vertrautes Phänomen. Unzähligen Menschen werden auch weiterhin grundlegende Menschen- und politische Rechte verweigert. Unglücklicherweise läßt sich die Vergangenheit nicht abschüt-teln. Das Problem der Diktaturen sitzt tief. In vielen Ländernhaben die Menschen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte der Unter-drückung erlebt, ob nun von innen oder von außen. Häufi g ist die fraglose Unterwerfung unter autoritäre Gestalten und Herrscher seit langem schon verinnerlicht. In extremen Fällen wurden diesozialen, politischen, ökonomischen und sogar religiösen Institu-tionen der Gesellschaft – außerhalb staatlicher Kontrolle – bewußt geschwächt, unterworfen oder gar durch neue, streng reglemen-tierte Institutionen ersetzt, die vom Staat oder der herrschenden Partei zur Kontrolle der Gesellschaft benutzt werden. Die Bevöl-kerung wurde oftmals dermaßen atomisiert (in eine Masse isolier-ter Einzelner verwandelt), daß sie nicht gemeinsam daran arbeiten kann, Freiheit zu erlangen, sich gegenseitig nicht vertrauen kann oder nicht einmal groß in der Lage ist, irgendetwas aus eigenerInitiative zu bewerkstelligen. Das Ergebnis ist absehbar: Die Bevölkerung wird schwach, es fehlt ihr an Selbstbewußtsein, und sie ist unfähig zum Widerstand. Die Menschen sind oft zu verängstigt, um ihren Haß auf die Dik-tatur und ihren Hunger nach Freiheit auch nur mit ihrer Familie und Freunden zu teilen. Die Menschen sind oftmals zu stark einge-schüchtert, um ernsthaft öffentlichen Widerstand zu erwägen. Was hätte er denn für einen Zweck? Statt dessen fi nden sie sich mit sinnlosem Leiden und einer hoffnungslosen Zukunft ab. Die gegenwärtige Situation in den heutigen Diktaturen ist mög-licherweise viel schlimmer als früher. In der Vergangenheit haben zumindest einige Menschen versucht, Widerstand zu leisten. Es

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    konnte kurzzeitig zu Massenprotesten und Demonstrationen kom-men. Vielleicht schwangen sich die Geister vorübergehend empor. In anderen Fällen zeigten Individuen oder kleine Gruppen mutige, aber wirkungslose Gesten, mit denen sie auf einem Grundsatz be-harrten oder einfach nur ihren Widerstand signalisierten. Dochso edel die Motive auch gewesen sein mögen: Derartige Akte des Widerstands reichten in der Vergangenheit zumeist nicht aus, um die Angst und den tiefsitzenden Gehorsam der Menschen zu über-winden, was aber eine notwendige Voraussetzung ist, um eineDiktatur zu zerschlagen. Vielmehr führten solche Akte trauriger-weise oft zu noch mehr Leid und Tod, nicht zu Siegen oder auch nur zu einem Mehr an Hoffnung.

    Freiheit durch Gewalt?

    Was ist unter diesen Umständen zu tun? Die naheliegenden Mög-lichkeiten scheinen nutzlos zu sein. Konstitutionelle oder recht-liche Schranken, Gerichtsentscheidungen und die öffentliche Mei-nung werden von Diktatoren üblicherweise ignoriert. Als Reaktion auf die Brutalitäten, auf Folter, Verschleppungen und Morde ka-men die Menschen verständlicherweise oftmals zu dem Schluß, eine Diktatur lasse sich nur mit Gewalt beenden. Wütende Opfer haben sich mitunter organisiert, um die brutalen Diktatoren mit allen ihnen zur Verfügung stehenden gewaltsamen und militä-rischen Mitteln zu bekämpfen, mochten ihre Chancen auch noch so schlecht stehen. Diese Menschen haben oft tapfer gekämpft und mit Leid und Menschenleben teuer dafür bezahlt. In manchenFällen konnten sie bemerkenswerte Erfolge erzielen, doch nur sel-ten errangen sie die Freiheit. Gewaltsame Rebellionen können eine brutale Unterdrückung auslösen, die das gemeine Volk häufi g noch hilfl oser macht als zuvor. Bei allen Verdiensten der Gewaltoption ist jedoch eines klar. Wenn man auf gewaltsame Mittel vertraut, entscheidet man sich genau für die Art von Kampf, bei der die Unterdrücker so gut wie

    immer überlegen sind. Die Diktatoren verfügen über die Ausrü-stung, um auf überwältigende Art Gewalt auszuüben. Ganz gleich, wie lange oder kurz diese Demokraten durchhalten, am Ende ent-scheiden in der Regel die harten militärischen Realitäten. In punkto militärischer «hardware», Munition, Transportmöglichkeiten und Größe der Streitkräfte sind die Diktatoren fast immer überlegen. Bei aller Tapferkeit sind die Demokraten (so gut wie immer) kein ebenbürtiger Gegner. Erweist sich eine konventionelle militärische Rebellion als un-realistisch, befürworten manche Dissidenten einen Guerillakrieg. Von einer solchen Guerillastrategie jedoch profi tiert die unter-drückte Bevölkerung wenn überhaupt eher selten, und zur Demo-kratie führt sie zumeist auch nicht. Der Guerillakrieg ist keinenaheliegende Lösung, insbesondere wenn man bedenkt, daß er un-ter den eigenen Leuten mit großer Wahrscheinlichkeit viele Opfer fordert. Dieses Vorgehen ist trotz brauchbarer Theorie und strate-gischer Analysen und mitunter internationaler Rückendeckung keineswegs gegen das Scheitern gefeit. Guerillakriege dauern oft sehr lange. Die Zivilbevölkerung wird dabei von der herrschenden Regierung häufi g vertrieben, was unendlich viel menschliches Leid und soziale Verwerfungen mit sich bringt. Selbst wenn sie von Erfolg gekrönt sind, haben Guerillakriege auf lange Sicht oftmals äußerst negative strukturelle Folgen. Unmit-telbar ist es so, daß das angegriffene Regime infolge seiner Gegen-maßnahmen noch diktatorischer wird. Sollten die Guerillakämpfer am Ende siegen, ist das daraus hervorgehende neue Regime oft noch diktatorischer als sein Vorgänger, da sich der enorme Umfang der Streitkräfte zentralisierend auswirkt und die unabhängigen ge-sellschaftlichen Gruppen und Institutionen während des Kampfes geschwächt oder zerschlagen wurden – gerade sie aber sind von zentraler Bedeutung für den Aufbau und das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Die Gegner von Diktaturen sollten sich deshalb nach einer anderen Option umsehen.

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    Putsch, Wahlen, ausländische Retter?

    Ein Militärputsch gegen eine Diktatur könnte relativ gesehen als eine der einfachsten und schnellsten Möglichkeiten erscheinen, ein besonders widerwärtiges Regime zu beseitigen. Doch auch dieses Vorgehen bringt sehr ernste Probleme mit sich. Insbesondereändert es nichts an der bestehenden Ungleichverteilung der Macht zwischen der Bevölkerung und der Elite, welche die Regierung und deren Streitkräfte kontrolliert. Wenn bestimmte Personen und Cliquen aus Regierungspositionen entfernt werden, führt dies aller Wahrscheinlichkeit nach lediglich dazu, daß eine andere Gruppe an deren Stelle tritt. Theoretisch könnte diese Gruppe ein milderes Verhalten an den Tag legen und zumindest in gewisser Weise offen für demokratische Reformen sein. Doch das Gegenteil ist ebenso wahrscheinlich. Wenn die neue Clique ihre Stellung gefestigt hat, erweist sie sich möglicherweise als noch rücksichtsloser und gieriger als die alte. Deshalb wird die neue Clique – in die man vermutlich große Hoff-nungen gesetzt hat – ohne Rücksicht auf Demokratie und Men-schenrechte nach Belieben schalten und walten können. Das ist nun wahrlich keine akzeptable Antwort auf das Problem der Dik-tatur. Wahlen als Instrument grundlegenden politischen Wandels kom-men in einer Diktatur nicht in Frage. Einige diktatorische Regime, etwa im ehemaligen, sowjetisch dominierten Ostblock, hielten pro forma Wahlen ab, um den Anschein von Demokratie zu erwecken. Doch diese Wahlen waren lediglich streng kontrollierte Plebiszite, um die öffentliche Unterstützung für Kandidaten zu erlangen, die schon zuvor von den Diktatoren fein säuberlich ausgesucht wor-den waren. Diktatoren, die unter Druck stehen, mögen mitunter Neuwahlen zustimmen, werden sie dann aber so manipulieren, daß zivile Marionetten in Regierungsämter gelangen. Wenn Ver-treter der Opposition kandidieren durften und auch tatsächlich ge-wählt wurden wie etwa 1990 in Birma und 1993 in Nigeria, werden

    die Ergebnisse einfach ignoriert und die «Sieger» eingeschüchtert, verhaftet oder gar hingerichtet. Diktatoren lassen keine Wahlen zu, die sie von ihrem Thron stoßen könnten. Viele Menschen, die heute unter einer brutalen Diktatur leiden oder ins Exil gegangen sind, um deren unmittelbarem Zugriff zu entgehen, glauben nicht, daß sich die Unterdrückten selbst befreien können. Sie sind der Ansicht, ihr Volk könne nur durch das Ein-greifen anderer gerettet werden. Diese Menschen setzen ihr Ver-trauen in äußere Mächte. Ihrer Meinung nach ist nur internationale Hilfe stark genug, um die Diktatoren zu stürzen. Die Ansicht, die Unterdrückten seien nicht in der Lage, effektiv zu handeln, trifft in manchen Fällen für einen bestimmten Zeit-raum zu. Wie bereits erwähnt, sind unterdrückte Menschen oft-mals nicht willens und zeitweise auch nicht fähig zum Kampf,da sie kein Vertrauen in ihre Fähigkeit haben, sich der unbarm-herzigen Diktatur zu widersetzen, und nicht wissen, wie sie sich selbst befreien sollen. Es ist deshalb nur allzu verständlich, daß viele Menschen ihre Hoffnung auf Befreiung auf andere setzen. Eine solche äußere Macht können die «öffentliche Meinung», die Vereinten Nationen, ein spezifi sches Land oder internationale wirtschaftliche und politische Sanktionen sein. Ein solches Szenario mag vielversprechend klingen, doch das Vertrauen auf einen Retter von außen bringt gravierende Probleme mit sich. Ein solches Vertrauen kann völlig fehl am Platze sein. Normalerweise kommen keine Retter von außen, und wenn ein fremder Staat tatsächlich eingreift, sollte man ihm vermutlich nicht trauen. Was das Vertrauen auf eine Intervention von außen angeht, gilt es einige harte Realitäten klar und deutlich zu benennen:• Ausländische Staaten werden eine Diktatur häufi g tolerieren

    oder sogar unterstützen, um ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen zu befördern.

