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I Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen 1 Das Konzept der Fokalisation 1.1 Der Fokalisationsbegriff nach Genette und Bal Der Begriff der Fokalisation wurde ursprünglich von Genette entwickelt, der bei der Analyse narrativer Texte zuerst die Unterscheidung zwischen den Fragen „wer sieht?“ und „wer spricht“ gefordert hat.⁴ Er definiert Fokalisation als eine Einschränkung des „Feldes“, d. h. eine Selektion der Information gegenüber dem, was die Tradition Allwissenheit nannte, ein Ausdruck, der, wörtlich genommen, im Bereich der Fiktion absurd ist (der Autor braucht nichts zu „wissen“, da er alles erfindet) und den man besser ersetzen sollte durch vollständige Information – durch deren Besitz dann der Leser „allwissend“ wird. Das Instrument dieser (eventuellen) Selektion ist ein situierter Fokus, d. h. eine Art Informationsschleuse, die nur durchläßt, was die Situation erlaubt.⁵ und unterscheidet zwischen verschiedenen Arten der Fokalisation:⁶ Nullfokalisation: „Allwissenheit“ des Erzählers. Interne Fokalisation: Die Handlung wird aus der Sicht einer Figur erzählt. Dabei kann die Fokalisation fest sein (nur eine Person steht im Vordergrund), variabel (mehrere Personen werden zu Perspektiventrägern) und multipel (es gibt mehrere Figurenperspektiven auf dasselbe Ereignis). Externe Fokalisation: Die Figuren handeln, ohne dass Informationen über ihre Gefühle oder Gedanken vermittelt werden. Für Genette ist eine Fokali- sation nur dann eindeutig extern, wenn sich der Erzähler über Gedanken und Gefühle der Figuren im Unklaren ist.⁷ 4 Genette 1998, S. 132 f. Einen Überblick über die Erzählforschung vor Genette gibt z. B. Flu- dernik 2006, S. 103 – 123. Bauer 2005, S. 71 – 104 stellt die Entwicklung des Perspektivenbegriffs bis zum Focuskonzept dar. Nach Stanzel 1989, S. 153 entspricht Genettes „interne Fokalisie- rung“ seiner Innenperspektive, die Nullfokalisation und die interne Fokalisierung seiner Außen- perspektive. 5 Genette 1998, S. 242. 6 Ibid., S. 134 f. 7 Ibid., S. 137. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/14/14 8:11 PM

Charakterfokalisation bei Lucan (Eine narratologische Analyse) || I. Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

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Page 1: Charakterfokalisation bei Lucan (Eine narratologische Analyse) || I. Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

I Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

1 Das Konzept der Fokalisation

1.1 Der Fokalisationsbegriff nach Genette und Bal

Der Begriff der Fokalisation wurde ursprünglich von Genette entwickelt, der

bei der Analyse narrativer Texte zuerst die Unterscheidung zwischen den Fragen

„wer sieht?“ und „wer spricht“ gefordert hat.⁴ Er definiert Fokalisation als

eine Einschränkung des „Feldes“, d. h. eine Selektion der Information gegenüber dem, was

die Tradition Allwissenheit nannte, ein Ausdruck, der, wörtlich genommen, im Bereich der

Fiktion absurd ist (der Autor braucht nichts zu „wissen“, da er alles erfindet) und den man

besser ersetzen sollte durch vollständige Information – durch deren Besitz dann der Leser

„allwissend“ wird. Das Instrument dieser (eventuellen) Selektion ist ein situierter Fokus,

d. h. eine Art Informationsschleuse, die nur durchläßt, was die Situation erlaubt.⁵

und unterscheidet zwischen verschiedenen Arten der Fokalisation:⁶

– Nullfokalisation: „Allwissenheit“ des Erzählers.

– Interne Fokalisation: Die Handlung wird aus der Sicht einer Figur erzählt.

Dabei kann die Fokalisation fest sein (nur eine Person steht im Vordergrund),

variabel (mehrere Personen werden zu Perspektiventrägern) und multipel (es

gibt mehrere Figurenperspektiven auf dasselbe Ereignis).

– Externe Fokalisation: Die Figuren handeln, ohne dass Informationen über

ihre Gefühle oder Gedanken vermittelt werden. Für Genette ist eine Fokali-

sation nur dann eindeutig extern, wenn sich der Erzähler über Gedanken und

Gefühle der Figuren im Unklaren ist.⁷

4 Genette 1998, S. 132 f. Einen Überblick über die Erzählforschung vor Genette gibt z. B. Flu-

dernik 2006, S. 103 – 123. Bauer 2005, S. 71 – 104 stellt die Entwicklung des Perspektivenbegriffs

bis zum Focuskonzept dar. Nach Stanzel 1989, S. 153 entspricht Genettes „interne Fokalisie-

rung“ seiner Innenperspektive, die Nullfokalisation und die interne Fokalisierung seiner Außen-

perspektive.

5 Genette 1998, S. 242.

6 Ibid., S. 134 f.

7 Ibid., S. 137.

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6       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

Dabei hebt Genette hervor, dass sich die Fokalisation im Verlauf einer Erzäh-

lung ändern kann,⁸ sich mitunter auch nur auf ein kurzes narratives Segment

erstreckt und dass manchmal keine eindeutige Entscheidung getroffen werden

kann, um welche Art der Fokalisation es sich handelt.⁹ Je nachdem, welche

Instanz fokalisiert, können in einem Text Paralipsen (es werden weniger Infor-

mationen gegeben, als der fokalisierenden Instanz zur Verfügung stehen) oder

Paralepsen (es werden mehr Informationen gegeben) auftreten.¹⁰

Bal hat Genettes Begriffe zu einem eigenen System entwickelt, für das vor

allem das Konzept des „embedding“, des ‚Eingebettet-Seins‘ grundlegend ist:¹¹

In eine Erzählung sind die Wahrnehmungen¹² unterschiedlicher Instanzen hier-

archisch eingebettet und formen so die Erzählung, die in ihrer Gesamtheit unter

Mitarbeit des Leser erschlossen werden kann. Daraus erklärt sich der hauptsäch-

liche Unterschied zwischen beiden Konzepten: Während für Genette Fokalisa-

tion optional ist, für ihn also auch unfokalisierter Erzähltext existiert,¹³ bildet für

Bal Subjektivität – die Filterung des Erzählten durch irgendeine Form der Wahr-

nehmung – die Grundlage aller Erzähltexte. Objektivität existiert für sie demnach

nicht, auch der neutralste ‚unsichtbare‘ Erzähler sorgt für eine bestimmte, sub-

jektive Art der Erzählung.¹⁴

1.2 Bals Hierarchie von Wahrnehmungen: Fokalisation und Textebenen

Die Position, die Bal Fokalisation innerhalb der Tiefenstruktur eines narrativen

Textes zuweist, verdeutlicht ihr dreifaches Ebenenmodell.¹⁵

8 Genette 1998, S. 138 – 140 bezeichnet Fokalisierungswechsel als „Alterationen“, die Art der

Fokalisierung selbst als „Modus“ („Tonart“).

9 Ibid., S. 136.

10 Ibid., S. 139 f.

11 Ausführlich Bal 1981a.

12 Der Begriff Wahrnehmung ist hier im weitesten Sinn zu verstehen. Zur genauen Diskussion

vgl. 3. 2 dieses Kapitels.

13 Bal 1981b, S. 205.

14 Bal 2009, S. 145, S. 153: „Sure, it is possible to try and give an ‚objective‘ picture of the facts.

But what does that involve? ‚Objectivity‘ is an attempt to present only what is seen or is perceived

in some other way.” Vgl. auch bereits Booth 1974, S. 166 über vermeintliche Objektivität von

Autor und Darstellung.

