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Onkologe 2013 · 19:494–495DOI 10.1007/s00761-013-2457-5Online publiziert: 21. April 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
M. AhlbornMedizinische Klinik III, Hämatologie und Onkologie, Städtisches Klinikum Braunschweig
Chemotherapie bei fortgeschrittener KrebserkrankungPatientenerwartungen
Patienten mit metastasiertem Lun-genkarzinom oder kolorektalem Kar-zinom werden in der Regel mit Che-motherapie behandelt. Auch wenn die Therapien wirksamer geworden sind, verlängern sie das Überleben nur um begrenzte Zeit; geheilt wer-den die Betroffenen nicht. Chemo-therapie kann krankheitsassoziier-te Symptome lindern, allerdings auch relevante therapieassoziierte Neben-wirkungen verursachen. Frühere Stu-dien haben gezeigt, dass Patien-ten mit fortgeschrittenen soliden Tu-moren ihre Lebenserwartung über-schätzten – und damit deutlich von der Einschätzung ihrer behandelnden Ärzte abwichen. Über die Einschät-zung von Patienten, was Chemothe-rapie bei fortgeschrittener Krebs-erkrankung erreichen kann, ist wenig bekannt. In der aktuellen Arbeit wurden Daten einer US-amerikanischen Beobach-tungsstudie zur Krebsbehandlung genutzt, um die Erwartungen von Pa-tienten mit metastasiertem Lungen-karzinom oder kolorektalem Karzi-nom an die Wirksamkeit einer Che-motherapie zu erfassen. Insbesonde-
re die Hoffnung auf Heilung wurde untersucht. Es wurden Faktoren iden-tifiziert, die mit einer unrealistischen Erwartung an die Behandlung ver-bunden sind.
Studiendesign
1193 Patienten aus der prospektiven Can-CORS-Studie, die 4 Monate nach Diag-nose eines fortgeschrittenen Lungenkar-zinoms oder kolorektalen Karzinoms am Leben waren und eine Chemotherapie erhielten, wurden untersucht. Die Patien-ten wurden 4 bis 7 Monate nach Diagno-sestellung strukturiert interviewt, und es wurden Akten ausgewertet.
Ergebnisse
Insgesamt gaben 69% der Patienten mit metastasiertem Lungenkarzinom und 81% der Patienten mit fortgeschrittenem kolo-rektalem Karzinom Antworten, die nicht mit dem Verständnis in Einklang zu brin-gen waren, dass ihre Erkrankung höchst-wahrscheinlich unheilbar ist. Ein höhe-res Risiko für falsche Erwartungen an die Chemotherapie zeigten Patienten mit ko-lorektalen Karzinomen, nichtweiße Be-troffene und Patienten, die die Kommu-nikation mit ihrem Arzt als sehr gut ein-schätzten. Bildungsniveau, körperliche Fitness und die Rolle bei der Therapie-entscheidung waren nicht von Bedeutung.
Diskussion
Viele Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung, die eine Chemothera-pie erhalten, scheinen eine unzutreffen-de Einschätzung über die wahre Prog-nose ihrer Erkrankung und die Chancen der empfohlenen Chemotherapie zu ha-ben. Ärzte können dieses Verständnis ver-bessern, was aber möglicherweise die Zu-friedenheit der Patienten mit dem behan-delnden Arzt verschlechtert.
Kommentar
Frühere Studien haben gezeigt, dass Pa-tienten mit fortgeschrittener Krebs-erkrankung bereit sind, für eine sehr ge-ringe Heilungschance eine nebenwir-kungsreiche Therapie auf sich zu nehmen [3]. Man könnte argumentieren, dass Pa-tienten, die nicht verstehen, was mit einer Chemotherapie realistisch zu erreichen ist, möglicherweise keine fundierte Ent-scheidung über das Für oder Wider einer solchen Therapie treffen können. Darü-ber hinaus könnte das fehlende Verständ-nis über die wahre Prognose verhindern, die verbleibende Lebenszeit gut zu planen. Patienten, die eine unrealistische Ausein-andersetzung mit ihrer wahren Prognose und den palliativen Therapiezielen haben, tendieren zu aggressiveren Therapien am Lebensende. Dies hat keinen lebensver-längernden, sondern einen lebensverkür-zenden Einfluss [4]. Die Überbehandlung fortgeschritten krebskranker Menschen
Journal Club
Originalpublikation
Weeks JC, Catalano PJ, Cronin A et al (2012) Patients expectations about effects of che-motherapy for advanced cancer. N Engl J Med 367(17):1616–1625
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am Lebensende mit aggressiven Thera-pien wird mittlerweile in der palliativme-dizinischen Literatur als ein Kriterium der Fehlbehandlung gewertet [1].
