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Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Vierzehnte Sitzung 2.2.2010)

Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Vierzehnte

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Christian Thies

Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

Vorlesungan der Philosophischen Fakultät

der Universität Passauim Wintersemester 2009/10

(Vierzehnte Sitzung 2.2.2010)

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2.2.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10

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Vierzehnter Termin (2.2.2010)

(1) Wiederholung – Ergänzungen – FragenSpengler und Toynbee

Jaspers: „Achsenzeit“

(2) Samuel HUNTINGTON

(3) Anti-Eurozentrismus

(4) Ausblick auf den nächsten Termin

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Was ist Eurozentrismus?

Vorfrage: Was ist Europa? (das Abendland? der Westen?)

geographisch, geistig-kulturell, historisch, politisch, ökonomisch …

Varianten:• deskriptiv: Europa steht faktisch im Zentrum der

Weltgeschichte – seit wann? wie lange? • normativ: Europa sollte im Zentrum der Weltge-

schichte stehen – inwiefern? – exklusiv: Die Anderen sollten beherrscht werden.– inklusiv: Die Anderen sollten sich (mit dem Ziel universaler

Strukturen) „europäisieren“.

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Sind die Klassiker „eurozentrisch“?

• KANT: Orientierung an universalen Denk- und Wissensformen in Logik, Argumentation und Physik – politisch-historisches Ziel: Völkerbund

• HEGEL: Einbezug nicht-linearer Denk- und Wissensformen („Dialektik“) – gute Kenntnisse der indischen Geisteswelt (vgl. Schopenhauer)

• MARX: Weltmarkt, internationale Arbeitsteilung und geographisch bedingte Produktionsweisen („asiatisch“) – Gewährsmann für Eurozentrismus-Kritik (z.B. Samir AMIN)

Die Klassiker sind nicht eurozentrisch, sondern universalistisch!

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Spengler und Toynbee

zugleich Fortschrittskritik und Anti-Eurozentrismus:• Das Abendland ist eine unter mehreren großen

„Kulturen“, allerdings die einzige, die noch „lebendig“ ist.

• Das Abendland befindet sich jedoch ebenfalls in einer Niedergangsphase (wobei Spengler erheblich pessimistischer als Toynbee ist).

• Das Wesen der „Kulturkreise“ oder „Zivilisationen“ ist kulturell bedingt (bei Toynbee vor allem durch die Religion).

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Aktuelle Varianten

• Stefan BREUER: Imperien der Alten Welt. Stuttgart u.a. 1987

• Paul KENNEDY: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Frankfurt a. M. 1987

• Dieter SENGHAAS: Zivilisierung wider Willen. Frankfurt a. M. 1998

• Elmar HOLENSTEIN: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich 2004

• Jared DIAMOND: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt a. M. 2005

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Toynbees Kulturen der Gegenwart

• Abendland • orthodoxe Christenheit (marginalisiert)• Russland ( Sowjetunion)• Islam (im Niedergang seit dem 13. Jh. bzw. versteinert)• Hindu (im Zerfall seit dem 18. Jh., „verwestlicht“)• China (Zerfall im 19. Jh., im 20. Jh. „verwestlicht“)• Japan (Umbruch 1853/1868, spätestens ab 1945 „verwestlicht“)

Daneben einige kleinere „gehemmte Kulturen“ („kleine“ Kulturen),

„Fossilien“ (Juden, Parsen) u.a.

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Eine faschistische Version

Carl SCHMITT, „Völkerrechtliche Großraumordnung

mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (1939)

Großräume („Reiche“):• Großdeutsches Reich mit Verbündeten• Amerika mit den USA als Führungsstaat (Monroe-

Doktrin 1823!)• „Großostasiatische Wohlstandssphäre“• British Empire • Sowjetunion (?)

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Karl JASPERS1883 in Oldenburg geboren

1913 „Allgemeine Psychopathologie“

1919 „Psychologie der Weltanschau- ungen“

1932 „Philosophie“ (3 Bde.)

1946 „Die Schuldfrage“

1947 „Von der Wahrheit“

1949 „Vom Urspung und Ziel der Geschichte“

1957 „Die großen Philosophen“

1966 „Wohin treibt die Bundes-republik?“

1969 in Basel gestorben

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„Achsenzeit“ (Karl JASPERS)

ein zeitgleicher epochaler Umbruch in mehreren

Kulturkreisen (800 bis 200 v.Chr.):• China (Konfuzius Mo Zi und Zhuang Zi, Lao Zi u. Zhuang Zi, Li

Zi u.v.a.)

• Indien (Upanischaden, Buddha, Mahavira u.v.a.)

• Iran (Zarathustra)

• Palästina (vor allem Deuterojesaja)

• Griechenland (von Homer bis Archimedes)

Die Entstehung großer Reiche vollendet diese „geistige

Grundlegung der Menschheit“.