15 Dieses Modell ist nicht unbedingt identisch mit Modellen verschiedener narrativer Ebenen,

wie sie z. B. Genette 1998, S. 152 – 165 oder Rimmon-Kenan 2002, S. 92 – 95 (mit Bezug auf Ge-

nette) vorstellen. Hierbei geht es nämlich um die Hierarchie von Erzählungen, die in andere

Erzählungen eingebettet sind, vgl. Genette 1998, S. 163: „Jedes Ereignis, von dem in einer Er-

zählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervor-

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Das Konzept der Fokalisation       7

In diesem Schaubild sind die Ebenen des Textes (fabula, story, text) zu erken-

nen sowie ihr Zustandekommen durch Charaktere, Fokalisator und Erzähler. Der

Adressat von Erzähler und Autor bzw. das Objekt der Fokalisation sind ebenfalls

angegeben. Die folgende grafische Darstellung von Bals Textebenenmodell

richtet sich nach de Jong,¹⁶ die das komplexe und zunächst abstrakt wirkende

Konzept einleuchtend veranschaulicht hat:

Autor Hörer/Leser

text

Erzähler/narrator (präsentiert) Adressat des Erzählers/ sekundärer fiktiver Adressat/narratée

story (was der Fokalisator fokalisiert)

Fokalisator (fokalisiert) fokalisiertes Objekt (focalizée)

fabula (Ereignisse in der fiktionalen Welt)

fiktionale Charaktere (handeln)

Das Modell erfasst eine Erzählung in ihrer gesamten Struktur. Es kann von unten

nach oben oder vice versa ‚gelesen‘ werden, dabei sollte aber berücksichtigt

werden, dass nur der text vorhanden ist, aus dem über die story die fabula rekon-

struiert werden kann. Durch die Beziehungen zwischen den verschiedenen Tex-

tebenen entsteht eine Gesamtaussage, die weder chronologisch noch ontologisch

ist: Es bringt also nicht eine Ebene eine andere hervor, sondern alles ist gleichzei-

tig vorhanden und gleichzeitig von Bedeutung.¹⁷

bringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“ Bal 2009, S. 57 – 64 bezeichnet solche

Erzählungen als „embedded narrative texts“. Sie sind wie auch z. B. Charakterfokalisation in

ihr Konzept des ‚embedding‘ integriert (vgl. bereits Bal 1981a, S. 57 f.). In Lucans Pharsalia fällt

beispielsweise die Antaeus-Sage (4, 593 – 660) unter diese Kategorie.

16 de Jong 2004, S. 32, S. 35.

17 Bal 1981b, S. 206. Vgl. auch de Jong 2004, S. 31 f.

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8       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

Die fabula¹⁸ ist nach Bals Definition „a series of logically and chronologically

related events“.¹⁹ Sie bildet die Grundlage für jede Erzählung. Indem das Mate-

rial, aus dem die fabula besteht, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet

wird, entsteht die story, die mittlere der Textebenen. Dieser Blickwinkel ist Foka-

lisation. Die story wird zum text, indem der Erzähler sie erzählt. Jede Erzählung

verfügt über diese drei Ebenen, wird also durch mindestens eine Instanz foka-

lisiert und erzählt. Das Modell ist geeignet, alle Arten von Erzählsituationen zu

analyiseren und ihre Hierarchie wiederzugeben. Einige Beispiele sollen das ver-

anschaulichen.

Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“ beginnt folgendermaßen:

An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Land-

straße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla

entfernt ist.²⁰

Der Erzähler ist kein Bestandteil der fiktiven Welt und nimmt an der Handlung

der fabula nicht teil, er ist extern. Er erfüllt zugleich die Funktion eines Erzäh-

lers und Fokalisators (narrator + focalizer = NF). In diesem kurzen Textabschnitt

bleibt er die einzige wahrnehmende Instanz, da in seine Erzählung keine wei-

teren Wahrnehmungen eingebettet sind. Aber bereits wenige Zeilen später lässt

sich beobachten, wie die Fokalisation vom NF an die Figur, den Schneider Wenzel

Strapinski, übergeht:

Der Schneider trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er, in Ermangelung

irgendeiner Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die

Hände in die Hosen steckte, und die Finger schmerzten ihm ordentlich von diesem Drehen

und Reiben. Denn er hatte wegen des Fallimentes irgendeines Seldwyler Schneidermeis-

ters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen. Er hatte

noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflogen, und er

sah noch weniger ab, wo das geringste Mittagbrot herwachsen sollte.²¹

Im letzten Satz kann der Leser an den Gedanken der Figur teilhaben: Ist die

Fokalisation auf diese Weise an eine Figur der fiktiven Welt gebunden, handelt

es sich um Charakterfokalisation (CF = character bound focalization).²² Sie ist

in die Fokalisation des Erzählers eingebettet, sodass eine komplexe Erzählsitu-

18 Diese Arbeit verwendet, sofern nicht anders gekennzeichnet, das Modell und die Bezeich-

nungen von Bal 2009.

19 Bal 2009, S. 194.

20 Keller 2000, S. 11.

21 Ibid.

22 Bal 2009, S. 151.

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Das Konzept der Fokalisation       9

ation entsteht: NF (CF „er“/W. Strapinski).²³ Der NF fokalisiert und erzählt, was

die Figur fokalisiert. Dabei kann sich die Komplexität der Erzählsituation ständig

ändern, die Figur kann über längere Textabschnitte oder nur kurz als Fokalisa-

tor fungieren. Sogar innerhalb eines einzigen Satzes kann Charakterfokalisation

beginnen, aufhören oder wechseln.²⁴

Um komplexen Text handelt es sich auch bei Erzählungen in der ersten

Person wie hier zu Beginn von Gustav Meyrinks Roman „Der Golem“:

Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein großer, heller,

flacher Stein.

Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine rechte Seite fängt an

zu verfallen, – wie ein Gesicht, das dem Alter entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten

zeigt und abmagert, – dann bemächtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trübe,

qualvolle Unruhe.²⁵

Auch hier fungiert eine Figur der fabula („ich“) als Fokalisator, wird aber wie-

derum von einem NF fokalisiert: NF (CF „ich“). CF kennzeichnet eine komplexe

Erzählsituation, und solange sie vorliegt, unterscheidet sich eine Erzählung in

der ersten Person grundlegend nur durch die Wahl der Pronomen von einer in der

dritten Person.²⁶ Auch die Wahl des Erzähltempus ist in dieser Hinsicht nicht von

Bedeutung, wie die Beispiele zeigen.

Jede Fokalisation kann weitere eingebettete Fokalisationen enthalten. Auch

das ist z. B. im „Golem“ der Fall. Das „Ich“ der Rahmenerzählung träumt die

eigentliche Handlung des Romans, wobei sein ‚Traum-Ich‘ Athanasius Pernath

Charakterfokalisator der nächstunteren Ebene ist: NF(CF1 „ich“[CF2 „ich“/A.

Pernath]). Abgesehen von möglicher Unübersichtlichkeit gibt es für die Anzahl

der eingebetteten Ebenen keine Begrenzung.

Fokalisation im Text beinhaltet also immer einen „shift in level“,²⁷ einen

Wechsel innerhalb der Textebenen. Dadurch wird verständlich, warum Bal Foka-

lisation als „the relation between the vision and that which is ‚seen‘, perceived“

definiert.²⁸ Alle Figuren der fabula haben eigene Wahrnehmungen, Gedanken

u. ä., aber nur ein Teil davon wird Bestandteil der story und des texts: Nur bei

diesem Teil kann man von Charakterfokalisation im engeren Sinn sprechen. Die

23 Ibid., S. 160 f.

24 Prince 2001, S. 45.

25 Meyrink 1982, S. 7.

26 Bal 2009, S. 161.

27 Bal 2009, S. 162.

28 Ibid., S. 145 f.

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10       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

bloße Tatsache, dass eine Figur etwas wahrnimmt, macht noch keine Charakter-

Fokalisation aus, solange darüber hinaus kein Verhältnis zwischen der Figur und

dem, was sie wahrnimmt, hergestellt wird.

Bestimmte Anzeichen im Text weisen auf eingebettete Fokalisation und

somit einen Wechsel der Textebenen hin. Sie werden als Fokalisationsmarker

bezeichnet.²⁹

1.3 Unterschiedliche Theorien von (Figuren-)Perspektive

Käte Hamburger wurde bereits in den Fünfziger Jahren durch ihre „Logik der

Dichtung“ bekannt, ein Werk, das stark auf die Aristotelische Poetik Bezug

nimmt. Wenn ihre Theorien auch umstritten waren und heute größtenteils als

überholt gelten, bieten sie grundsätzliche Überlegungen zur Figurenperspektive.