    • Ausländische Staaten können zudem gewillt sein, ein unter-drücktes Volk zu verraten statt Versprechen einzuhalten und ihm auf Kosten eines anderen Ziels bei der Befreiung zu helfen.

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    • Manche ausländischen Staaten werden nur dann gegen eine Dik-tatur vorgehen, wenn sie damit die wirtschaftliche, politische oder militärische Kontrolle über das Land erlangen.

    • Die ausländischen Staaten werden sich nur dann aktiv für posi-tive Zwecke gewinnen lassen, wenn die nationale Widerstands-bewegung die Diktatur bereits in Wanken gebracht und dabei die internationale Aufmerksamkeit auf die Brutalität des Re-gi mes gelenkt hat.

    Diktaturen existieren üblicherweise vor allem aufgrund der inter-nen Machtverteilung in einem Land. Die Bevölkerung und die Ge-sellschaft sind zu schwach, um die Diktatur vor ernste Probleme zu stellen; Reichtum und Macht sind in zu wenigen Händenkonzentriert. Diktaturen können von internationalen Aktionen zwar entweder profi tieren oder durch sie zumindest ein weniggeschwächt werden, doch ihre Fortdauer hängt in erster Linie von internen Faktoren ab. Internationaler Druck kann freilich sehr hilfreich sein, wenn er eine machtvolle interne Widerstandsbewegung unterstützt. Dann können beispielsweise ein internationaler Wirtschaftsboykott,ein Embargo, der Abbruch der diplomatischen Beziehungen, der Ausschluß aus internationalen Organisationen, eine Verurteilung durch die Vereinten Nationen und ähnliches von großer Hilfe sein. Fehlt jedoch eine starke interne Widerstandsbewegung, sind der-artige Aktionen von anderen höchst unwahrscheinlich.

    Der unangenehmen Wahrheit ins Gesicht sehen

    Die Schlußfolgerung aus all dem ist nicht besonders erfreulich. Will man eine Diktatur möglichst effektiv und mit so geringen Ko-sten wie möglich stürzen, so gilt es unmittelbar vier Aufgaben zu erfüllen:• Man muß die unterdrückte Bevölkerung in ihrer Entschlossen-

    heit, in ihrem Selbstvertrauen und in ihren Widerstandsmöglich-keiten stärken.

    • Man muß die unabhängigen gesellschaftlichen Gruppen und In-stitutionen des unterdrückten Volkes stärken.

    • Man muß für eine durchsetzungsfähige interne Widerstandsbe-wegung sorgen.

    • Man muß eine kluge umfassende Strategie für die Befreiung ent-wickeln und sie geschickt umsetzen.

    Ein Befreiungskampf ist eine Zeit des Vertrauens auf die eigenen Kräfte und der internen Stärkung der kämpfenden Gruppe. Soverkündete Charles Stewart Parnell während der irischen Pacht-boykottkampagne 1879 und 1880: »Es hat keinen Zweck, auf die Regierung zu bauen … Man darf einzig und allein auf die eigene Entschlossenheit vertrauen … Helft euch gegenseitig, indem ihr zusammensteht … stärkt diejenigen unter euch, die schwach sind … verbündet euch, organisiert euch … und ihr werdet siegen … Erst wenn ihr dafür gesorgt habt, daß diese Frage beigelegt werden kann, erst dann wird sie auch beigelegt werden.»4

    Gegen eine starke, selbstbewußte Macht, die über eine kluge Strategie und echte Stärke verfügt und die diszipliniert und mutig handelt, wird die Diktatur am Ende unterliegen. Dazu müssen freilich die vier oben genannten Mindestvoraussetzungen erfüllt sein. Wie die obigen Ausführungen zeigen, hängt die Befreiung von Diktaturen letztlich von der Fähigkeit der Menschen ab, sich selbst zu befreien. Die genannten Fälle erfolgreichen politischen Wider-stands – oder gewaltlosen Kampfes für politische Ziele – machen deutlich, daß Völker über die Mittel verfügen, um sich selbst zu befreien, diese Option bislang jedoch nicht weiterverfolgt wurde. In den folgenden Kapiteln werden wir diese Option genauer unter die Lupe nehmen. Zunächst jedoch wollen wir uns der Frage zu-wenden, ob sich Diktaturen auf dem Verhandlungsweg demontie-ren lassen.

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    2. Die Gefahren von Verhandlungen //

    Angesichts der geschilderten schwerwiegenden Probleme, die sich ergeben, wenn man einer Diktatur entgegentritt, lassen sich man-che möglicherweise wieder in passive Ergebenheit zurückfallen. Andere, die keine Aussicht auf Demokratie erkennen, kommen vielleicht zu dem Schluß, daß sie sich mit der offenbar dauerhaften Diktatur abfi nden müssen, und hoffen, durch «Ausgleich», «Kom-promiß» und «Verhandlungen» einige positive Elemente retten und den Brutalitäten ein Ende machen zu können. Angesichts feh-lender realistischer Optionen hat dieser Gedanke auf den ersten Blick einiges für sich. Ein ernsthafter Kampf gegen brutale Diktaturen ist keine be-sonders beglückende Aussicht. Warum muß man diesen Weg ge-hen? Kann sich nicht jeder einfach vernünftig verhalten und Mög-lichkeiten fi nden, wie man miteinander reden und den Weg zu einem schrittweisen Ende der Diktatur aushandeln kann? Können die Demokraten nicht bei den Diktatoren an das Gefühl gemeinsa-mer Menschlichkeit appellieren und sie davon überzeugen, ihre Alleinherrschaft Stück für Stück zu reduzieren und am Ende viel-leicht sogar vollständig der Einrichtung einer Demokratie statt-zugeben? Mitunter wird behauptet, die Wahrheit liege nicht nur auf einer Seite. Vielleicht haben ja die Demokraten die Diktatoren miß-verstanden, die möglicherweise unter schwierigen Umständen aus edlen Motiven heraus handelten? Einige mögen der Ansicht sein, die Diktatoren würden sich liebend gerne aus der schwierigen Lage, in der sich das Land befi ndet, zurückziehen, wenn man sie nur dazu ermutigt und animiert. Man könnte argumentieren, man müsse den Diktatoren eine «win-win»-Situation offerieren, in der jeder gewinnt. Die Risiken und die Pein eines weiteren Kampfes

    sind möglicherweise nicht mehr vonnöten, so könnte man behaup-ten, wenn die demokratische Opposition nur gewillt ist, den Kon-fl ikt friedlich durch Verhandlungen beizulegen (bei denen even-tuell erfahrene Vermittler oder gar eine andere Regierung helfen). Wäre das nicht besser als ein komplizierter Kampf, selbst wenn dieser auf gewaltlose Weise und nicht mit militärischen Mitteln ge-führt wird?

    Vorzüge und Grenzen von Verhandlungen

    Verhandlungen sind ein äußerst nützliches Instrument, wenn es darum geht, in Konfl ikten bestimmte Arten von Problemen zulösen; sie sollten nicht vernachlässigt oder abgelehnt werden, wenn sie sich einsetzen lassen. In einigen Situationen, in denen es nicht um grundsätzlicheFragen geht und ein Kompromiß deshalb akzeptabel ist, können Verhandlungen ein wichtiges Mittel der Konfl iktbeilegung sein. Ein Streik der Arbeiter für höhere Löhne ist ein gutes Beispiel für die angemessene Rolle von Verhandlungen in einem Konfl ikt: Eine auf dem Verhandlungsweg erzielte Vereinbarung sorgt für einen Lohnzuwachs, der irgendwo zwischen den ursprünglich von den beiden Parteien vorgeschlagenen Zahlen liegt. Arbeitskonfl ikte mit legalen Gewerkschaften sind freilich etwas anderes als die Kon-fl ikte, in denen es um die Fortdauer einer grausamen Diktatur oder um die Durchsetzung politischer Freiheit geht. Geht es nämlich um grundsätzliche Fragen, die religiöse Prin-zipien, den Bereich menschlicher Freiheit oder die gesamte künf-tige Entwicklung der Gesellschaft betreffen, bieten Verhandlungen keine Möglichkeit, zu einer beiderseitig befriedigenden Lösung zu kommen. In einigen grundlegenden Fragen sollte es keinen Kom-promiß geben. Nur eine Verschiebung der Machtverhältnisse zu-gunsten der Demokraten kann diesen grundsätzlichen Problemen gerecht werden. Und zu einer solchen Verschiebung wird es nur durch Kampf, nicht durch Verhandlungen kommen. Das heißt

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    nicht, daß man sich des Verhandlungswegs niemals bedienen sollte. Es geht vielmehr darum, daß Verhandlungen keinen realistischen Weg darstellen, um eine starke Diktatur zu beseitigen, wenn eine machtvolle demokratische Opposition fehlt. Selbstverständlich können Verhandlungen auch gar keine Op-tion sein. Fest etablierte Diktatoren, die sich in ihrer Positionsicher fühlen, werden sich vermutlich weigern, mit ihren demokra-tischen Widersachern zu verhandeln. Oder falls doch Verhand-lungen aufgenommen wurden, verschwinden die demokratischen Wortführer möglicherweise auf Nimmerwiedersehen.

    Ausgehandelte Kapitulation?

