12
Christine Schlegel Reservate der Kindheit Kind der weißen Henne

Christine Schlegel - Hugendubelmedia.hugendubel.de/shop/coverscans/235/23599742_LPROB.pdfAntonia Grunenberg · 2014 Wer seine Kindheit im real existierenden Sozialismus als Paradies

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Christine Schlegel

    Reservate der Kindheit

    Kind der weißen Henne

  • Christine Schlegel

    Kind der weiße n HenneReservate der Kindheit

    SAN D STE I N

  • Nachinszenierungen und Übermalungen

    Christine Schlegel

    Fotos

    Werner Hans Schlegel

    Texte

    Christine SchlegelDurs Grünbein

    Thomas RosenlöcherAntonia Grunenberg

    Hans-Peter Lühr

  • Picknick mit Nürnbergers Eine Bildbeschreibung

    Ich finde ein sehr kleines Schwarz-Weiß-Foto. Meine Familie beim Picknick. Es ist der Sommer 1957, meine Eltern und ich leben seit kurzer Zeit in Dresden.

    Alle sitzen wir auf einer karierten Decke mit Schottenmuster, aus dem Stoff der groß-elterlichen Weberei in Glauchau über Crossen nach Dresden gewandert. 1989 fand ich diese Decke gut erhalten im Gartenhaus meiner Eltern wieder. Die stinkende Nachkriegs-Zellwolle war weder von Motten noch anderen kleinen Tierchen zum Verzehr auserkoren. Ich verwende diese Decke später für die Nachinszenierungen der Kindheitsfotos.

    1957 diente sie den Personen auf dem Foto als Schutz vor Grasflecken. Die Decke ist wichtig, da meine Eltern, der Patenonkel und seine Frau elegant gekleidet sind. Die Zeit gilt immer noch als Nachkriegszeit. Die Menschen, auch die Protagonisten auf dem Foto, wollen wieder gut leben, vielleicht wie einst in den zwanziger Jahren. Die Männer tragen Schlips und Kragen, die Frauen Taft und Seide oder Georgette. Auf dem Foto geben sich die Herren leger, die Sommerhitze erlaubt ihnen, das Jackett auszuziehen.

    Eine große weiße Serviette ersetzt das Tafeltuch. Porzellantassen mit Goldrand samt Unter-tassen demonstrieren den neuen Wohlstand. Die Tante ist die Königin der Runde, meine Mutter richtet sich in der Kleidung ganz nach ihr. Auch sie läßt inzwischen bei der »Tide«, der Schneiderin für gut Betuchte, arbeiten.

    Stolz trägt Papa seine Ringe, goldene Ärmelhalter und die Krawatte. Er hat es ohne Hilfe der leiblichen Mutter geschafft, in der Gesellschaft nach oben zu kommen. Die Mutter gab früh ihr uneheliches Kind weg. Mein Vater wuchs in dem ärmlichen Haus einer Pflege-mutter auf.

    Ich darf im Alter von sechs Jahren in meinem Unterröckchen dabei sitzen. Die Anmut eines siebenjährigen Mädchens macht das möglich. Ich bin zufrieden, ahne nichts von schiefen Zähnen, häßlichen Beinen und Krankheit. Ganz nah sitze ich bei meinem kinderlosen Onkel, der mich verwöhnt und herzt.

    Christine Schlegel · 2013

  • So schaue ich auch als Einzige charmant lächelnd in die Kamera, der Liebe des Onkels ge-wiß, obwohl der zu seiner Gattin schaut. Er beugt sich etwas vor, ohne mich zu berühren. Die Tante blickt ihm tief und verliebt in die Augen. Der Blick sagt: Möchtest Du auch ein Kind? – Liebst Du mich? Er lächelt gönnerhaft. Er weiß noch nicht, welch tödliches Ge-wächs in seinem Körper wuchert.

    Meine Mutter schaut neidisch auf die Tante: So würden sie und mein Vater sich nie ansehen.Ihre Ehe ist eine Zweckgemeinschaft ohne Liebe. Sie pflegte einen Kriegsheimkehrer, er heiratete eine trauernde Kriegerwitwe.

