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Christel Keiderling: Finn und Herr Stockelbeiner

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2016 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, D- 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.Erstauflage 2016

Lektorat: Melanie WittmannHerstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.deCover: Monika Schreckenberg

Illustrationen: Agnes Zug

Druck: Totem-Druckerei, PolenGedruckt in der EU

ISBN: 978-3-86196-615-9 – Hardcover

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von

Christel Keiderling

Finn und Herr Stockelbeiner

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Für Finn von Nona

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Finn und Herr Stockelbeiner

In einem klitzekleinen Dorf, das wie ein bunter Klecks zwischen riesigen Bergen liegt, lebt schon seit x Jahren ein Herr namens Aurelius Stockelbeiner. Nicht nur der kurio-se Name, nein, auch die geheimnisvolle Gestalt mit allem Drum und Dran gibt den Leuten Rätsel auf. Möglicherweise leidet dieser klapperdürre Kerl an Schlapp- oder Faulfieber, da er nämlich keiner handfesten Arbeit nachgeht. Stattdes-sen sitzt er tagein, tagaus in seinem Fabulierstübchen, wie er es selbst nennt, stützt den dicken Kopf, der von einem schmächtigen Hals nur mit Mühe gehalten wird, in seine Hände und brütet kuriose Geschichten aus.

Jawohl, seinen Kopf, den muss er hüten wie ein rohes Ei, denn wenn der vom dünnen Hals stürzt und auf dem Erd-boden zerplatzt, sind alle Geschichten mitsamt Herrn Sto-ckelbeiner schlagartig dahin, und das wäre jammerschade.

Außerdem finden Kinder Geschichtentrümmer, die hol-terdiepolter aus einem Dichterkopf stürzen, vollkommen uninteressant. Ja, was sollen sie denn mit einem Haufen zerschlagener Geschichten anfangen? Kinder wünschen sich nichts mehr als einen Menschen, der mit ihnen span-nenden Geheimnissen nachspürt und dabei nicht um-kommt. Das weiß auch Herr Stockelbeiner, und so tut er, was er kann, um sein kostbares Oberstübchen vor einem Unglück zu bewahren.

Obwohl Herr Stockelbeiner stundenlang geradezu reglos dasitzt und in der ganzen Zeit nicht einmal eine Mücke er-schlägt, behauptet er dennoch steif und fest, ein Schwerst-arbeiter zu sein, nämlich einer, der ausschließlich mit dem

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Kopf arbeite, und das nicht zu knapp. Von morgens bis abends müsse er um zig Ecken und Kanten herumdenken, meist sogar noch in schlaflosen Nächten. Erst wenn aus den drallen Ideen echte Fantasieknaller geworden seien, die die Herzen der Kinder höher schlagen ließen, könne er zufrieden aus seinem Fabulierstübchenfenster schauen. Doch oft setze ihm die quirlige Gedankenflut arg zu und verwandle seinen Kopf in einen glühenden Feuerball.

Glücklicherweise plätschert genau vor Herrn Stockel-beiners Haus das Flüsschen Ruhr munter dahin und lädt stets zu einer Abkühlung ein. Darum taucht der emsige Ge-schichtenerfinder, immer wenn es nottut, seinen glühen-den Schädel in das kühle Nass, um dem arbeitsamen Hirn eine besondere Wohltat zu gönnen.

Abends geht er über die kleine Ruhrbrücke zu seiner Frau Christabell, die auf der anderen Seite wohnt. Allerdings schreitet der Poet nie mit leerem, sondern immer mit prall-vollem Kopf, in dem sich die Ideen nur so drängeln, über den schmalen Wassersteg.

Seine Christabell, die auf der anderen Seite schon auf ihn wartet, leert ihm dann gründlich den Kopf und schreibt ruckzuck die taufrischen Fantasieknaller auf, die peu à peu

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aus dem Mund des Erzählers purzeln. So füllten sich im Laufe der Jahre schon viele Blätter mit den wundersamsten Geschichten und es werden täglich mehr.

Etliche Leute im Dorf halten Herrn Stockelbeiner für einen versponnenen Himmelsgucker, sind aber trotzdem froh, dass es ihn gibt, denn er ist schon etwas Besonderes.