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Merkmale der Achsenzeit

geistig (JASPERS)• Durchbruch zur Transzendenz; Auflösung des

ontologischen Monismus der Mythen• Durchbruch zur Vernunft; Möglichkeit zu universalen

Problemlösungen

sozialhistorisch (Alfred WEBER)• urbane Vielstaatensysteme mit stratifizierter

Sozialordnung• Auseinandertreten von Politik und Religion• Entwicklung einer Intellektuellenschicht

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Der West-Ost-Konflikt

Seit 1945/48

kein Konflikt von „Kulturen“ oder einzelnen „Gesell-

schaften“, sondern von „Systemen“

Unterschiede:• nicht im Bereich der Technik oder beim Ziel des

Wirtschaftswachstums• sondern im Bereich der Produktionsverhältnisse

(Kapitalismus vs. Kommunismus)• sowie der zugehörigen Ideologien und Grundwerte

(vgl. die beiden Menschenrechtspakte von 1966)

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Modernisierungstheorie

wichtigste historisch-sozialwissenschaftliche Theorie

der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg

Großväter:

Karl MARX, Herbert SPENCER, Emile DURKHEIM, Max

WEBER

anspruchsvollster Vertreter:

Talcott PARSONS („Strukturfunktionalistische

Systemtheorie“) mit einer „kulturalistischen“ Version

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Modernisierung (2)

Alternative Begriffe:• Rationalisierung • Industrialisierung• Enttraditionalisierung• soziale (und politische) Differenzierung• Urbanisierung• Demokratisierung• Verwestlichung• Europäisierung Amerikanisierung

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Nach 1989/91

Wie sollte man den Zusammenbruch der staatssozia-

listischen Systeme deuten:• Sieg der Modernisierungstheorie?• Sieg der westlichen „Kultur“?• Ende der Geschichte (FUKUYAMA)?• die Chance für eine weltweite Durchsetzung der

Demokratie (vgl. das Projekt der US-Neokonser- vativen, inspiriert u.a. durch Leo STRAUSS – elitär, hypermoralisch, praxisbezogen)

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Samuel HUNTINGTON (1927-2008)

Politikwissenschaftler und politischer

Berater

Wichtigste Bücher

• The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century (1991)

• The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (1996)

• (Hg. mit L. E. Harrison) Culture Matters. How Values Shape Human Progress (2002, dt. Streit um Werte, 2004)

• Who Are We. The Challenges to America’s National Identity (2004)

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Wellen der Demokratisierung

1. Welle: im 19. Jh., dauerhaft zunächst in den USA (seit 1828?) und Großbritannien (1832), dann als Folge des Ersten Weltkriegs (Deutschland u.a.) seit den 1920er Jahren Aufstieg autoritärer und totalitärer Regime

2. Welle: in der Folge des Zweiten Weltkriegs, also vor allem Italien, (West-)Deutschland und Japan, dann auch in den ehemaligen Kolonien seit den 1960er Jahren Aufstieg von Militärregimen

3. Welle: ab 1975, zuerst in Südeuropa (Portugal, Spanien, Griechenland), dann in Lateinamerika, später auch in Afrika, Asien und Osteuropa

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„Kampf der Kulturen“

(I) „Welt aus Kulturen“

(II) „Das veränderte Gleichgewicht der Kulturen“

(III) „Die kommende Ordnung der Zivilisationen“6. Die kulturelle Neugestaltung der globalen Politik

7. Kernstaaten, konzentrische Kreise, kulturelle Ordnung

(IV) „Konflikte zwischen Kulturkreisen“

(V) „Die Zukunft der Kulturen“

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Huntingtons „Kulturkreise“

• sinisch (besser als ‚konfuzianisch‘)• japanisch• hinduistisch (oder indisch)• islamisch• westlich• lateinamerikanisch• afrikanisch (?)• slawisch-orthodox

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Stichworte zu Huntington

• Zentralstaaten• Sprache und Religion

Kulturen sind durch Kultur bedingt!

• kulturelle (kollektive) Identität nicht „Auf welcher Seite stehst du?“, sondern „Wer bist du?“

• die beiden größten Herausforderungen:– der (ökonomische) Aufstieg Ostasiens – das Wiedererwachen (Resurgenz) des Islam

• dünne und dicke Moral (Michael WALZER)Universalismus und Partikularismus

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André Gunter Frank

1927 geboren in Berlin als Sohn des Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961)

1933 Emigration über die Schweiz in die USA

dort Ökonomie-Studiumspäter lange in Lateinamerikaniemals eine akademische Stelle

1967 erstes Hauptwerk „Capitalism and Underdevelopment in Latin-America“

1998 zweites Hauptwerk „ReOrient. Global Economy in the Asian Age“

2005 gestorben in Luxemburg

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Ein anderes Weltsystem

ca. 3000 v.u.Z. Entwicklung eines „Weltsystems“ mit weitreichenden Handelsbeziehungen, das seinen Mittelpunkt in Asien hat

ca. 500 v.u.Z. in den orientalischen Ländern erste „kapitalistische“ Regionen (mit Geldwirtschaft, Kaufmannskapital, Marktproduktion, Arbeitsteilung u.a.)

verschiedene Zentren des Weltsystems: arabisch, indisch, chinesich

1500 n.u.Z. Integration Europas (das sich die Edelmetalle Südamerikas gewaltsam aneignen kann) als peripherer Region

1750 noch 80% des Weltsozialprodukts entstehen in Asiendurch die Industrielle Revolution wird Europa kurzzeitig

wettbewerbsfähig und sogar überlegenca. 2000 Rückkehr zu einem in Asien zentrierten Weltsystem

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al-Farabi (ca. 870-950)

Eine anti-europäische und zyklische Version der Philosophiegeschichte:

1. Chaldäer (Zentrum: Babylon, 626-539 v.u.Z.)2. Ägypter3. Griechen

1. Zentrum: Athen2. Zentrum: Alexandria3. Zentrum (nur kurzzeitig): Rom

4. Syrer5. Moslems (Zentrum: Bagdad)

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Moderne Anti-Eurozentristen

• Frantz Fanon (Martinique Frankreich Algerien), „Die Verdammten dieser Erde“ (frz. 1961)

• Sayyid Qutb (Ägypten), „Meilensteine“ (arab. 1964)

• Edward Said (Palästina/Ägypten USA), „Orientalismus“ (engl. 1978)

• Dipesh Chakrabarty (Indien USA), „Europa provinzialisieren“ (engl. 2000)