So weist Hamburger bereits 1953 in ihrem Aufsatz über das „epische Praeteri-

tum“ auf Verben äußerer und innerer Vorgänge hin, die einen Einblick ins Innere

von Figuren erlauben.³⁰

Für Hamburger zeigt dabei diese Präsentation von Figurenwahrnehmung

in der Vergangenheitsform vor allem den Fiktionsstatus von Literatur an.³¹ Der

große Einfluss von Figurenperspektive auf die Wirkung des Textes wird hier

bereits deutlich, ebenfalls, dass Verben der äußeren und inneren Wahrnehmung

eine Schlüsselfunktion zukommen kann.

Cohns „Transparent Minds“ befasst sich ausführlich mit der Frage, in

welcher Form die Präsentation von Figurenwahrnehmung in einem Text umge-

setzt sein kann. Für die vorliegende Arbeit sind dabei vor allem „Erzählungen in

der dritten Person“ relevant.³² Dabei erläutert Cohn „psycho-narration“ (Aussa-

gen über das Innenleben einer Figur, die beispielsweise an Verben innerer Wahr-

nehmung erkannt werden können),³³ „quoted monologue“ (innerer Monolog)³⁴

29 Eine Auflistung findet sich in III. 2. 1. und III. 2. 2. dieser Arbeit.

30 Bei diesen Verben der inneren und äußeren Wahrnehmung in der Funktion, die Hamburger

hier beschreibt, handelt es sich um Bals explizite Fokalisationsmarker, die einen Wechsel der

Textebenen anzeigen. Vgl. auch Cohn 1978, S. 31. Beispiele für Verben, mit denen „innere Vor-

gänge, also einerseits emotionale Lagen, andererseits Reflexionen, Überlegungen, Entschlüsse

der Personen, weitgehend indirekt, durch die erzählerische Entfaltung des Geschehens hindurch

sichtbar gemacht werden“ nennt Schwinge 1990, S. 14 f. v. a. am Beispiel der Ilias und Odyssee.

31 Hamburger 1968, S. 72 f.

32 Cohn 1978, S. 21 – 140.

33 Ibid., S. 21 – 57.

34 Ibid., S. 58 – 98.

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Das Konzept der Fokalisation       11

und „narrated monologue“ (erlebte Rede).³⁵ Alle drei Arten von Bewusstseins-

darstellung fiktiver Figuren fallen nach Bals System unter den Aspekt der Cha-

rakterfokalisation. Interessant sind in diesem Beitrag neben der Vielfalt der Dar-

stellungsweisen vor allem auch die Rolle des Erzählers und seine Beziehung zur

Präsentation des Figurenbewusstseins. Cohn unterscheidet zwischen „authorial

narration“ und „figural narration“. Bei „authorial narration“ ist eine Distanz des

Erzählers zur Wahrnehmung der Figur zu erkennen. Diese Distanz kann sich etwa

dadurch zeigen, dass das verwendete Vokabular nicht dem der Figur entspricht,³⁶

zum Beispiel durch direkte Kommentare des Erzählers³⁷ oder durch Ironie.³⁸ Bei

„figural narration“ liege eine solche Distanz nicht vor, möglicherweise fielen

beim „narrated monologue“ sogar Stimme und Perspektive zusammen, was für

Cohn die Quintessenz von „figural narration“ oder gar von „narration itself“ aus-

macht.³⁹ Es zeigt sich, dass das (scheinbare) Zurücktreten des Erzählers bei der

Präsentation von Figurenwahrnehmung wohl typisch für fiktive Texte, aber keine

Notwendigkeit ist. Wie der Titel nahelegt, bezieht Cohn jedoch vor allem innere,

kaum äußere Wahrnehmung von Figuren in ihre Überlegungen ein.

Stanzel präsentiert ein komplexes System zur Erfassung der Oberflächen-

struktur narrativer Texte. Für ihn konstituieren sich Erzählsituationen durch

die Beschaffenheit dreier Bestandteile: „Modus“, „Person“ und „Perspektive“.⁴⁰

„Modus“ kennzeichnet dabei die Darstellung von Mittelbarkeit narrativer Texte

(wird sie thematisiert oder wird eine Illusion der Unmittelbarkeit erzeugt?). Von

Interesse ist dabei vor allem der Begriff der Reflektorfigur, die Stanzel der Erzäh-

lerfigur gegenüberstellt. Die Reflektorfigur fungiert nach Bals Begriffen als Foka-

lisator nächstunterer Ebene.⁴¹ Stanzels „Person“ bezeichnet die Identität oder

Nichtidentität von Charakter und Erzähler. Liegt Identität vor, ist der Erzähler

zugleich auch ein Charakter der fiktiven Welt.⁴² Bei der „Perspektive“ unterschei-

det Stanzel zwischen Innen- und Außenperspektive.⁴³ Bei diesem System sind

bestimmte Kombinationen wahrscheinlicher als andere. So kann beispielsweise

Innenperspektive vorliegen, wenn der „Standpunkt, von dem aus die erzählte

Welt wahrgenommen oder dargestellt wird“, etwa innerhalb einer Hauptfigur

35 Ibid., S. 99 – 140.

36 Ibid., S. 70 – 88, S. 139 führt Beispiele an, wo das verwendete Vokabular dem der Figur ent-

spricht.

37 Ibid., S. 28 f.

38 Ibid., S. 117, S. 139.

39 Ibid., S. 111.

40 Stanzel 1989, S. 75 f.

41 Zum Modus ibid., S. 190 – 239.

42 Zur Person ibid., S. 109 – 148.

43 Zur Perspektive ibid., S. 149 – 189.

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liegt (Perspektive).⁴⁴ Ist diese Figur nicht mit der Erzählerfigur identisch (Person)

und dient als Reflektorfigur (Modus), liegt eine personale Erzählsituation vor.

Ein Wechsel der Erzählsituation, also eine Veränderung der Kombinationen

von Modus, Person und Perspektive, ist für Stanzel möglich, auch wenn sie bei

bestimmten Erzählsituationen eher unwahrscheinlich ist.

Petersens Systematik der „Erzählsysteme“⁴⁵ setzt vor allem beim Unter-

schied zwischen Aussagen über die Wirklichkeit und fiktionalem Sprechen in

der Literatur an.⁴⁶ Petersen definiert die Erzählform als „das ontische Verhält-

nis des Erzählers zum Erzählten, ob er nämlich von sich selbst, vom Angespro-

chenen oder von Dritten erzählt.“⁴⁷ Ähnlich wie Stanzel unterscheidet er zwei

„Sichtweisen“, nämlich Außen- und Innensicht.⁴⁸ Unter dem Standort oder Blick-

punkt des Erzählers dagegen versteht Petersen „das raum-zeitliche Verhältnis

des Narrators zu den Personen und Vorgängen, die er schildert und berichtet.“⁴⁹

Der sogenannte „olympische Standort“ kennzeichnet dabei die Allwissenheit

des Erzählers, dem die Innensicht auf die Figuren offenstehe und der ohnehin

meist wesentlich besser informiert sei als die Figuren: „Als olympisch läßt sich

der Erzählerstandort bezeichnen, wenn der Narrator den zeitlich wie räumlich

vollständigen Überblick über das Ganze eines vielfältigen Geschehens besitzt“.⁵⁰

Indem er sich von Stanzels Begriff der Erzählsituation distanziert, verwendet

Petersen den des Erzählverhaltens, unter dem „das Verhalten des Narrators zum

Erzählten“, zu verstehen ist, „und zwar nicht im Sinne einer Wertung, sondern im

Sinne der Präsentation der Geschichte.“⁵¹ Petersen unterscheidet auktoriales,

personales und neutrales Erzählverhalten.⁵² Dabei wähle das personale Erzäh-

len „die Optik der Figur“, ihre Sichtweise, was sich beispielsweise durch ent-

sprechende Deiktika und die begrenzte Perspektive der Figur bemerkbar mache.