    Individuen und Gruppen, die sich gegen Diktaturen aufl ehnenund dabei dem Verhandlungsweg den Vorzug geben, haben oftmals edle Motive. Insbesondere wenn ein militärischer Kampf gegen eine brutale Diktatur seit Jahren andauert, ohne daß ein endgül-tiger Sieg in Sicht ist, ist es nur zu verständlich, daß alle Menschen, ganz gleich welcher politischen Couleur, Frieden wollen. Verhand-lungen werden unter Demokraten insbesondere dort zum Thema, wo Diktatoren militärisch eindeutig überlegen sind und die Zer-störung und die Opfer unter der eigenen Bevölkerung nicht mehr erträglich sind. In diesen Fällen wird die Versuchung groß sein, jede Möglichkeit auszuloten, die zumindest einige Zielsetzungen der Demokraten wahrt und gleichzeitig dem Teufelskreis aus Ge-walt und Gegengewalt ein Ende macht. Wenn eine Diktatur «Frieden» durch Verhandlungen mit der de-mokratischen Opposition anbietet, ist das natürlich ziemlich ver-logen. Denn die Gewalt ließe sich von den Diktatoren selbst sofort beenden, wenn sie nur den Krieg gegen ihr eigenes Volk einstellen würden. Sie könnten aus eigener Initiative ohne jegliche Verhand-lung die Achtung vor der Menschenwürde und den Menschen-rechten wiederherstellen, politische Gefangene freilassen, der Fol-ter ein Ende machen, die militärischen Operationen einstellen, sich

    aus der Regierung zurückziehen und sich bei den Menschen ent-schuldigen. Wenn die Diktatur stark ist, es zugleich aber bedenklichenWiderstand gibt, können die Diktatoren den Wunsch hegen, dieOpposition unter dem Deckmantel des «Friedens» qua Verhand-lung zur Kapitulation zu veranlassen. Der Ruf nach Gesprächen mag verlockend klingen, doch im Verhandlungszimmer können ernste Gefahren lauern. Wenn andererseits die Opposition ausnehmend stark und die Diktatur wirklich bedroht ist, können die Diktatoren das Gespräch suchen, um soviel Kontrollmacht oder Reichtum wie möglich zu retten. In keinem dieser Fälle sollten die Demokraten den Dikta-toren dabei helfen, ihre Ziele zu erreichen. Demokraten sollten sich vor den Fallen hüten, die möglicher-weise von den Diktatoren bewußt in den Verhandlungsprozeßeingebaut werden. Wenn es um Grundsätzliches in Sachen poli-tischer Freiheit geht, könnte der Ruf nach Verhandlungen demBemühen der Diktatoren entspringen, die Demokraten zur fried-lichen Kapitulation zu verleiten, während die Gewalt der Diktatur weitergeht. In derartigen Konfl ikten können Verhandlungen allen-falls am Ende eines entscheidenden Kampfes sinnvoll sein, wenn die Macht der Diktatoren wirklich zerschlagen ist und sie umsicheres Geleit zu einem internationalen Flughafen nachsuchen.

    Macht und Gerechtigkeit in Verhandlungen

    Sollte dieses Urteil über Verhandlungen zu hart klingen, muß man möglicherweise die mit ihnen verbundene Romantik ein wenig dämpfen. Es bedarf des klaren Nachdenkens darüber, wie Ver-handlungen funktionieren. «Verhandlung» bedeutet nicht, daß beide Seiten sich auf gleich-berechtigter Basis zusammensetzen, um über die Differenzen zu sprechen, die zum Konfl ikt zwischen ihnen führten, und diese aus der Welt zu schaffen. Zwei Dinge gilt es dabei zu bedenken. Er-

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    stens wird bei Verhandlungen der Inhalt eines vereinbarten Ab-kommens nicht davon bestimmt, daß er den konfl igierenden An-sichten und Zielen in relativer Weise gerecht wird. Zum zweiten wird der Inhalt eines vereinbarten Abkommens von den Macht-kapazitäten auf beiden Seiten bestimmt. Mehrere komplizierte Fragen sind dabei zu berücksichtigen. Was können beide Seiten zu einem späteren Zeitpunkt tun, um ihre Ziele zu erreichen, wenn die jeweils andere Seite zu keiner Verein-barung am Verhandlungstisch kommt? Was können beide Seiten nach einer Vereinbarung tun, wenn die jeweils andere Seite wort-brüchig wird und die ihr zur Verfügung stehenden Kräfte einsetzt, um ihre Ziele trotz der getroffenen Vereinbarung zu erreichen? Eine Vereinbarung wird in Verhandlungen nicht dadurch er-reicht, daß man über richtig und falsch der in Rede stehenden Fra-gen urteilt. Mag man darüber auch heftig streiten, so beruhen die tatsächlichen Ergebnisse von Verhandlungen auf einer Bewertung der absoluten und relativen Machtsituation der Streitparteien. Wie sollen die Demokraten sicherstellen, daß ihre Minimalforderun-gen nicht bestritten werden können? Was können die Diktatoren tun, um die Kontrolle zu behalten und die Demokraten zu neutra-lisieren? Anders ausgedrückt: Kommt es zu einer Vereinbarung, so resultiert sie höchstwahrscheinlich daraus, wie beide Seiten die Machtkapazitäten im Vergleich einschätzen und welche Schlüsse sie daraus im Hinblick auf den Ausgang einer offenen Auseinan-dersetzung ziehen. Zu beachten gilt es auch, was beide Seiten aufzugeben bereit sind, um zu einer Vereinbarung zu kommen. In erfolgreichen Ver-handlungen kommt es zu einem Kompromiß, zu einer Aufspal-tung der Differenzen. Jede Seite bekommt Teile dessen, was sie will, und gibt Teile ihrer Ziele auf. Doch was sollen die demokratischen Kräfte im Falle extremer Diktaturen zugunsten der Diktatoren aufgeben? Welche Ziele der Diktatoren sollen die demokratischen Kräfte akzeptieren? Sollen die Demokraten den Diktatoren (ob einer politischen Partei oder einer Militärclique) in einer künftigen Regierung eine verfassungs-

    mäßig verbürgte dauerhafte Rolle zugestehen? Was soll daran dann noch demokratisch sein? Selbst wenn man annimmt, daß in Verhandlungen alles gut geht, ist zu fragen: Was für ein Frieden wird dabei herauskommen? Wird das Leben besser oder schlechter sein, als wenn die Demokraten den Kampf aufnehmen oder fortsetzen?

    «Akzeptable» Diktatoren

    Der Herrschaft von Diktatoren können ganz verschiedene Motive und Ziele zugrunde liegen: Macht, gesellschaftliche Position, Reich-tum, eine Neuordnung der Gesellschaft und ähnliches. Man sollte bedenken, daß sie keinem davon dienen, wenn sie ihre Kontroll-positionen verlassen. Im Falle von Verhandlungen werden Dikta-toren versuchen, ihre Zielsetzungen zu wahren. Ganz gleich, welche Versprechen Diktatoren in Verhandlungsver-einbarungen geben – man sollte nie vergessen, daß die Diktatoren möglicherweise so ziemlich alles versprechen, um den Gehorsam ihrer demokratischen Widersacher sicherzustellen, und an schlie-ßend schamlos gegen genau diese Abmachungen verstoßen. Wenn die Demokraten damit einverstanden sind, den Wider-stand einzustellen, um eine Atempause bei der Unterdrückungge währt zu bekommen, werden sie möglicherweise ziemlich ent-täuscht. Denn sobald die bändigende Kraft nationaler und inter-nationaler Opposition wegfällt, gehen Diktatoren womöglich noch brutaler und gewaltsamer vor. Der Zusammenbruch des Wider-stands in der Bevölkerung beseitigt oftmals die Gegenmacht,welche die Herrschaft und Brutalität der Diktatur begrenzte. Die Tyrannen können dann nach Belieben gegen jeden vorgehen. «Denn der Tyrann verfügt über die Macht, nur das durchzusetzen, dem wir uns mangels Stärke nicht widersetzen können», schrieb Krishnalal Shridharani.5

    Widerstand und nicht der Verhandlungsweg ist von entschei-dender Bedeutung, um in Konfl ikten, bei denen es um grundsätz-

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    liche Fragen geht, zu Veränderungen zu kommen. In so gut wieallen Fällen bedarf es anhaltenden Widerstands, um Diktatoren von der Macht zu vertreiben. Erfolg in diesem Bestreben ist zu-meist nicht dadurch bestimmt, daß man eine Vereinbarung aushan-delt, sondern durch den klugen Einsatz der geeignetsten und wir-kungsvollsten Widerstandsmethoden. Unserer Überzeugung nach ist politischer Widerstand bzw. gewaltloser Kampf das wirkungs-vollste Mittel für diejenigen, die um die Freiheit kämpfen.

    Was für ein Frieden?

    Wenn Diktatoren und Demokraten überhaupt Friedensgespräche führen sollen, bedarf es aufgrund der damit verbundenen Gefah-ren eines extrem klaren Denkens. Nicht jeder, der von «Frieden» spricht, will Frieden mitsamt Freiheit und Gerechtigkeit. Die Un-terwerfung unter brutale Unterdrückung und das passive Sich-Fügen gegenüber rücksichtslosen Diktatoren, die Hunderttausen-den von Menschen Grausames angetan haben, ist kein wirklicher Frieden. Hitler forderte häufi g Frieden und meinte damit doch nur die Unterwerfung unter seinen Willen. Der Frieden eines Dikta-tors ist oftmals nicht anderes als der Frieden des Gefängnisses oder des Grabes. Hinzu kommen weitere Gefahren. Wohlmeinende Unterhänd-ler verwechseln oftmals die Ziele von Verhandlungen mit dem Ver-handlungsprozeß als solchem. Zudem kann es sein, daß die Unter-händler der Demokraten oder ausländische Verhandlungsexperten, die an den Gesprächen beteiligt sind, den Diktatoren mit einem Schlag die nationale und internationale Legitimität verschaffen, die ihnen zuvor aufgrund ihrer Okkupation des Staates, ihrer Men-schenrechtsverletzungen und Brutalitäten verweigert worden war. Ohne diese dringend benötigte Legitimation könnten die Diktato-ren nicht unbegrenzt weiterregieren. Verfechter des Friedens soll-ten ihnen diese Legitimität nicht verschaffen.

