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Nº07 JULI 2015 € 9.00 CHF 11 Cicero Juli Die Abzocker Österreich: 9.00 €, Benelux: 9.90 €, Italien: 9.90 €, Spanien: 9.90 € , Finnland: 13.00 € Die Abzocker Das teure Versagen von ARD und ZDF ARTUR -Плохиш (vk.com)

Cicero-07_2015

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Monatszeitschrift

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Nº07

JULI

2015 € 9.00

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Die AbzockerDas teure Versagen von ARD und ZDF

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Vor einigen Jahren bin ich mal beruflich ausgewandert. Mit Sack und Pack

nach London. Wohnung aufgelöst, Abos abbestellt, Telefon abgemeldet. Und habe versucht, aus dem Gebührensystem der Öffentlich-Rechtlichen auszusteigen. Das Formblatt, das ich zugeschickt bekam, sah das nicht vor. Man konnte sich nicht abmelden bei der GEZ. Wütend habe ich einen dicken Filzstift genommen, das Formblatt durchgestrichen und „Umzug ins Ausland!“ draufgeschrieben. So ging’s.

Es ist an der Zeit, über das deutsche Fernsehen zu sprechen – und die Verwen-dung der in „Rundfunkbeitrag“ umgetauf-ten Gebühr. Thomas Gottschalk hat zwei Millionen Euro für eine Sendung kassiert, die erst ein Riesenflop und dann abgesetzt wurde. Anschließend warf man ihm noch einmal zwei Millionen hinterher. 432 Mil-lionen Euro haben ARD und ZDF an die korrupte Fifa bezahlt: für die TV-Rechte an den Fußballweltmeisterschaften in Katar und Russland. Immerhin hat Gün-ther Jauch sich und uns von seiner Sen-dung am Sonntagabend erlöst, an der seine Produktionsfirma, wie fast alle seine Talkshow-Kollegen, satt verdient.

Die Öffentlich-Rechtlichen sind so fett und träge geworden, dass sie genug damit zu tun haben, sich mit ihren mehr als sieben Milliarden Euro Gebühren im Jahr und den 40 000 festen und freien Mitar-beitern selbst zu verwalten. Die großen Produktionen und Dokumentationen werden ausgelagert und teuer eingekauft.

Damit das klar ist: Ich bin großer Anhänger des öffentlich-rechtlichen Systems. Es bietet das beste Fernsehen der Republik. Nicht so sehr in seinen verflachenden Hauptprogrammen, sondern in den Spartenkanälen. Immer wieder bleibe ich abends gebannt an großartigen Produktionen hängen. Bei Arte, Phoenix, Eins Plus oder 3sat. Und ohne Deutsch-landfunk kann ich mir einen Morgen so wenig vorstellen wie ohne Kaffee.

Halten wir es also mit ARD und ZDF wie mit Griechenland: Ja, ihr sollt das Geld kriegen. Aber nur, wenn ihr es nicht weiter zum Fenster rausschmeißt, euch von Grund auf reformiert und eures Auftrags besinnt.

VERFETTET

Mit besten Grüßen

CHRISTOPH SCHWENNICKEChefredakteur

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Themen und Termine:21. Mai 2015 Nachhaltigkeit und Innovation

18. Juni 2015 Nachhaltigkeit und Wachstum

10. September 2015 Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit

08. Oktober 2015 Nachhaltigkeit und Bildung

05. November 2015 Nachhaltigkeit und Gesellschaft

26. November 2015 Nachhaltigkeit und Zukunft

Anmeldung unter: [email protected]

Beginn: 18:00 Uhr

Veranstaltungsort: Wasserturm, EUREF-Campus Berlin, Torgauer Straße 12, 10829 Berlin

nachhalTig und guT?

NächSter

termiN:

10.

SeptemBerunsere VeransTalTungsreihe Mit „Nachhaltig und gut?“ möchten die RWE Stiftung für Energie und Gesellschaft und Cicero die grundsätzliche Bedeutung von Nachhaltigkeit diskutieren.

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INHALT

TITELTHEMA

30NACH DEM TATORT STARB DIE TALKSHOW

Wie es kam, dass der Polittalk am Sonntagabend bedeutungslos wurde, und

was Günther Jauch damit zu tun hatVon CONSTANTIN MAGNIS

27„DIE KONTROLLE AUSDEHNEN“

Sie koordiniert die Rundfunkpolitik der Länder. Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Interview über Werbung, Gottschalk und Fußball-WM

Von ALEXANDER KISSLER

18ALTERSSTARRE

Von der Sucht nach Sportrechten bis zur Quotenfixierung: Was ARD und ZDF

lähmt. Die zwölf schwersten Gebrechen Von LUTZ MEIER

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58 PRIVATKRIEG MIT PUTINBill Browder war Investor in Russland – bis die Regierung

ihn stoppte. Jetzt rächt er sichVon ALEXANDER MARGUIER

60 DER RANSCHMEISSERÖsterreichs Kanzler Werner

Faymann scharwenzelt um Merkel, Boulevardleute und TTIP-Gegner

Von BARBAR A TÓTH

62 MIT RUSSLAND REDEN, ABER WIE?

Wie der Westen die Ukraine unterstützen und gleichzeitig

auf Putin zugehen kannVon WOLFGANG ISCHINGER

66 NENNT MICH ANNASie hieß Krzysztof und war ein Junge. Heute ist sie eine Frau und im polnischen Parlament –

Geschichte einer WandlungVon EMILIA SMECHOWSKI

78 LEERES LAND700 000 Palästinenser flohen im

ersten Krieg um Israel oder wurden vertrieben. Was blieb von ihnen? Eine fotografische Spurensuche

Von BRUNO FERT

88 IMMER SCHÖN SACHLICHDie Stromkonzerne hassen Energie-Staatssekretär Rainer Baake. Aber

das stört ihn überhaupt nichtVon ALEXANDER MARGUIER

90 SCHLIMMER ALS WESELSKYStreiks bei Post und in Kitas:

Verdi-Chef Frank Bsirske nervt sogar in Gewerkschaftskreisen

Von ANDREAS THEYSSEN

92 ER LEBT VON STÜTZENDas Modell „Goliath“ hält bis zu 225 Kilogramm aus. Hans-Jochen

Gastrock fertigt Spazierstöcke Von FLORIAN FELIX WEYH

94 DIE HEIMLICHEN BOSSEFrüher bezahltes Ehrenamt, heute ein schwieriger Vollzeitjob: eine

Typologie des AufsichtsratsVon TIL KNIPPER

100 „BIN ICH DENN UNTERNEHMER?“

Benjamin Otto im Interview über den Erwartungsdruck in einer Dynastie und wie der

Versandhandel der Zukunft aussiehtVon TIL KNIPPER

36 ER KÄMPFT UM MERKELS JA‑WORT

Patrick Pronk machte einst die Kanzlerin sprachlos. Aber den

Wunsch, einen Mann zu heiraten, verwehrt sie ihm weiter

Von GEORG LÖWISCH

38 DIE HOFFNUNG IST WEIBLICH

Mit Judith Skudelny in Baden-Württemberg baut die FDP weiter

auf eine Art Frauenquote Von MERLE SCHMALENBACH

40 HERR LEHRER MACHT KRAWALL

Der Thüringer Björn Höcke ist dermaßen rechts, dass es manchen

in der AfD längst peinlich istVon CHRISTOPH SEILS

42 SOKO BERLINNoch nie saßen so viele Polizisten im Bundestag. Ausgerechnet heute, da die Sicherheitsbehörden in der Kritik stehen. Was bewirken sie?

Von HARTMUT PALMER

49 FRAU FRIED FRAGT SICH …

… woher die Demokratiefaulheit kommt

Von AMELIE FRIED

50 DAS SCHWARZ‑GRÜNE NETZWERK

Wer spielt welche Rolle bei den Vorbereitungen für ein neuartiges Bündnis 2017? Report und Grafik