Dabei bleibe jedoch der Erzähler präsent.⁵³

Beide Systeme sind relativ umständlich und eignen sich vor allem für die

Analyse längerer Textabschnitte. Im Vergleich zu Bals System eingebetteter

Fokalisation benötigen sie zum einen viele Begriffe, um Phänomene in Texten

44 Ibid., S. 150.

45 Dieses System wurde von Schlonski 1995 zur Untersuchung des Erzählerstandorts bei Lucan

verwendet.

46 Petersen 1993, v. a. S. 5 – 12.

47 Ibid., S. 53.

48 Ibid., S. 67 f.

49 Ibid., S. 65.

50 Ibid., S. 65.

51 Ibid., S. 68.

52 Ibid., S. 68.

53 Ibid., S. 69 – 71.

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Das Konzept der Fokalisation       13

wie z. B. Figurenperspektive zu beschreiben. Zum anderen fällt es schwer, mit

diesen Systemen einen schnellen Wechsel der Erzählsituation zu erfassen, weil

sie wenige Hilfsmittel dafür bieten.⁵⁴ Während Bals Fokalisation eher die Tiefen-

struktur von Texten erfasst, bemühen sich Stanzel und Petersen bewusst mehr

um die Beschreibung von deren Oberflächenstruktur.

Laut Schmid gibt es nur zwei Arten von Perspektive, narratoriale (Filterung

der Erzählung durch die Erzählinstanz, die wiederum diegetisch, also Bestandteil

der fiktiven Welt, oder nichtdiegetisch sein kann) und figurale (Filterung durch

eine Figur). Eine neutrale Perspektive, wie sie z. B. Genettes Nullfokalisation

bezeichnen soll, lehnt er ab.⁵⁵ Perspektive stellt für ihn ein Auswahlverfahren dar,

das die Beschaffenheit von drei der vier narrativen Ebenen seines Modells beein-

flusst.⁵⁶ Schmid definiert fünf Parameter von Perspektive: Raum, Ideologie, Zeit,

Sprache und Perzeption.⁵⁷ Diese können jeweils narratorial oder figural besetzt

sein. Als dritte Möglichkeit kann die Opposition zwischen narratorialer und figu-

raler Perspektive aufgehoben sein.⁵⁸ Das Modell von Schmid ist vor allem durch

die Parameter der Perspektive interessant, weil es Hilfen bietet, unter welchen

Aspekten Texte danach geprüft werden können, ob narratoriale oder figurale

Perspektive (Charakterfokalisation) vorliegt. Außerdem ist das Modell übersicht-

lich, sinnvoll begründet und berücksichtigt auch Mischformen und schnelle

Wechsel in der Perspektive. Trotzdem ist es auch hier im konkreten Fall nicht

immer einfach zu entscheiden, welche von Schmids Möglichkeiten vorliegt, vor

allem, wenn es um Mischformen und um die Aufhebung der Opposition zwischen

figuraler und narrationaler Perspektive geht, und wenn möglicherweise einige

seiner Parameter der Perspektive im Text kaum oder gar nicht besetzt sind. Daher

spielt für Schmid bei der Analyse von Erzählperspektive auch das Phänomen der

Textinterferenz eine wichtige Rolle, nach seiner Definition eine Mischung der

Wiedergabe von Figurentext und eigentlichem Erzählen.⁵⁹

Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der verschiedenen Systeme legen den

Gedanken nahe: Obwohl Erzählperspektive ein Phänomen ist, das Texte grund-

legend strukturiert und für ihre Wirkung verantwortlich ist, lässt es sich letzten

Endes nur bis zu einem bestimmten Grad mithilfe von Schemata erfassen. Es

gibt immer wieder Textstellen, bei denen das Phänomen der Perspektive selbst

54 Zu Kennzeichen möglicher Wechsel der Erzählsituation Stanzel 1989, S. 242 – 299, Petersen

1993, S. 113 – 138 zu „Variablen Systemen“.

55 Schmid 2008, S. 137 f.

56 Ibid., S. 279.

57 Ibid., S. 130 – 137.

58 Schmid 2008, S. 151 bietet einen tabellarischen Überblick.

59 Ibid., S. 182. Zur Textinterferenz insgesamt Schmid 2008, S. 181 – 299.

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14       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

mithilfe von Analysemethoden kaum eindeutig geklärt werden kann. Der Vorteil

der Systeme bleibt jedoch, dass sie dabei helfen können, auch solche Textstel-

len zu beschreiben. Generell hängt die Interpretation jedes Textes auch von einer

Analyse der Perspektive bzw. Fokalisation ab, die diesen Text kennzeichnet,

selbst wenn einige Fragen dabei vielleicht offen bleiben müssen. Daher werden

die genannten oder andere, vielleicht zukünftige Systeme trotz eventueller

Schwächen unverzichtbare Werkzeuge der Interpretation bleiben.

1.4 Vorteile von Bals System

Insgesamt vereint Bals System gegenüber anderen einige Vorzüge in sich, die es

für eine Analyse von Lucans Pharsalia besonders geeignet machen:

– Für Bal ist Subjektivität eine grundlegende Eigenschaft jeder Erzählung.⁶⁰

Gerade Lucans Epos enthält Abschnitte, die von starker Subjektivität des

Erzählers geprägt sind. Die grundlegende Annahme, dass Subjektivität keine

Ausnahme, sondern die Regel ist, kommt dem Werk daher entgegen, weil sie

Lucans verpönten „Mangel“ an epischer Objektivität relativiert. Bal lenkt den

Blick somit auch auf andere Aspekte des Textes und hilft dabei, die Rolle des

Erzählers einzuordnen, die Art und Funktion seiner Subjektivität zu erfassen,

ohne allzu sehr davon irritiert zu werden.

– Der Begriff der eingebetteten Fokalisation bzw. Charakterfokalisation ermög-

licht es, verschiedene Arten der Präsentation von Figurenwahrnehmung zu

berücksichtigen, z. B. innere und äußere Wahrnehmung, inneren Monolog,

verschiedene Formen indirekter Rede und Gedankenwiedergabe u. ä.

– Durch Fokalisationsmarker ist es möglich, Textstellen zu finden, an denen

Charakterfokalisation mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit vorliegt. Das

60 Subjektivität ist nicht mit Stanzels Begriff der „Mittelbarkeit“ gleichzusetzen. Laut Stanzel

1989, S. 15 f. hat Mittelbarkeit als Gattungsmerkmal der Erzählung z. B. im Gegensatz zum Drama

zu gelten. Der Begriff werde von der Narratologie nicht berücksichtigt, die „ausschließlich auf

die Erfassung der Tiefenstruktur hin“ orientiert sei. Petersen 1993, S. 16 setzt den Begriff der

Mittelbarkeit in Beziehung zur Subjektivität: Das Geschehen in einem erzählenden Text werde

mittelbar, durch ein Medium, wiedergegeben. „Nur beim Erzählen ist ein sich oftmals gar außer-

ordentlich subjektiv gebärdendes Medium anwesend, das dem Rezipienten etwas (nämlich das

Erzählte) vermittelt.“ Somit können nach Petersen Subjektivität und Mittelbarkeit miteinander

einhergehen, müssen es aber nicht. Die Annahme, Objektivität in einer Erzählung sei möglich,

wie es beispielsweise auch Genettes Begriff der Nullfokalisation nahe legt, verleiht jeder Form

von Subjektivität einen anderen Stellenwert. Hamburger 1968, S. 122. hält aufgrund der Fiktio-

nalität von Literatur sowohl den Begriff der Objektivität als auch den der Subjektivität für nicht

adäquat, weil es keine Relation zwischen dem Erzählen und dem Erzählten gebe.

