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Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Vierte Sitzung 10.11.2009)

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Christian Thies

Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

Vorlesungan der Philosophischen Fakultät

der Universität Passauim Wintersemester 2009/10(Vierte Sitzung 10.11.2009)

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10.11.2009 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10

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Vierter Termin (10.11.2009)

(0) Einladung Antrittsvorlesung 19.11.2009

(1) Wiederholung – Ergänzungen – Fragen„Heilsgeschichte und Weltgeschehen“ (Karl Löwith)

(2) „Fortschritt“

(3) Immanuel Kant

(4) Ausblick auf den nächsten Termin

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Athen und Jerusalem

• Im klassischen Griechenland gab es hervorragende Historiker (Herodot, Thukydides), aber keine Geschichtsphilosophie. Bei den Juden gab es keine (Geschichts)Wissenschaft, aber eine theologisch eingebundene Geschichtsphilosophie.

• Die Griechen interessierten sich für den Kosmos, die Juden für die Geschichte.

• Für die Griechen war der Kosmos ewig, für die Juden nicht.• Die Griechen schauten zurück, die Juden nach vorn.• Die Griechen bevorzugten den Kreis, die Juden die Linie.• Die Griechen unterwarfen sich dem Schicksal (griech. moira),

die Juden der göttlichen Vorsehung (lat. providentia)• Hoffnung hat eine ganz unterschiedliche Relevanz.

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Aurelius AUGUSTINUS

354 in Nordafrika geboren

christliche Mutter

wilde Jugend

klassische Bildung

384 Professor für Rhetorik in Mailand

386 „Nimm und lies“

395 Bischof von Hippo

401 Bekenntnisse

413-427 Vom Gottesstaat

430 gestorben

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Aurelius AUGUSTINUS (354-430)

• Jesus Christus ist die große Zäsur der Heilsgeschichte. • Es gibt einen „geistlichen“ Fortschritt, aber nur im Inneren

jedes Menschen, …• … nicht in der Moral (wie Laktanz meint) oder der Politik

(Eusebius).Das Römische Reich hat keinerlei heilsgeschichtliche Relevanz.

• Heilsgeschichte und Weltgeschehen sind strikt zu trennen.• Ein wirklicher Fortschritt wäre gerade die Erlösung aus der

Welt.• Die Weltgeschichte findet irgendwann ein schreckliches Ende.

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Joachim von Fiore (1130/35-1202)

Lehre von den drei Reichen

1. Zeit des Vaters: Altes Testament

2. Zeit des Sohnes: Neues Testament

3. Zeit des Heiligen Geistes: Drittes Reichkurz vorher: Auftauchen des „Antichrist“, der besiegt werden muss

Chiliasmus (griech. chilia = tausend) = Lehre vom tausendjährigen Reich (Millenarismus)

Eschatologie = Lehre von den letzten Dingen

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Säkularisierung der Heilsgeschichte

Historische Ereignisse werden (gemessen an ihrem

heilsgeschichtlichen Ertrag) als Fortschritt bewertet

(z.B. bei BOSSUET, Abhandlung über die Universal-

geschichte, frz. 1681). Ihnen liegt letztlich göttliches

Wirken zugrunde:• die Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich (vor

allem seit Konstantin)• Karl d. Gr. und die karolingische Renaissance• die Stärke Frankreichs unter Ludwig XIV.

Gott wirkt auch in dem, was uns schlecht erscheint

(Heterogonie der Zwecke).

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„Neue Zeit“

• erst einfach anders als eine frühere EpocheViel öfter war die Rede von „Letzter Zeit“ als der Epoche nach

Jesus Christus.

• dann besser (seit Anfang 18. Jh.)• schließlich eine Epochenbezeichnung (seit Ende des

18. Jh.)Französische Revolution als Bruch

• „Neuzeit“ erst seit ca. 1870

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Aufklärung

• Das Weltende wird zur offenen Zukunft.• Leibniz: immer weiteres Fortschreiten (nicht mehr

organisch gedacht) • Utopien sind nicht mehr räumlich, sondern zeitlich

entfernt (Morus/Campanella/Bacon Mercier 1771 über Paris im Jahr 2440)

• Rousseau: Perfektibilität (noch nicht in der „Enzyklopädie“)

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Antoine Marquis de CONDORCET

1743 geboren

Mathematiker, Astronom usw.

Sekretär der Akademie der Wissenschaften in Paris

beteiligt an der Französischen Revolution

sogar zeitweise Präsident der Nationalversammlung

legte einen eigenen Verfassungsentwurf vor

als Girondist eingekerkert

1794 ums Leben gekommen

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„Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes“ (1794)

1. Maßstab: die Newtonsche Physik2. In den Naturwissenschaften beobachten wir einen

eindeutigen, letztlich linearen Fortschritt.nicht mehr Perfektion (profectus), sondern Fortschritt (progressus)

3. Alle Wissenschaften müssen diesen Weg gehen.4. Diesen Fortschritt können wir auf alle Lebensbereiche

übertragen, wenn in ihnen die Wissenschaften zur Anwendung kommen.