Von CHRISTOPH SEILS

56 JOSEPH UND JOSEFBlatter und Ackermann – die

unrühmliche Geschichte zweier SchweizerVon FR ANK A. MEYER

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL

66 94Geld

Geschlecht

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122 UNSER LIEBER SEELENDOKTORTill Lindemann ist auch

ohne Rammstein Berserker und Rollenspieler

Von THOMAS WINKLER

124 LUFT PLUS LIEBE GLEICH MUSIKDas Theremin: ein berührungsloses

Instrument aus den Zwanzigern. Carolina Eyck entlockt ihm

schwebende TöneVon DOROTHEA WALCHSHÄUSL

126 IN SO VIEL GUNST STIRBT ALLE KUNST

Acht Thesen zur Zukunft der Kunst und ihrer Finanzierung

Von THOMAS OBERENDER

132 MAN SIEHT NUR, WAS MAN SUCHT

Die Casa MalaparteVon BEAT WYSS

134 BIBLIOTHEKSPORTRÄTJeff Kinney, Autor von „Gregs

Tagebuch“, lässt sich seine Lieblingsbücher vorlesen

Von SEBASTIAN MOLL

138 LITERATURENBücher von Hans Joachim

Schädlich, Haruki Murakami, Wolfram Pyta und Wu Ming

143 DAS POLITISCHE BUCHAyaan Hirsi Ali fordert eine Reform des Islam

Von MOUHANAD KHORCHIDE

144 DIE LETZTEN 24 STUNDENZum Abflug dann Vivaldi

und auch EinsamkeitVon ULRICH WALTER

5 ATTICUSVon CHRISTOPH SCHWENNICKE

10 STADTGESPRÄCH

12 FORUM

14 IMPRESSUM

146 POSTSCRIPTUMVon ALEXANDER MARGUIER

106 DIE NEONOSTALGIKERINModedesignerin Malaika

Raiss lässt sich von Skatern und Surfern inspirierenVon SAR AH-MARIA DECKERT

108 SCHWEISS ODER SCHWABBEL

Das neue bauchverherrlichende Schönheitsideal des

Dad Bod. Ein Pro und ContraVon LENA BERGMANN und

BORIS POFALLA

110 „WIR BIETEN SCHAMANEN“Interview mit Claus Sendlinger,

Chef der Designhotels, über die Herberge der Zukunft

Von LENA BERGMANN

112 DIE NEUEN MEDICIModekonzerne wie Prada

sind längst wichtige Akteure in der Museumswelt

Von ANNE WA AK

120 WARUM ICH TRAGE, WAS ICH TRAGE

Sogar auf dem diplomatischen Parkett sind

Firlefänzchen erlaubtVon MICHAEL ROTH

CICERO

STANDARDSSTIL SALON

Zum Titelbild

Um das Titelthema zu visualisieren, suchten wir nach einem Gesicht. Aber wer steht für ARD und ZDF? Gottschalk und Jauch sind Vergangen-heit. Und wer kennt schon die Intendanten Thomas Bellut oder Lutz Marmor? Wir kamen schnell auf Mainzelmann und Maus. Eignen sie sich überhaupt? Sie sind doch hochsympathisch, die

„Sendung mit der Maus“ zählt nach wie vor zum Stärksten der ARD. Aber das ist ja gerade das Problem: Profilbildendes und Unverwechselbares wird bei ARD und ZDF zu oft von Beliebigkeit und starren Strukturen erdrückt. So trugen wir dem Illustrator Jan Robert Dünnweller die beiden an, Maus und Mainzelmännchen. 112

Geltung

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Berliner Philharmoniker

Neuer Intendant?Tanzmuffel Merkel

Nicht am BallKugelblitz Kauder

Schlechte Wahlhilfe

D ie Berliner Philharmoniker suchen nicht nur einen neuen Chefdiri-

genten, sondern auch eine neue Philo-sophie. Fraglich, ob Intendant Martin Hoffmann dafür noch der Richtige ist. Hinter vorgehaltener Hand werden be-sonders die strategischen Entscheidun-gen des Ex-Sat1-Mannes diskutiert: der Ausstieg aus dem ZDF-Silvester-Kon-zert, der Wechsel bei den Osterfestspie-len von Salzburg nach Baden-Baden, die Gründung eines eigenen CD-La-bels – und auch die Digital Concert-Hall ist noch kein Selbstläufer. Hoff-mann hat künstlerisch kaum Einfluss genommen und auf Gewinnoptimie-rung gesetzt. Er hat die Marke geritten, ohne sie zu füllen. Bei der Chefdirigen-tenwahl hatte er kein Mitspracherecht, bei der Pressekonferenz stand er wie ein Statist neben seinen Musikern. Ein neuer Dirigent wird neue Wege gehen wollen. Möglich, dass das Orchester sei-nen Intendanten dafür opfert. AB

Es hätte ein Heimspiel für Guido Wolf sein können, den CDU-Spitzenkan-

didaten für die Landtagswahl in Baden-Württemberg. Die Berliner Dependance eines Tuttlinger Medizintechnikherstel-lers war Treff von Mitgliedern des CDU-Wirtschaftsrats; der Saal voller einfluss-reicher Unternehmer aus dem Ländle. Gespannte Erwartung. Doch dann kam Volker Kauder. Der Unionsfraktionschef (und wie Wolf: ein Tuttlinger) rauschte herein, wischte das angekündigte Thema Mittelstandspolitik beiseite und hielt unvorbereitet und teilweise pampig eine nichtssagende Rede. Die Gesich-ter wurden immer länger. Das von Wolf auch, der nächstes Jahr den Grünen Winfried Kretschmann als Ministerprä-sident ablösen will und dafür nach Kau-ders Auftritt die Unterstützung der Un-ternehmer erbat. Wenn der Eindruck nicht trog: vergebens. „Kugelblitz Kau-der“, wie ihn ein Teilnehmer nannte, hatte ganze Arbeit geleistet. swn

Schaffen die Berliner Journalisten es doch noch? Dass Angela Merkel

auch mal bei ihnen ein Tänzchen wagt? Dann könnte der Bundespresseball im November 2015 endlich wieder zum Pflichttermin für Spitzenpolitiker und Wirtschaftsbosse werden, auf dem sie gesehen werden wollen und sich sehen lassen müssen. Die Veranstalter möch-ten dafür das beste Ambiente mieten, das Berlin für solche Ereignisse zu bie-ten hat: das Hotel Adlon, fast direkt am Brandenburger Tor gelegen. Kenner prophezeien allerdings, dass die Kanz-lerin dem Presseball dennoch die kalte Schulter zeigen wird. Denn Merkel gilt als ausgesprochener Ballmuffel, ihr Mann ist auch nicht als leidenschaftli-cher Tänzer bekannt. Lieber nehme sie einen „unaufschiebbaren“ Termin bei einem CDU-Ortsverein wahr. Der SPD dürfte es recht sein, denn so hätte der Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Ga-briel die Bühne für sich. tz

Die Kanzlerin wird zum Tanz gebeten, Volker Kauder enttäuscht seine Landsleute – und der Außenminister verrät Guido Westerwelles Passwort

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CICEROStadtgespräch

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Der Genscher-Code

Steinmeiers GeheimnisZDF-Sitcom „Eichwald, MdB“

Comedy und RealitätAltmaiers Körperphilosophie

Schwer überzeugend

Amtsgeheimnisse sind bei Frank-Wal-ter Steinmeier gewöhnlich gut auf-

gehoben. Kürzlich aber verriet er ei-nes. In einer Laudatio auf Hans-Dietrich Genscher, der am 17. Juni in Berlin den diesjährigen Henry-Kissinger-Preis be-kam, offenbarte der Außenamtschef, welches WLAN-Passwort er nach der zurückliegenden Bundestagswahl von seinem Amtsvorgänger Guido Wes-terwelle übernahm: LLwszIguImd-hIAhdg1989. Eigenhändig habe er die scheinbar wirre Buchstaben- und Zif-fernfolge in sein Laptop eingetippt, er-zählte Steinmeier. Erst als er „hdg1989“ verstand, entschlüsselte er auch den Anfang der Bandwurmchiffre: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekom-men, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ – Genschers berühm-ter Satz vom 30. September 1989 in der Prager Botschaft. Das WLAN-Passwort müsse er jetzt zwar ändern, sagte Stein-meier. Aber die Anekdote zeige doch, wie tief Genscher immer noch im Aus-wärtigen Amt verankert sei. hp

Peter Altmaier fühlt sich in einem sehr persönlichen Wettbewerb als

Sieger. Er sei, so sagt der Kanzleramts-chef, gern der gewichtigste Minister im schwarz-roten Kabinett. Zwar bemühe sich Wirtschaftsminister Sigmar Gab-riel eifrig, ihm diesen Titel streitig zu machen, „aber er hat es bisher nicht ge-schafft“. Ist ja auch nicht einfach, bei den mindestens 140 Kilo, die der CDU-Mann locker und dank seines ausge-prägten Talents als Hobbykoch auf die Waage bringt. Abspecken will er jeden-falls nicht. Denn Altmaier empfindet seine Leibesfülle als wichtige Voraus-setzung für politischen Erfolg: „Meine Erscheinung bringt nicht unbedingt Macht im hergebrachten Sinne zum Ausdruck, sondern mehr die Bereit-schaft, sich für eine Sache vorbehaltlos einzusetzen, sie auch durchzusetzen. Das erwarten die Menschen von einem Politiker. Der soll einstehen für seine Überzeugungen, soll bereit sein, damit anzuecken, soll nicht gleich umkippen.“ Klingt durchaus plausibel. tz

