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Christian Thies
Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie
Vorlesungan der Philosophischen Fakultät
der Universität Passauim Wintersemester 2009/10
(Fünfzehnte und letzte Sitzung 9.2.2010)
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Fünfzehnter Termin (9.2.2010)
(1) Wiederholung – Ergänzungen – FragenEurozentrismus-Kritik
(2) Was ist Geschichtsphilosophie?
(3) Was ist Fortschritt?
(4) Was kann man aus der Geschichte lernen?
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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André Gunter Frank
1927 geboren in Berlin als Sohn des Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961)
1933 Emigration über die Schweiz in die USA
dort Ökonomie-Studiumspäter lange in Lateinamerikaniemals eine akademische Stelle
1967 erstes Hauptwerk „Capitalism and Underdevelopment in Latin-America“
1998 zweites Hauptwerk „ReOrient. Global Economy in the Asian Age“
2005 gestorben in Luxemburg
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Ein anderes Weltsystem
ca. 3000 v.u.Z. Entwicklung eines „Weltsystems“ mit weitreichenden Handelsbeziehungen, das seinen Mittelpunkt in Asien hat
ca. 500 v.u.Z. in den orientalischen Ländern erste „kapitalistische“ Regionen (mit Geldwirtschaft, Kaufmannskapital, Marktproduktion, Arbeitsteilung u.a.)
verschiedene Zentren des Weltsystems: arabisch, indisch, chinesich
1500 n.u.Z. Integration Europas (das sich die Edelmetalle Südamerikas gewaltsam aneignen kann) als peripherer Region
1750 noch 80% des Weltsozialprodukts entstehen in Asiendurch die Industrielle Revolution wird Europa kurzzeitig
wettbewerbsfähig und sogar überlegenca. 2000 Rückkehr zu einem in Asien zentrierten Weltsystem
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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al-Farabi (ca. 870-950)
Eine anti-europäische und zyklische Version der Philosophiegeschichte:
1. Chaldäer (Zentrum: Babylon, 626-539 v.u.Z.)2. Ägypter3. Griechen
1. Zentrum: Athen2. Zentrum: Alexandria3. Zentrum (nur kurzzeitig und eher als Sackgasse): Rom
4. Syrer5. Moslems (Zentrum: Bagdad)
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Moderne Anti-Eurozentristen
• Frantz Fanon (Martinique Frankreich Algerien), „Die Verdammten dieser Erde“ (frz. 1961)
• Sayyid Qutb (Ägypten), „Meilensteine“ (arab. 1964)
• Edward Said (Palästina/Ägypten USA), „Orientalismus“ (engl. 1978)
• Dipesh Chakrabarty (Indien USA), „Europa provinzialisieren“ (engl. 2000)
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Was ist Geschichtsphilosophie?
(a) meta-theoretisch: Klärung der geschichtswissen- schaftlichen Grundbegriffe z. B. „Geschichte“, „Gesellschaft“, „Kultur“, „Fortschritt“, „Staat“,
„Revolution“ …
(b) methodologisch: Erkenntnis- und Wissenschafts- theorie der Geschichtswissenschaften z.B. Verhältnis Empirie-Theorie, Rolle des Sinnverstehens …
(c) substanziell: Aussagen zum Verlauf der GeschichteLeitfrage: Was dürfen wir (innerweltlich) hoffen?
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Zur innerphilosophischen Stellung der Geschichtsphilosophie
• abhängig von den philosophischen Basisdisziplinen (Logik/Argumentationstheorie, Erkenntnistheorie, Ethik)
genauer: Anhang zur Politischen Philosophie
• nicht ohne empirische Wissenschaften vor allem eine empirisch-theoretisch gestützte Universalgeschichte
• vergleichbar mit Anthropologie, Sozial- und Naturphilosophie also anderen integrativ-interdisziplinären Disziplinen
• aber mit normativen Anteilen das kollektive (politische) Projekt der Gegenwart
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Zwei Merkmale einersubstanziellen Geschichtsphilosophie
(1) holistisch (a) synchron:
– bezogen auf Gesellschaften und „Kulturen“
– letztlich auf die Menschheit
(b) diachron: • die ganze Geschichte?
vgl. die Abfolge von Zeitaltern bei Hegel und Marx
• Referenzepochen – klassische Antike Achsenzeit– Nationalsozialismus totalitäre Regime– …
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Zwei Merkmale einersubstanziellen Geschichtsphilosophie
(2) Vermittlung von Sein und Sollen
1. empirisch-theoretisch gestützte Zeitdiagnose (Gegenwart)
2. normativ-praktischer Entwurf einer realisierbaren Utopie (Zukunft)
3. unterstützende historische Tendenzen (Vergangenheit)
d.h. Vergleich Referenzepoche(n) – Gegenwart
„Fortschritt“ ist wie „Gesundheit“, „Leben“ oder „Recht“ ein Brückenbegriff, der sowohl deskriptive wie normative Konnotationen hat.