Dass unrealistische Patientenerwar-tungen mit einer als gut eingeschätz-ten Arzt-Patienten-Kommunikation ver-knüpft sind, könnte nahelegen, dass Ärzte, die die Wirkchancen einer Chemothera-pie zu positiv darstellen, als bessere Kom-munikatoren wahrgenommen werden. Die besondere Gesprächsstruktur zwi-schen Onkologe und Patient mit dem oft raschen Wechsel zwischen Überlegungen zur Prognose einerseits und zu weiteren Therapieoptionen und -planungen ande-rerseits, kann zu falschem Optimismus aufseiten des Patienten führen [5].
Darüber hinaus müssen Ärzte aner-kennen, dass es für einen Teil der Pati-enten unterschiedliche Ebenen und Sta-tionen des Bewusstseins über die wahre Prognose gibt. Das menschliche Dasein lässt Widersprüche zu. Es ist gleichzeitig möglich, eine Aussage („die Erkrankung ist mit Chemotherapie nicht heilbar“) als richtig anzuerkennen, jedoch deren Wahrheit um des eigenen Daseins wil-len in Zweifel zu ziehen. Etwas als richtig einzuschätzen ist also noch nicht bedeu-tungsgleich damit, es als Gewissheit anzu-erkennen [2].
Fazit für die Praxis
Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass Ärzte im Gespräch mit ihren Patien-ten darauf achten müssen, aufrichtig zu sein und gleichzeitig zu erreichen, dass die Patienten ihnen weiter vertrauen. Pa-tienten an ihre Prognose und eine realis-tische Einschätzung ihrer Behandlungs-aussichten heranzuführen, ist ein Pro-zess, der den Erkrankungsverlauf fort-während begleitet und die Bedürfnisse unheilbar kranker Menschen nach Sinn-findung und Hoffnung berücksichtigen muss.
Korrespondenzadresse
Dr. M. Ahlborn Medizinische Klinik III, Hämatologie und Onkologie, Städtisches Klinikum Braunschweig Celler Straße 38, 38114 Braunschweig [email protected]
Interessenkonflikt. Die korrespondierende Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
1. Earle CC, Landrum MB, Souza JM et al (2008) Ag-gressiveness of cancer care near the end of life: is it a quality-of-care issue? J Clin Oncol 26(23):3860–3866
2. Künne W (2000) Art. Gewißheit, I. Philosophisch. In: Dieter Betz H u. a. (Hrsg) Religion in Geschich-te und Gegenwart, 4. völlig neu bearb. Aufl., Bd 3 F-H. Mohr, Tübingen, S 908–909
3. Slevin ML, Stubbs L, Plant HJ et al (1990) Attitudes to chemotherapiy: comparing views of patients with cancer with those of doctors, nurses and ge-neral public. BMJ 300:1458–1460
4. Temel JS, Greer JA, Muzikansky A et al (2010) Ear-ly palliative care for patients with metastatic non-small-cell lung cancer. N Engl J Med 363(8):733–742
5. The AM, Hak T, Koeter G, Der Wal G van (2000) Collusion in doctor-patient communication ab-out imminent death: an ethnographic study. BMJ 321:1376–1381
Ausschreibung Reinhold-Schwarz-Förderpreis für Psy-choonkologie
Die Arbeitsgemeinschaft für Psychoonko-
logie in der Deutschen Krebsgesellschaft
(PSO), der Verein für Fort- und Weiter-
bildung Psychosoziale Onkologie (WPO
e. V.) sowie die Familie Schwarz vergeben
im Jahr 2013 erstmals den mit 3.000 €
dotierten Reinhold-Schwarz-Förderpreis für
Psychoonkologie.
Bewerben können sich Personen, die zum
Zeitpunkt der Bewerbung nicht älter als 35
Jahre sind. Gefördert werden Nachwuchs-
wissenschaftlerinnen und –wissenschaftler,
die eine herausragende Originalarbeit
(bereits publiziert, zur Publikation ange-
nommen oder eingereicht) als Erstautorin/
Erstautor vorlegen. Bewertungskriterien
sind die Nähe zum Fach Psychosoziale
Onkologie, die methodische Qualität sowie
inhaltliche und/oder methodische Origina-
lität der Arbeit.
Einreichungsfrist ist der 30. Juni 2013.
Ausschreibungstext sowie Bewerbungsfor-
mular für den Reinhold-Schwarz-Gedächt-
nis-Preis finden Sie auf der Homepage der
Weiterbildung Psychosoziale Onkologie:
www.wpo-ev.de
Prof. Dr. med. Dipl.-Soz. Reinhold Schwarz,
Professor für Sozialmedizin, Universität
Leipzig, (1946 - 2008) war einer der Pionie-
re auf dem Gebiet der Psychoonkologie in
Deutschland. Aufgrund seiner Verdienste
wurde er als Namensgeber für diesen Preis
ausgewählt, da er sich Zeit seines Lebens
um die Förderung junger Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler bemüht hat. Er
war 1994 Mitbegründer und bis zu seinem
Tod Kursleiter der Weiterbildung Psycho-
soziale Onkologie.
Quelle: Weiterbildung Psychosoziale Onko-
logie am Universitätsklinikum Heidelberg,
www.wpo-ev.de
Fachnachrichten
495Der Onkologe 6 · 2013 |