Jetzt auch mal was Nettes über das ZDF. Die Comedy-Serie „Eich-

wald, MdB“ – in der Mediathek abruf-bar – zeigt in vier Folgen die rührige Fi-gur des Bundestagsabgeordneten Hajo Eichwald samt Mitarbeitern und Frak-tionschefin. Die Erzählung ist so wun-derbar, weil sie zwar kunstvoll über-treibt, dabei jedoch alles im Setting der realen Schrulligkeiten und Bosheiten des Parlamentslebens spielt: Die däm-liche Formulierung „am Ende des Ta-ges“, das auffällige Kuchenfuttern oder die niedliche Wichtigtuerei mit dem Ta-blet – all das gibt es wirklich im Bun-destag. Existiert vielleicht gar ein reales Vorbild für Eichwald? Die Partei wird nicht genannt, obwohl Hajo natürlich auf SPD deutet. In der Serie hat er den Wahlkreis Bochum II, den vertritt aber im wahren Leben Michelle Müntefering. Drehbuchautor Stefan Stuckmann sagt:

„Es gibt keine Antwort darauf.“ Und die Fraktionschefin Birgit Hanke? „Da hab ich über Hannelore Kraft nachgedacht. Die kalte Familienpatriarchin.“ löw

11Cicero – 7. 2015

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Es geht um Sex und Macht, Loblieder aufs englische Königshaus, Joschka Fischer und TTIP

FORUM

Zum Beitrag „Märchenprinz im Teufelsmoor“ von Frauke Meyer-Gosau, Mai 2015

SkandalösIhre „Buchkritik“ zu Klaus Modicks Roman über die Künstlerkolonie Worpswede hat es auf den Punkt gebracht. Als Worpswede-Kennerin und Kunsthistorikerin ist man verzweifelt, wenn die Gäste voller Begeisterung von diesem Buch erzäh-len oder es kaufen. Es ist tatsächlich eine „chronique scandaleuse“ – selbst das Rilke-Gedicht, das er zitiert (kursiv und mit Anführungsstrichen!!, sodass jeder denkt, es ist der Originaltext), verfälscht er beziehungsweise passt es seinen ero-tischen Gedankengängen an. „Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen, das zu sagen, was ihr einsam seid.“ Bei Modick heißt es: „was ihr willig seid“. Außerdem gibt es keine Quelle, dass Vogeler Rilke auf diesem Gemälde überhaupt darge-stellt hat. Ich werde den Worpswede-Besuchern Ihren Artikel und die Cicero-Aus-gabe weiterempfehlen, damit sie ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen können.Erika Müller, Worpswede

Zum Beitrag „Die treibende Kraft“ von Christine Eichel, Juni 2015

NichtssagendEin ganz offensichtlich faszinieren-des Thema, von einer Dame mit Na-men Eichel umschrieben (Wer in der Redaktion hat sich das um Got-tes/Eros willen bloß ausgedacht?!). Umschrieben meine ich übrigens wortwörtlich: Ein größerer Teil be-steht aus umrankten Zitaten (in je-dem entsprechenden Lexikon nach-zuschlagen – ich hab’s kontrolliert) und sonstigen Allgemeinplätzen. Je-denfalls: Was auch immer den Ti-telbild-Macho so elefantastisch „an-treibt“, es kann nie und nimmer der nichtssagende Artikel sein.Paul Schwald, CH-3098 Köniz

Vertane ChanceLeider hat Frau Eichel eine einma-lige Gelegenheit verpasst, wirk-lich neue Erkenntnisse zum Thema Sex und Macht zu liefern. Stattdes-sen wird der animalische Zusam-menhang zwischen männlicher Do-minanz und Manneskraft wieder einmal ohne weiter darüber nachzu-denken bestätigt. Was wäre, wenn Horst Seehofer wirklich aus Liebe gehandelt hat? Das können wir na-türlich nicht wissen, aber die Mög-lichkeit, es in Erwägung zu ziehen, ist durchaus interessanter als eine pubertäre Spekulation über den Lie-besakt an sich. Und Frau Seehofer? Handelte sie aus Liebe zu ihm oder um ihren eigenen Status zu retten oder vielleicht aus beiden Gründen?Daniel di Primio, Potsdam

Zu kurz gegriffenFür eine promovierte Philosophin greift Frau Eichel in ihrem Bei-trag zum Verhältnis von Macht und Sexualität gleich mehrfach zu kurz.

Eine im Wesentlichen auf mas-kuline Aspekte beschränkte Sicht-weise folgt zwar konsequent dem seinerseits ebenso auf die männ-liche Sexualität fokussierten Titelbild, doch verfehlt ihr Beitrag damit die wünschenswerte Refle-xionstiefe und lässt den Leser ent-täuscht zurück.

Cicero angemessener wäre es gewesen‚ sich dem Thema „Macht in der Sexualität und Sexualität in der Macht“ weniger populistisch („Auffallend viele französische Männer sympathisieren mit dem Wollüstling Strauss-Kahn“) und tendenziös feministisch („Eine bri-tische Soziologin empfiehlt Frauen, ihr erotisches Kapital gezielt ein-zusetzen“) zu nähern, um dann auch noch mit einer Kanzlerschmä-hung („Angela Merkel als libidi-nöse Femme fatale. Nein, das wol-len wir uns dann besser nicht so genau vorstellen“) zu enden.Dr. Michael Lonsert, CH-8127 Forch

12Cicero – 7. 2015

CICEROLeserbriefe

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Zum Beitrag „Die Sphinx von der Themse“ von Gloria von Thurn und Taxis, Juni 2015

UnangemessenIst es wirklich angemessen für ein politisches Magazin in Ihrer Liga, dass eine durch nichts qualifizierte Gloria von Thurn und Taxis Loblie-der aufs englische Königshaus sin-gen darf?

Ein Porträt von Elizabeth II. hätte ich mir in einem demokrati-schen Magazin und mitten in einer Republik etwas kritischer, zumin-dest ausgewogener vorgestellt. Adel verpflichtet leider nicht zum Nach-denken, wie man bereits vor vier Jahren bei einem früheren Verteidi-gungsminister sah und jetzt erneut bei seinem damaligen Nachfolger.

Bitte vermeiden Sie doch diese unkritische Adelsgläubigkeit, die Leute taugen nicht automatisch mehr als normalnamige Menschen. Und Frau von Thurn und Taxis, die sicher auch über Prinz Philip lo-bende Worte fände, der ja in Be-zug auf Nichteuropäer ähnliche An-sichten vertritt wie sie, sollte, wenn überhaupt, bei Bild oder der Bun-ten als Gastautorin glänzen, aber bitte nicht im sonst so scharfsinni-gen Cicero.Tilman Lucke, Berlin

Zum Leserbrief „Bewegend“, Juni 2015

AussagekräftigWie wäre es, wenn Sie den in dem Beitrag „Bewegend“ erwähnten Ab-schnitt noch einmal veröffentlichen würden? Er scheint doch sehr aussa-gekräftig gewesen zu sein.Otto Winner, Iserlohn

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag „Die letzten 24 Stunden“ von Desmond Tutu ist auf Cicero online unter cicero.de/desmond-tutu nachzulesen

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VERLEGER Michael Ringier CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS Alexander Marguier

REDAKTION

TEXTCHEF Georg Löwisch CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer CHEFREPORTER Constantin Magnis POLITISCHER KORRESPONDENT Christoph Seils RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ), Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexander Kissler ( Salon ), Til Knipper ( Kapital ), Dr. Frauke Meyer-Gosau ( Literaturen ) CICERO ONLINE Petra Sorge, Timo Stein ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS Monika de Roche ART‑DIREKTORIN (PRINT) Viola Schmieskors BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck PRODUKTION (DRUCK + DIGITAL) Utz Zimmermann

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CICERO ERSCHEINT IN DER

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GRÜNDUNGSHERAUSGEBER Dr. Wolfram Weimer

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EINE PUBLIKATION DER RINGIER GRUPPE

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CICEROLeserbriefe

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Zum Interview „Da sammelt sich Sprengstoff an“ mit Joschka Fischer, Juni 2015

Mundtot machenSatt und zufrieden wie ein al-ter Kater sitzt er da, der Herr Fi-scher. Bild und Aussagen sind eine Einheit. Wie der selbst ernannte letzte „Rock ’n’ Roller der deutschen Politik“ sich darbietet, da hätte sich der junge Joschka nicht mehr wiedererkannt.

Nun verkündet der Weltener-klärer aus Gerabronn uns naiven Po-litikinteressierten, dass es mit dem gegenseitigen Ausspionieren schon seine Richtigkeit habe. Dass wir trotz alledem Amerika gegenüber freund-lich und dankbar sein müssen, da es dazu keine Alternativen gäbe.