    Gründe zur Hoffnung

    Wie bereits erwähnt, können sich Oppositionsführer, die für die Demokratie kämpfen, aus einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit her aus gezwungen fühlen, Verhandlungen aufzunehmen. Doch dieses Gefühl der Machtlosigkeit läßt sich ändern. Diktaturen sind nichts Ewiges. Menschen, die unter einer Diktatur leben, müssen nicht schwach bleiben, und Diktatoren darf es nicht gestattetsein, unbegrenzt an der Macht zu bleiben. Vor langer Zeit schrieb Aristoteles: «Und doch sind die Oligarchie und die Tyrannis von geringerer Lebensdauer als alle anderen Staatsverfassungen. …Die meisten Tyrannenherrschaften … währten allesamt nur kurze Zeit.»6 Auch moderne Diktaturen sind verwundbar. Ihre Schwä-chen lassen sich gezielt ausnutzen, und die Macht der Diktatoren läßt sich zerschlagen (Einzelheiten zu diesen Schwächen fi nden sich in Kapitel 4). Die jüngste Geschichte zeigt die Verwundbarkeit von Diktatu-ren und macht deutlich, daß sie binnen relativ kurzer Zeit zusam-menbrechen können: Während es in Polen zehn Jahre dauerte – von 1980 bis 1990 – , die kommunistische Diktatur zu stürzen, gelang das in der DDR und in der Tschechoslowakei innerhalb weniger Wochen. In El Salvador und Guatemala dauerte der Kampf gegen die brutalen Militärdiktatoren 1944 jeweils gut zwei Wochen. Das militärisch mächtige Schah-Regime in Iran wurde innerhalb weni-ger Monate aus den Angeln gehoben. Die Marcos-Diktatur aufden Philippinen hielt der Macht des Volkes 1986 nur wenige Wo-chen stand: Die US-Regierung ließ Präsident Marcos rasch fallen, sobald die Stärke der Opposition deutlich wurde. Der Putschver-such in der Sowjetunion im August 1991 wurde binnen Tagen mit-tels politischem Widerstand verhindert. Danach erlangten viele der lange Zeit unterdrückten Sowjetnationen binnen Tagen, Wochen und Monaten ihre Unabhängigkeit zurück. Die gängige Annahme, gewaltsame Methoden würden immer rasch funktionieren und gewaltlose Methoden ungeheuer viel Zeit

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    in Anspruch nehmen, läßt sich eindeutig nicht halten. Zwar mages lange dauern, bis sich an der zugrundeliegenden Situation und Gesellschaft etwas ändert, doch der eigentliche Kampf gegen eine Diktatur geht auch auf gewaltlose Weise mitunter relativ rasch vonstatten. Verhandlungen sind nicht die einzige Alternative zu einem fort-dauernden Vernichtungskrieg einerseits und der Kapitulation an-dererseits. Die eben genannten Beispiele wie auch die in Kapitel 1 aufgeführten Fälle zeigen, daß es für diejenigen, die Frieden und Freiheit wollen, auch eine andere Option gibt: politischen Wider-stand.

    3. Woher stammt die Macht? //

    Einer Gesellschaft sowohl Freiheit als auch Frieden zu verschaffen ist natürlich keine leichte Aufgabe. Es erfordert große strategische Fertigkeit, Organisation und Planung. Vor allem aber erfordert es Macht. Demokraten dürfen nicht darauf hoffen, eine Diktatur zu stürzen und politische Freiheit zu gewährleisten, wenn sie nicht in der Lage sind, ihre eigene Macht effektiv einzusetzen. Doch wie soll das funktionieren? Welche Art von Macht kann die demokratische Opposition mobilisieren, die ausreicht, um die Diktatur und ihr riesiges Netzwerk aus Militär und Polizei zu zer-schlagen? Die Antworten darauf liegen in einem oftmals übersehe-nen Verständnis politischer Macht. Dieses zu erkennen ist nicht wirklich schwer. Einige grundlegende Wahrheiten sind ziemlich simpel.

    Die Fabel vom «Affenmeister»

    Eine chinesische Parabel von Liu-Ji veranschaulicht dieses ver-nachlässigte Verständnis politischer Macht sehr schön: «Im Feudalstaat Chu überlebte ein alter Mann, indem er Affen hielt, die für ihn sorgten. Die Menschen in Chu nannten ihn ‹ju gong›, den Affenmeister. Jeden Morgen versammelte der alte Mann die Affen im Hof sei-nes Hauses und befahl dem ältesten von ihnen, die anderen in die Berge zu führen, wo sie von Sträuchern und Bäumen Früchte sam-meln sollten. Die Regel lautete, daß jeder Affe ein Zehntel des von ihm Gesammelten an den alten Mann abzugeben hatte. Wer das nicht tat, wurde brutal geschlagen. Alle Affen litten bitterlich, wag-ten es jedoch nicht, sich zu beklagen.

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    Eines Tages fragte ein kleiner Affe die anderen: ‹Hat der alte Mann all die Sträucher und Bäume gepfl anzt?› Die anderen ant-worteten: ‹Nein, sie sind ganz natürlich gewachsen.› Der kleine Affe fragte weiter: ‹Können wir die Früchte nicht ohne Erlaubnis des alten Mannes nehmen?› Die anderen erwiderten: ‹Ja, das kön-nen wir alle machen.› Der kleine Affe fuhr fort: ‹Warum sollten wir dann von dem alten Mann abhängig sein; warum müssen wir ihm alle dienen?› Noch bevor der kleine Affe seine Ausführungen beenden konnte, ging allen Affen plötzlich ein Licht auf und sie erwachten. Noch in der gleichen Nacht warteten die Affen, bis der alte Mann eingeschlafen war, und rissen dann die Umzäunungen des Geheges nieder, in dem sie eingesperrt waren, und zerstörten das Gehege vollständig. Sie nahmen zudem die Früchte, die der alte Mann gelagert hatte, mit sich in die Wälder und kehrten nie mehr zurück. Der alte Mann starb schließlich an Hunger. Yu-li-zi sagt: ‹Manche Menschen auf dieser Welt regieren ihr Volk durch Hinterlist und nicht durch rechtschaffene Prinzipien. Sind sie nicht genauso wie der Affenmeister? Sie sind sich ihrer Wirrköpfi gkeit nicht bewußt. Sobald ihrem Volk ein Licht aufgeht, funktionieren ihre Hinterlisten nicht mehr.› »7

    Unabdingbare Quellen politischer Macht

    Das Prinzip ist ganz einfach. Diktatoren brauchen die Unterstüt-zung der Menschen, über die sie regieren, denn ohne diese Unterstüt-zung können sie die Quellen politischer Macht nicht sichern und aufrechterhalten. Zu diesen Quellen politischer Macht gehören:• Autorität: die Überzeugung bei den Menschen, daß das Regime

    legitim ist und daß es ihre moralische Pfl icht ist, ihm zu gehor-chen.

    • Menschliche Ressourcen: die Zahl und Bedeutung der Personen und Gruppen, die gehorchen, kooperieren und die Herrschen-den unterstützen.

    • Fertigkeiten und Wissen, deren das Regime bedarf, um bestimmte Aktionen durchführen zu können, und die von den kooperie-renden Personen und Gruppen eingebracht werden.

    • Unsichtbare Faktoren: psychologische und ideologische Fak-toren, welche die Menschen dazu bringen, den Herrschenden zu gehorchen und sie zu unterstützen.

    • Materielle Ressourcen: das Ausmaß, in dem die Regierenden Ver-fügungsgewalt über und Zugang zu Eigentum, Bodenschätzen, Finanzmitteln, Wirtschaftssystem sowie Kommunikations- und Transportmitteln haben.

    • Sanktionen: Strafen – ob angedroht oder tatsächlich angewandt – gegen diejenigen, die Gehorsam und Zusammenarbeit verwei-gern; damit soll die Ergebenheit und Kooperation gewährleistet werden, die das Regime benötigt, um existieren und seine Politik betreiben zu können.

    All diese Quellen hängen jedoch von der Akzeptanz des Regimes ab, von der Ergebenheit und dem Gehorsam der Bevölkerung so-wie von der Kooperation unzähliger Menschen und der vielen ge-sellschaftlichen Institutionen. All das ist keineswegs garantiert. Vollständige Zusammenarbeit, Gehorsam und Unterstützung werden dafür sorgen, daß die benötigten Quellen in höherem Maße zur Verfügung stehen, und damit die Machtfülle jeder Regierung erweitern. Verweigern hingegen Volk und Institutionen die Zusammenar-beit mit Aggressoren und Diktatoren, verringert das die Verfüg-barkeit der Machtquellen, von denen alle Herrscher abhängen, oder läßt sie ganz versiegen. Ohne diese Quellen wird die Macht der Herrschenden schwächer und löst sich schließlich ganz auf. Naturgemäß sind Diktatoren sensibel gegenüber Aktionen und Ideen, die ihre Fähigkeit, nach eigenem Gutdünken zu handeln, bedrohen. Diktatoren werden deshalb wahrscheinlich diejenigen, die nicht gehorchen, streiken oder nicht kooperieren, bedrohen und bestrafen. Damit ist die Geschichte freilich noch nicht zu Ende. Denn Repression oder brutales Vorgehen sorgt keineswegs immer dafür, daß das für das Funktionieren des Regimes notwen-