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Was ist „Fortschritt“?
Ein Subjekt X verbessert seine Situation
in der Dimension D nach dem Maßstab Mvon einer (exemplarischen) Vergangenheit über die Gegenwart bis zu
einer (realisierbaren) Zukunft
was ist X? – die Menschheit• begriffsgeschichtlich: Übertragung des Wortes „Fortschreiten“ vom
Individuum auf die Menschheit bei Kant• inhaltlich seit Voltaire, ja seit Augustin
allerdings kein Fortschritt in allen Dimensionen und Gesellschaften
gleichermaßen und gleichzeitig („Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“)
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Die Menschheit als Subjekt der Geschichte
• KANT: Völkerbund freier Republikendagegen Friedrich SCHLEGEL: demokratische Weltrepublik
• HEGEL: Weltgeschichte• MARX: Weltmarkt Weltgemeinschaft
vgl. ADORNO: die Menschheit als Subjekt
• TOYNBEE: Universalstaat und Universalkirche• FUKUYAMA: weltweiter Liberalismus
(Marktwirtschaft und Demokratie)
• HUNTINGTON: minimaler Universalismus in einer im „Kampf der Kulturen“ zerrissenen Menschheit
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Fortschrittsdimensionen
(1) Wissen(a) Summe empirischen Wissens Fortschritte der Wissenschaften?(b) größere „Bildung“?
(2) Wohlstand(a) Lebensstandard Weltproduktion an materiellen Gütern („Bruttoweltprodukt“)(b) plus Lebenserwartung und Alphabetisierungsgrad (minimale Lebensqualität)(c) „Lebenssicherheit“: Zurückdrängung der alten Geißeln ‚Pest, Hunger und Krieg‘ (d) subjektives Wohlbefinden(e) (objektives) Glück
(3) Freiheit• mehr Optionen?• mehr Lebenschancen?• mehr Autonomie?
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Fortschrittsdimensionen (2)
(4) Moral(a) Fortschritte im Bereich der Normenkonformität?
(b) Fortschritte im Bereich der Moralität?
(5) Recht Gesellschaftsordnung(a) Verhältnis der Gesellschaften zueinander Ziel: Frieden!
Fortschritte in der zwischenstaatlichen Konfliktregulierung?
(b) Rechtsgrundsätze innerhalb der Gesellschaften Ziel: Gerechtigkeit!
(c) globale Gerechtigkeit
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Eine Fortschrittsbilanz der Menschheitsgeschichte
Fortschritt:• Herrschaft (Technik i.w.S., Effizienz)
– über die äußere Natur– über unsere innere Natur– über andere Menschen – über den Bereich der Kommunikation (Sprache Schrift Buchdruck
elektronische Medien)Alle erreichten Fortschritte beruhen auf dem technischen Fortschritt!
Kein Fortschritt:• Glück• Moralität
Die zentrale Frage: • Gesellschaftsordnung
Gibt es einen Fortschritt des Rechts oder sogar der Gerechtigkeit?
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Entwicklung des neuzeitlichen Staatsmodells im Westen
1. HOBBES: Gewaltmonopol absoluter Staat2. LOCKE: Elementare Bürgerrechte
liberale Freiheitsrechte
3. MONTESQUIEU: Gewaltenteilung• horizontal (Legislative-Exekutive-Judikative)• vertikal (Föderalismus, auch Subsidiaritätsprinzip)
4. ROUSSEAU: Demokratie demokratische Mitwirkungsrechte
5. „soziale Frage“: Sozialstaat soziale Leistungsrechte
6. „ökologische Frage“: Ökologische Verfassung
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Schlechte Modelle einer künftigen Weltgesellschaftsordnung
• Imperium Weltreich (pax americana?)
• Hegemonie alles unter dem militärischen Mantel der USA aber warum die USA und nicht China?
• Gleichgewicht der MächteGroßraumordnungen, evtl. entlang kultureller Bruchlinien
• sich selbst regulierender Weltmarktoder dessen „anarchische“ Aufhebung in einem dezentralisierten und deterritorialen „Empire“ (Negri/Haardt)?