Wer damit nicht einverstan-den ist, ist nach seiner Meinung be-schränkt oder denkt antiamerika-nisch. Mit diesen Etiketten kann man jeden mundtot machen.Dr. Stefan Ummenhofer, Meckenheim

Überforderte NSAEs muss ein erhabenes Gefühl sein zu wissen, dass die westliche Welt – umzingelt von mächtigen, bösarti-gen Feinden – bedroht ist. Nur dank der selbstlosen Aufklärungsarbeit von NSA und CIA, Garanten der De-mokratie, dürfen wir im Frieden aus-harren. Angesichts dieser Bedrohung frage ich mich, was die USA und Großbritannien veranlassen konnte, als „Befreier“ im Irak einzumar-schieren oder den sunnitischen Re-bellen in Syrien Waffen zu liefern. Überfordert von der Überwachung europäischer Politiker und Unter-nehmen konnte die NSA einfach nicht erkennen, dass sich im Nahen Osten die Terroristen von Isis eigene Armeen für ihren Angriff formierten.Wieland Becker, Berlin

Zum Beitrag „Wir werden TTIP verhindern“ von Alexander Marguier, Mai 2015

UnverständlichHerr Brok weist zu Recht darauf hin, dass die Argumente der TTIP-Gegner immer nur mit „kann“ be-ginnen. Nur: Alles was er erwidert, ist: „Vertrauen Sie (wem eigentlich?), es kommt so nicht, alles wird gut.“ Woher weiß er das? Es gibt doch noch gar keine Vertragstexte. Des-wegen ist es gut, dass TTIP-Kritiker als Advocatus Diaboli schwarz-weiß malen.

Völlig unverständlich ist Herrn Broks Begründung für die Ge-heimnistuerei. Zitat: „… dass sol-cherlei Verhandlungen … (stets) …im Detail nicht öffentlich geführt

wurden. Denn dadurch würde ja den Verhandlungspartnern die Verhandlungsstrategie verraten.“ Mit Verlaub, Herr Brok, so eine schwachsinnige Begründung habe ich schon lange nicht mehr gehört/gelesen. Wieso werden Verhand-lungsstrategien erst durch die Öf-fentlichkeit bekannt? Sind denn die Verhandelnden einer Seite unfähig, die Strategien der anderen Seite zu erkennen? Wenn dem so ist, dann sollten diese Personen sofort ausge-wechselt werden.Dr. Werner Lampert, Nürnberg

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen senden Sie bitte an [email protected]

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Wir haben das teuerste öffentlich-rechtliche Fernsehen der Welt. Aber ARD und ZDF machen nicht das beste Programm. Sie agieren wie gelähmt. Cicero diagnostiziert die zwölf schlimmsten Gebrechen

Von LUTZ MEIER

Illustrationen J AN ROBERT DÜNNWELLER

ALTERSSTARRE

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TITELDie Abzocker

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Weltereignis im kleinen Monaco: Ein Prinz und eine Prinzessin werden geboren. Auch für das ZDF ist die Zwillingsgeburt im Fürsten-tum am Abend des 10. Dezember

2014 ein Vorgang, bei dem Kosten und Mühen zweit-rangig sind. Der Sender fliegt eigene Reporter ein. Sie postieren sich mit einem Fernsehteam vor dem nächt-lichen Centre Hospitalier Princesse Grace de Monaco, um es den Zuschauern der Nachrichtensendungen als Erste zu zeigen: ein Krankenhaus im Dunkeln. Natür-lich tummeln sich hier auch Reporter der großen TV-Nachrichtenagenturen, die dieselbe Klinik aufnehmen. Aber was wäre das ZDF, wenn es von diesem fulmi-nanten Ereignis keine eigenen Bilder hätte!

Solche kleinen Beispiele sind symptomatisch. Sie nähren die Zweifel am öffentlich-rechtlichen Fernse-hen. Man kann auch die großen Fragwürdigkeiten an-führen, die mit bekannten Namen verknüpft sind: Tho-mas Gottschalk hat vom WDR Millionen Euro fürs Nichtstun erhalten. Günther Jauch, einer der teuers-ten Einzeleinkäufe in der jüngeren ARD-Geschichte, hört nach Zweifeln an seiner Kompetenz auf. Im In-ternet sammeln Netzpolitiker und Blogger Stimmen dafür, den Rundfunkbeitrag zu streichen. Und als ein paar Professoren, die eine bis dato unbekannte Kom-mission im Bundesfinanzministerium bilden, vor eini-gen Monaten etwas Ähnliches vorschlugen – sie wol-len ARD und ZDF weitgehend abschaffen –, da schlägt den spröden Gutachtern Jubel aus bürgerlichen Krei-sen entgegen.

Hat das öffentlich finanzierte Fernsehen seine Chance schon verspielt? Oder ist, im Gegenteil, die Zeit gekommen, es vor sich selbst zu retten?

7,36 Milliarden Euro müssen die Bürger in Deutsch-land dieses Jahr für ARD, ZDF und Deutschlandradio ausgeben. Das Land leistet sich das üppigste öffentli-che Mediensystem der Welt – und dennoch sind ARD und ZDF oft nicht in der Lage, die besten Filme zu lie-fern, die weltbewegenden Nachrichten, die Magazine, welche Skandale aufdecken, oder die Dokumentatio-nen, die tief gehen. Kurz: Für all das Geld bekommen wir nicht das beste Fernsehen. Maximaler Aufwand, aber zu viele kümmerliche Ergebnisse.

Die ARD ist gerade 65 geworden, das ZDF ist et-was jünger. Beide wirken bisweilen wie Methusaleme, 100-jährig, altersstarr.

Nur weil dieses System so schwer durchschaubar ist, konnte es so groß werden. Deshalb weckt es Miss-trauen. Egal ob man ARD und ZDF erneuern, ein-dampfen oder abschaffen will – zunächst einmal muss man das System durchschauen. Hier sind die zwölf größten Strukturmängel dieses Systems. Denn man darf es ARD und ZDF nicht so einfach machen, sie nur nach der Holzhammermethode zu kritisieren.

1. DER FALSCHE MASSSTAB

Wer von allen bezahlt wird, muss allen etwas bie-ten – das ist seit Jahrzehnten das Mantra der Intendan-ten. Damit begründen sie, dass für jede Sendeminute in jedem wesentlichen Programm ein Quotenziel de-finiert wird. Dass Aufwand für Bilder von Fürsten-geburten getrieben, aber an Berichten aus Krisenge-bieten gespart wird. Dass Shows laufen, für die sich selbst manche ihrer Macher entschuldigen. Oder dass die Sender dem Jubel für die Fifa lange Zeit mehr Platz einräumten als der Kritik an der Fifa.

„Die Programme setzen sich dem Raserwahn der Internetmedien aus“, kritisiert Nikolaus Brender, ehe-mals ZDF-Chefredakteur. „Dabei ist es das Privileg öf-fentlich-rechtlich finanzierter Medien, sich nicht unter Druck setzen zu müssen.“ Und der Medienforscher Lutz Hachmeister, der schon viele preisgekrönte Dokumenta-tionen an Öffentlich-Rechtliche geliefert hat, sagt: „Al-lererstes Ziel des gehobenen Managements von ARD und ZDF ist die Sicherung der Massenloyalität, die sich mathematisch in der antiquierten Quote ausdrückt.“

Die Strategie geht so: Über Sport und „Tatort“ große Mengen an Zuschauern binden und sich ansonsten mit politgefälligen Programmen Unterstützung der Mäch-tigen sichern. Die Folge: Das Programm ist immer öfter positiv-affirmativ – aber immer seltener kantig-kritisch.

„Natürlich hat der öffentlich-rechtliche Rund-funk allen zu dienen“, sagt der Medienrechtler Wolf-gang Hoffmann-Riem, der früher als Richter am

Lutz Meier

ist Wirtschafts-reporter in Berlin. Als er vor 18 Jah-ren zum ersten

Mal über eine Intendantenwahl berich-tete, wunderte er sich, dass die Rundfunk-räte zwischen den Wahlgängen in Neben-räume schlichen und dann blockweise ihr Stimmverhalten änderten – es wa-ren die berüchtigten Freundeskreise. Seit-dem lernte er viel über die Geheimnisse der Öffentlich-Rechtlichen

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TITELDie Abzocker

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Bundesverfassungsgericht wichtige Urteile zum Ge-bührenrundfunk mitformuliert hat. „Aber er hat Frei-räume, die allein über den Markt finanzierte Medien-unternehmen nicht haben. Er verfehlt seinen Auftrag, wenn er sich am Programm der allein über den Markt finanzierten Anbieter orientiert.“

Das Argument der Intendanten ist ja nicht falsch: Wie sollte ein Gebührenfernsehen, das auf Erfolg beim breiten Publikum verzichtet, eine Gebühr für alle rechtfertigen? Aber die Frage ist, ob die Quote noch der richtige Maßstab für Erfolg ist. Öffentlich-recht-liche Sender sollten Programme mit Wirkung bieten. Programme, auf die Zuschauer reagieren. Sie sollten Sendungen ausstrahlen, die im Kopf bleiben. „Es ist dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuzumuten, auch zur Hauptabendzeit mit geringeren Quoten auszukom-men“, fordert Hoffmann-Riem. Er müsse nur die ver-schiedenen Nutzergruppen bedienen.

2. CHANCENLOSE FINANZAUFSICHT

Manchmal denkt Heinz Fischer-Heidlberger, er sollte tiefer gehen bei dem einen oder anderen Punkt, auf den er in den Zahlen von ARD und ZDF stößt. Aber

dann fällt ihm ein, dass er seine eigentliche Arbeit als Präsident des Obersten Bayerischen Rechnungshofs schon wieder aufs Wochenende legen müsste.