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Aspekte von Fokalisation       15

bietet vor allem bei Texten einen Vorteil, in denen häufig ein Wechsel zwi-

schen einfachem (NF) und komplexem (CF) Erzählertext stattfindet, wie in

Lucans Bürgerkriegsepos. So ist es leichter, zwischen den Wahrnehmungen

des Erzählers und der Figuren zu trennen. Gerade in der Pharsalia mit ihrem

dominanten Erzähler und dessen ausgeprägter Tendenz zu Bewertungen

erweist sich das als hilfreich.

– Das System ist flexibel.⁶¹ Auch wenn nur ein kurzer Wechsel der Erzählebe-

nen vorliegt, ist es möglich, ihn zu erfassen.⁶² Bei nicht eindeutigen Fällen

(s. u.) stellt es Hilfsmittel zur Verfügung, diese Textabschnitte dennoch zu

analysieren.

– Generell kann das System auf alle Erzähltexte angewendet werden.

2 Aspekte von Fokalisation

2.1 Fokalisation von Erzähler und Figuren

Zu den wichtigsten Kritikpunkten an Bals Modell gehört der Zweifel daran, ob

ein Erzähler zugleich als Fokalisator fungieren könne. Einen Überblick über die

Diskussion gibt Prince,⁶³ der selbst die Position vertritt, ein Erzähler könne

niemals die Funktion des Fokalisators erfüllen. Sein Hauptargument ist, dass der

Erzähler kein Teil der fiktiven Welt sei und somit Ereignisse nur präsentieren,

nicht aber fokalisieren könne.⁶⁴

Dagegen wendet sich Phelan mit einer Reihe von überzeugenden Argu-

menten. Laut Phelan könne ein Erzähler unmöglich blind für die fiktive Welt

61 Das lobt auch de Jong 2001, S. 71.

62 Darin unterscheidet sich Bals System z. B. von Stanzel 1989, S. 242, der den Übergang von

auktorialer zu personaler Erzählsituation anhand von Merkmalen beschreibt: allmähliches Zu-

rücktreten und (scheinbares) Unsichtbarwerden des Erzählers, Erscheinen der Reflektorfigur

(oder Personalisierung der auktorialen Erzählerfigur), Änderung des zeitlichen und räumlichen

Orientierungssystems und der Deixis, erlebte Rede statt Gedankenbericht. Dieses System ist eher

für längere Textabschnitte mit größerem Kontext geeignet (vgl. z. B. Stanzel 1989, S. 80) und

kann, nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen führen.

63 Prince 2001, S. 43.

64 Ibid., S. 46. Ähnlich Fludernik 1996, S. 345. Generell sind für sie „Wechsel“ von der Wahr-

nehmung des Erzählers zu derjenigen der Figuren keine Fokalisierung, sondern „a shift in the

receptional frame from the frames of TELLING or ACTION-orientation to the parameters of VIE-

WING or EXPERIENCING, accompanied by a reduced involvement with traditional ACTION and

story-telling parameters and an added emphasis on the presentation of consciousness.“ Auch in

der Mediävistik wird das Problem diskutiert, so z. B. von Hübner 2003, S. 41 f., der sich ebenfalls

scharf gegen das Konzept vom fokalisierenden Erzähler ausspricht.

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16       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

sein, denn wenn er das Geschehen nicht wahrnehme,⁶⁵ könne er es auch nicht

vermitteln, solange keine Charakterfokalisation vorliege: „A human narrator, I

submit, cannot report a coherent sequence of events without also revealing his

or her perception of those events.”⁶⁶ Der Grund dafür sei darin zu suchen, dass

die Ereignisse der fabula nur auf eine einzige von unzähligen möglichen Arten

verwirklicht sind:

Consequently, any path marked by the narrator’s perspective […] will be not only a report

on the story world but also a reflection of how the narrator perceives that world which, in

turn, influences how audiences perceive that world. In other words, as the narrator reports,

the narrator cannot help but simultaneously function as a set of lenses through which the

audience perceives the story world.⁶⁷

Charakterfokalisation stelle somit eine besondere Art der Präsentation dar:

But this is not to say that every passage of narration is ultimately focalized through the

narrator: when the narration leaves the narrator’s perspective for the character’s, then the

focalization shifts; the audience doffs the narrator’s lenses and dons the character’s.⁶⁸

Somit kommt Phelan auch zu dem Ergebnis: „In short, narrators can be foca-

lizers. Determining focalization is just a matter of answering the question who

perceives?”⁶⁹

Aber nicht immer ist es möglich, Wahrnehmung von Figuren und Erzähler

eindeutig zu trennen. Fokalisation kann auch mehrdeutig (ambiguous focaliza-

tion) sein, wenn unklar bleibt, welcher fokalisierenden Instanz eine Wahrneh-

mung zugeordnet werden kann,⁷⁰ oder doppelt (double focalization), wenn etwas

sowohl vom Erzähler als auch einer Figur fokalisiert wird.⁷¹ Ein Beispiel soll dies

veranschaulichen.

Kurz vor der Entscheidungsschlacht gegen Pompeius wartet Caesar sehn-

süchtig auf den Beginn des Kampfes. Er will sich nicht mehr damit zufrieden

65 Die Vorstellung des Erzählers als Wahrnehmungsinstanz ist keineswegs neu, wie sich bereits

bei Friedemann 1965 (ursprünglich 1910), S. 26 zeigt: „der Erzähler“ ist der Bewertende, der

Fühlende, der Schauende.“

66 Phelan 2001, S. 57. Auch Schmid 2008, S. 129 f. weist dem Erzähler eine eigene Wahrneh-

mung zu: Man müsse zwischen Erfassen und Darstellen unterscheiden, ein Erzähler könne ein

Geschehen anders darstellen, als er es erfasst oder erfasst hat.

67 Phelan 2001, S. 57.

68 Ibid., S. 58.

69 Ibid., S. 58.

70 Bal 2009, S. 162 f.: „This happens when an object (which a character can perceive) is foca-

lized, but nothing clearly indicates whether it is actually perceived.“

71 Ibid., S. 163. Vgl. auch Prince 2001, S. 60.

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Aspekte von Fokalisation       17

geben, die umliegenden griechischen Siedlungen zu erobern, sondern ihm geht

es nur noch darum, Pompeius zu besiegen (6, 3 – 8):

capere omnia Caesar

moenia Graiorum spernit Martemque secundum

iam nisi de genero fatis debere recusat.

funestam mundo votis petit omnibus horamin casum quae cuncta ferat; placet alea fati

alterutrum mersura caput.

In 3 – 5 ist Caesar der Fokalisator, seine Gedanken und die Gründe für sein

Handeln werden deutlich. Wie aber verhält es sich in 6 – 8? votis petit könnte

darauf hindeuten, dass Caesar noch immer der Fokalisator ist, da er hier für die

Erfüllung seiner eigenen Wünsche betet, ob laut oder nur in Gedanken, wird

dabei nicht gesagt. Den Inhalt von Caesars Wünschen gibt 7 f. wieder: Er möchte,

dass entweder er selbst oder Pompeius den Tod findet, was ihn als einen Men-

schen charakterisiert, der Gefallen am Risiko findet. Aber welche Instanz nimmt

die bevorstehende Entscheidungsschlacht als funesta mundo hora wahr? Es wird

sich zeigen, dass der Erzähler der Pharsalia einen solchen Standpunkt vertritt.

Weiß Caesar auch selbst um die Folgen dessen, was er sich wünscht, nimmt er

ein so großes Risiko um seines eigenen Vorteils willen auf sich? Darauf könnte 7 f.

hinweisen. Der Relativsatz in casum quae cuncta ferat könnte Caesars eigene Ein-

schätzung der bevorstehenden Schlacht wiedergeben, der darauffolgende Satz

die Begründung liefern, warum er dennoch kämpfen will: Möglicherweise nimmt

er in seiner Rücksichtslosigkeit diese Gefahr bewusst auf sich. Es gibt allerdings

im restlichen Text der Pharsalia keinen Hinweis darauf, dass Caesar den Welt-

untergang herbeisehnt. Das legt nahe, dass es sich bei diesem Relativsatz um

einfachen Erzählertext handelt und bei placet alea fati/alterutrum mersura caput

wiederum Fokalisation durch Caesar vorliegt. So stellt der Erzähler seine eigene

Einschätzung der Situation dem irregeleiteten Denken der Figur gegenüber: In

seinem Wunsch nach einer Entscheidungsschlacht kann Caesar zwar das Risiko

für sich selbst abschätzen, nicht aber die Folgen für die gesamte Welt. Der Erzäh-

ler dagegen ist dazu in der Lage. Der Text enthüllt so die Kombination aus Verwe-

genheit und Verblendung, die Caesar so gefährlich macht.