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    dige Maß an Ergebenheit und Zusammenarbeit wiederhergestellt wird. Wenn die Quellen der Macht trotz aller Repression lange genug eingeschränkt sind oder ganz fehlen, wird es innerhalb der Dik-tatur zunächst möglicherweise zu Unsicherheit und Verwirrung kommen. Darauf folgt wahrscheinlich eine eindeutige Schwächung der diktatorischen Macht. Mit der Zeit kann die Vorenthaltung der Machtquellen zur Lähmung und Hilfl osigkeit des Regimes und in schwerwiegenden Fällen sogar zu dessen Zerfall führen. Die Macht der Diktatoren wird, langsam oder rasch, den politischen Hunger-tod sterben. Das Ausmaß an Freiheit oder Tyrannei in einer Regierungspiegelt somit in hohem Maße die relative Entschlossenheit der Untergebenen wider, frei zu sein, sowie ihren Willen und ihreFähigkeit, sich allen Bestrebungen zu widersetzen, sie zu verskla-ven. Entgegen landläufi ger Meinung sind sogar totalitäre Diktaturen von der Bevölkerung und den Gesellschaften, über die sie herr-schen, abhängig. So schrieb der Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch 1953: «Totalitäre Macht ist nur dann stark, wenn man sie nicht zu oft anwenden muß. Wenn totalitäre Macht ständig gegen die gesamte Bevölkerung angewandt werden muß, ist es höchst unwahrscheinlich, daß sie lange wirkungsvoll bleibt. Da totalitäre Regime im Umgang mit ihren Untergebenen mehr Macht brau-chen als andere Regierungsformen, sind sie in höherem Maße auf breites und verläßliches willfähriges Verhalten in der Bevölkerung angewiesen; das ist wichtiger, als daß sie im Notfall auf die aktive Unterstützung zumindest wesentlicher Teile der Bevölkerung zäh-len können.»8

    Der englische Rechtsphilosoph John Austin beschrieb im 19. Jahr hundert die Situation einer Diktatur, die sich einer verdros-senen, unwilligen Bevölkerung gegenübersieht. Austin vertrat die Ansicht, wenn der Großteil der Bevölkerung entschlossen sei, die Regierung zu zerschlagen, und willens, dafür Repressionen zu er-dulden, dann könne die Macht der Regierung einschließlich derer,

    die sie unterstützen, die verhaßte Regierung nicht retten, selbst wenn sie Hilfe aus dem Ausland erhalte. Das widerstrebende Volk könne nicht wieder in dauerhaften Gehorsam und Unterwerfung gezwungen werden, so Austins Schlußfolgerung.9

    Einige Jahrhunderte zuvor hatte Niccolò Machiavelli behauptet: Der Fürst, «der die Masse zum Feinde hat, sichert sich nie, und je mehr Grausamkeiten er begeht, desto schwächer wird seine Herr-schaft».10

    Wie sich diese Erkenntnisse in die politische Praxis umsetzen lassen, demonstrierten die heldenhaften Norweger, die Widerstand gegen die NS-Besatzung leisteten, sowie, wie bereits in Kapitel 1 erwähnt, die mutigen Polen, Deutschen, Tschechen, Slowakenund die vielen anderen, die sich kommunistischer Aggression und Diktatur widersetzten und letztlich dazu beitrugen, daß die kom-munistische Herrschaft in Europa stürzte. Das ist natürlich kein neues Phänomen: Die Praxis gewaltlosen Widerstands reicht min-destens bis ins Jahr 494 v. Chr. zurück, als die Plebeijer ihren römi-schen Patrizierherren die Zusammenarbeit aufkündigten.11 Überall in Asien, Afrika, Amerika, Ozeanien und auf den pazifi schen In-seln wie auch in Europa haben die Völker zu verschiedenen Zeiten den gewaltlosen Kampf praktiziert. Um bestimmen zu können, in welchem Maße die Macht einer Regierung kontrolliert wird oder nicht, sind insbesondere folgende drei Faktoren ausschlaggebend: (1) der relative Wunsch der Bevöl-kerung, der Regierungsmacht Grenzen zu setzen; (2) die relative Macht der unabhängigen Organisationen und Institutionen der Untergebenen, kollektiv die Quellen der Macht zu entziehen; und (3) die relative Fähigkeit der Bevölkerung, ihre Zustimmung und Unterstützung zu verweigern.

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    Zentren demokratischer Macht

    Ein Merkmal einer demokratischen Gesellschaft ist, daß es unab-hängig vom Staat eine Vielzahl von Nichtregierungsgruppen und-institutionen gibt. Dazu gehören etwa Familien, religiöse Orga-nisationen, Kulturverbände, Sportvereine, Wirtschaftseinrichtun-gen, Gewerkschaften, Studentenvereinigungen, politische Parteien, Dörfer, Nachbarschaftsvereine, Gartenvereine, Menschenrechts-organisationen, Musikgruppen, literarische Gesellschaften und an-dere. Die Bedeutung dieser Körperschaften liegt darin, daß sie den eigenen Zielen dienen und gesellschaftliche Bedürfnisse befrie-digen. Zusätzlich haben diese Gruppen enorme politische Bedeutung. Sie stellen gruppenspezifi sche und institutionelle Fundamentedar, von denen aus die Menschen Einfl uß auf die Entwicklungihrer Gesellschaft nehmen und sich anderen Gruppen oder der Re-gierung widersetzen können, wenn diese vermeintlich widerrecht-lich in ihre Interessen, Aktivitäten und Zielsetzungen eingreifen. Vereinzelte Individuen, die nicht solchen Gruppen angehören, sind üblicherweise nicht in der Lage, wesentlichen Einfl uß auf die üb-rige Gesellschaft auszuüben, noch weniger auf eine Regierung und mit Sicherheit überhaupt nicht auf eine Diktatur. Wenn es Diktatoren gelingt, diesen Körperschaften die Auto-nomie und die Freiheit zu nehmen, wird die Bevölkerung folg-lich relativ hilfl os sein. Wenn diese Institutionen ihrerseits von der Zentralregierung diktatorisch kontrolliert oder durch neue, streng reglementierte ersetzt werden, können sie dazu dienen, sowohl die individuellen Mitglieder als auch die entsprechenden Gesellschafts-bereiche unter Kontrolle zu bringen. Wenn hingegen die Autonomie und Freiheit dieser unabhängi-gen Bürgerinstitutionen (außerhalb staatlicher Kontrolle) gewahrt oder wiedererlangt werden können, sind sie enorm wichtig, um politischen Widerstand leisten zu können. Gemeinsames Merkmal der genannten Beispielfälle, in denen Diktaturen gestürzt oder ge-

    schwächt wurden, war, daß von seiten der Bevölkerung und ihrer Institutionen couragiert und massenhaft politischer Widerstand geleistet wurde. Wie erwähnt, bilden diese Machtzentren die institutionellen Fundamente, von denen aus die Bevölkerung Druck ausüben oder sich diktatorischer Kontrolle widersetzen kann. Künftig wer-den sie zur unverzichtbaren Grundlage einer freien Gesellschaft gehören. Ihre dauerhafte Unabhängigkeit und ihr Gedeihen sind somit oftmals Voraussetzung für ein Gelingen des Befreiungs-kampfes. Ist es der Diktatur weitgehend gelungen, die unabhängigen Ein-richtungen der Gesellschaft zu zerschlagen oder zu kontrollie-ren, ist es für die Widerstand Leistenden von entscheidender Be-deutung, neue unabhängige soziale Gruppen und Institutionenzu schaffen oder die demokratische Kontrolle über die verbliebe-nen oder teilweise kontrollierten Körperschaften zurückzugewin-nen. Während des Ungarnaufstands 1956 / 57 entstanden eine Viel-zahl direktdemokratischer Räte, die sich sogar zusammenschlos-sen und für einige Wochen ein vollständig föderatives Institutio-nen- und Regierungssystem etablierten. In Polen betrieben die Arbeiter Ende der 1980 er Jahre weiterhin die illegale Gewerkschaft Solidarno…ç und übernahmen in einigen Fällen sogar die Kontrolle über die offi ziellen, kommunistisch dominierten Gewerkschaften. Solche institutionellen Entwicklungen können höchst bedeutsame politische Folgen haben. Selbstverständlich bedeutet all das nicht, daß sich Diktaturen leicht schwächen und zerschlagen lassen, und es wird auch nicht jeder Versuch von Erfolg gekrönt sein. Es heißt mit Sicherheit nicht, daß der Kampf keine Opfer fordern wird, denn diejenigen, die den Diktatoren weiterhin dienen, werden mit einiger Wahr-scheinlichkeit zurückschlagen und bemüht sein, die Bevölkerung wieder zu Zusammenarbeit und Gehorsam zu zwingen. Das oben über die Macht Gesagte bedeutet jedoch, daß eine sorgfältig geplante Beseitigung von Diktaturen möglich ist. Gerade

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    Diktaturen weisen spezifi sche Merkmale auf, die sie höchstver wundbar gegenüber klug eingesetztem politischen Widerstand machen. Diese Charakteristika sollen im folgenden genauer unter-sucht werden. 4. Diktaturen haben Schwächen //

    Diktaturen wirken häufi g unverwundbar. Geheimdienste, Polizei, Streitkräfte, Gefängnisse, Konzentrationslager und Erschießungs-kommandos werden von einigen wenigen Mächtigen kontrolliert. Die Finanzen, Bodenschätze und Produktionskapazitäten werden von Diktatoren oftmals willkürlich geplündert und für eigene Zwecke verwendet. Im Vergleich dazu wirken demokratische Oppositionskräfte häufi g extrem schwach, ineffektiv und machtlos. Diese Vorstellung von Unverwundbarkeit vs. Machtlosigkeit macht eine wirkungs-volle Opposition ziemlich unwahrscheinlich. Das ist freilich noch nicht die ganze Geschichte.

