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Bipolare Störung: Diagnose © DGBS, Prof. Dr. Peter Bräunig 2003 Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. Postanschrift Geschäftsstelle: DGBS · Klinik für Psychiatrie · Heinrich-Hoffmann-Straße 10 · 60528 Frankfurt/M Tel.: 0700 333 444 54 (12 Ct/Min) · E-Mail: [email protected] · Website: www.dgbs.de Seite 1/7 Chat-Protokoll vom Montag, 1. Dezember 2003, 18:00 – 19:00 Uhr Thema: "Diagnose Bipolarer Störungen" mit Prof. Dr. Peter Bräunig Klinik für Psychiatrie, Verhaltensmedizin und Psychosomatik Klinikum Chemnitz Cornelius: Mit welchen Mitteln lassen sich die Diagnosen verbessern (z.B. Überprüfung durch Zweitmeinung) und das Switch-Risiko bei unerkannter Bipolarer Störung durch die Gabe von Antidepressiva ohne Stimmungs- stabilisierer verhindern bzw. vermindern? Prof. Bräunig: Besonders wichtig ist es, dass der Untersucher ein im Hinblick auf alle Fragen der Diagnostik und Therapie bipolarer Erkrankungen geschulter und möglichst auch erfahrener Arzt ist. Für den untersuchenden Arzt ist es sehr wichtig, dass er von den betroffenen Patienten und möglichst auch von ihren Angehörigen sehr exakte Informationen zur Krankheitsvorgeschichte erhält. Die bipolare Erkrankung ist eine Krankheit, deren Diagnose durch die Kenntnis der Krankheitsvorgeschichte und des Verlaufes in besonderer Weise abge- sichert werden kann. Im Falle der Bipolaren Störung ist deshalb die Anamnese mehr als "die halbe Miete". Selbstverständlich kann es auch hilfreich sein, die Diagnose durch eine Untersuchung zu einem späteren Zeitpunkt abzusichern oder durch die Untersuchung eines zweiten erfahrenen Arztes. Die Anwendung standardisierter Anamnese- und Befunderhebungsinstrumente kann wesentlich dazu beitragen, die Diagnosesicherheit zu erhöhen. Bei rezidivierenden depressiven Erkrankungen werden Patienten üblicherweise mit Antidepressiva behandelt. Oft ist es für Ärzte schwierig zu erkennen, ob es sich bei der jeweiligen Depression um eine sog. pseudounipolare Depression bei noch "maskierter" bipolarer Erkrankung handelt. Sogenannte weiche bipolare Zeichen sind diagnostische Merkmale, die dem Arzt helfen ,"echte" rezidivierende Depressionen von pseudounipolaren bipolaren Depressionen zu unterscheiden. Bei bipolaren/pseudounipolaren Depressionen ist das Switch-Risiko unter der Behandlung mit Antidepressiva höher als bei unipolaren Depressionen. Besonders hoch ist das Switch-Risiko bei agitierten bipolaren Depressionen und bei agitiert- depressiven bipolaren Mischzuständen, die zusätzliche Gabe von Stimmungsstabilisierern reduziert das Switch-Risiko. Ein sehr gutes klinisches Monitoring, also engmaschige und regelmäßige Arztvisiten bzw. Vorstellungen beim niedergelassenen Nervenarzt tragen entscheidend dazu bei, Frühwarnmerkmale für einen Switch zu erkennen und dem rechtzeitig entgegenzuwirken. Deshalb sind Patientenaufklärung und Angehörigeninformation so wichtig.

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Tel.:070033344454(12Ct/Min)·E-Mail:[email protected]·Website:www.dgbs.deSeite1/7

Chat-ProtokollvomMontag,1.Dezember2003,18:00–19:00UhrThema:"DiagnoseBipolarerStörungen"mitProf.Dr.PeterBräunigKlinikfürPsychiatrie,VerhaltensmedizinundPsychosomatikKlinikumChemnitzCornelius:

MitwelchenMittelnlassensichdieDiagnosenverbessern(z.B.ÜberprüfungdurchZweitmeinung)unddasSwitch-Risiko bei unerkannter Bipolarer Störung durch die Gabe von Antidepressiva ohne Stimmungs-stabilisiererverhindernbzw.vermindern?

