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Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Siebente Sitzung 1.12.2009)

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Christian Thies

Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

Vorlesungan der Philosophischen Fakultät

der Universität Passauim Wintersemester 2009/10

(Siebente Sitzung 1.12.2009)

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1.12.2009 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10

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Siebter Termin (1.12.2009)

(1) Wiederholung – Ergänzungen – Fragen

zu Georg Wilhelm Friedrich HEGEL

(2) Karl Marx

(3) Ausblick auf den nächsten Termin

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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Georg Wilhelm Friedrich Hegelund die Geschichtsphilosophie

Seine Antworten auf unsere sechs Fragen:

• Wie ist Geschichte zu erkennen?• Wie unterscheidet sich Geschichte von Natur?• Wie ist der Geschichtsverlauf zu gliedern?• Was treibt die Geschichte voran?• Wie ist Geschichte zu bewerten?• Was dürfen wir hoffen?

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(1) Wie ist Geschichte zu erkennen?

Nicht:• „ursprüngliche Geschichte“• „reflektierende Geschichte“

sondern:• „philosophische Geschichte“, als „denkende

Betrachtung derselben“ (XII: 20)

die Vernunft in der Geschichte

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(2) Wie unterscheidet sich Geschichte von Natur?

Die „Idee“ entäußert sich in die Natur und wird sich im Geist ihrer

selbst bewusst.

Natur und Geist lassen sich den beiden apriorischen Formen der

Anschauung zuordnen:• Natur – Raum

„In der Natur geschieht nichts Neues unter der Sonne“ (XII: 74)

• Geist – Zeit Geschichte

Den Übergang von Natur zur Geschichte bilden die geographisch

und klimatisch bedingten „Volksgeister“ (Enzykl. § 548).

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(3) Wie ist der Geschichtsverlauf zu gliedern?

1. das orientalische Reichpatriarchalische Herrschaft

2. das griechische Reich schöne Sittlichkeit

3. das römische Reichabstrakte Rechtsfreiheit

4. das germanische Reich (vgl. Rph §§ 354ff.)

„[1.] Der Orient wußte und weiß nur, daß Einer frei ist,

[2./3.] die griechische und römische Welt, daß Einige frei seien,

[4.] die germanische Welt weiß, daß Alle frei sind.“ (XII: 134)

Despotismus Demokratie Aristokratie ??

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(4) Was treibt die Geschichte voran?• Leidenschaften„Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt“ (XII: 49)

• welthistorische Individuen„Werfen wir weiter einen Blick auf das Schicksal dieser welthistorischenIndividuen, welche den Beruf hatten, die Geschäftsführer des Weltgeistes zusein, so ist es kein glückliches gewesen. Zum ruhigen Genusse kamen seinicht, ihr ganzes Leben war Arbeit und Mühe, ihre ganze Natur war nur ihreLeidenschaft. Ist der Zweck erreicht, so fallen sie, die leeren Hülsen desKernes, ab. Sie sterben früh wie Alexander, sie wurden wie Cäsar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena transportiert.“ (XII: 46f.)„Aber solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.“ (XII: 49)

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Glück und Leid

„Glücklich ist derjenige, welcher sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt. Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr …“ (XII: 42)

Die Geschichte ist eine „Schlachtbank …, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden“ (XII: 35)

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(5) Wie ist Geschichte zu bewerten?

• Maßstab objektive Vernunft

d.h. Versöhnung aller Widersprüche,

aber nur im absoluten Geist

(Kunst, Religion, Philosophie)

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(6) Was dürfen wir hoffen?

Es gibt Fortschritt!

Endzweck der Geschichte ist die Freiheit, die sich im Staat

verwirklicht.

„Es ist dies eine Erkenntnis der spekulativen Philosophie, daß die

Freiheit die einzige Wahrheit des Geistes sei.“ (XII: 30)

„Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit

– ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen

haben.“ (XII: 32)

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Hegel zur Französischen Revolution

„Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie

herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch

sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit

nach diesem erbaut. … Es war dieses somit ein herrlicher

Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche

mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht,

ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei

es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst

gekommen.“ (XII: 529)

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Zukunft bei Hegel

• Ende der Kunst

• Ende der Religion

• Der Weltgeist wandert von Osten nach Westen

• Amerika als Land der Zukunft

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Nach Hegel

• empirische (kulturalistische und staatszentrierte) Geschichtswissenschaft: „Historismus“Hauptvertreter: Leopold von RANKE (1795-1886)

daneben „rechtshegelianische“ Nationalgeschichtsschreibung,

etwa bei Heinrich von TREITSCHKE (1834-1896)

• Naturalismus Evolutionstheorie nach DARWIN• existenzialistische Ablehnung der Geschichte:

KIERKEGAARDvgl. auch SCHOPENHAUER

• linkshegelianische „Philosophie der Tat“

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Karl MARX

1818 geboren1835-1841 Studium1842/43 „Rheinische Zeitung“1843-48 Exil in Paris und Brüssel

1844 „Pariser Manuskripte“1845 „Deutsche Ideologie“

1848 „Manifest der Kommunistischen Partei“

1849 Exil in London1857/58 „Grundrisse“1867 „Das Kapital“, 1. Band

1873 verändert in 2. Aufl.1883 gestorben

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Streit über Marx (Auswahl)

• Marx Engels Lenin Stalin Mao Pol Pot?

