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Bei der Recherche nach historischen Por- traits und Familienaufnahmen für den Film „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ stießen die Dortmunder Designer An- dreas Ehrhard und Susanne Meier 2004 auf eine Sammlung kleinformatiger Fo- tos, eingelagert in den Stahlschränken ei- nes Museumsdepots. Die vielen tausend Portraits zeigten Menschen quer durch al- le Gesellschaftsschichten – und bildeten in der Summe eine Art fotografischen Mi- krozensus dieser Epoche im Kleinformat. Fotografische Preziosen Bei den Aufnahmen handelt es sich um so genannte „Cartes de Visite“ aus den An- fängen der Fotografie: Ab 1850 ent- wickelte sich die Mode, auf Karton ka- schierte Portraitfotos – ähnlich wie Visitenkarten – zwischen Freunden und Bekannten auszutauschen und in speziel- len Alben zu sammeln. Neben individuel- len Kundenportraits wurden von Foto- grafen Motive Prominenter in Serie gefertigt und verkauft. Mit der Ein- führung neuer Techniken in den 1880ern konnten die Fotoateliers deutlich schnel- ler und preiswerter arbeiten. So wurde ein Besuch beim Fotografen für jeder- mann erschwinglich. Der Flut des darauf- hin entstandenen Bildermaterials haftete lange zu Unrecht pauschal der Makel ei- nes wertlosen Massenphänomens und der Uniformität an. In Zeiten digitaler Belie- bigkeit erkennt man, welchen Schatz die- se Zeugnisse aus den Anfängen der Foto- grafie eigentlich darstellen. Der Sammler der Visitenkarten ist be- kannt in der Fotoszene: Harald Mante, emeritierter Professor für Fotografie, FH Dortmund, hat die Sammlung von 1970 bis 1985 zusammengetragen. Sie umfasst 10.000 bis 15.000 Karten im Visit- und Ka- binettformat mit Schwerpunkt auf Deutschland, Österreich, Frankreich und Großbritannien. Ein besonderes Augen- merk legte Mante auf Karten mit dekora- tiven Rückseiten. Die prächtig ausge- schmückten Selbstdarstellungen der Ateliers sind häufig zugleich ein Indiz für die Datierung. Von der Idee zum Projekt Nach Ende der Recherche bedauerte das Autorenduo es, die kleinformatigen Fo- toschätze wieder in den Archiv-Schlaf zu entlassen. Bereits zu diesem Zeitpunkt entstand bei ihnen die Idee für das aktu- elle Projekt: „Unser Plan war es schon da- mals, die fotografischen Schätze irgend- wann aus ihrem Dornröschen-Schlaf zu wecken.“ Der Plan nimmt derzeit konkret Gestalt an. Gemeinsam mit Frau Dr. Buberl vom Mu- seum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) Dortmund, das die Sammlung ab 1984 in mehreren Etappen angekauft hat, überlegen Ehrhard und Meier, wie sich daraus ein digitales Arbeitsarchiv erstel- len lässt. Zurzeit gibt es in Deutschland nur wenige Bestände, die digital aufgear- beitet und öffentlich zugänglich sind. Die Sammlung Mante gehört zu den umfang- reichsten. Es gibt bereits Untersuchungen zu den Cartes de Visite, deren Basis durch einen weiteren erfassten Bestand we- sentlich bereichert würde. Die Sammlung Mante könnte, so der Vorschlag, die erste in einer Online-Datenbank veröffentlich- te CdV-Sammlung werden. Sie stünde da- mit als reichhaltige Quelle für wissen- Öffentliche Volkszählung Die Überführung historischer Bildvorlagen in zeitgemäße digitale Präsentations- und Recherchesysteme bedingt die Bewältigung von Hürden organisatorischer und tech- nischer Art. Ein Projekt aus Dortmund macht dies exemplarisch deutlich. digit! 2-08 20 digit! 2-08 21 praxis praxis