    Die Achillesferse erkennen

    Ein Mythos aus dem antiken Griechenland illustriert sehr schön die Verwundbarkeit des vermeintlich Unverwundbaren. Der Krie-ger Achill war durch keinen Schlag zu verletzen, und kein Schwert konnte seine Haut durchdringen. Als kleines Kind war er angeb-lich von seiner Mutter ins Wasser des magischen Flusses Styx ge-taucht worden, was dazu führte, daß sein Körper vor allen Gefah-ren geschützt war. Ein Problem jedoch gab es. Da seine Mutter ihn damals an der Ferse festgehalten hatte, damit er nicht fortgespült wurde, hatte das Zauberwasser diese kleine Körperstelle nichtbedeckt. Als Achill erwachsen war, glaubten alle, er sei gegen die Waffen der Feinde immun. Doch in der Schlacht um Troja traf ein feindlicher Soldat, dem jemand die Schwachstelle verraten hatte, Achill mit einem Pfeil an der ungeschützten Ferse, der einzigen Stelle, an der er verwundet werden konnte. Der Treffer war töd-

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    lich. Noch heute bezeichnet der Ausdruck «Achillesferse» die ver-wundbare Stelle einer Person, eines Planes oder einer Institution, die im Falle eines Angriffs nicht geschützt ist. Das gleiche Prinzip gilt für skrupellose Diktatoren. Auch sie las-sen sich besiegen, und zwar am schnellsten und mit den geringsten Opfern, wenn sich ihre Schwachstellen ausfi ndig machen lassen und sich der Angriff auf diese konzentriert.

    Die Schwachstellen von Diktaturen

    Zu den Schwachstellen von Diktaturen gehören die folgen-den:1. Die Kooperation einer Vielzahl von Menschen, Gruppen und

    Institutionen, die benötigt wird, damit das System funktioniert, kann reduziert oder ganz verweigert werden.

    2. Die Bedürfnisse und Auswirkungen der vergangenen Politikdes Regimes schränken seine gegenwärtige Fähigkeit ein, um-strittene politische Maßnahmen zu ergreifen und umzuset-zen.

    3. Das System funktioniert womöglich gewohnheitsmäßig und kann sich deshalb weniger schnell an neue Situationen anpassen.

    4. Personelle und andere Ressourcen, die bereits für bestehende Aufgaben genutzt werden, stehen für neue Bedürfnisse nur schwer zur Verfügung.

    5. Untergebene, die Angst haben, sich bei ihren Vorgesetzten un-beliebt zu machen, liefern möglicherweise keine exakten oder vollständigen Informationen, welche die Diktatoren benötigen, um Entscheidungen zu treffen

    6. Die Ideologie kann erodieren, Mythen und Symbole des Sy-stems können an Stabilität verlieren.

    7. Gibt es eine stark ausgeprägte Ideologie, die bei den Menschen die Wahrnehmung der Realität beeinfl ußt, kann dies dazu füh-ren, daß man die tatsächlichen Verhältnisse und Bedürfnisse aus dem Auge verliert.

    8. Eine nachlassende Effi zienz und Kompetenz der Bürokratie oder übermäßige Kontrollen und Regulierungen können Poli-tik und Funktionsweise des Systems ineffektiv werden lassen.

    9. Innerinstitutionelle Konfl ikte sowie persönliche Rivalitäten und Feindschaften können das Funktionieren der Diktatur be-einträchtigen oder sogar völlig lahmlegen.

    10. Intellektuelle und Studenten können als Reaktion auf die allge-meine Situation, auf Restriktionen, Dogmatismus und Repres-sion unruhig werden.

    11. Die breite Öffentlichkeit kann mit der Zeit apathisch, skeptisch oder gar feindselig gegenüber dem Regime werden.

    12. Regionale, klassenspezifi sche, kulturelle oder nationale Diffe-renzen können akut werden.

    13. Die Machthierarchie in einer Diktatur ist immer in einem ge-wissen Maße instabil, mitunter sogar in extremem Maß. Ein-zelne bleiben nicht immer in der gleichen Position, sondern können im Rang aufsteigen oder fallen oder sogar ganz entfernt und durch neue Personen ersetzt werden.

    14. Teile der Polizei oder der Streitkräfte können ihre eigenen Ziele verfolgen, sogar gegen den Willen etablierter Diktatoren und möglicherweise mittels eines Staatsstreichs.

    15. Ist die Diktatur noch jung, braucht sie Zeit, bis sie sich etabliert hat.

    16. Da in einer Diktatur so viele Entscheidungen von so wenigen Menschen getroffen werden, kommt es mit großer Wahrschein-lichkeit zu Fehleinschätzungen, fehlerhafter Politik und fal-schem Handeln.

    17. Versucht das Regime diesen Gefahren zu entgehen und die Macht sowie die Entscheidungsfi ndung zu dezentralisieren, kann ihm die Kontrolle über die zentralen Hebel der Macht noch weiter entgleiten.

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    Die Schwachstellen von Diktaturen angreifen

    Weiß die demokratische Opposition um diese systemimmanenten Schwachstellen, kann sie versuchen, diese «Achillesfersen» bewußt auszunutzen und zu verstärken, um so das System radikal zu ver-ändern oder ganz zu Fall zu bringen. Die Schlußfolgerung ist somit klar: Trotz ihrer scheinbaren Stärke weisen alle Diktaturen Schwachstellen auf – interne In-effi zienzen, persönliche Rivalitäten, institutionelle Defi zite so-wie Kon fl ikte zwischen Organisationen und Abteilungen. Diese Schwachstellen führen mit der Zeit dazu, daß das Regime an Effek-tivität verliert und anfälliger gegenüber veränderten Bedingungen und gezieltem Widerstand wird. Nicht mehr alles, was das Regime in Angriff nimmt, wird auch zu Ende gebracht. Mitunter wurden beispielsweise sogar Hitlers direkte Anweisungen niemals umge-setzt, weil diejenigen, die in der Hierarchie unter ihm standen, sich weigerten, sie auszuführen. Das diktatorische Regime kann, wie wir bereits gesehen haben, mitunter sogar rasch zerfallen. Das bedeutet nicht, daß sich Diktaturen ohne Risiken und To-desopfer zerschlagen lassen. Jedes mögliche Vorgehen zum Zwecke der Befreiung enthält Risiken und potentielles Leid, und es braucht Zeit, bis es seine Wirkung entfaltet. Und natürlich gibt es keine Vorgehensweisen, die in jeder Situation raschen Erfolg garantie-ren. Doch bestimmte Arten des Kampfes, die auf die erkennbaren Schwachstellen der Diktatur zielen, besitzen größere Erfolgsaus-sichten als solche, welche die Diktatur dort bekämpfen, wo sie ein-deutig am stärksten ist. Die Frage ist, wie dieser Kampf geführt werden soll.

    5. Macht ausüben //

    In Kapitel 1 war davon die Rede, daß militärischer Widerstandgegen Diktaturen diese nicht dort trifft, wo sie am schwächsten sind, sondern vielmehr, wo sie am stärksten sind. Wenn sich Wi-derstandsbewegungen dafür entscheiden, auf dem Feld der Streit-kräfte, der Munitionsvorräte, der Waffentechnologie und derglei-chen konkurrieren zu wollen, bringen sie sich selbst sogleich deutlich ins Hintertreffen. Diktaturen werden so gut wie immer in der Lage sein, auf diesen Feldern überlegene Ressourcen zu mobi-lisieren. Wie gefährlich es ist, auf die Hilfe fremder Mächte zu ver-trauen, haben wir ebenfalls gezeigt. In Kapitel 2 wurde deutlich, welche Probleme es mit sich bringt, wenn man auf Verhandlungen baut, um Diktaturen zu beseitigen. Welche Möglichkeiten aber gibt es dann, die dem demokrati-schen Widerstand klare Vorteile bieten und die genannten Schwach-stellen von Diktaturen ausnützen? Welche Vorgehensweise wird sich die in Kapitel 3 vorgestellte Theorie politischer Macht zunutze machen? Die beste Alternative ist politischer Widerstand. Politischer Widerstand zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:• Er akzeptiert nicht, daß der Ausgang des Kampfes durch die von

    der Diktatur gewählten Mittel der Auseinandersetzung ent-schieden wird.

    • Er ist für das Regime schwer zu bekämpfen.• Er kann auf einzigartige Weise die Schwächen der Diktatur aus-

    nützen und ihre Machtquellen versiegen lassen.• Er kann sein Handeln breit streuen, aber auch auf ein spezifi -

    sches Ziel ausgerichtet sein.• Er führt bei den Diktatoren zu Fehleinschätzungen und fal-

    schem Vorgehen.

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    • Er kann sich in seinem Bemühen, die brutale Herrschaft derWe ni gen zu beenden, auf effektive Weise der Bevölkerung ins-gesamt sowie der gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen bedienen.

    • Er trägt dazu bei, die effektive Macht in der Gesellschaft breiter zu verteilen, was die Einrichtung und Aufrechterhaltung einer demokratischen Gesellschaft erleichtert.

    Die Funktionsweise des gewaltlosenKampfes

    Ähnlich wie militärische Fähigkeiten läßt sich auch der politische Widerstand für eine Vielzahl von Zwecken einsetzen: Das reicht vom Bemühen, die Gegner dahingehend zu beeinfl ussen, daß sie anders agieren, über die Schaffung von Voraussetzungen für eine friedliche Konfl iktbeilegung bis zum Versuch, das gegnerische Re-gime zu zerschlagen. Politischer Widerstand funktioniert jedoch völlig anders als Gewalt. Zwar sind beides Möglichkeiten, einen Kampf auszutragen, doch tun sie das mit ganz unterschiedlichen Mitteln und mit unterschiedlichen Folgen. Den Verlauf und die Ergebnisse eines gewaltsamen Konfl ikts kennt man nur zu gut. Physische Waffen werden benutzt, um einzuschüchtern, zu ver-wunden, zu töten und zu zerstören. Der gewaltlose Kampf ist eine weitaus komplexere und vielfälti-gere Methode als Gewalt. Er wird mittels psychologischer, sozi-aler, ökonomischer und politischer Waffen geführt, die von der Bevölkerung und den gesellschaftlichen Institutionen in Anschlag gebracht werden. Sie sind unter den verschiedensten Bezeichnun-gen bekannt: Protest, Streik, Nichtzusammenarbeit, Boykott, Ver-drossenheit und Macht des Volkes. Wie bereits erwähnt, können alle Regierungen nur so lange herrschen, solange die nötigen Quel-len ihrer Macht sich immer wieder neu aus der Zusammenarbeit, der Unterordnung und dem Gehorsam der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Insitutionen speisen. Anders als Gewalt ist poli-

    tischer Widerstand in einzigartiger Weise geeignet, diese Quellen der Macht zum Versiegen zu bringen.