Ines Cavaleres, alleinerziehende Mutter und Redak-teurin der Zeitung Heimatpost, hält Herrn Stockelbeiner allerdings für einen gottbegnadeten Poeten und ist davon überzeugt, dass der lange, dürre Kerl den Kindern nur die besten Schnurren serviert. Vor allem das mit Spektakulum gewürzte Fantasiegeflunker findet Ines traumhaft schön. Und außerdem sind Herr Stockelbeiner und ihr Sohn Finn dicke Freunde.

Spektakulum, das ist ein ganz besonderes Gewürz, wel-ches nur Kindern gut bekommt. Große Leute können da-von Bauchschmerzen kriegen. Ja, ja, es gibt schon kuriose Dinge auf dieser Welt.

Kurios ist auch, dass das Ehepaar Stockelbeiner nicht ge-meinsam ein Haus bewohnt. Im Laufe der Jahre haben die Leute jedoch aufgehört, sich darüber zu wundern.

Das ist nämlich so: Wenn die beiden länger als 24 Stunden zusammen sind, beginnen sie miteinander zu zanken. Der eine sagt Ja, der andere Nein und wiederum meint der eine Nein und der andere Ja. Es kommt auch vor, dass der eine schlafen und der andere einen Krimi anschauen möchte.

Absolut kritisch wurde es allerdings damals, als Christa-bell ganz und gar der Tanzlust verfiel, immer nur schwofen wollte, und zwar mit ihrem geliebten Aurelius. Aber Herr Stockelbeiner ist nun mal ein Tanzmuffel, zudem sind sei-ne Füße so breit und plump wie Elefantenquanten. So ist es nicht verwunderlich, dass Christabell nach dem letzten gemeinsamen Tanz Knick- und Senkfüße hatte, zudem ei-nen Bluterguss am rechten Knie, und Herr Stockelbeiner

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prompt Hausverbot bekam. Das hatte dem gepeinigten Ehemann schwer zu denken gegeben, sogar sein Ober-stübchen ziemlich durcheinandergebracht. Tagelang saßen seine Geschichten fest im Kopf, konnten weder hin noch her. Doch das größte Übel war, dass der Ärmste von einem tückischen Rappeldullanfall heimgesucht wurde.

Offen gesagt, ein Rappeldullanfall ist wirklich der abso-lute Härtefall unter den Anfällen. Mit Aua beginnt und mit Aua endet er.

„Ach Gott, ach Gott, welch eine Heimsuchung!“, hatte die leidgeprüfte Ehefrau nach dem Dilemma gestöhnt und tagelang sorgenvoll auf ihre ramponierten Füße geschaut. Seitdem tanzt Christabell nur noch mit ihrem Staubsauger, und das ist sogar sehr praktisch, denn so kann sie beim Tanzen gleich die Wohnung sauber halten.

Da sich nun Christabell und Aurelius damals nach dem unglückseligen Tanz noch genauso liebhatten wie davor, suchten sie gleich mit Kopf und Herz nach einer passablen Lösung. Denn sie wollten unbedingt ein Ehepaar bleiben bis zum Ende ihrer Tage, aber möglichst ohne Rappeldull-anfälle.

Also bauten sie sich ein zweites Haus. Das Heim von Herrn Stockelbeiner steht am Sternrotberg, das von Frau Stockelbeiner am Ellenberg und zwischen beiden fließt die Ruhr. Dass jeder sein eigenes Dach über dem Kopf hat und dennoch dem anderen nah sein kann, ist ein großes Glück für beide.

Zur Zeit der Schneeschmelze kann die Ruhr zu einem reißenden, gefährlichen Fluss werden. Die größte Gefahr geht jedoch von dem algenumwobenen Ungeheuer aus, welches mit einer grobzackigen Harke in den schäumen-den Wellen den spielenden Kindern auflauert. Nicht nur den Kindern droht das Versinken im ewigen Nass, nein, auch den Erwachsenen.

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Schon manch verwirrter Kopf ist im eiskalten Wasser wie-der zu Verstand gekommen, oder auch nicht. Wenn nicht, sprechen die Leute von einem tragischen Unglücksfall und von einem Bruder Leichtfuß. Mit leichtem Schuhwerk hat das wohl nichts zu tun.