Prof.Bräunig:

Besonderswichtigistes,dassderUntersuchereinimHinblickaufalleFragenderDiagnostikundTherapiebipolarerErkrankungengeschulterundmöglichstaucherfahrenerArztist.FürdenuntersuchendenArztistes sehrwichtig, dass er von den betroffenen Patienten undmöglichst auch von ihren Angehörigen sehrexakteInformationenzurKrankheitsvorgeschichteerhält.DiebipolareErkrankungisteineKrankheit,derenDiagnose durch die Kenntnis der Krankheitsvorgeschichte und des Verlaufes in besondererWeise abge-sichertwerdenkann.ImFallederBipolarenStörungistdeshalbdieAnamnesemehrals"diehalbeMiete".Selbstverständlich kannes auchhilfreich sein, dieDiagnosedurcheineUntersuchung zu einem späterenZeitpunkt abzusichern oder durch die Untersuchung eines zweiten erfahrenen Arztes. Die Anwendungstandardisierter Anamnese- und Befunderhebungsinstrumente kann wesentlich dazu beitragen, dieDiagnosesicherheitzuerhöhen.

Bei rezidivierenden depressiven Erkrankungen werden Patienten üblicherweise mit Antidepressivabehandelt.OftistesfürÄrzteschwierigzuerkennen,obessichbeiderjeweiligenDepressionumeinesog.pseudounipolare Depression bei noch "maskierter" bipolarer Erkrankung handelt. Sogenannte weichebipolareZeichensinddiagnostischeMerkmale,diedemArzthelfen ,"echte" rezidivierendeDepressionenvon pseudounipolaren bipolaren Depressionen zu unterscheiden. Bei bipolaren/pseudounipolarenDepressionen ist das Switch-Risiko unter der Behandlung mit Antidepressiva höher als bei unipolarenDepressionen.BesondershochistdasSwitch-RisikobeiagitiertenbipolarenDepressionenundbeiagitiert-depressiven bipolaren Mischzuständen, die zusätzliche Gabe von Stimmungsstabilisierern reduziert dasSwitch-Risiko. Ein sehr gutes klinisches Monitoring, also engmaschige und regelmäßige Arztvisiten bzw.Vorstellungen beim niedergelassenen Nervenarzt tragen entscheidend dazu bei, Frühwarnmerkmale füreinen Switch zu erkennenunddem rechtzeitig entgegenzuwirken.Deshalb sindPatientenaufklärungundAngehörigeninformationsowichtig.

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Peter:

WievieleverschiedenFormenBipolarerStörungengibtes?

Prof.Bräunig:

EsgibteinganzesSpektrumverschiedenerbipolarerErkrankungen:

1. BipolarIStörungmitschwerenDepressionenundschwerenManien2. DieBipolarIIStörungmitschwerenDepressionenundleichtgradigenManien,sogenannten

Hypomanien3. Die Zyklothyme Störung, eine Temperamentsstörung, die sich durch sehr leichtgradige

Stimmungstiefs und leichtgradige Stimmungshochs charakterisieren lässt. Das Besondereist:dieseSchwankungenbestehenwährendderüberwiegendenZeiteinesJahres.

4. EineweitereFormistdasRapidCycling,hiertretenbipolareKrankheitsepisodenbesondershäufigauf,vierodermehrEpisodenwährendeinesJahressinddieRegel

5. Die bipolare schizoaffektive Störung zeichnet sich durch schweremanische und schweredepressive Krankheitsepisoden jeweils mit längerzeitig andauernden psychotischenSymptomen(Wahnsymptomatik,Halluzinationen)aus.

Johanna:

WonachklassifiziertmanbipolareErkrankungen?

Prof.Bräunig:

DiebipolareErkrankunglässtsicheinmalnachderArtundnachderSchwerederimVerlaufauftretendenbipolaren Krankheitsepisoden klassifizieren und zum anderen nach der Häufigkeit des Auftretens derbipolarenEpisoden.

Zu 1: Bei der Bipolar-I-Störung treten schwere Depressionen undManien auf. Die Bipolar-II-Störung istdurch schwere Depressionen und leichte Manien (Hypomanien) charakterisiert. Bei der ZyklothymenStörung leiden die Betroffenen während eines Jahres unter sehr leichten depressiven Stimmungs-schwankungenundimWechseldazuauchuntersehrleichtenhypomanischenVeränderungenderGefühleund der Stimmung. Die schizoaffektive Bipolare Störung ist durch längerzeitiges Auftreten psychotischerSymptome(Wahn,Halluzinationen,desorganisiertesVerhalten)gekennzeichnet.