• War Marx überhaupt Philosoph?

• Ist Marx‘ Denken durchgängig historisch bzw. geschichtsphilosophisch?

• Welche normativen Grundlagen hat Marx‘ Kritik?

• Wie groß ist der Unterschied zwischen Früh- und Spätwerk?

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Zwei Lesarten

• „subjektivistisch“, eher im Frühwerkein Kollektivsubjekt: das Proletariat

Grundbegriff: Arbeit

Motor der Geschichte: Klassenkampf

• „objektivistisch“, eher im Spätwerkein Kollektivsubjekt: das Kapital

Grundbegriff: Wert

Motor der Geschichte: Kapitalverwertung

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Wichtige Texte von Marxzur Geschichtsphilosophie

• „Deutsche Ideologie“ (1845)vor allem der Feuerbach-Teil (MEW III: 13-77)

• Teile der „Grundrisse“vor allem das Kapitel „Formen der Produktion und des Eigentums,

die dem Kapitalismus vorhergehen“ (Gr. 375-413)

• „Vorwort“ der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) (MEW XIII: 7-11)

• „Das Kapital“, Kap. 24: „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ (MEW XXIII: 741-791)

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Marx‘ Grundgedanken (gemäß den „Thesen über Feuerbach“)

Elfte These:

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden

interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“

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Marx‘ Grundgedanken (2)

Erste These:

„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den

Feuerbachschen eingerechnet) ist, daß der

Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der

Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird;

nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis;

nicht subjektiv.“

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Marx‘ Grundgedanken (3)

Sechste These:

„Feuerbach löst das religiöse Wesen in das

menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen

ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes

Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble

der gesellschaftlichen Verhältnisse.“

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Marx‘ Grundgedanken (4)

Dritte These:

„Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände

und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen

verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß

daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr

erhaben ist – sondieren.

Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der

menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als

revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“

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Alles Geschichte (?)

„Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die

Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von

zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur

und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden.

Beide Seiten sind indes nicht zu trennen, solange

Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der

Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.“ (MEW III: 18 – gestrichene Textpassage!)

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Historischer Materialismus

„Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen als auch durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. Wir können hier weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen, orohydrographischen, klimatischen und andern Verhältnisse eingehen. Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.“ (MEW III: 20/21)

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Historischer Materialismus (2)

„Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was

man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von

den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu

produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist.

Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr

materielles Leben selbst.

Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst

von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden

Lebensmittel selbst ab. Diese Weise der Produktion ist … schon … eine

bestimmte Lebensweise … Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie.

Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie

produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind,

das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.“ (MEW III: 21)

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Historischer Materialismus (3)

„Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung der Bevölkerung. Sie setzt

selbst wieder einen Verkehr der Individuen untereinander voraus. Die Form

dieses Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt.

Die Beziehungen verschiedener Nationen untereinander hängen davon ab, wie

weit jede von ihnen ihre Produktivkräfte, die Teilung der Arbeit und den innern

Verkehr entwickelt hat. … Aber nicht nur die Beziehung einer Nation zu andern,

sondern auch die ganze innere Gliederung dieser Nation selbst hängt von der

Entwicklungsstufe ihrer Produktion und ihres innern und äußern Verkehrs ab.

Wie weit die Produktionskräfte einer Nation entwickelt sind, zeigt am

augenscheinlichsten der Grad, bis zu dem die Teilung der Arbeit entwickelt ist.

Jede neue Produktivkraft, sofern sie nicht eine bloß quantitative Ausdehnung

der bisher schon bekannten Produktivkräfte ist (z.B. Urbarmachung von

Ländereien), hat eine neue Ausbildung der Teilung der Arbeit zur Folge.“ (MEW

III: 21/22)

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Historischer Materialismus (4) mit Zitaten aus dem Manifest der Kommunistischen Partei (1848)

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von

Klassenkämpfen. …

Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.

Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen ist, hat alle feudalen,

patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen

Feudalbande … unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen

Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose

‚bare Zahlung‘. …

Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden geschlagen hat,

richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst. Aber die Bourgeoisie hat nicht

nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen werden; sie hat auch die

Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, das

Proletariat. …

Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“

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Historischer Materialismus (5)

„Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie

Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der

sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern

vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit

Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts,

unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die

Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen

sei. …

Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen

Studien zum Leitfaden diente, kann kurz zu formuliert werden: In der

gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte,

notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,

Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer

materiellen Produktivkräfte entsprechen.“ (MEW XIII: 8)

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Historischer Materialismus (6)

„Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur

der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer

Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen

entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den

sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das

Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr

gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe

ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in

Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein

juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer

sie sich bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen

diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer

Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der

ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ (MEW XIII: 8/9)

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Historischer Materialismus (7)

„In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern

bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen

Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktions-

verhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen

Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem

Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen

der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der

bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich

die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser

Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der bürgerlichen

Gesellschaft ab.“ (MEW XIII: 9)