Natürlich kennt jedes Kind die Gefahren, die im Wildbach lauern, recht gut. Doch trotz Verbot lungern die Rabauken immer wieder am Ruhrufer herum und stieren gebannt in die unergründlichen Tiefen des Flusses.

Warum? Na, um ihn zu sehen, den leibhaftigen Wasser-heune mit seinem krummzackigen Gerät zwischen den rie-sigen gelben Zähnen, mit dem er die Kinder beim Schopf greift und durch die brausenden Wellen bis auf den Grund zieht. Er sieht wirklich gruselig aus, der alte Geselle. Das behauptet jedenfalls Herr Stockelbeiner, der ihn schon mehr als einmal zu Gesicht bekommen und alles, was es über ihn zu sagen gibt, schriftlich festgehalten hat.

Zum Beispiel berichtet er, dass der Körper des Wasser-heune von Kopf bis Fuß mit grünlich schillernden Algen be-deckt sei. Selbst im Bart hänge das fransige Zeug. Und in seinem gierigen Schlund gurgle es derart, dass bei jedem Glucksen sein Algengewand das Wasser zum Schäumen bringe. Der Anblick des Ungeheuers sei in der Tat eine echte Zumutung und insgeheim müsse sich ein jeder wünschen, davon verschont zu bleiben. Dennoch, behauptet Herr Sto-ckelbeiner, gäbe es die Hartgesottenen, die immer wieder, wenn auch mit schlotternden Knien, zum Ufer schlichen, auf ein gesalzenes Abenteuer lauerten und jede Warnung in den Wind schlügen. So wie zum Beispiel der neugierige Maulaffe aus Hundesossen, der seinerzeit mit einer Boh-nenstange auf Teufel komm raus im Fluss herumgestochert habe, bis schließlich dem Wasserheune der Geduldsfaden gerissen sei und er den Störenfried mit Haut und Haaren in die gurgelnde Tiefe ...

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Na ja, das Ende dieser Geschichte erzählt Herr Stockel-beiner nie, aber ein jeder wird es sich denken können.

Obwohl man dem dürren Poeten das Vaterunser durch sämtliche Rippen blasen kann und der linkische Kerl selbst im Sandkasten mit Hacke und Schippe nichts anzufangen weiß, behandeln ihn die Leute trotz kleiner Spötteleien respektvoll. Nun denn, Aurelius Stockelbeiner kennt seine Pappenheimer und lässt sie reden. Dass einige Maulhelden über seinen Vornamen witzeln, ist ihm bekannt. Im gan-zen Landstrich, bergauf, bergab, heißt nämlich niemand Aurelius. Natürlich gibt es Männer, die Rudi, Wini, Udo, Hubertus, Wolfgang, Peter, Paul, Julius, Karlheinz, Thomas, Bernd, Stefan, Tom, Gerhard oder Franz-Josef gerufen wer-den. Aber einen Aurelius Stockelbeiner gibt es weit und breit nicht. Und weil das so ist, will dieser seinem Namen alle Ehre machen, denn immerhin ist und bleibt er ein ech-ter Stockelbeiner.

So bringt denn der Gute regelmäßig seinen dicken Kopf mit einem zärtlichen Patsch zum Denken, denn Kinder-geschichten lassen sich auf keinen Fall von einem dösigen Hirn zwischen Tür und Angel erfinden, nein, die brauchen ein properes Denkerstübchen, um sich entwickeln zu können. Vor allem muss jede Erzählung mit Spektakulum gewürzt sein, sonst ist sie fad und bröselig wie ein altes Brötchen.

Herr Stockelbeiner kennt dieses Gewürz recht gut, da es ihm selbst bestens bekommt, und das, obwohl er schon längst erwachsen ist. „Spektakulum, die reine Wohltat für Leib und Seele“, sagt er immer.

Bevor Christabell ihrem Mann die nagelneueste Ge-schichte aus dem Kopf locken kann, wird diese zunächst Finn erzählt, und zwar von Herrn Stockelbeiner persönlich.

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So frisch bekommt sie keiner serviert, nicht einmal Frau Stockelbeiner. Das muss einen Grund haben, und den hat es natürlich auch. Finn ist nämlich Herrn Stockelbeiners Freund, und zwar schon, seitdem er aus dem Bauch seiner Mutter geschlüpft ist. Schließlich sind sie Nachbarn, aber das ist noch längst nicht alles.