5. Das wird zur moralischen Vervollkommnung aller Menschen führen.

6. Ergebnis sind die Beseitigung von Krankheit und Verbrechen, der sozialen Ungleichheit (auch zwischen den Geschlechtern), Armut und Verwahrlosung, Krieg und frühzeitigem Tod.

7. Am Ende steht die Vermehrung des Glücks.

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Ein Nachfolger:August COMTE (1798-1857)

Das Drei-Stufen-Modell

der Geschichte:1. Religion

2. Metaphysik

3. Wissenschafta. Physik

b. Biologie

c. Soziologie (als „soziale Physik“)

„Positivismus“ und Technokratie

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Comtes Motto:Ordnung und Fortschritt

auf Portugiesisch („Ordem e progresso“) in der

brasilianischen Flagge:

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Fortschrittsmodelle

(a) teleologisch

(b) linear

(c) spiralförmig

(d) stadienförmig

(e) dialektisch

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Das Wort „Fortschritt“

• „Fortschritte“ „Fortschritt“ als Kollektivsingular in der Sattelzeit (Koselleck)

• „Fortgang“ oder „Fortschreiten“ „Fortschritt“• bezogen auf die gesamte Menschheit• verknüpft mit Kollektivsingular „Geschichte“• selbst Subjekt („der Fortschritt führt dazu, dass …“)

• Beschleunigung

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Erfahrung und Erwartung

• driften immer weiter auseinander• Entwertung exemplarischer Vergangenheiten• Gegenwart als kontinuierliche Erneuerung, die sich

einer andersartigen Zukunft öffnet

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noch einmal: Die Grundfragen

Die Grundfrage: Was darf ich hoffen?

methodologisch: Wie ist Geschichte zu erkennen?

ontologisch: Wie unterscheidet sich Geschichte von Natur?

intern-strukturell: Wie ist der Geschichtsverlauf zu gliedern?

intern-dynamisch: Was treibt die Geschichte voran?

normativ: Wie ist Geschichte zu bewerten?

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Johann Gottfried HERDER(1744-1802)

1762-64 Studium bei Kant1769/70 „Flucht“ von Riga über Eutin

und viele andere deutsche Städte nach Straßburg

1771-76 Bückeburgab 1776 in Weimar

Wichtigste Werke:Abhandlung über den Ursprung der

Sprache (1772)Auch eine Philosophie der Geschichte

zur Bildung der Menschheit (1774)Ideen zur Philosophie der Geschichte

der Menschheit (4 Teile, 1784-91)Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft

(1799)

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Gotthold Ephraim LESSING

„Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780)

1. Altes Testament: Man tut das Gute, um nicht bestraft zu werden (bzw. in dieser Welt Lohn zu empfangen).

2. Neues Testament: Man tut das Gute, um im Jenseits seine Belohnung zu erhalten.

3. „die Zeit der Vollendung“: Man tut das Gute, weil es das Gute ist.

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Immanuel KANT

1724 geboren

1781 „Kritik der reinen Vernunft“(2. Aufl. 1787)

1785 „Grundlegung …“1788 „Kritik der praktischen

Vernunft“1790 „Kritik der Urteilskraft“1793 „Die Religion innerhalb der

Grenzen der bloßen Vernunft“1797 „Metaphysik der Sitten“

1804 gestorben

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Kants geschichtsphilosophische Schriften

1784: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“

1784: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“

1786: „Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte“

1794: „Das Ende aller Dinge“

1795: „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“

1798: „Der Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt: Der Streit der philosophischen mit der juristischen – Erneute Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“

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„Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“

Erster Satz:Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.

Zweiter Satz:Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.

Dritter Satz: Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe …

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„Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ (2. Teil)

Vierter Satz:

Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller

ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben

in der Gesellschaft …

Fünfter Satz:

Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen

Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein

das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.

Sechster Satz:

Dieses Problem ist zugleich das schwerste, und das, welches von

der Menschengattung am spätesten aufgelöst wird.

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„Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ (3. Teil)

Siebenter Satz:Das Problem der Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatsverhältnisses abhängig, und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden.

Achter Satz:Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen …

Neunter Satz:Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur … zu bearbeiten, muß als möglich, und selbst für diese Naturabsicht förderlich angesehen werden.

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Kants Periodisierungin pädagogischer Hinsicht

1. Herausarbeiten aus der Rohigkeit

2. Disziplinierung („Kultur der Zucht“)

3. Kultivierung („Kultur der Geschicklichkeit“)

4. Zivilisierung

5. Moralisierung1. in der Dimension der innen-politischen Legalität

2. in der Dimension der außen-politischen Legalität

3. in der Dimension der Moralität

Erst wenn es eine „gute Staatsverfassung“ geben wird, ist „die gute

moralische Bildung eines Volkes zu erwarten“.