Zu2: Es gibtbipolareErkrankungen, inderenVerlaufKrankheitsepisoden sehr seltenauftreten, zumTeilmit mehrjährigen gesunden Intervallen zwischen den Episoden. Das Gegenteil dieser episodenarmenVerläufeistdasRapidCyclingmitvierodermehrKrankheitsepisodenwährendeinesJahres.

tom:

Ich habe eine Frage zumVerlauf der Erkrankung. Kann es sein, dass sich der Allgemeinzustand bei einerBipolarenStörungstetigverschlechtert?

Prof.Bräunig:

Der körperliche Allgemeinzustand verschlechtert sich bei bipolar erkranktenMenschen nur dann stetig,wenneineernstekörperlicheBegleiterkrankungbesteht.Dazusolltemanwissen,dassMenschen,dieanaffektiven Erkrankungen leiden, und die bipolare Erkrankung ist eine affektive Erkrankung, ein erhöhtesRisiko haben, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erkranken, z.B. an einem Herzinfarkt. Deshalb ist esunbedingt zu empfehlen, jenseits des 40. Lebensjahres entsprechende Vorsorgeuntersuchungen durch-

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führenzu lassen.DerpsychischeAllgemeinzustandkannsich imVerlaufderErkrankungdannverschlech-tern,wennKrankheitsepisodeninsehrkurzerzeitlicherAufeinanderfolgeauftreten.ZumBeispielkanndiesder Fall sein, wenn Stressoren unkontrolliert wirksam werden. Gegen das häufige Wiederauftretenbipolarer Episoden kann man wirklich etwas tun: eine regelmäßige medikamentöse Rezidivprophylaxe,Psychoedukation, d.h. Aufklärung über das Wesen der Erkrankung, und Psychotherapie.Stressmanagement,Aktivitätenplanung,Interaktions-undKommunikationstrainingsindsehrhilfreich.

Canisius:

Ist bei der Diagnose eine sog. Längsschnittbetrachtung wichtig, d.h. die Beobachtung phasenhafterKrankheitsverläufe?

Prof.Bräunig:

Die Längsschnittbetrachtung ist bei der diagnostischen Einschätzungen bipolarer Erkrankungen unver-zichtbar.OhneeinesehrgenaueAnalysedeslangzeitigenKrankheitsverlaufeskanndieDiagnosenichtmitausreichenderZuverlässigkeitgestelltwerden.DieLangzeitdiagnostik istauchwichtig fürdiePlanungderrückfallverhütendenPharmako-undPsychotherapie.

Franz:

MussichalsManisch-DepressiverlebenslänglichMedikamenteeinnehmen?

Prof.Bräunig:

Diemanisch-depressive oder bipolare Erkrankung ist tatsächlich eine Krankheit, bei der die betroffenenMenschen lebenslang damit rechnen müssen, erneut entweder spontan oder in Abhängigkeit vonbelastendenLebensereignissenund spezifischenundunspezifischenStressorenwieder zuerkranken.DerAbstandzwischendenKrankheitsepisodenunterliegtallerdingseinerextrembreitenVarianz.Nichtwenigebipolar erkrankteMenschen haben zwischen den Krankheitsepisoden drei, fünf oder mehr als 10 JahreRuhe.AndereBetroffenehaben jährlichundmanchemehrmals jährlichunterdenKrankheitsepisodenzuleiden.WenndieAbständezwischendenEpisodenkürzersindunddieLebensqualitätunddasLeistungs-vermögen durch die Erkrankung sichtlich beeinträchtigt sind, ist einemedikamentöse Rezidivprophylaxeüber längere und oft auch über sehr lange Zeit wirklich ratsam.Wir empfehlen Patienten, die oft, z.B.jährlich,erneuterkranken,unbedingtdieEinnahmerezidivprophylaktischwirksamerMedikamenteunddieDurchführung einer störungsspezifischen, d.h. auf die bipolare Erkrankungen bezogenen Psychotherapie.BeibipolarenErkrankungenistdieSuizidgefahrsehrgroß.DieRezidivprophylaxewirktdementgegen.

Canisius:

Wiearbeiten in IhrerSchwerpunktklinik inChemnitzPsychiaterundDiplompsychologenbzw.Psychothera-peutenbeiderDiagnosezusammen?