    Mein Vater schaut gedankenverloren vor sich hin. Er weiß, so wie er malt sonst keiner. Auf Wunsch malt er alles. Ohne ihn hätte auch der großartige Onkel kein solches Leben führen können; er macht für ihn mit figürlicher Malerei Werbung im großen Stil. Für meinen Vater spielte es keine Rolle, wer wen liebt, wovon einer träumt oder wofür er sich verzehrt.

    Für ihn besteht nach Haft im KZ aufgrund einer Befehlsverweigerung und dem Erlebten in Stalingrad das eigentliche Glück darin, »überlebt zu haben«.

  • Picknick mit Stachelbeerkuchen · Dresdner Elbwiesen 1991Picknick mit Stachelbeerkuchen · Bielatal 1956

  • Auszug aus dem ParadiesAntonia Grunenberg · 2014

    Wer seine Kindheit im real existierenden Sozialismus als Paradies bezeichnet, kann in den Verdacht geraten, nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Wie kann es ein schönes Leben im falschen gegeben haben? Doch es ist nicht nur die Sehnsucht nach Harmonie oder gar Ver-drängungskunst, die solche Erinnerungen hervorbringt. In jenen frühen Jahren nach Ende des Krieges, in denen der staatliche Sozialismus noch nicht gegen alle Widerstände und in allen Schichten erzwungen worden war, verband sich die Sehnsucht nach Freiheit mit einer Aufbruchsstimmung und einer Lebensfreude, die nicht gänzlich mit dem antifaschistischen Aufbauprojekt verschmolzen. Für Kinder schon gar nicht.

    In der allgemeinen Wahrnehmung war Dresden nach 1945 eine zerstörte Schönheit, die sich nie wieder erholen würde. »Auferstanden aus Ruinen«, so begann zwar die Hymne der DDR, aber wie sollte die untergegangene barocke Schönheit je wieder auferstehen?Die Bewohner der Kinderwelt konnten die Zerstörung ausblenden, zumal wenn sie außer-halb der Trümmerlandschaft aufwuchsen. In Dresden-Bühlau war die Welt heil. Selbst wenn man Trümmer sah, bei Besuchen in Striesen etwa, wußte man doch genau, daß sie zu einer anderen Welt gehörten, ebenso wie die fetten, kreischenden russischen Frauen, die man an manchen Tagen in der Elbe badend antraf, und die wie Wesen von einem anderen Stern wirkten.

    Das Paradies im Osten, das war in der Erinnerung des Kindes das große (in Wirklichkeit eher bescheidene) Haus in der Königsberger Straße. Die Familie hatte es von einem in den Westen übergesiedelten Freund übernommen. Die Mutter war freiberufliche Theaterkriti-kerin. In ihren Artikeln und Briefen aus jener Zeit scheint eine Denkwelt durch, deren Pfeiler die christlichen Religionen und die Philosophie und Dichtung des 18. Jahrhunderts waren. Die Sprache und das Denken entsprangen der Zwischenkriegszeit, in der man über »Weltan-schauungen« räsonierte. Sie und ihre Freunde nahmen begierig auf, was Hans Sedlmayr ver-kündete: Ursache der erlittenen Katastrophe sei ein allgemeiner »Verlust der Mitte« (1948). Die SED umwarb Intelligenzler wie sie und bezahlte ihre Sommerferien auf Hiddensee.

  • Deutschland war geteilt. Gleichwohl war der Westen präsent im Osten, ebenso wie die Vor-kriegszeit. Freunde und Berufskollegen aus dem Westen und aus West-Berlin, Journalisten vom RIAS kamen zu Besuch. In der Stadt gründeten sich Diskussionszirkel. Die Baronin Seiler unterhielt einen, in dem heimgekehrte Soldaten sich mit Künstlern, Musikern, Schriftstellern und Theologen trafen und darüber sprachen, was eigentlich geschehen war – und wie es hatte dazu kommen können. Mutter und Vater nahmen regelmäßig teil. Sie lasen viel von dem, was verboten gewesen war – und wieder verboten werden würde. Das »Tal der Tränen«, wie die soziale Landschaft um Dresden später genannt wurde, war nach 1945 eine blühende Kulturstätte.

    Wir lebten bürgerlich: Das Klavier, auf dem die Mutter ab und an Chopin spielte, die Kinderfrau, eine »Oma«, deren genaue Zugehörigkeit zur Familie irgendwie unklar war, eine Tante, die immer bereit stand, die Kinder zu nehmen, wenn Mutter, Vater oder der Freund der Mutter, aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, beruflich unterwegs waren.Die Mutter besprach Neuinszenierungen am Theater. Wenn sie vor dem Ausgehen in ihrer Abendrobe, von Parfüm umweht, ins Kinderzimmer gerauscht kam, um »Gute Nacht« zu wünschen, badeten wir in ihrem Geruch.