Cartes de Visite - Ein historisches Archiv fotografischer Visitenkarten

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Über das Projektvorhaben, die historischen fotografischen Visitenkarten (Cartes de Visite) des MKK Dortmund aufzuarbeiten und in einer Online-Datenbank zugänglich zu machen, ist in der Fotofachzeitschrift digit! (Ausgabe April/Mai 2008) ein ausführlicher Artikel erschienen …

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Page 1: Cartes de Visite - Ein historisches Archiv fotografischer Visitenkarten

Bei der Recherche nach historischen Por-traits und Familienaufnahmen für denFilm „Ein ganz gewöhnlicher Jude“stießen die Dortmunder Designer An -dreas Ehrhard und Susanne Meier 2004auf eine Sammlung kleinformatiger Fo-tos, eingelagert in den Stahlschränken ei-nes Museumsdepots. Die vielen tausendPortraits zeigten Menschen quer durch al-le Gesellschaftsschichten – und bildetenin der Summe eine Art fotografischen Mi-krozensus dieser Epoche im Kleinformat.

Fotografische Preziosen

Bei den Aufnahmen handelt es sich um sogenannte „Cartes de Visite“ aus den An-fängen der Fotografie: Ab 1850 ent-wickelte sich die Mode, auf Karton ka-schierte Portraitfotos – ähnlich wieVisitenkarten – zwischen Freunden undBekannten auszutauschen und in speziel-len Alben zu sammeln. Neben individuel-len Kundenportraits wurden von Foto-grafen Motive Prominenter in Seriegefertigt und verkauft. Mit der Ein-führung neuer Techniken in den 1880ern

konnten die Foto ateliers deutlich schnel-ler und preiswerter arbeiten. So wurdeein Besuch beim Fotografen für jeder-mann erschwinglich. Der Flut des darauf-hin entstandenen Bildermaterials haftetelange zu Unrecht pauschal der Makel ei-nes wertlosen Massenphänomens und derUniformität an. In Zeiten digitaler Belie-bigkeit erkennt man, welchen Schatz die-se Zeugnisse aus den Anfängen der Foto-grafie eigentlich darstellen.Der Sammler der Visitenkarten ist be-kannt in der Fotoszene: Harald Mante,emeritierter Professor für Fotografie, FHDortmund, hat die Sammlung von 1970bis 1985 zusammengetragen. Sie umfasst10.000 bis 15.000 Karten im Visit- und Ka-binettformat mit Schwerpunkt aufDeutschland, Österreich, Frankreich undGroßbritannien. Ein besonderes Augen-merk legte Mante auf Karten mit dekora-tiven Rückseiten. Die prächtig ausge-schmückten Selbstdarstellungen derAteliers sind häufig zugleich ein Indiz fürdie Datierung.

Von der Idee zum Projekt

Nach Ende der Recherche bedauerte dasAutorenduo es, die kleinformatigen Fo-toschätze wieder in den Archiv-Schlaf zuentlassen. Bereits zu diesem Zeitpunktentstand bei ihnen die Idee für das aktu-elle Projekt: „Unser Plan war es schon da-mals, die fotografischen Schätze irgend-wann aus ihrem Dornröschen-Schlaf zuwecken.“ Der Plan nimmt derzeit konkretGestalt an.Gemeinsam mit Frau Dr. Buberl vom Mu-seum für Kunst und Kulturgeschichte(MKK) Dortmund, das die Sammlung ab1984 in mehreren Etappen angekauft hat,überlegen Ehrhard und Meier, wie sichdaraus ein digitales Arbeitsarchiv erstel-len lässt. Zurzeit gibt es in Deutschlandnur wenige Bestände, die digital aufgear-beitet und öffentlich zugänglich sind. DieSammlung Mante gehört zu den umfang-reichsten. Es gibt bereits Untersuchungenzu den Cartes de Visite, deren Basis durcheinen weiteren erfassten Bestand we-sentlich bereichert würde. Die SammlungMante könnte, so der Vorschlag, die erstein einer Online-Datenbank veröffentlich-te CdV-Sammlung werden. Sie stünde da-mit als reichhaltige Quelle für wissen-

Öffentliche VolkszählungDie Überführung historischer Bildvorlagen in zeitgemäße digitale Präsentations- und

Recherchesysteme bedingt die Bewältigung von Hürden organisatorischer und tech-

nischer Art. Ein Projekt aus Dortmund macht dies exemplarisch deutlich.