Prof.Bräunig:

InunsererKlinikwirddieDiagnostikdurchgehendgemeinsamvonÄrztenundPsychologendurchgeführt.Natürlich ist esAufgabederÄrzte, Patienten körperlich zuuntersuchen.Bei der Lifechart-Diagnostik, beider Erfassungdes Langzeit-Krankheitsverlaufes, bei der diagnostischenErfassungeventueller komorbiderStörungen(z.B.Angst-oderSuchterkrankungen)undbeiderdiagnostischenErfassungvonLebenskonflik-ten, kritischen Lebensereignissen, von Stressoren und Problemen bei der Krankheitsbewältigung (in derFamilie oder sonstigem sozialen Umfeld) tragen die psychologischen Kollegen sehr entscheidend zurDiagnostik bei. Die ärztliche Diagnostik ist besonders wichtig für die Planung der medikamentösen

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Therapie. Die diagnostischen Schwerpunkte der Dipl.-Psychologen beziehen sich in erster Linie auf sehrindividuelle Krankheitsprobleme der Patienten, die dann für die Planung der Psychotherapie undPsychoedukation besonders wichtig werden können. An unserer Klinik werden alle bipolar erkranktenPatientensowohlmedikamentösalsauchpsychotherapeutischundpsychoedukativbehandelt.

Canisius:

SehenSieindervorbeugendenPsychoedukation(exante)einenWeg,dieDiagnosenzuverbessern?

Prof.Bräunig:

Esistbesonderswichtig,innerhalbderMedizin,aberauchinderGesellschaftAufklärungsarbeitinpunctobipolare Erkrankung zu leisten. Eine sog. vorbeugende Psychoedukation kann für bestimmte Patienten-gruppensehr sinnvoll sein,umdieDiagnosebipolarerErkrankungnicht zuverfehlen.Empfehlenswert isteinePsychoedukationexantebeiPatientenmitrezidivierendendepressivenStörungen.NichtnurWissen-schaftlermacheninihrenStudiendieErfahrung,dass30bis50%derrezidivierendendepressivenErkran-kungen sich bei genauer Diagnostik, zu der psychoedukativ behandelte und damit informierte Patientensehr viel beitragen können, als bislang nicht erkannte bipolare Erkrankungen entpuppen. Überwiegendhandelt es sich dabei um nicht erkannte Bipolar II Störungen mit schweren Depressionen und leichtenHypomanien. Psychoedukation ex ante kann dazu beitragen, dass Patienten mit wiederkehrendenDepressionen ihremArztoderPsychologensagen,dass siedas,wovongeradedieRede ist,nämlicheineHypomanie,auchschondurchgemachthaben,siehättendasbislangallerdingsnichtfüreinenkrankheits-wertigenZustandgehalten.

Lucy:

Sie sprechen von PSYCHOtherapie, meist wird den bipolar Erkrankten jedoch Verhaltenstherapie undkognitiveVerhaltenstherapieverabreicht,diedasErlebenunddasVerarbeitenmeinesErachtenszuwenigberücksichtigt.WiesehenSiedas?

Prof.Bräunig:

Es ist richtig,dassgegenwärtigverschiedeneverhaltenstherapeutischeBehandlungsmethodenbeibipolarerkranktenMenschenpräferiertwerden.Verhaltenstherapiemuss jedochnichtheißen,dassdas ErlebenundpsychodynamischeGesichtspunktezukurzkommenmüssen.InderPraxiswerdensinnvollerweisediein der Fachliteratur empfohlenen psychotherapeutischen Behandlungsmethoden nach pragmatischenGesichtspunkten, die sich wirklich an den Bedürfnissen der Patienten orientieren, modifziert.Beispielsweise sind Stressmanagement und Konfliktbewältigungstraining ohne die Berücksichtigung dessubjektivenErlebensundderPsychodynamiknichteffektivumsetzbar.Deshalbplädiereichsehrdafür,dieWahl der psychotherapeutischen Behandlungsmethoden sehr strikt von den jeweiligen Bedürfnissen derPatientenabhängig zumachen.EsdarfVerhaltenstherapie sein, aberdiePsychotherapiemuss sichnichtaufVerhaltenstherapiebegrenzen.

Svenja:

WelcheSymptomehabendenndieeinzelnenKrankheitsphasenwiedieDepression,ManieundHypomaniebzw.auchdiePsychose?

Prof.Bräunig:

Die häufigsten Symptome der bipolarenDepression sind: Ein-undDurchschlafstörungen, Früherwachen,Morgentief,herabgesetzteStimmung,Schwermut,Ängste,Unruhegefühle,VerlangsamungundHemmung

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verschiedenster seelischer Abläufe und Prozesse (Denken, Gefühle, Motorik/Handeln), Hemmung derGefühle, "Gefühl der Gefühllosigkeit", Antriebsmangel, Interesselosigkeit, Motivationsprobleme, Mut-losigkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Selbstwertprobleme, Schuldgefühle, Pessimismus, Lebensüberdruss,Suizidalität, Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und gelegentlich auch vorübergehende Gedächtnis-störungen.