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Kriterien einer gutenGesellschaftsordnung
• Frieden• ökologische Nachhaltigkeit• Achtung elementarer Menschenrechte
– Recht auf Subsistenz Sozialstaat– Recht auf Partizipation Demokratie– Recht auf Autonomie liberale Gesellschaft
• Gewaltenteilung • kultureller Pluralismus
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Vom Partikularismus zum Universalismus
• starker Partikularismus: Autonomie von ca. 5000 Ethnien (Sprachgemeinschaften)
• mittlerer Partikularismus: Autonomie von ca. 200 Staaten• schwacher Partikularismus: Autonomie von ca. 10 „Kulturen“
• schwacher Universalismus: eine globale Rechtsordnung mit teil-autonomen Rechtsstaaten
• mittlerer Universalismus: eine globale Föderation • starker Universalismus: eine demokratische Weltrepublik
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Ablehnung der Partikularismen
• Technik, Wissenschaft und Kapitalismus sind global (GEHLEN: Superstrukturen)
• die drängendsten Probleme lassen sich nur global lösen– Gefahr eines verheerenden Krieges mit ABC-Waffen– ökologische Probleme (Treibhauseffekt, Wasserknappheit,
Artenvernichtung …)– Krankheiten– Terror, Kriminalität– Migrationsbewegungen– …
• es gibt bereits globale Institutionen• es gibt bereits in Ansätzen eine globale Zivilgesellschaft
(Massenmedien, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen usw.)
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Skepsis gegenüber stärkeren Universalismen
• Gefahr eines weltstaatlichen Despotismus
• es gibt verschiedene Wege in die ModerneShmuel EISENSTADT: multiple Modernen, „Kapitalismus im Plural,
auch verschiedene Demokratie- und Sozialstaatstypen
• minimaler Universalismus dünner Moral, aber kein maximaler Universalismus dicker Moral (WALZER)
• der globale Kapitalismus erfordert eine einheitliche Rechtsordnung, aber keine einheitliche Wertordnung
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Das erstrebenswerte Modell
• eine globale Rechtsordnungauf der Grundlage supranationaler Weltinstitutionen (UN)
dichtes Netz transnationaler Vereinbarungen
• kontinentale (kulturkreisbezogene?) Staatenbündeam weitesten: EU
• Nationalstaatenals Rechtsstaaten
• regionale und lokale InstitutionenFöderalismus, mit relativer Autonomie
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Historische Tendenz?
Nein!viel mehr Staaten als vor wenigen Jahrzehnten
stärkeres partikular-kulturelles Bewusstsein
stärkere Diskrepanzen in den Wertorientierungen (zunehmender Pluralismus, schon in den einzelnen Gesellschaften)
Ja!Globalisierung
Entwicklung des modernen Staates
transnationale politische Zusammenschlüsse
Vereinigung Deutschlands 1830 bis 1870
Vereinigung Europas seit 1950
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Habermas‘ Idee
eine begrenzte Homologie zwischen der Entwicklungnormativer Strukturen in Ontogenese und Phylogenese
Einschränkungen:• nur für Strukturen, nicht für Inhalte• nur für die Logik, nicht die Dynamik der Entwicklung• viele Individuen weichen vom Strukturniveau ab, viele eilen ihm
voraus ( Legitimationskrise)• frühe Stufen der Ontogenese haben kein phylogenetisches Pendant
reflexive Rekonstruktion überwundener Strukturen nicht-empirischer Kern der Geschichtsphilosophie
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Sehr vereinfachte Darstellungdes Stufenmodells
1 Dyade Mutter-Kind Gehorsam und Strafe
2 Kleingruppe Verwandtschafts-gruppen
Bedürfnisbefriedigung
3 Gemeinschaft Stadtstaaten Loyalität
4 Gesellschaft Nationalstaaten Gesetze
5 Menschheit Weltordnung Prinzipien
6 plus künftige
Generationen
nachhaltige
Weltordnung
universale
Verantwortung
7 transhuman pathozentrisch Leidensvermeidung
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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„Historia magistra vitae“
Wie und was kann man aus der Geschichte lernen?(a) „exemplarisch“: Sammlung interessanter Beispiele
menschlichen Lebens und Zusammenlebens „anthropologisch“, „monumentalistisch“ (Nietzsche)
(b) „identitätsstiftend“: Aneignung der eigenen Herkunftsgeschichte„hermeneutisch“, „antiquarisch“ (Nietzsche)
(c) „alternativ“: Kennenlernen fremder Perspektiven, untergegangener Welten und historischer Alternativen„Geschichte der Besiegten“ (Benjamin)
(d) „kritisch“: Wir lernen, was wir nicht tun sollten!
9.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Zum Abschluss
Ich hoffe, dass Sie
in dieser Vorlesung etwas gelernt haben.
Vielen Dank für die konstante Aufmerksamkeit!