Fischer-Heidlberger leitet ein Gremium mit dem wenig geläufigen Kürzel KEF: die Kommission zur Er-mittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten. Sie besteht aus 16 Fachleuten in Haushaltswesen und Rechnungslegung, deren Aufgabe es ist, die Finanzen von ARD und ZDF zu durchleuchten und die Sender zur Sparsamkeit zu zwingen. Aber der studierte Ju-rist und ehemalige enge Mitarbeiter des früheren Mi-nisterpräsidenten Edmund Stoiber wirkt etwas resig-niert. „Die Erwartungen an uns sind zu hoch“, seufzt er. „Viele gehen davon aus, dass die KEF ein Kontroll-organ für die Anstalten ist – das sind wir nicht und das können wir nicht leisten.“ Gebe es einmal Hinweise von außen, dann könne die KEF „versuchen, finanzi-ell gegenzusteuern“, ergänzt Fischer-Heidlberger. „Wir kennen aber nicht die Verträge zum Beispiel von Herrn Jauch oder anderen Prominenten.“

Eigentlich war das Gremium mal eine gute Idee des Verfassungsgerichts: Unabhängige Finanzexperten, nicht Politiker, sollten die Ausgaben der Sender durch-kämmen und entscheiden, wie viel Geld ihnen zusteht. Doch die 16 nebenberuflichen Prüfer sind hoffnungslos

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unterlegen im Vergleich zu den gut geölten Apparaten von elf Sendeunternehmen, die sie mit Zahlenkonvo-luten zuschütten, die untereinander in vielerlei Hin-sicht nicht einmal vergleichbar sind. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Katze angebunden ist.

Verfehlungen kann die KEF erst mit Verspätung ahnden, wenn sie wieder den Gebührenbedarf für eine neue Vierjahresperiode prüft und versuchen kann, den Sendern Geld bei der Gebührenzumessung zu streichen. Bei vielen Ausgaben aber berufen sich die Intendanten auf das Verfassungsgericht, das ihnen Schutz vor Ein-griffen ins Programm garantiert hat. Das Schlagwort: Programmautonomie. Da ist die KEF machtlos.

3. VERFEHLTES SPAREN

Doch, es wird schon auch gespart in den Anstalten. Der WDR-Intendant verkauft die Kunstsammlung des Senders, der Chef des SWR versucht, zwei Orchester zu-sammenzulegen, weil er fünf Ensembles für zu teuer hält. In den Redaktionen des ZDF werden Stellen nicht neu besetzt. Aber bei zu vielen Sparaktionen geht es vor al-lem darum, schnell Kosten aus der Bilanz zu bekommen.

Daher machen sich Sparmaßnahmen im Pro-gramm bemerkbar, während die Sender überkom-mene Strukturen in technischen Abteilungen und der Verwaltung weiter mit durchschleppen. Sogar Leute, die für den WDR arbeiten, sehnen sich danach, dass einmal ein Rollkofferkommando von Boston Consul-ting oder McKinsey durch die Riesenbehörde rauscht.

Die Lage ist so ernst, dass es sinnvoll wäre, sich zu überlegen, wie ein System aussähe, das man auf einem weißen Blatt entwerfen würde. Dann käme jedenfalls kein Mensch auf die irre Idee, neun ARD-Anstalten mit fast ebenso vielen Honorarbuchhaltungen zu schaffen.

Anstatt kreuz und quer zu streichen, müssten sich die Sender gezielter ausrichten. „Sie sollten sich da-bei auf Qualitätsformate konzentrieren, die der freie Markt nicht leisten kann“, sagt Brender.

Paradox: Die Öffentlich-Rechtlichen müssten jetzt beweisen, dass sie es sind, die aus Deutschland die Filme und Serien liefern können, die sich in der Erzähl-kunst auf internationalem Niveau bewegen, etwa wie

„House of Cards“: Aber für so etwas ist beim bestaus-gestatteten öffentlich-rechtlichen System der Welt zu wenig Geld in den Kassen.

4. KÖNIGSDISZIPLIN: VERWALTEN

Die öffentlich-rechtlichen Sender beschäftigen rund 41 000 Menschen. Knapp 60 Prozent davon sind fest angestellt, 20 Prozent freie Mitarbeiter – die aber auch oft recht feste Arbeitsverhältnisse haben. Der

Rest arbeitet in anderen Beschäftigungsverhältnissen oder Tochterfirmen. Mit so vielen Leuten müsste man ein brillantes Programm machen können, aber die Re-daktionen klagen über Unterbesetzung.

Grund der Misere ist ein Muster, das man in ARD und ZDF immer wieder vorfindet: Freie Mitarbeiter oder jüngere Angestellte mit vergleichsweise bescheidenen Gehältern machen oft das Programm. Dagegen befas-sen sich die Leute mit den komfortablen Arbeitsverträ-gen mit allerlei Administration, der Königsdisziplin im Rundfunkreich. Anders gesagt: Wer am meisten für den Zuschauer leistet, bekommt am wenigsten.

Diese falsche Struktur kennen die Verantwortli-chen, aber es ändert sich nichts. Man muss nur lesen, was ZDF-Intendant Thomas Bellut in der eigenen Mit-arbeiterzeitschrift kontakt sagte, als die aktuelle Spar-runde begann: „Wir müssen einige entlasten und andere, die unterbeschäftigt oder nicht in jeder Phase ihres Le-bens willens sind zu arbeiten, dazu ermuntern, wieder ihren Beitrag fürs ZDF zu leisten.“

Eine wenig verbrämte Umschreibung für: Liebe faule Mainzelmännchen, macht doch bitte auch mal mit.

Oft wird an den freien Mitarbeitern gespart, weil die Sender diese schneller loswerden – besonders die jungen, die neue Ideen entwickeln und eigentlich gar nicht so teuer sind. Sparen auf Kosten des Zuschau-ers, obgleich in der Administration noch Luft wäre.

Es fehlen Personalplanung und Übersicht: „Ich glaube, dass man beim ZDF in der Vergangenheit nicht so genau Bescheid wusste, wie viele beim und für das ZDF arbeiten“, stellt Fischer-Heidlberger fest. Erst seine Sparvorgabe habe da ein wenig Licht ins Dun-kel gebracht. Jedenfalls führt die Personalverfassung zu Frust, Doppelstrukturen und Ineffizienz.

ZÄHLBARES

Jahresgehalt Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

228 547 Euro

JahresgehaltTom Buhrow, WDR-Intendant:

367 232 Euro

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passiv Rundfunkräte sind. „Die Gremien müssen sich einfach eine Mitwirkung erkämpfen“, verlangt er.

Rundfunkrat Bieber hat festgestellt, dass der schlichte Zuschauer eigentlich kaum vertreten ist. In den Gremien dominieren Vertreter von Sportverbän-den, Gewerkschaften, Arbeitgebern, Vertriebenen oder Landvolk – Vereinen, in denen sich vielleicht vor 50 Jahren einmal die Gesellschaft spiegelte.

Wie die Kontrolle üblicherweise funktioniert, be-schreibt Medienforscher Hachmeister, der schon mal bei den annehmlichen Auslandstagungen der Gremien Vorträge halten darf. „Heute sind zu viele in den Gre-mien, die sich mit Aufwandsentschädigungen und schönen Reisen ködern lassen“, sagt er. „Da nehmen dann die Intendanten die Rundfunkräte an die Hand und erzählen ihnen Märchen.“

Ex-Verfassungsrichter Hoffmann-Riem fügt hinzu, man müsse die Gesellschaft wieder in die Gremien bringen: „Ich sehe Probleme der Versteinerung – wer einmal drinsitzt, lässt sich schwer vertreiben.“

6. VERORDNETE STARRE

Netflix-Chef Reed Hastings glaubt, dass es in fünf Jahren keine Programmschemata und Sendezei-ten mehr gibt, Medienexperten diskutieren, ob Fern-sehen, wie wir es kennen, überhaupt eine Zukunft hat. Aber ARD und ZDF haben sich von der Politik strate-gisch fesseln lassen, wenn es um ihre Entwicklung in den digitalen Medien geht. Sie müssen die meisten Pro-gramme in den Mediatheken nach sieben Tagen sper-ren, Onlineinhalte müssen „sendungsbezogen“ sein.

Wenn sich ARD und ZDF weiter an einen Fernseh-begriff der Vergangenheit klammern, werden sie bald auch der Vergangenheit angehören. Immerhin, die Mi-nisterpräsidenten wollen die Sieben-Tage-Frist womög-lich streichen. Und indem sie die Sender dazu verdon-nert haben, ihre neue „Jugendplattform“ nur im Netz und nicht über Kabel und Satellit anzubieten, haben sie den Sendern eigentlich genau die Freiheit im Inter-net eröffnet, die ihnen bislang verwehrt war. Aber an-statt sich zu freuen, nörgeln die Sendervertreter immer noch, dass sie kein richtiges Fernsehprogramm für die Jugend machen dürften – als ob die sich noch für ein klassisches Fernsehprogramm interessierte.