Es hat sich also gezeigt, dass der Erzähler ebenfalls ein Fokalisator ist. Umge-

kehrt wird eine fokalisierende Figur nicht zwangsläufig zum Erzähler.⁷² Das ist

nur der Fall, wenn eine Figur selbst gleichzeitig die Funktion des Erzählers und

Fokalisators einnimmt, also wenn sie spricht.⁷³ Dabei muss die Figur nicht unbe-

72 Bal 2009, S. 146.

73 Zur Identität von Erzähler und Fokalisator vgl. auch de Jong 2004, S. 33 f.

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18       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

dingt eine Geschichte erzählen, jede Art von direkter Rede fällt unter diese Kate-

gorie. Ein Text hat somit möglicherweise mehrere Erzähler und Fokalisatoren in

hierarchischer Ordnung.

Dadurch wird auch ein anderer Aspekt von Fokalisation deutlich, nämlich

dass sie immer eine Auswahl bedeutet. Das trifft selbstverständlich nicht nur auf

die Fokalisation eines CF, sondern auch die eines NF zu. Ob, wann und wie lange

welche Instanz als Fokalisator fungiert, gestaltet die gesamte Erzählung wesent-

lich.⁷⁴

2.2 Arten von Charakterfokalisation

Die Begriffe „Erzählperspektive“, „point of view“⁷⁵ oder „vision“⁷⁶ zeigen die

große Bedeutung, die der visuellen Wahrnehmung auch im Zusammenhang mit

dem Erzählen eingeräumt wird. Wie ein Mensch hat auch eine fiktive Figur ihren

eigenen, subjektiven ,Blick‘ auf die Welt. Und das trifft, wenn man die gesamte

Erzählsituation betrachtet, nicht nur auf die Figur zu: Was ein Leser von der fik-

tiven Welt und den Ereignissen darin erfährt, hängt davon ab, welche Auswahl

der Autor trifft, welche Geschehnisse er dem Leser vor Augen stellt. Gleichgültig,

ob der Leser der Handlung aus der Sicht des Erzählers oder einer fokalisieren-

den Figur folgt, der Blickwinkel auf das Geschehen ist immer mehr oder weniger

begrenzt und subjektiv (vgl. 2. 1. dieses Kapitels). Das trifft umso mehr zu, je

umfangreicher die fabula ist und je mehr Figuren darin eine Rolle spielen.

Wenn ein Leser durch den Erzähler an der Perspektive einer Figur teilhaben

kann, erfährt er jedoch nicht nur, was diese Figur sieht, sondern auch, was sie

hört, was sie denkt und fühlt, woran sie sich erinnert. Die bloße Information, dass

Figuren etwas sehen, enthält noch nicht die Information, was diese Wahrneh-

mung für sie bedeutet (s. o.). So wird die Bedeutung, ja Gefahr des Sehens in der

Medusa-Erzählung der Pharsalia (9, 619 – 733) hervorgehoben: Die Medusa ver-

steinert Lebewesen entweder dadurch, dass sie selbst etwas sieht, oder dadurch,

74 Das bedeutet natürlich nicht, dass die Wahrnehmung von Personen, die nicht präsentiert

wird, irrelevant wäre. Der begrenzte Blickwinkel einer fokalisierenden Figur auf eine andere

kann gerade deren Wahrnehmung, Gedanken usw. zu einem wichtigen Bestandteil der Erzäh-

lung machen, obwohl oder gerade weil diese andere Figur niemals zum Fokalisator wird und ihre

Wahrnehmung aus anderen Informationen rekonstruiert werden muss.

75 Zur Herkunft des Begriffs Schmid 2008, S. 115.

76 Bal 2009, S. 149. Der Begriff „vision“ ist allerdings nicht mit Fokalisierung gleichzusetzen, da

er nur das umfasst, was ein Charakter wahrnimmt, Fokalisierung aber das Verhältnis zwischen

dem Charakter und seiner Wahrnehmung.

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Aspekte von Fokalisation       19

dass sie gesehen wird (9, 638 f.).⁷⁷ Perseus vermeidet daher, sie anzusehen,⁷⁸

und kann sie nur töten, während er ihr Spiegelbild in seinem Schild betrach-

tet (675 – 677). Obwohl in diesem Abschnitt visuelle Wahrnehmung eine Frage

von Leben und Tod ist, liegt keinerlei Charakterfokalisation vor.⁷⁹ Die Figuren

nehmen nur auf der fabula-Ebene an der Handlung teil. Weil zwischen ihnen und

ihrer Wahrnehmung kein Verhältnis etabliert wird, stehen keine Informationen

über ihre Motive, ihren Charakter u. ä. zur Verfügung.

Andererseits kann ein Leser viel über die seelischen Vorgänge einer Figur

erfahren, ohne dass diese Figur auch nur das Geringste sieht. Um ein weiteres

Beispiel aus der Pharsalia heranzuziehen: Während seiner Ermordung verhüllt

Pompeius sein Gesicht und schließt die Augen (8, 613 – 617). Obwohl man kaum

weniger sehen kann als Pompeius in dieser Situation, erlebt der Leser mit, wie

in seinen letzten Augenblicken sein Leben noch einmal an ihm vorüberzieht und

wie er selbst abschließend darüber urteilt (621 – 661). Pompeius ‚sieht’ innerlich,

er erinnert sich, denkt und bewertet. Zusammen mit dem sterbenden Feldherrn

kann sich so auch der Leser ein Urteil bilden, nicht nur über das, was die Figur

wahrnimmt – sein Leben, das jetzt zu Ende geht –, sondern auch über die Figur

selbst.⁸⁰

Um also den Möglichkeiten gerecht zu werden, die Charakterfokalisation

bietet, muss der Begriff des ,Sehens‘ weiter gefasst werden und darf sich nicht

nur auf visuelle Wahrnehmung beschränken:

An object can also be visible only inside the ‚head‘, ‚mind‘ or ‚feelings‘ of the CF – all terms

that project human features and reactions onto a paper person, of course. And only those

who have access to that character’s ‚inside‘ can perceive anything.⁸¹

77 Fantham 1992b, S. 100.

78 Vgl. Saylor 2002, S. 460.

79 Weder erfährt der Leser genau, was Perseus in seinem Schild sieht, obwohl es aus dem Kon-

text zu erschließen ist, noch, was er während der Tötung empfindet. Der Erzähler bezeichnet

ihn nur als trepidus (675), eine Angabe, die angesichts der Gefahr, in der Perseus schwebt, nicht

überrascht. Auch das Verhältnis Medusas zu den „Opfern“ ihres Blicks bleibt unklar. Lowe 2010,

S. 124 meint allerdings in 9, 637 – 640 einen Hinweis auf Medusas Mitgefühl mit ihrem Opfer zu

erkennen: Sie möchte, dass sie sterben, ehe sie sich fürchten. Wahrscheinlicher, als dass die Me-

dusa in der Lage ist, die Versteinerung zu beschleunigen, erscheint die Erklärung von Seewald

2008, S. 341, der die rhetorischen Fragen 638 f. (nam rictus oraque monstri/quis timuit? quem, si

recto se lumine vidit,/passa Medusa mori est?) als Vorbereitung einer Pointe des Erzählers be-

trachtet: „Man versteinert so schnell, daß keine Zeit für Angst bleibt.“

80 Eine ausführliche Analyse der Szene unter dem Aspekt der Charakterfokalisation findet sich

in III. 4. 2.