Aurelius Stockelbeiner half nämlich seinerzeit dabei, Finn auf die Welt zu bringen, da nämlich die zuständige Heb-amme den Geburtstermin vertrödelt hatte.

„So etwas verbindet“, sagt Herr Stockelbeiner, „und lässt einen sein Lebtag lang nicht wieder los. Wäre ich damals bei der bekannten Firma Bim & Bum in Lohn und Brot ge-standen, hätte ich Finns Mutter in der schweren Stunde nicht beistehen können. Da sieht man doch wieder, dass auch ein Geschichtenspinner zu etwas nutze ist.“

Im Nachhinein ist Frau Cavaleres ihrem netten Nachbarn immer noch sehr dankbar für sein beherztes Zupacken, hat sogar damals die gute Tat in der Heimatpost lobend er-wähnt. Und auch sonst zeigt sie sich hilfsbereit. Wenn zum Beispiel Frau Stockelbeiner einmal den Dauerschnupfen hat und in ihren Tränen die Buchstaben dahinschwimmen, springt selbstverständlich Ines Cavaleres als Aushilfstippse ein, denn sie mag Christabell sehr, vor allem deswegen, weil sie ihrem tüchtigen Aurelius so treu zur Seite steht.

„Ach ja“, brummt Herr Stockelbeiner bisweilen verson-nen, „meine Christabell und ich sind ein ganz und gar in-einander verwobenes Ehepaar mit allem Drum und Dran.“

„Du, Herr Stockelbeiner, bist du mit deiner Frau Christa-bell zusammen auf diese Welt gekommen? Ich meine, in ein und derselben Stunde?“, fragt Finn eines Tages.

„So ist es mein Junge“, antwortet dieser lachend. „Und da wir schon so ewig lange zusammen sind, wollen wir es auch bleiben. Darum kann es nur von Vorteil sein, dass wir zwei Häuser zur Verfügung haben. Denn wenn wir getrennt

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wohnen, bleibt uns die Sehnsucht erhalten, vor allen Din-gen das geheimnisvolle Klabastern im Bauch, welches zwi-schen Magen und Herz herumflitzt.“

„Was ist ein Klabastern?“, fragt Finn. „Ach, Junge“, antwortet Herr Stockelbeiner, „bis ich dir

das erklärt habe, sind mindestens zwei Tage vergangen und das ist das Klabastern nun wirklich nicht wert. Trotz-dem, das mit den zwei Häusern hat schon sein Gutes, soll sich die Welt ruhig darüber wundern.“

„Oh ja“, meint Finn nachdenklich, „meine Mama, die wundert sich ganz doll, vor allem darüber, dass bei euch alle Gebrauchsgegenstände einen Namen haben, sogar einen urkomischen. Dass das rundglotzige Auto in der Ga-rage Kadrillchen heißt und der Hauklotz in der Scheune Dummprotz. Und dass ihr das Fernsehgerät mit Gaukeline und den Radioapparat mit Dudeline anredet. Meine Mama findet das echt cool, sie hat sich deswegen schon ein Loch in den Bauch gelacht, glaube ich jedenfalls. Doch als ich mir einmal mit der Schere eine Schneise in die Haare geschnit-ten habe, weil ich Mama auch mal so richtig zum Lachen bringen wollte, hat sie keine Miene verzogen, nur entgeis-tert auf meinen Kopf gestarrt und schließlich aus Leibes-kräften gerufen: Du bist der Schaum von allen Pötten. Ist das nun eine Krankheit oder eine Ungezogenheit, kannst du mir das erklären, Herr Stockelbeiner?“

„Weder noch, Junge, aber du hast mir gerade das richtige Wort auf die Zunge gelegt, also will ich gleich anfangen. Ich kenne da nämlich eine supertolle Schaudergeschichte mit dem Titel: Der Schaum von allen Pötten.“ Und schon beginnt Herr Stockelbeiner zu erzählen.

Der dorfbekannte Hexenmeister aus dem Schallöpchen, der in grauer Vorzeit als Hokuspokuschef das Dörfchen Hittenhausen regierte, war in jener Zeit ein gefährlicher