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sollte mit den Objekten möglichst vor Ortnahe am Archiv gearbeitet werden. EinKlimawechsel zwischen Archivraum,Transport und externem Reprostudio soll-te vermieden werden.Parallel zum Erstellen der digitalen Re-produktionen müssen die zum jeweiligenObjekt gehörenden Informationen erfas-st werden. Dazu gehören Angaben zumkonservatorischen Zustand. Eine Sichtungwird zeigen, ob Maßnahmen zum Schutzder Originale ergriffen werden müssen.Im Anschluss an die Digitalisierung könn-ten die CdV dann wieder geschützt in ein„ruhendes“ Archiv entlassen werden.

Phase 2: Datenbank-Information

In einer zweiten Phase können anhanddes erstellten Repros alle weiteren Anga-ben zur Motivbeschreibung und Beschrif-

tung in der Datenbank ergänzt werden.Je genauer und detaillierter die Erfassungstattfindet, umso flexibler lassen sich die-se Daten später nutzen. In der dritten Pha-se werden die gesammelten Informatio-nen in einer frei zugänglichenOnline-Bilddatenbank veröffentlicht. Alledrei Arbeitsphasen zusammen beanspru-chen beim Umfang der Sammlung Manteeinen Zeitrahmen von 2 bis 3 Jahren.

Phase 3: Interaktion

Das Duo Ehrhard Meier denkt bereits wei-ter: Zukünftig könnten weitere CdV-Sammlungen in die Online-Datenbank in-tegriert werden. Da mangels überlieferterAngaben die meisten der portraitiertenPersonen und der Fotografen anonymbleiben, wäre als mögliche Ausbaustufedie Einrichtung eines „Wikis“ (Anm. d. Re-daktion: themenbezogenes lexikalischesForum Wikipedia) denkbar, in dem jeder,der neue Informationen zu Personen oderOrten hat, diese selbstständig ergänzt.Das könnten sowohl Sammler oder Ge-nealogen sein als auch fotografische Fa-milienbetriebe der 4. oder 5. Generation.Nicht auszuschließen ist, dass sich in ihrenBeständen noch Aufzeichnungen aus derZeit befinden. Die historische „Volkszählung“ lässt sichjedoch nur mit öffentlichen und privatenMitteln gemeinsam finanzieren. Andreas

Ehrhard und Susanne Meier hoffen nun,Förderer zu finden, die helfen, die Samm-lung Mante zum Leben zu erwecken undeiner breiten Öffentlichkeit zugänglich zumachen.Die in diesem Beitrag erstellten Reproswurden mit Hilfe der Firma NiggemeyerFineArt erstellt. Vielen Dank!

Q u e l l e n h i n w e i s e & I n f o s

Ellen Maas, Die goldenen Jahre der Photo-alben – Fundgrube und Spiegel von ge-stern (DuMont 1977/1982)Timm Starl, Hinter den Bildern, in: FOTO-GESCHICHTE, Beiträge zur Geschichte undÄsthetik der Fotografie, Heft 99, Jg. 26(Jonas Verlag, März 2006)Jochen Voigt, Faszination Sammeln: Cartesde Visite – Eine Kulturgeschichte der pho-tographischen Visitenkarte (Edition Mobi-lis 2006)www.cartes-de-visite.dewww.mkk.dortmund.dewww.harald-mante.de

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schaftliche Forschung von Foto-, Kunst-, Kultur- oder Wirtschaftshistorikern, So-ziologen, Ethnologen etc. in aller Welt zurVerfügung. Und stiftete zusätzlich all den-jenigen Vergnügen, die es lieben, in wun-derschönen und manchmal auch kuriosenBildobjekten zu schwelgen. Doch wie ge-langen die zum größten Teil weit über 100Jahre alten Karten in die Datenbank?