    Gewaltlose Waffen und Disziplin

    In der Vergangenheit saßen improvisierte Kampagnen politischen Widerstands dem Irrtum auf, daß sie nur auf ein oder zwei Metho-den wie etwa Streiks oder Massendemonstrationen setzten. In Wirk lichkeit gibt es eine Vielzahl von Methoden, die es den Strate-gen des Widerstands ermöglichen, den Widerstand je nach Bedarf zu konzentrieren und zu streuen. Man hat rund 200 spezifi sche Methoden gewaltlosen Handelns benannt, und es gibt mit Sicherheit noch unzählige weitere. Diese Methoden lassen sich in drei Hauptkategorien unterteilen: Protest und Überredung, Nichtzusammenarbeit sowie Intervention. Zu den Methoden des gewaltlosen Protests und der Überredung ge-hören weitgehend symbolische Demonstrationen, darunter Kund-gebungen, Protestmärsche und Mahnwachen (54 Methoden). Die Nichtzusammenarbeit untergliedert sich in drei Subkategorien: (a) gesellschaftliche Nichtzusammenarbeit (16 Methoden), (b) wirt-schaftliche Nichtzusammenarbeit, darunter Wirtschaftsboykotte (26 Methoden) und Streiks (23 Methoden), sowie (c) politische Nichtzusammenarbeit (38 Methoden). Die dritte Hauptkategorie bildet die gewaltlose Intervention durch psychologische, physi-sche, soziale, ökonomische oder politische Mittel, etwa die rasche, gewaltlose Besetzung oder die Einsetzung einer Parallelregierung (41 Methoden). Eine Aufl istung von 198 derartigen Methoden fi n-det sich im Anhang dieses Buches. Eine beträchtliche Zahl dieser Methoden – sorgfältig ausge-wählt, dauerhaft und im großen Maßstab von geschulten Bürgern angewendet, in den Kontext einer klugen Strategie und einer ge-eigneten Taktik eingebettet – wird jedem illegitimen Regimebeträchtliche Probleme bereiten. Das gilt auch für alle Diktatu-ren.

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    Im Gegensatz zu militärischen Mitteln lassen sich die Methoden des gewaltlosen Kampfes unmittelbar auf die Fragen fokussieren, um die es geht. Da beispielsweise das Problem der Diktatur politi-scher Natur ist, wären politische Formen des gewaltlosen Kampfes entscheidend. Das hieße unter anderem, den Diktatoren die Legiti-mität und dem Regime die Zusammenarbeit zu verweigern. Eine Nichtzusammenarbeit ließe sich auch gegen bestimmte politische Vorhaben anwenden. Mitunter lassen sich Verschleppung und Hin-auszögerung still und heimlich betreiben, während in anderen Fäl-len offener Ungehorsam sowie öffentliche Protestdemonstrationen und Streiks für alle sichtbar sein können. Ist die Diktatur anfällig gegenüber wirtschaftlichem Druck oder betreffen viele Klagen unter der Bevölkerung ökonomische Fra-gen, dann kann ökonomisches Handeln in Form von Boykotten oder Streiks die angemessene Widerstandsmethode sein. Dem Be-mühen der Diktatoren, das Wirtschaftssystem auszubeuten, könnte man mit begrenzten Generalstreiks, Produktionsdrosselungen und der Verweigerung von Unterstützung durch unverzichtbare Fach-leute (oder deren Abtauchen) begegnen. Die selektive Anwendung verschiedener Streikformen kann Schlüsselbereiche der Produk-tion, des Transportwesens, der Rohstoffversorgung oder des Ver-triebs von Produkten betreffen. Einige Methoden des gewaltlosen Kampfes verlangen, daß Men-schen Handlungen ausüben, die in keiner Beziehung zu ihremnormalen Leben stehen, wie etwa das Verteilen von Flugblättern,das Betreiben eines Untergrundverlags, einen Hungerstreik oder eine Straßenblockade. Einige Menschen werden diese Methoden vermutlich allenfalls in ganz extremen Situationen anwenden. Andere Methoden des gewaltlosen Kampfes hingegen verlan-gen, daß die Menschen annährend ihr normales Leben weiterfüh-ren, wenn auch auf etwas andere Art. So können sich beispielsweise die Menschen zur Arbeit melden statt zu streiken, dann aber be-wußt langsamer oder ineffi zienter als üblich arbeiten. Man kann häufi ger als sonst absichtlich «Fehler» machen. Man kann zu be-stimmten Zeiten «krank» oder «arbeitsunfähig» werden. Oder

    man kann einfach die Arbeit verweigern. Man kann Gottes-dienste besuchen, wenn man damit nicht nur religiöse, sondern auch politische Überzeugungen zum Ausdruck bringt. Man kann die Kinder durch Erziehung zu Hause oder in illegalen Klassenvor der Propaganda der Angreifer schützen. Man kann sich wei-gern, bestimmten «empfohlenen» oder vorgeschriebenen Organi-sationen beizutreten, denen man sich auch in früheren Zeiten nicht freiwillig angeschlossen hätte. Die Tatsache, daß diese Handlungs-formen den gewöhnlichen Aktivitäten der Menschen ähnlichsind und nur in geringem Maße von ihrem Alltagsleben abweichen, erleichtert möglicherweise vielen Menschen die Beteiligung amnationalen Befreiungskampf. Da gewaltloser Kampf und Gewalt jeweils grundlegend anders funktionieren, ist selbst begrenzter gewaltsamer Widerstand im Zuge einer politischen Widerstandskampagne kontraproduktiv, denn er verwandelt den Kampf in eine Auseinandersetzung, in der die Diktatoren deutlich im Vorteil sind (militärische Kriegfüh-rung). Gewaltlose Disziplin ist ein Schlüssel zum Erfolg, sie muß trotz aller Provokationen und Brutalitäten von seiten der Dikta-toren und ihrer Anhänger gewahrt werden. Die Aufrechterhaltung gewaltloser Disziplin gegen gewalttätige Widersacher sorgt mit dafür, daß die vier Mechanismen der Ver-änderung im gewaltlosen Kampf funktionieren (vgl. dazu weiter unten). Auch im Prozeß des politischen Jiu-jitsu ist gewaltlose Disziplin äußerst wichtig. Dabei fällt die rohe Brutalität des Re-gimes gegen die eindeutig gewaltlosen Aktionisten politisch auf die Stellung der Diktatoren zurück, denn sie sorgt für Mißstimmig-keiten in den eigenen Reihen und stärkt die Unterstützung für die Widerständler in der breiten Bevölkerung, bei denen, die üblicher-weise dem Regime anhängen, sowie bei dritten Parteien. In einigen Fällen freilich kann begrenzte Gewalt gegen dieDiktatur unvermeidlich sein. Frust und der Haß auf das Regime können sich in einer Explosion der Gewalt entladen. Oder be-stimmte Gruppen sind nicht bereit, auf Gewalt zu verzichten, auch wenn sie die wichtige Rolle des gewaltlosen Kampfes anerkennen.

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    In diesen Fällen muß man den politischen Widerstand nicht aufge-ben. Man sollte jedoch unbedingt das gewaltsame Vorgehen so weit wie möglich vom gewaltlosen Handeln trennen, und zwar geogra-phisch und zeitlich sowie im Hinblick auf Bevölkerungsgruppen und Problemfelder. Andernfalls könnte sich die Gewalt verhee-rend auf den potentiell viel wirkungsvolleren und erfolgreicheren Einsatz politischen Widerstands auswirken. Die Geschichte zeigt, daß zwar auch im Zuge politischen Wider-stands Verluste in Form von Toten und Verletzten einzukalkulie-ren sind, diese aber deutlich geringer ausfallen als bei einer militäri-schen Auseinandersetzung. Zudem treibt dieser Typus des Kampfes die endlose Spirale aus Töten und Brutalität nicht weiter. Gewaltloser Kampf verlangt und sorgt tendenziell dafür, daß man die Angst vor der Regierung und ihrer gewaltsamen Unter-drückung verliert (oder besser unter Kontrolle hat). Der Verlust oder die Kontrolle der Angst ist ein Schlüsselelement, wenn es darum geht, die Macht der Diktatoren über die breite Bevölkerung zu zerschlagen.

    Offenheit, Heimlichkeit und hohe Standards

    Heimlichkeit, Täuschung und konspiratives Verhalten im Unter-grund stellen eine Bewegung, die auf gewaltloses Handeln setzt, vor schwierige Probleme. Es läßt sich oftmals unmöglich vermei-den, daß die Staatspolizei und die Geheimdienste von Absichten und Plänen erfahren. Aus Sicht der Bewegung wurzelt Heimlich-keit nicht nur in der Angst, sondern trägt auch zur Angst bei, was den Widerstandsgeist dämpft und die Zahl der Menschen, die sich an einer bestimmten Aktion beteiligen können, reduziert. Sie kann auch zu – oftmals unberechtigten – Verdächtigungen und Anschul-digungen innerhalb der Bewegung führen, nämlich dahingehend, wer ein Spitzel oder Agent der gegnerischen Seite ist. Heimlichkeit kann sich auch auf die Fähigkeit einer Bewegung auswirken, ge-waltlos zu bleiben. Im Gegensatz dazu wird Offenheit hinsichtlich

    der Ansichten und Pläne nicht nur die gegenteiligen Effekte haben, sondern auch den Eindruck erwecken, die Widerstandsbewegung sei in Wirklichkeit extrem mächtig. Die Problematik ist natürlich deutlich vielschichtiger, als diese Gegenüberstellung vermuten läßt, und wichtige Aspekte der Widerstandsaktivitäten können der Ge-heimhaltung bedürfen. Es bedarf der klugen Einschätzung durch diejenigen, die sowohl die Dynamik des gewaltlosen Kampfes als auch die Überwachungsmethoden der Diktatur in einer spezi-fi schen Situation kennen. Das Verfassen, der Druck und der Vertrieb von Untergrund-publikationen, das Betreiben illegaler Rundfunksender inner-halb des Landes sowie das Sammeln von Informationen überdie Vorhaben der Diktatur gehören zu den besonders begrenzten Aktivitäten, die eines hohen Maßes an Geheimhaltung bedür-fen. Beim gewaltlosen Handeln ist in allen Phasen des Konfl ikts die Aufrechterhaltung hoher Verhaltensstandards vonnöten. Faktoren wie Furchtlosigkeit und die Wahrung gewaltloser Disziplin sind stets erforderlich. Es gilt zu bedenken, daß man häufi g eine Viel-zahl von Menschen braucht, um bestimmte Veränderungen herbei-zuführen. Doch so viele Menschen lassen sich nur dann dauerhaft als verläßliche Teilnehmer binden, wenn man die hohen Standards der Bewegung aufrechterhält.