7. AUSWAHL DER CHEFS

„Das kann nur jemand, der von innen kommt.“ Das hat unlängst der langjährige ZDF-Intendant Dieter Stolte über den Intendantenposten beim Sender gesagt. Der Grund: die „politischen Gegebenheiten“. Aber ob es gut für den Sender ist? Intendant und Direktor wird

Auf Tausenden Planstellen wird über das Pro-gramm entschieden, es wird dort aber nicht gemacht – wenngleich die Leute, die sie besetzen, oft lieber selbst Filme oder Beiträge machen würden.

5. VERSTEINERTE RUNDFUNKRÄTE

Vor zwei Jahren kam Christoph Bieber in den WDR-Rundfunkrat, in dem 51 Vertreter sogenannter gesellschaftlich relevanter Gruppen den Sender beauf-sichtigen sollen. Bieber fühlt sich von manchen Diskussi-onen abgekoppelt, besonders wenn es um die Besetzung von Führungsposten geht. „Da bin ich von vielen Infor-mationsflüssen schlicht ausgeschlossen“, stellt er fest.

Der Grund: Bieber ist in keinem der „Freundes-kreise“ Mitglied. Über die sogenannten „Freundes-kreise“, die in keiner Rundfunkverfassung stehen, steuern Parteien traditionell ihren Einfluss in der Sen-deraufsicht. Zwar wurde auch Bieber von einer Par-tei entsandt, den Piraten im NRW-Landtag. Aber die schrieben den Posten öffentlich aus und setzten Bieber darauf, der als Professor für Ethik in Politikmanage-ment und Gesellschaft in Duisburg lehrt.

Zum Glück greifen die Parteifunktionäre in den Gremien nicht mehr ganz so dreist in Personal und Programm ein wie noch vor einigen Jahren. 2014 hat das Verfassungsgericht verordnet, dass es weniger Po-litikvertreter in den ZDF-Gremien geben soll. Die Po-litik muss das Urteil noch umsetzen.

Ein anderes Problem: Die Gremien schaffen es nicht, den Intendanten wirklich auf die Finger zu schauen – im Fall der Millionen für Gottschalk hat sich der Rundfunkrat einfach umspielen lassen. KEF-Mann Fischer-Heidlberger hat sich oft gewundert, wie

ZÄHLBARES

7,36 Milliarden Euro müssen die Bür-ger in Deutschland pro Jahr für ARD, ZDF und Deutschlandradio ausgeben

445,5 Millionen US-Dollar zahlten die US-Bürger für PBS und NPR, die öffentlich-rechtlichen Sender der USA

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bei ARD und ZDF meist nicht, wer besonders gute Ideen vorlegt, um die Sender zu stärken, sondern wer die internen Ränke in den Sendern und das politische Spiel in den Gremien am besten beherrscht – denn hier braucht er klare Mehrheiten, die oft durch Zusa-gen für unsinnige Investitionen organisiert werden so-wie durch Zuwendung für ein politisches Lager. Der einzige Intendant, der nicht aus dem System kommt, ist Ulrich Wilhelm beim Bayerischen Rundfunk – und der kam direkt vom Posten des Regierungssprechers.

„Für das System ist es unglücklich, was da passiert, weil es dadurch Wettbewerbsfähigkeit verliert“, sagt Medienforscher Hachmeister zur Personalauswahl der Anstalten. Und Christoph Bieber, der Ethikprofessor, der in den WDR-Rundfunkrat geraten ist, hat festge-stellt, dass es regelrechte Abstoßungsreaktionen ge-gen Personal von außen gibt.

8. AUSLAGERN OHNE SYSTEMRund 290 000 Euro hat die ARD bereits 2012 nach

den Berechnungen der KEF für die Talkshow von Gün-ther Jauch gezahlt – für jede einzelne Folge. Die ARD hat die Sendung ausgelagert, sie kauft sie komplett bei Jauchs Firma i+u ein. Das ZDF, das seine Talkshows selbst produziert, kann es günstiger: Eine Folge „Mar-kus Lanz“ kostet 91 000 Euro. Auch die anderen ARD-Talkshows „Menschen bei Maischberger“, „Beckmann“ und „Anne Will“ wurden bei Produktionsfirmen zuge-kauft, an denen Moderatorin oder Moderator beteiligt ist – und sie sind teurer als das weiter im Haus produ-zierte ZDF-Pendant „Maybrit Illner“. In dem Bereich, sagt Brender, „sind Fremdproduktionen in der Regel schlicht zu teuer“. Und – siehe Jauch – „meist auch

ersetzbar“. Doch die Intendanten kaufen Talkshows auch deshalb gerne von außen ein, weil sich so die üp-pigen Honorare der Moderatoren verschleiern lassen: Wenn der Star und die ganze Produktion im Paket berechnet werden, bleibt unklar, was wieviel kostet.

Bei Filmen und Serien sind in der Regel Produ-zenten kreativer als auf Lebenszeit eingestellte Re-daktionen. Meinungsbildende Informationsformate – auch eine politische Talkshow – sollten wiederum aus inhaltlichen Gründen aus dem Herz der Anstalt kom-men: Verantwortliche der Sender müssen die Sen-dungen nicht nur formal verantworten, sondern auch praktisch. Das Problem ist, dass es weder bei der ARD noch beim ZDF eine Systematik darüber gibt, was man einkauft und was man besser selber macht.

9. SUCHT NACH SPORTRECHTEN

Seit die Justiz gegen die Korruption der Fifa-Funk-tionäre vorgeht, stehen auch ARD und ZDF am Pran-ger. Denn die deutschen Öffentlich-Rechtlichen gehö-ren seit Jahrzehnten – finanziell und ideell – zu den größten Stützen des Systems. Ob Fifa, Uefa oder IOC – die Gebührenzahler aus Deutschland zählen zu ihren wichtigsten Geldgebern. In den Sendern führt das nicht selten zu einem Rollenproblem: Die Programmmacher sehen sich im Team mit den Sportstars, man arbeitet ja gemeinsam an einer fantastischen Show. Logisch, dass Fifa-Chef Sepp Blatter den Zuschlag für die WM-Rechte 2010 an ARD und ZDF damit begründete, „dass wir dort die Messages durchgeben können, die wir wollen“.

Und kein Wunder, dass es Journalisten, die über Doping und Korruption im Sport berichten wollten, bei ARD und ZDF schwer hatten. Das hat sich zwar etwas geändert. Aber an Distanz fehlt es immer noch.

Die Intendanten sind süchtig nach Sportrechten, denn mit nichts erzielen sie leichter Massenwirkung.Was sie völlig übersehen: Mit kaum einem Programm kann man weniger für öffentlich-rechtliche Kompeten-zen werben. Ein Fußballspiel bei der ARD unterschei-det sich nicht wesentlich von einem bei RTL.

10. ZWÄNGE UND EIFERSÜCHTELEIEN

Neun ARD-Sender, ein ZDF, Arte, Deutschland-radio – und sie ergänzen sich oft nicht, sondern be-kämpfen einander lieber. „Eifersüchteleien gibt es in der Tat ständig, das führt zu Reibungsverlusten“, sagt Volker Lilienthal, Professor für Qualitätsjournalismus in Hamburg, der vor zehn Jahren einen Schleichwer-beskandal bei der ARD aufdeckte. Manchmal drängeln sich Dutzende Mikrofone von ARD-Sendern, die ein und dasselbe Statement aufnehmen.

ZÄHLBARES

4637 Euro kostet eine Sendeminute der Talkshow Günther Jauch

Anne Will kostet dagegen nur 2419 Euro in der Minute

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TITELDie Abzocker

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Die Fragen stellte Alexander Kissler

Frau Dreyer, rund 432 Millionen Euro zahlen ARD und ZDF für die Übertra-gungsrechte der Fußball-WM in Russland und Katar. Ist das gut angelegtes Geld?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss für alle Bevölkerungsschichten attraktiv sein. Er hat laut Bundesverfas-sungsgericht einen umfassenden Auftrag. Neben der Information und der Bildung gehören dazu Kultur, Unterhaltung, Beratung, Sport. Also auch die Spiele der Fußballnationalmannschaft. Für den Kauf der Rechte wird dabei ja auch nicht in be-liebiger Höhe mitgeboten. Übertragungs-rechte sind auch schon an RTL gegangen.

Wird so die korrupte Fifa unterstützt?Wenn eine WM stattfindet, sollten

die öffentlich-rechtlichen Anstalten dem öffentlichen Interesse nachkommen und nach Möglichkeit die Spiele übertra-gen. Das Problem der Korruption ist an anderer Stelle zu lösen, und zwar unter anderem durch fundierten kritischen Journalismus, der solche Systeme hinter-fragt und objektiv bewertet.

Braucht es dazu neun ARD-Anstalten?Wir müssen immer über die Grenzen

des Notwendigen nachdenken. Einige Digitalkanäle wurden bereits zusammen-gefasst. Alles in allem ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk gut aufgestellt.