Phase 1: Die Digitalisierung

Eine verbreitete Methode zur Digitalisie-rung von Aufsichtsvorlagen ist die Nut-zung eines Flachbettscanners. Allerdingssind Cartes de Visite keineswegs nur zwei-dimensional, sondern bestehen aus einem

dicken Karton und viele sind mit Gold-und Silberprägung versehen. In erstenTests fielen vor allem störende Licht- undSchattenkanten auf. Ursache ist die Ei-genart von Flachbettscannern, die zuscannenden Objekte nur von einer Seitezu beleuchten. Die Alternative – die Ver-wendung eines Reprotisches mit zweiLichtquellen – eröffnet eine große Band-breite von Aufnahmesystemen, von derdigitalen Spiegelreflexkamera bis zumScanback. Unter Einbeziehung der Kar-tenrückseiten ergibt sich ein Volumen vonschätzungsweise 20.000 Repros, das wirftdie Frage nach einem sinnvollen Verhält-nis von Auflösung und Datengröße auf.

Da die Vorlagen aus der Frühzeit der Fo-tografie stammen und der Detailreichtumvergleichsweise gering ist, bringen extre-me Auflösungen keine weiteren Bildin-formationen hervor, sondern erzeugennur große Datenmengen.Ein weiteres Kriterium für Ort und Durch-führung der Digitalisierung: Um das sen-sible Archivgut nicht unnötig zu stressen,

Koloriertes Motiv auf Salzpapier im Visit-For-mat (5,9 x 10,2 cm), um 1850. Zu den erstenFotografen von Cartes de Visite zählten auchviele Miniaturmaler, die Fotografien als Vor-lage benutzten und wie gewohnt über -malten. Kolorierte CdVs stellen das Bin-deglied zwischen der Miniaturmalerei undder Portraitfotografie dar.

Das Kartenpaar „Good Morning“(10,7 x 15,9 cm) „Good Night“ (10,7 x 15,8 cm) mit Fotomon-tagen von 36 lachenden und 40 weinenden Babys ist heute ein begehrtes Sammlerstück (Kabi-nett-Format, Joshua Smith, Chicago,USA,1880).

Die Rückseite bot den Fotoateliers Platz für ausführliche Eigenwerbung und besondere Hin-weise: Visit-Format (6,3 x 10,4 cm), 1880er / 1890er: „Photogr. Atelier, Xaver Schmid, Ingol-stadt, Ziegelbräugasse, vis-á-vis dem Herrn Instrumentenmacher Stegmeyer. Die Platte bleibtfur Nachbestellungen aufbewahrt.“

Kabinett-Format (10,8 x 16,5 cm), ca 1898.Das Fotoatelier Reutlinger (1850–1924) in Paris hatte sich erfolgreich auf die Mode -fotografie spezialisiert. Allein von 1894–1897errang es fünf Auszeichnungen bei inter -nationalen Fotoausstellungen von Paris bisSt. Petersburg.

Harald Mante in seiner Sammlung von Cartesde Visite. Zu der Sammlung gehören auchkunstvolle Fotoalben mit so genannten Kulis-senfenstern, in die die Cartes de Visite ge-schoben wurden. So konnten die Karten her-ausgenommen und ausgetauscht werden.

Ein Blick in die Sammlung Mante des MKKDortmund. Tausende historischer „Pappfo-tos“ warten darauf, digitalisiert und in eineBilddatenbank aufgenommen zu werden.

Unter Deutschlands größtem Cruse-Scanner(Fa. Niggemeyer FineArt, Bochum), der fürdie hochwertige Reproduktion großformati-ger Gemälde konzipiert ist, liegen die klein-formatigen Cartes de Visite.

Sorgfältig werden die historischen Portrait-karten auf dem Vorlagentisch angeordnetund gescannt – zuerst die Vorderseiten, da-nach die ebenso wichtigen Rückseiten.