    Zum Paradies gehörte der barfüßige Gang morgens in den Garten und der Geruch der reifen Tomaten, das Eiscafé Toscana, in dem das Eis in eine Muschelwaffel gepackt wurde. Der Weg war weit, von der Königsberger Straße über die Grundstraße oder die Plattleithe und über das Blaue Wunder, aber er war es wert. Paradiesisch waren die langen Sommertage im Schwimmbad, für die wir uns mit trockenem Brot, Salz und Tomaten aus dem Garten versorgten. Der Geruch der gleich ans Haus grenzenden Dresdner Heide zog die Nase her-auf, die Ausflüge ins Elbsandsteingebirge, die Urlaube an der tschechoslowakischen Grenze, die Fahrten mit dem Raddampfer nach Bad Schandau...

    Das Paradies hörte selbst dann noch nicht auf, als ich in die Schule kam. Der junge blonde Klassenlehrer war ein glühender Antifaschist; der Fahnenappell feierlich bis zur Erregung von Gänsehaut. Ich verstand die Welt nicht mehr, als die Mutter mit den Worten »nicht noch ein-mal!« ihren Kindern verbot, in die Jungen Pioniere beziehungsweise in die FDJ einzutreten.

    Und dann zog die Unruhe ins Haus ein. Sie war bei allen präsent, bei Vater, Mutter, Freund, Oma, Tanten, Kindern. Sie begann mit geflüsterten Gesprächen unter den Erwachsenen, von denen ich Bruchstücke aufschnappte, irgendwelche Männer würden vielleicht kom-men, die Hintertür des Hauses sollte immer unabgeschlossen bleiben, der bösartige Partei-chef an der UNION...

    Eines Tages waren der Vater und die beiden ältesten Geschwister verschwunden. Es hieß, sie seien auf eine lange Reise gegangen. Mehr wurde uns nicht gesagt. Von da an gab es noch mehr Getuschel unter den Erwachsenen, das abrupt verstummte, wenn eins der Kinder sich näherte. Es nahte der Sommer 1952. Wochen vor dem Beginn der Schulferien packte die Mutter Pakete. Sie sagte, sie würde Gepäck vorausschicken. Denn wir würden in die großen Ferien fahren.Das taten wir auch – und kamen nie zurück.

    Von da an begann für mich der graue Nachkrieg. Der Osten war für mich schön gewesen, der Westen aber war häßlich. Im Osten hatte ich ein gutes Leben gehabt, trotz Armut und Kartoffelschalenessen. Im Westen wurde ich mit der ganzen Familie zum Almosenempfänger.Im Osten »waren wir wer«, im Westen gehörten wir zu den »Flüchtlingen«. In Dresden wußte man, wann Sommer war und wann Winter, im Bergischen Land regnete es nach meinem Empfinden immer. Im Osten hatte ich scheinbar unbegrenzten Raum zum Leben gehabt. Im Westen umgrenzte Stacheldraht jedes noch so kleine Fleckchen Wiese. Im Osten hatte ich mich in meiner Erinnerung frei entfalten können, im Westen fühlte ich mich ge-gängelt durch katholische Bigotterie (die katholischen Kinder durften nicht mit den evan-gelischen turnen) und wohlanständige Frauengeschwader, die einen in der Kirche von Kopf bis Fuß mißbilligend musterten. Die allgemeine Feindseligkeit (»ihr Russenkinder«) sollten wir, so wurde uns gesagt, durch Wohlverhalten mildern.

    Verkehrte Welt, verkehrte Erinnerung? Die Ankunft in der Freiheit war nicht so, wie ich mir Freiheit vorstellte.

  • Balla Balla · Aschau 1998Balla Balla · Gollwitz 1954

  • Mutti ziept und mir schwimmt die Luftmatratze davonEnger Urlaub zwischen Mutti und Vati

  • Die plastische figurative Begabung · Eckernförde 1998Die plastische figurative Begabung · Lobbe 1960

  • SANDSTE INISBN 978-3-95498-154-0