Ist er transparent genug?Der ZDF-Staatsvertrag enthält in der

neuen Fassung Regeln zur Transparenz. Künftig werden Aufwandsentschädigun-

gen, Sitzungsgelder, aber auch Gehälter von Intendanten und Direktoren nament-lich aufgeführt. Es soll eine Übersicht jährlicher Vergütungen und vertraglich vereinbarter Zusatzleistungen geben.

Sollte man die Überschüsse von 1,5 Milli-arden Euro den Zahlern zurückerstatten?

Wir hatten gerade eine Beitragssen-kung von 48 Cent. Wir wollen, dass es uns gelingt, den Beitrag bis 2020 stabil zu halten, dann schauen wir nach Spielräu-men. Auch die Frage der Werbung ist re-levant und muss dabei bewertet werden.

Wird es die völlige Werbefreiheit geben?Nein. Das würde die Anstalten

finanziell sehr schwächen. Aber es gibt den starken Wunsch vieler Minister-präsidentinnen und -präsidenten, den Umfang von Werbung und Sponsoring zu reduzieren. Die Rundfunkkommission wird darüber beraten.

Auch über den Internet-Jugendkanal?Das Jugendangebot wird kommen.

Die Ministerpräsidentenkonferenz wird es im Dezember förmlich beschließen. Die Kosten sind gedeckelt auf 45 Millionen Euro, es darf nicht zu einem finanziellen Mehrbedarf der Sender führen.

Was sagen Sie Menschen, die die Abgabe zahlen müssen, obwohl sie weder Fernse-hen noch Radio nutzen?

Es ist ein solidarischer Beitrag zu-gunsten unabhängiger Berichterstattung für alle Bürgerinnen und Bürger. Es gibt aber Ausnahmetatbestände, die es sozial schwächeren Menschen ermöglichen, eine Befreiung zu beantragen.

Der WDR-Programmbeirat nennt die Be-richterstattung zur Ukraine antirussisch.

Man erkennt daran, dass die Kon-trolle durch die Gremien funktioniert. Das ist gut. Der Programmdirektor muss sich an den Voten des Programmbeirats orientieren.

Oft orientieren Sender sich an der Quote.Die Quote zeigt, ob die Bürgerinnen

und Bürger das Programm akzeptieren. Sie darf aber nicht der alleinige Maßstab sein. Qualität und Quote schließen sich nicht aus. Ich stehe sehr hinter unserem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Na-türlich machen solche Verträge und die Höhe der Honorare ohne Gegenleistung wie im Fall von Thomas Gottschalk mehr als nachdenklich. Daher meine Forde-rung: Die Rundfunkanstalten müssen die Kontrolle durch die Gremien auch auf die Beteiligungsunternehmen ausdehnen.

„ DIE KONTROLLE AUSDEHNEN “

Malu Dreyer

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin ( SPD ) koordiniert die Medien-politik der Länder

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Die Lösung? Arbeitsteilung, Zusammenlegung, Zusammenarbeit. Die Chance, dass es dazu kommt? Leider gering. Denn Landessender, Landesfunkhäu-ser, Landesstudios sind herrliche Spielwiesen der Lan-despolitiker – die in Deutschland für Rundfunkpoli-tik zuständig sind.

11. VERKORKSTES GEBÜHRENSYSTEM

ARD und ZDF haben in den vergangenen Jahr-zehnten regelmäßig Gebührenerhöhungen bekommen. Dennoch sind alle regelmäßig unzufrieden: Die Sen-der, die Politiker, die Bürger.

Theoretisch sieht es folgendermaßen aus: Die KEF durchleuchtet den Bedarf der Sender und setzt die Ge-bührenhöhe fest. Anschließend müssen die Politiker in allen 16 Landtagen das absegnen. Als das Verfassungs-gericht die KEF einschaltete, wollte es verhindern, dass die Politiker die Sender mit Geld für ihre Berichter-stattung belohnen oder bestrafen können.

Aber ganz so funktioniert das nicht: Seit 2013 gibt es statt der alten Gebühr die neue Haushaltsabgabe. Weil der Betrag von 17,98 Euro monatlich erst einmal nicht gesenkt wurde, sprudelt seitdem das Geld. Die Überschüsse landen zwar nicht bei den Sendern, son-dern auf Sperrkonten. Aber als es um die Verwendung des Geldes ging, setzten sich die Politiker wieder ein-mal über die KEF hinweg – die wollte die Gebühr um 0,73 Euro senken, die Politiker kappten sie nur um 0,48 Euro. Lieber ein schönes Polster bilden, das man, je nach politischer Vorliebe, später an diesen oder je-nen ausschütten kann. Experten haben schon vor Jah-ren vorgeschlagen, die Gebühr an einen festen Index

zu binden. Am klügsten wäre es, den Anstalten eine langfristigere Perspektive zu geben. So, wie sie die BBC bekommt, die zehn Jahre Ruhe hat, wenn das Par-lament die sogenannte Royal Charter beschlossen hat.

12. SENDEN OHNE ZIEL

1986 hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil gesprochen, dessen Kernsätze mancher Intendant aus-wendig aufsagen kann – sie sind bis heute die Über-lebensgarantie für ARD und ZDF. Die Richter haben damals ein Wort erfunden: Grundversorgungsauftrag. Die Richter wollten die Sender damit nicht auf Basis-versorgung beschränken, sondern ihnen Freiheit ge-ben, alle Arten von Programmen anzubieten, weil – das war ihr Argument – die Privaten keine Vielfalt bieten könnten.

Die Befürchtung, dass die Privaten wenig bie-ten, ist eingetreten. Funktioniert hat die Idee trotz-dem nicht. Denn ARD und ZDF haben das Urteil als Freibrief genommen, alles und jedes im Programm zu haben, anstatt sich auf bestimmte Fähigkeiten zu konzentrieren. „Vielfach verzetteln sich die Öffent-lich-Rechtlichen in ihren Programmangeboten“, stellt Ex-ZDF-Mann Brender fest. „Fokussierung wäre un-bedingt nötig“, verlangt Journalismusprofessor Lilien-thal. Hachmeister sagt: „In der Praxis ist der öffent-lich-rechtliche Rundfunk für nichts richtig da, solange er den Anspruch hat, für alles da zu sein.“

Man muss die Sender nicht auf Minderheitenpro-gramme für Bildungsbürger beschränken, das wäre das Aus für die Gebührenpflicht. Aber die Verantwortli-chen müssen sich doch überlegen, was ihre Sender am besten können – und was nicht.

Christian Herzog forscht an der Uni Lüneburg über die Strukturen des deutschen Gebührensystems. Er hat einen detaillierten Vergleich mit England und der BBC gezogen. „Die Deutschen lieben vielleicht ein-zelne Programme von ARD und ZDF, aber in Großbri-tannien ist die BBC als Institution viel stärker in den Herzen verankert“, stellt er fest.

Die BBC ist ungefähr alle zehn Jahre gezwungen, ihre Ziele neu zu definieren, wenn das Parlament die Royal Charter neu formuliert. Theoretisch könnte die Politik die BBC dann auch abschaffen. Der Prozess, hat Herzog beobachtet, führt dazu, dass sich die Verant-wortlichen detailliert und in einer offensiven öffent-lichen Debatte Gedanken machen, sowohl über ihre Programmstrategie als auch über die Digitalisierung.

„In Deutschland gibt es durch die Verfassungsgerichts-garantie eine systemimmanente Verankerung“, stellt er fest. „Deshalb können sich die Anstalten insgesamt passiver verhalten.“

Anders gesagt: Sie mauern sich ein.

ZÄHLBARES

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TITELDie Abzocker

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Der ARD-Talk am Sonntag gab einmal den Takt der Hauptstadtpolitik vor.

Heute spielt er für die politische Debatte der Republik praktisch keine Rolle mehr. Wie kommt das, und ist

Günther Jauch schuld daran?

Von CONSTANTIN MAGNISIllustrationen JAN ROBERT DÜNNWELLER

NACH DEM TATORT

STARB DIE TALKSHOW

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TITELDie Abzocker

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Dass es abwärtsgeht mit dem politischen Sonntag der ARD, hätte man ahnen kön-nen, als am 23. Juni 2006 um 13.43 Uhr eine Eilmeldung der Nachrichtenagentur AP das Land aus seiner WM-Stimmung

reißt: +++ Sabine Christiansen hört auf +++ Günther Jauch übernimmt im Herbst.

Jauch, das ist Teil der folgenden Tragödie, über-nahm dann zwar gar nicht im Herbst, aber an die-sem Freitag 2006 ist die Republik in heller Aufregung.

„Paukenschlag im Sommerloch“, textet dpa. Abends richtet sich der frisch gekürte Prinzregent des Polit-talks in der „Tagesschau“ ans Volk: Seine neue Sen-dezeit sonntags nach dem Tatort sei „mit Abstand der schönste Platz“ des deutschen Fernsehens.