Die häufigsten Symptome der Manie sind: gehobene euphorische oder dysphorisch gereizte Stimmung,aufgeregte und labile, unvermittelt wechselnde Emotionen, Beschleunigung verschiedener psychischerAbläufe - Denken (Ideenflucht, Gedankenrasen), Sprache (Logorrhoe, Rededrang),Motorik/Handeln (Be-schäftigungsdrang, Sprunghaftigkeit im Handeln, motorische Unruhe), gehobenes Selbstwertgefühl,Größenideen,vermindertesSchlafbedürfnisundvielesmehr.

Petra:

IchwürdegernmalzueinemArztgehenundmichdiesbezüglichuntersuchen lassenbzw. informieren. IchhabeabernichtdenMut,zumeinemHausarztzugehen.KönnenSieirgendwelcheTippsgeben?

Prof.Bräunig:

NatürlichwürdeichIhnengernMutmachenundIhnensagen,fassenSiesichdocheinHerzundsprechenSieIhrenHausarztan.Wennesaberwirklichnichtgeht,dannrateichIhnen,sichaneinenPsychiateroderandensozialpsychiatrischenDienstIhrerStadtoderRegionzuwenden.InvielenStädtenundRegionengibtes Einrichtungen der psychosozialen Beratung. Was ich Ihnen unbedingt rate: wenden Sie sich an dieDeutscheGesellschaftfürBipolareStörungene.V.(DGBS),z.B.überdasInternet:www.dgbs.de.DieDGBSwirdIhnendabeihelfen,inIhrerRegioneinenArztoderPsychologenzufinden.

Petra:

Kannmanmitüber60Jahrennochbipolarerkranken?

Prof.Bräunig:

DerBeginneiner bipolaren Erkrankung jenseits des 60. Lebensjahres ist extrem selten. Es gibt allerdingstatsächlichMenschen,dieinihremLebenweitgehendunbemerktmitleichtenStimmungsschwankungenimmanischen oder depressiven Bereich zu tun hatten, vielleicht auch mal mit einer nicht allzu ernstgenommenen eher leichtgradigen Depression und dann jenseits des 60. Lebensjahres erstmals an einerManieerkranken.SolcheSpätmaniensolltenallerdingserstdannalsAusdruckeinerbipolarenErkrankungangesehenwerden,wennzahlreicheDifferenzialdiagnosenwirklichsicherausgeschlossensind.SolltenSieeinenentsprechendenVerdachtbeisichselbsthaben,rateichIhnen,sichunbedingtaneinenPsychiaterzuwenden.

ulli:

Welche von den alternativen und Energiemethoden, esoterischen Methoden könnten Sie empfehlen?Homöopathie, Reiki, Hellinger,Meridiantherapie, Reinkarnationstherapie, Besuche bei Heilpraktikern undGeistheilern?

Prof.Bräunig:

Aus meiner langjährigen ärztlichen Erfahrung weiß ich, dass manche bipolar erkrankte Menschen inspirituellenundalternativenHeilmethodenHilfesuchen.NatürlichwerdenwiralsÄrzte,denendasWohlunserer Patienten amHerzen liegt, auf persönliche Krankheitskonzepte versuchenRücksicht zu nehmen.

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Dennoch kann ich Ihnen keine der von Ihnen erwähnten Methoden zur Behandlung Ihrer oder einerbipolarenErkrankungwirklichgutenGewissensempfehlen.

Sebastian:

WiehochsinddieChanceneinerHeilungderBipolarenStörung?UndwielangekönnendepressivePhasenandauern?

Prof.Bräunig:

DieChancen,bipolareKrankheitsepisodensoeffektivzubehandeln,dasssichdieSymptomatikvollständigzurückbildet,sindwirklichsehrhoch.Genauer:beidenmeistenPatienten,diewirheuteinKlinikenbehan-deln,bildetsichdiebipolareSymptomatikinnerhalbeinesJahresstabilzurück.Wichtigistes,diemedika-mentöseBehandlungüberdie akuteKrankheitsphasehinaus auch inder Stabilisierungsphase zuverlässigfortzuführen,umeinenfrühenRückfallzuvermeiden.