    Die Machtverhältnisse verschieben

    Strategen müssen bedenken, daß der Konfl ikt, in dem politischer Widerstand zur Anwendung kommt, ein sich fortwährend ver-änderndes Kampfgebiet mit einem unablässigen Wechselspiel aus Zügen und Gegenzügen ist. Nichts ist statisch. Die Machtverhält-nisse sind – sowohl als absolute wie als relative – ständigen undrapiden Veränderungen unterworfen. Ermöglicht wird dies da-durch, daß die Widerstand Leistenden trotz aller Repressionenihren gewaltlosen Kampf hartnäckig fortsetzen.

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    In dieser Art von Konfl iktsituation verändert sich die jeweilige Macht der gegnerischen Parteien zumeist extremer als in gewalt-samen Konfl ikten, die Veränderungen erfolgen rascher und haben vielfältigere und politisch bedeutsame Konsequenzen. Aufgrund dieser Veränderungen zeitigen spezifi sche Aktionen der Wider-standskämpfer Folgen, die räumlich und zeitlich weit ausstrahlen. Diese Auswirkungen sorgen dafür, daß die eine oder die andere Gruppe gestärkt oder geschwächt wird. Überdies kann die gewaltlose Gruppe durch ihre Aktionen in hohem Maße Einfl uß darauf nehmen, ob die relative Stärke der gegnerischen Gruppe zu- oder abnimmt. So kann beispielsweise disziplinierter und mutiger gewaltloser Widerstand trotz des bru-talen Vorgehens der Diktatoren bei den Soldaten des Regimes und bei der Bevölkerung für Unruhe, Unzufriedenheit, Unzuverlässig-keit und – in Extremsituationen – sogar für offene Meutereisorgen. Eine weitere Folge dieses Widerstands ist womöglich einezunehmende internationale Verurteilung der Diktatur. Zudem kann der überlegte, disziplinierte und dauerhafte Einsatz politi-schen Widerstands dazu führen, daß sich immer mehr Menschen dem Widerstand anschließen, die normalerweise die Diktatoren stillschweigend unterstützen oder in diesem Konfl ikt weitgehend neutral bleiben würden.

    Vier Mechanismen der Veränderung

    Gewaltloser Kampf führt auf vierfache Weise zu Veränderungen. Der erste Mechanismus ist der am wenigsten wahrscheinliche, auch wenn er schon vorgekommen ist. Sind Angehörige der gegneri-schen Gruppe emotional berührt durch das Leid, das den mutigen gewaltlosen Widerstandskämpfern im Zuge der Repression zuge-fügt wird, oder sind sie rational davon überzeugt, daß die Wider-ständler für eine gerechte Sache kämpfen, akzeptieren sie mög-licherweise die Ziele der Widerstandskämpfer. Diesen Mechanismus nennt man Konversion. Zwar kommt es bei gewaltlosem Handeln

    mitunter zu solchen Fällen von Konversion, doch sind sie recht selten, und in den meisten Konfl ikten treten sie gar nicht oder nicht in signifi kantem Maße auf. Weitaus häufi ger verändert der gewaltlose Kampf die Konfl ikt-situation und die Gesellschaft so, daß die Gegner schlicht nicht mehr so agieren können, wie sie wollen. Diese Veränderung zieht die drei anderen Mechanismen nach sich: Übereinkunft, gewalt-losen Zwang und Aufl ösung. Welcher dieser Mechanismen zum Tragen kommt, hängt davon ab, wie weit sich die relativen und ab-soluten Machtverhältnisse zugunsten des Demokraten verschoben haben. Wenn es nicht um Grundsatzfragen geht, wenn die Forderungen der Opposition in einer begrenzten Kampagne nicht als bedrohlich gelten und wenn das Kräftemessen die Machtverhältnisse bereitsin gewisser Weise verändert hat, läßt sich der unmittelbare Kon-fl ikt beenden, indem man eine Vereinbarung trifft, sich auf halbem Wege entgegenkommt oder einen Kompromiß erzielt. DiesenMechanismus nennt man Übereinkunft. So werden beispielsweise viele Streiks auf diese Weise beigelegt: Beide Seiten erreichen einige ihrer Ziele, aber keine Seite erreicht alles, was sie wollte. Eine Re-gierung mag der Ansicht sein, daß eine solche Einigung manche Vorteile hat, insofern sie etwa Spannungen entschärft, den Ein-druck von «Fairneß» erweckt oder das internationale Image des Regimes aufpoliert. Es ist deshalb wichtig, die Problembereiche, in denen eine Konfl ikbeilegung qua Übereinkunft akzeptabel ist, mit höchster Sorgfalt auszuwählen. Der Kampf um den Sturz einer Diktatur gehört nicht dazu. Der gewaltlose Kampf kann weitaus wirkungsvoller sein, als die Mechanismen der Konversion und der Übereinkunft erkennen las-sen. Massenhafte Nichtzusammenarbeit und Widerstand können die gesellschaftliche und politische Situation, insbesondere die Machtverhältnisse, so verändern, daß die Diktatoren nicht mehr in der Lage sind, die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Pro-zesse in Regierung und Gesellschaft zu kontrollieren. Die Streit-kräfte der Opponenten werden möglicherweise so unzuverlässig,

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    daß sie den Befehlen, gegen die Widerstandskämpfer vorzugehen, nicht mehr so einfach Folge leisten. Zwar bleiben die Anführer des Regimes auf ihren Positionen und verfolgen weiter ihre ursprüng-lichen Ziele, doch wirklich effektiv handeln können sie nicht mehr. Das nennt man gewaltlosen Zwang. In manchen Extremsituationen führen die Bedingungen, die ge-waltlosen Zwang zur Folge haben, noch weiter. Die Regimefüh-rung verliert jegliche Handlungsfähigkeit, ihre eigene Machtstruk-tur bricht zusammen. Selbstregierung, Nichtzusammenarbeit und Verweigerung der Widerständler werden so umfassend, daß die gegnerische Seite nicht einmal mehr einen Hauch von Kontrolle darüber hat. Die Verwaltung weigert sich, der eigenen Führungzu gehorchen. Streitkräfte und Polizei meutern. Die Anhänger oder die Bevölkerung lehnen ihre frühere Führung ab und spre-chen ihr jedes Recht zu herrschen ab. Damit fallen ihre frühere Unterstützung und ihr Gehorsam weg. Der vierte Mechanismus des Wandels, die Aufl ösung des gegnerischen Systems, ist so voll-ständig, daß das alte Regime nicht einmal mehr über die Macht verfügt, sich zu ergeben. Es zerfällt ganz einfach in seine Einzel-teile. Bei der Planung der Befreiungsstrategien sollte man diese vier Mechanismen berücksichtigen. Mitunter treten sie mehr oder we-niger zufällig auf. Doch wenn man einen oder mehrere davon ge-zielt als Veränderungsmechanismus in einem Konfl ikt auswählt, lassen sich spezifi sche und sich wechselseitig verstärkende Strate-gien formulieren. Für welchen Mechanismus (oder welche Mecha-nismen) man sich entscheidet, hängt von vielerlei Faktoren ab,unter anderem von der absoluten und relativen Macht der Kon-fl iktparteien und von den Einstellungen und Zielen der gewalt-losen Gruppierung.

    Die Demokratisierungseffekte politischen Widerstands

    Im Gegensatz zu den Zentralisierungseffekten gewaltsamer Sank-tionen trägt der Einsatz gewaltloser Kampfformen zur Demokra-tisierung der politischen Gesellschaft bei, und zwar auf mehrfache Weise. Ein Teil des Demokratisierungseffekts ist negativer Art. Das heißt, im Gegensatz zu militärischen Mitteln liefert diese Vor-gehensweise kein Instrumentarium zur Unterwerfung unter die Kommandogewalt einer herrschenden Elite, das sich gegen dieBevölkerung wenden läßt, um eine Diktatur zu errichten oder auf-rechtzuerhalten. Die Anführer einer politischen Widerstandsbe-wegung können Einfl uß und Druck auf ihre Gefolgsleute ausüben, sie können sie aber nicht inhaftieren oder exekutieren, wenn sieanderer Meinung sind oder sich andere Anführer wählen. Der andere Teil des Demokratisierungseffekts ist positiver Art. Das heißt, der gewaltlose Kampf versorgt die Bevölkerung mitden Mittels des Widerstands, die sie einsetzen kann, um ihre Frei-heiten gegen existierende oder angehende Diktatoren zu erringen oder zu verteidigen. Im folgenden sind einige der positiven Demo-kratisierungseffekte aufgelistet, die gewaltloses Vorgehen haben kann:• Die Erfahrung mit dem Einsatz gewaltloser Mittel kann dazu

    führen, daß die Bevölkerung den Drohungen und Fähigkeiten eines Regimes, gewaltsame Repressionsmaßnahmen zu ergrei-fen, selbstbewußter entgegentritt.

    • Gewaltloser Kampf liefert die Methoden der Nichtzusammen-arbeit und der Verweigerung, mit denen sich die Bevölkerung undemokratischer Kontrolle von seiten einer diktatorischen Gruppe widersetzen kann.