81 Bal 2009, S. 156. Vgl. auch S. 150: „Memory is an act of ‚vision‘ to the past.“ und Rimmon-

Kenan 2002, S. 78, die Fokalisierung ebenfalls nicht auf visuelle Aspekte beschränkt. Bereits

Cohn 1978, S. 50 bezieht halluzinatorische Wahrnehmung und geistiges ‚Sehen‘ in ihre Über-

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20       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

Umgekehrt muss bei Textstellen, die visuelle Wahrnehmung thematisieren,

geprüft werden, ob auch wirklich Charakterfokalisation vorliegt.

2.3 Zusammenfassung: Eingebettete Fokalisation/Charakterfokalisation

1. Eingebettete Fokalisation bedeutet einen Wechsel der Textebenen.

2. Sie etabliert ein Verhältnis zwischen der Wahrnehmung eines Charakters

und dem, was dieser Charakter wahrnimmt.

3. Die Art der Wahrnehmung ist nicht auf das Visuelle beschränkt, sondern

kann vielfältig sein.

4. Texte enthalten Hinweise auf eingebettete Fokalisation.

5. Eingebettete Fokalisation bedeutet immer eine Auswahl.

6. Sie trägt zur Gesamtbedeutung des Textes bei.

3 Zielsetzung der Arbeit

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, sich der komplexen Erzählsituation

in Lucans Pharsalia durch eine Analyse der Fokalisation im Gesamtepos anzu-

nähern.

Zunächst ist vorgesehen, die gesamte Pharsalia in Bezug auf die Frage zu

untersuchen, wann und wie oft Fokalisation durch die Erzählinstanz (NF) oder

durch Figuren (CF) vorliegt. Ebenso wichtig ist eine Untersuchung, welche Funk-

tion die Fokalisationen in ihrem jeweiligen Kontext für die Präsentation der

Handlung durch die Erzählinstanz haben. So ist beispielsweise für das Verständ-

nis eines Ereignisses relevant, von welchem Fokalisator es wahrgenommen und

damit zugleich auch beurteilt wird. Häufig nimmt die Erzählinstanz NF einen

anderen Blickwinkel auf die Handlung ein als eine Figur innerhalb der darge-

stellten Welt. Im Falle von Charakterfokalisation haben unterschiedliche Figuren

möglicherweise unterschiedliche Ansichten und treffen somit unterschiedliche

Urteile. Auch die Rolle, die diese Figuren dabei im Bürgerkrieg spielen, kann von

Bedeutung sein. Das Verhältnis zwischen Fokalisation und den häufigen Bewer-

legungen mit ein: „The redundancy of the seeing-verb underlines the paradox of mental vision,

even as it underlines the momentary inner muteness of the highly verbal mind that „perceives“

it.“ Vgl. auch Prince 2001, S. 44: „perceive“ betreffe nicht nur Wahrnehmung mit den Sinnen,

sondern auch z. B. Gerüche, Träume, Gefühle, Gedanken usw. 44 De Jong 2004, S. 110 gibt einen

Überblick über Fokalisationsmarker in Homers Ilias, die eine Präsentation nicht-visueller Cha-

rakterwahrnehmung signalisieren.

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Lucans Pharsalia als fiktionaler Text       21

tungen innerhalb des Textes, sei es durch die Erzählinstanz NF oder durch eine

Figur CF, muss also im Hinblick auf die Position des Fokalisators und vor dem

Hintergrund der dargestellten Welt betrachtet werden. Indem die Wertungen der

Erzählinstanz NF oder einer Figur CF innerhalb des Textes zugewiesen werden,

kann sowohl a) das Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren und den Gescheh-

nissen als auch b) das Verhältnis der Figuren zueinander und zu den Ereignissen

der Handlung erkannt werden.

Nachdem die verschiedenen Funktionen von Charakterfokalisation in der

Pharsalia definiert worden sind, soll ein Vergleich mit demselben Phänomen in

Vergils Aeneis (Kapitel IV) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den

Funktionen in beiden Epen aufdecken.

Auf diese Weise kann die Arbeit vielleicht zur Stütze zukünftiger Interpretati-

onen der Pharsalia werden und auch bei Textstellen, die oft interpretiert wurden,

neue Aspekte aufdecken. Die Pharsalia wurde oft in Bezug auf einen bestimm-

ten Kontext gelesen und interpretiert. So galt Lucan  – abgesehen von seiner

Rolle als literarischer Freiheitskämpfer unter Neros Herrschaft, die ihm immer

wieder zugeschrieben wird⁸² – beispielsweise als Anti-Vergil oder, im Gegenteil,

als Vergil-Imitator, als Stoiker oder als Kritiker der stoischen Philosophie. Auch

die Figuren Caesar, Pompeius und Cato wurden als Helden, Tyrannen, stoische

Weise, als inkompetent, tiefgründig oder oberflächlich charakterisiert. Da das

Ergebnis einer solchen Untersuchung meist entsprechend ihrem Interpretations-

ansatz ausfällt, ist eine neue Untersuchung mit einer neutralen, analytischen

Methode umso nötiger.

4 Lucans Pharsalia als fiktionaler Text

Am 9. August 48 v. Chr. wurde die Schlacht von Pharsalus geschlagen. Caesar,

Pompeius und Cato haben ohne jeden Zweifel wirklich gelebt. Lucans Bür-

gerkriegsepos nimmt Bezug auf reale Ereignisse und reale Personen, wenn

auch einige Episoden wie z. B. der Auftritt Ericthos phantastisch anmuten und

manche Aspekte, so Ciceros Anwesenheit im Lager des Pompeius, mit den his-

torischen Tatsachen unvereinbar sind.⁸³ Dennoch wird Lucan bisweilen eher als

Geschichtsschreiber denn als Epiker betrachtet.⁸⁴ Warum also kann ein Werk, das

82 Z. B. von Bartsch 1997, v. a. S. 131 – 149, D’Alessandro Behr 2007, v. a. S. 165 – 170.

83 Lintott 1971, v. a. S. 489, Radicke 2004, S. 85, S. 379 f.

84 Basore 1904, S. xcv ist der Ansicht, Lucan habe keine Epik geschrieben, sondern „history

in verses“.

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22       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

offensichtlich Elemente der realen Historie enthält, dennoch als fiktionales Werk

gelten?⁸⁵

Laut Schmid lässt sich Fiktionalität schwer an objektiven Merkmalen eines

Textes erkennen.⁸⁶ Für ihn bedeutet fiktiv: „nur dargestellt sein“.⁸⁷ Somit ist für

ihn in einem fiktionalen Werk die dargestellte Welt mitsamt allen ihren Teilen

fiktiv. Fiktives unterscheide sich vom Realen nur darin, dass es in der realen Welt

nicht existiert.⁸⁸ Somit seien auch historische Gestalten in der Literatur fiktiv, ihre

Verknüpfung mit realen Personen der Vergangenheit spiele dabei keine Rolle.⁸⁹

Nach Schmids Definition wäre Lucans Epos als Beispiel eines fiktionalen Textes

zu verstehen, in dem fiktive Figuren in einer fiktiven Welt handeln.⁹⁰ Eine ver-

gleichbare Position vertraten bereits Hamburger und Lämmert in den fünfzi-

ger Jahren: Gleichgültig, wie sehr sich ein historischer Roman an die „Wahrheit“

halte, seine Personen seien dennoch fiktiv.⁹¹

Der von ihm so bezeichneten „Fiktionalisierung des Realen“ schreibt auch

Petersen eine besondere Funktion zu:

Die […] Überführung wirklicher Ereignisse, historischer Fakten etc. in die Welt der Fiktio-

nalität nimmt dem Tatsächlichen sein Spezifisches, Unverwechselbares, Individuelles, sein

Hier und Jetzt und überführt es ins Zeitlos-Ortlose, ins Allgemeine, absolut Gültige.⁹²

Auch Zeitpunkte und Orte, die im fiktionalen Text genannt werden, sind laut

Petersen kein Indiz für die Realität von Ereignissen, sondern gestatten dem

85 Zur Problematik, fiktionale von historischen Texten unter Verwendung von narratologischen

Kategorien zu trennen, vgl. auch Cohn 1990.