Depressive Krankheitsepisoden dauern im Schnitt vier bis achtMonate. Bei einem Drittel der Patientenkann inetwaeinemVierteljahrdurchmedikamentöseundpsychotherapeutischeBehandlungeinestabileSymptomkontrolle erreichtwerden, bei einemweiteren Drittelder Patienten gelingt dies zwischen demdritten und neunten Behandlungsmonat. Wir dürfen allerdings auch nicht übersehen, dass bipolar-depressiveKrankheitsepisodenauchlängeralsneunbiszwölfMonatedauernkönnen.

Caesar:

BestehteinZusammenhangzwischendenBegleiterscheinungeneinerschizoaffektivenPsychose, ichmeineeineakuteextrapyramidaleSymptomatik,unddenJahreszeiten,besondersdemHerbst?

Prof.Bräunig:

Die von Ihnen erwähnten Zusammenhänge sindmir in der genannten Formnicht bekannt. Allerdings istfolgendes denkbar: Patienten mit schizoaffektiven Psychosen werden heute noch sehr oft mit sog.typischenNeuroleptikabehandelt.WährendmanischerKrankheitsphasenodereuthymerKrankheitsphasenkann bei gut angepasster Dosierung das Auftreten extrapyramdidalmotorischer Nebenwirkungenvermiedenwerdenoder die EPS sindminimal.Wenndann allerdings imHerbst eine subdepressive oderdepressive Krankheitssymptomatik manifest werden sollte, können EPS auftreten. Wissenswert ist: Beigleicher Neuroleptikadosis treten extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen sehr viel häufiger undschwererimZustandderDepressionalswährendeinerManieoderEuthymieauf.

robert:

Kann ich als zurzeit gesunder Mensch mit bipolarem Krankheitsmuster wieder einer geregelten Arbeitnachgehen?

Prof.Bräunig:

Selbstverständlich können Sie das. Bitte denken Sie daran, mit Ihrem Arzt sehr genau über die für Siegeeignete Rezidivprophylaxe zu sprechen. Ein geregelter Lebensrhythmus ist bei berufstätigen bipolarerkranktenMenschen besonders wichtig. Stressmanagement ist keine hohle Therapeutenphrase, für SiekannesgenausowichtigseinwiediemedikamentöseRezidivprophylaxe.

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Petra:

Mein Vater war manisch-depressiv. Kann sich die Krankheit nicht in die nächste, sondern in die zweiteGenerationvererben?WiekönnteichmeineKinderaufdieKrankheithinuntersuchenlassen?

Prof.Bräunig:

EingehäuftesVorkommenbipolarerErkrankungeninFamiliengibtestatsächlich.Dennochgibtesbisheutekeinen Hinweis dafür, dass die bipolare Erkrankung eine sog. klassische Erbkrankheit ist. Selbst eineiigeZwillingeerkrankennichtmithundertprozentigerÜbereinstimmung.Deshalbkönnenwirsichersagen,dassnicht-genetische Faktoren bei der Krankheitsentwicklung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Esgibt keinen Gentest für die bipolare Erkrankung. Ich kann gut verstehen, wenn Sie sich um Ihre Kindersorgen.AberbittekeinePanik!GebenSieachtauf IhreKinder,aberverunsichernSie sienicht,etwamitUntersuchungen,diedenvon IhnengewünschtenGewinnan InformationenundZukunftssicherheitnichterbringenkönnen.EineEmpfehlungkönntebeispielsweisesoaussehen,dassSieinIhrerFamilieoffenüberdiebeiAngehörigenfrühererGenerationenaufgetreteneErkrankungsprechenundauchdarüber,welcheSymptome bei dieser Erkrankung auftreten können. Ich rate zur Sachlichkeit. Oft werden die Gefahrenüberschätzt.

Cornelius:

WiekanndiediagnostischePraxisderambulantundstationärtätigenPsychiaterverbessertwerden?

Prof.Bräunig:

FürdiePsychiaterheißtdasZauberwortindiesemFallFORTBILDUNG.DerInformationsbedarfistauchbeiFachärzten riesengroß. Sicher wird es zukünftig Ärzte geben müssen, die sich auf die Behandlung vonPatientenmitaffektivenErkrankungen,zudenendiebipolareErkrankungzählt,spezialisieren.Ichplädieresehr für die Zertifzierung von Ärzten, Arztpraxen und Krankenhäusern durch ein spezielles "bipolares"Fortbildungs-Diplom.