86 Zur Fiktionalitätsdebatte Schmid 2008, S. 29 – 34. Schmid räumt jedoch ein, dass metakom-

munikative und kontextuelle Signale (z. B. Veröffentlichung in einem bestimmten Verlag) oder

metafiktionale Signale (z. B. Hinweise im Text auf seine Entstehung u. ä.) unter Umständen Hin-

weise auf Fiktionalität sein können. Vgl. auch Genette 1990, v. a. S. 770 f.

87 Schmid 2008, S. 37.

88 Ibid., S. 39.

89 Ibid., S. 39 – 41.

90 Die Begriffsverwendung „fiktiv“  – „fiktional“ in dieser Arbeit orientiert sich an Schmid

2008, S. 26: Fiktional ist ein Text, fiktiv das, was im fiktionalen Text dargestellt wird.

91 Hamburger 1968, S. 94 f., Lämmert 1955, S. 27. Vgl. auch Lamarque/Olsen 2002, S. 51 f.:

„Fictional content is such that how things are (in the fiction) is determined by how they are de-

scribed to be in a fictive utterance. This points up the contrast with truth because how things are

(in the world) is not determined by any kind of utterance. The ontological dependence of the fic-

tional on modes of presentation is crucial to the distinction between fiction and non-fiction.” Auf

diese Art können reale Personen zu fiktiven werden „ in virtue of being presented (characterized)

in a certain way and subject to a certain kind of attention.“

92 Petersen 1993, S. 9.

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Lucans Pharsalia als fiktionaler Text       23

Leser, der an sich zeit- und ortlosen Fiktionalität eine räumliche und zeitliche

Orientierung zuzuweisen.⁹³

Laut Walton entsteht Fiktion als ein ‚Make-Believe-Spiel‘, das den Leser

auffordert, sich etwas vorzustellen. Sobald ein Werk Imagination auslöst, kann

es als Fiktion verstanden werden.⁹⁴ Somit kann ein Werk für Walton zugleich

Fiktion und Nicht-Fiktion sein, was beispielsweise für historische Erzählungen

zutreffe. Dabei bedeute es auch keinen Unterschied, ob die Erzählung reale

Fakten oder Falschaussagen enthalte oder ob der Autor behaupte, die Wahrheit

zu vermitteln:⁹⁵

But when works of fiction are about real things, what they say about them is frequently

untrue. Does the difference consist in the fact that works of nonfiction express truths

whereas works of fiction express falsehood or untruths? No. A fantasy remains fiction even

if it happens to correspond to the actual course of events. […] Conversely, an inaccurate

history is still a history – a false one.⁹⁶

Radicke bietet eine umfangreiche Analyse von Lucans Quellen und Vorlagen. Die

Arbeit ist aufschlussreich, um zu verfolgen, wie aus Geschichte bzw. Geschichts-

schreibung und anderen Sachtexten ein fiktionaler Text wird: Obwohl er seinen

Vorlagen teilweise bis ins Detail folgt, ordnet Lucan die „Fakten“⁹⁷ seiner Quellen

auch der Gesamtkomposition seines Werkes unter und setzt andere, eigenstän-

dige Schwerpunkte und Wertungen,⁹⁸ die seinem Konzept entsprechen.

Eine besondere Stellung in der Fiktionalitätsdebatte nimmt das zentrale

Thema dieser Arbeit ein, die Präsentation von Figurenwahrnehmung (CF) im

Text. Sie ist bereits für Hamburger der entscheidende Hinweis auf Fiktionalität

eines Textes:

Indem wir unsere psychologisch-logische Selbsterfahrung zu Hilfe nehmen und uns darauf

besinnen, daß wir niemals von einer anderen realen Person sagen können: sie denkt oder

dachte, sie fühlt oder fühlte, glaubt oder glaubte u. ä., erkennen wir, daß bei Eintritt der

Verben der inneren Vorgänge in der Erzählung das Vergangensein der Personen und Hand-

lungen vergessen wird, d. h. die Erzählung aus einer möglichen Chronik in die Fiktion recht

eigentlich übergeht.⁹⁹

93 Ibid.

94 Walton 1990, S. 71, S. 71 f.

95 Ibid., S. 74 – 80.

96 Ibid., S. 74.

97 Auch antike Geschichtsschreibung verwendet narrative Techniken, die sie in die Nähe der

Fiktionalität bringen, ganz abgesehen von ihrem bisweilen umstrittenen Wahrheitsgehalt.

98 Hier ist beispielsweise eine Aufwertung des Pompeius gegenüber den historischen Quellen

zu nennen, vgl. Radicke 2004, z. B. S. 402 f., S. 411, S. 421 – 423.

99 Hamburger 1953, S. 345.

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24       Erzähler und Erzählperspektive. Theoretische Grundlagen

Für Hamburger bildet die Präsentation von Figurenwahrnehmung in Hinblick

auf innere Vorgänge also einen entscheidenden Unterschied zwischen einem

fiktionalen und einem (möglicherweise) historischen Text.¹⁰⁰ Dieser Aspekt gilt

als eines der entscheidenden Kennzeichen für fiktionale Literatur. Dabei ist es

irrelevant, ob der Text durchgängig oder nur kurzzeitig in Figurenperspektive

präsentiert wird. Nach Bal hat Charakterfokalisation in Verbindung mit nicht

wahrnehmbaren Objekten definitiv als Fiktionssignal zu gelten:

When an utterance which is narrated at the second level is not perceptible, this is also an

indication of fictionality, an indication that the narrated story is invented. If the narrator’s

realistic rhetoric seeks to keep up the pretence that it relates true facts, it can never repre-

sent the thoughts of actors other than itself.¹⁰¹

Als Beispiel kann Lucans Darstellung vom Tod des Pompeius dienen. Betrachtet

man die historische Person des Feldherrn, kann die Frage ‚Was dachte Pompeius,

als er starb?‘¹⁰², nie eindeutig beantwortet werden. Es lassen sich höchstens Mut-

maßungen darüber anstellen.¹⁰³ Die Pharsalia aber kennt eine klare Antwort: 8,

622 – 635. Der Leser erfährt nicht nur, was Lucans Pompeius im Sterben denkt,

sondern auch den genauen Wortlaut. Somit wird ein Unterschied zwischen dem

realen Pompeius und der fiktiven Figur aus der Pharsalia deutlich: Über die

fiktive Figur wissen wir etwas, was wir über die reale Person nicht wissen und nie

wissen werden. Nur Fiktion kann darstellen, was in den Köpfen von Personen vor

sich geht, ohne sich auf bloße Vermutungen zu beschränken.¹⁰⁴

Lucans Pharsalia ist nach jeder der genannten Theorien als fiktionaler Text

zu betrachten. Gerade auch die Darstellung von Figurenwahrnehmung ist ein

deutlicher Hinweis auf den fiktionalen Status des Werks.

100 Für Hamburger 1953, S. 351 f. ist es zudem noch entscheidend, dass die Ereignisse als ver-

gangene erzählt werden, was für sie allerdings auch unter Verwendung des Präsens möglich ist.

Stanzel 1989, S. 31 f. stimmt Hamburger darin zu, ausschließlich in der epischen Fiktion könne

die Subjektivität einer dritten Person als die einer dritten dargestellt werden, allerdings nur, was

die Tiefenstruktur des Textes betreffe. Zur Kritik an Hamburgers Konzept der ersten Person v. a.

Petersen 1993, S. 22 f., S. 54, S. 164 – 170, Fludernik 1996, S. 169.

101 Bal 2009, S. 50. Auch Schmid 2008, S. 34 – 37 betrachtet Einblicke ins Seelenleben fremder

Menschen als Signal von Fiktionalität.

102 Gedanken fallen unter die Kategorie „nicht wahrnehmbares Objekt“ in dem Sinn, dass sie

nur von dem fokalisierenden Charakter wahrgenommen werden können (Bal 2009, S. 156).

103 Vgl. Hamburger 1968, S. 73, Schmid 2008, S. 37 – 39.

104 Vgl. auch Cohn 1990, S. 784 - 786, Fludernik 1996, S. 48.

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