Fast genau acht Jahre später, wieder freitags im Juni 2015, kündigt Jauch seinen Rückzug von diesem schönsten al-ler Plätze an. Aber diesmal schlägt niemand die Pauke, im Gegenteil: Zwischen Nachrufen auf Pierre Brice, Gregor Gysi und die Deut-sche-Bank-Chefs geht die Meldung beinahe unter, Fernsehkritiker kommentieren sie eher erleichtert.

Zwei Tage danach stolpert Jauch kurz vor Beginn seiner ARD-Sendung ins Studio als wäre nichts.

„N’Abend!“, flötet er und stürzt bei-nahe rückwärts über eine herange-rollte Kamera. Ups! So, noch mal abhusten, los geht’s. Er spult die Sendung mit einer routinierten Mischung aus simulierter Konzentration und kaschierter Lan-geweile ab.

DAS ERSTE WORT zum Ende der Talkshow fällt erst, als die Kameras wieder ausgeschaltet sind und er dem be-reits packenden Publikum noch kommende Sendeter-mine zuruft. „Nur, alles was im nächsten Jahr liegt, da kann ich Ihnen weniger Hoffnung machen“, sagt er und guckt erwartungsvoll. Stille im Studio, Räuspern. Kein bedauerndes Raunen, keine betroffenen Gesichter. Die Rentnerin aus Karlsruhe in der dritten Reihe guckt ih-ren Mann fragend an, der zuckt mit den Achseln.

Das entspricht in etwa der allgemeinen Reaktion der Deutschen. Die Trennung des größten TV-Stars vom wichtigsten Sendeplatz ist den meisten heute of-fenbar egal. Anne Will kann froh sein, keine großen Erwartungen mehr erfüllen zu müssen, wenn sie 2016 auf den Sendeplatz am Sonntag zurückkehrt. Doch wie erklärt sich das? Was ist in den vergangenen acht Jah-ren mit Jauch und der Relevanz des politischen Sonn-tagabends passiert?

Passiert ist die Geschichte der über Jahre angebahn-ten und doch gescheiterten Verbindung zwischen Jauch

und der ARD, die kurz aussah wie eine Liebesheirat. Vielleicht beginnt sie schon mit der hohen Latte, die Jauchs Vater, Dr. phil. Ernst-Alfred Jauch, seinem Sohn legt. Der Weltkriegsveteran, enger Freund von Heinz Bello, den die Nazis als Widerständler ermordeten, ist Kontaktmann zur polnischen Opposition im Kommu-nismus, als Journalist leitet er die Nachrichtenagentur KNA in Westberlin. Er ist der Inbegriff der Seriosität.

Sein Sohn Günther dagegen macht Abitur mit 3,1, bricht zwei Studiengänge ab und wird Unterhalter. Nach dem Tod des Vaters 1991 findet Jauch einen Brief von ihm: „Was Günther macht, verstehe ich zwar nicht, aber es wird wohl gut bezahlt. Kein Mensch weiß, warum.“

Es ist nicht so, als hätte Günther es nicht ver-sucht, mit dem sogenannten seriösen Journalismus. In den Achtzigern wird er beim ZDF als Moderator des

„heute-journal“ gehandelt. „Un-heimlich gerne“ hätte er das ge-macht. Die CSU setzt stattdessen Sigmund Gottlieb durch. In den Neunzigern ist er als Mann für den „Bericht aus Bonn“ im Ge-spräch. Die ARD-Gremien lehnen ihn als Anfänger ab. Bei RTL, wo er lange auf eine politische Talk-show gehofft und sogar eigene For-mate angeboten haben soll, hält man ihn klein, als Quotenkuh mit

„Stern TV“ und „Wer wird Millio-när“. Jauch hat Hunger.

Die ARD hat in den Neunzigern das exakt umge-kehrte Problem: Sie ist zwar seriös an der Grenze zur Vertrocknung, die Quote ernten aber zunehmend Pri-vatsender. Besonders irritiert ist man davon, dass Sat 1 inzwischen Erfolg nicht mehr primär mit Sex, sondern einer Politsendung am Sonntagabend hat: „Talk im Turm“ mit Erich Böhme.

Zum Umzug der Regierung nach Berlin will ARD-Programmchef Günter Struve den Sonntag gegen Böhme verteidigen. Die Primetime nach dem „Tatort“ wird für eine eigene Talkshow freigeräumt. Struve besetzt den neuen TV-Thron – gegen interne Wider-stände – 1998 mit der „Tagesthemen“-Moderatorin Sa-bine Christiansen.

ANFANGS GEHT CHRISTIANSEN fast unter, trotz eige-nem Studio und erfahrener Redaktion. Man will sie vom Sendeplatz drängen, Kritiker überbieten sich in Häme über die intellektuelle Überforderung der Ex-Stewardess, Rundfunkräte stänkern gegen das politi-sche Leichtgewicht, die Berliner Zigarrenriege witzelt über die „Sendung mit der Maus“.

„Der kleine Elefant in mir“, erklärt Christian-sen tapfer, werde jetzt „durchmarschieren“. Sie schleift ihre Talkshow, zuerst noch offen für bunte

Kritiker über-bieten sich in

Häme über die intellektuelle

Überforderung

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Gesellschaftsthemen, konsequent auf ein hartes Po-litformat. Paradoxerweise gelingt es ihr gleichzeitig, sich als First Lady der neuen Berliner Gesellschaft zu etablieren und so der Debatte Glamour zu verleihen.

„Nach etwa einem Jahr hatte die Politik entdeckt, dass man bei Christiansen Botschaften an ein Milli-onenpublikum loswerden konnte“, erinnert sich PR-Stratege Klaus-Peter Schmidt-Deguelle, der sie damals beriet. „Das war der Durchbruch.“

„Es war das erste Mal, dass Spitzenpolitiker ein Gesicht bekamen“, sagt Lars Kühn, damals SPD-Par-teisprecher. „Die Leute standen fast schon Schlange vor meiner Türe und sagten: Ich will zu Christiansen.“

Tatsächlich gibt der ARD-Sonntagabend bald die Nachrichtenlage der Woche vor. Es ist eine hochpoli-tische Zeit: Rot-Grün samt Debatten um Atomausstieg und doppelte Staatsbürgerschaft, die CDU-Spendenaf-färe, der Kosovokrieg , der 11. September. Presseagen-turen platzieren Redakteure in der Sendung, O-Töne werden montags in den Parteipräsidien diskutiert. Die Bundesregierung koordiniert Christiansen-Auftritte mit Excel-Tabellen und Schaltkonferenzen. Schließlich bi-lanziert 2003 Friedrich Merz: „Diese Sendung bestimmt die politische Agenda mehr als der Bundestag.“

Doch Christiansens Gewässer sind bald über-fischt. Sandra Maischberger und Maybrit Illner werfen

inzwischen Netze nach denselben Gästen, mit der Gro-ßen Koalition steigt die Politikmüdigkeit, gleichzeitig sinkt sowohl die politische Bereitschaft zum öffentli-chen Zoff als auch Christiansens Quote, von fünf Mil-lionen 2002 auf fast drei Millionen 2005. Nach neun Jahren auf Sendung war es für die „Queen Blabla“ (Spiegel) an der Zeit abzudanken.

DER FLIRT ZWISCHEN Jauch und der ARD hatte mit ei-ner Zufallsbegegnung zwischen dem Moderator und den damaligen Intendanten Fritz Pleitgen (WDR) und Jobst Plog (NDR) begonnen. Man witzelte darüber, ob Jauch nicht ins seriöse Fach wechseln wolle. Jauch, erzählt ein Bekannter von ihm, sah darin endlich die Chance, die Rolle des Unterhaltungsclowns gegen die eines Politi-kjournalisten einzutauschen. An der Spitze der ARD hoffte man ironischerweise, die versauerten Quoten mit dem Superunterhalter zu retten, „notfalls auf Kos-ten des politischen Formats“, wie ein Beteiligter sagt.

So werden daraus schnell Verhandlungen zur Nachfolge Christiansens. Man trifft sich in Jauchs Haus in Potsdam, dreht auf dem Heiligen See Run-den mit dem Boot. „Jauch war ein Superstar mit Er-fahrungen in vielen Formaten“, sagt Jobst Plog. „Wir trauten ihm zu, davon etwas Zusätzliches in das Talk-format einzubringen.“

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Begeistert ruft man Jauch an jenem Freitag im Juni 2006 ohne fertige Verträge zum neuen Talkfürsten aus. Das war, wie sich herausstellt, ein Fehler. In den kom-menden Monaten hagelt es so lange Nachforderungen und Indiskretionen aus den Rundfunkanstalten, bis Jauch sich gekränkt zurückzieht. „Das Thema ist ab-gehakt“, erklärt er. War es natürlich nicht.

Anne Will, die Christiansen 2007 stattdessen ab-löst, versucht es wieder mit harten, politischen The-men, verfehlt damit aber die vertraglich vereinbarte Mindestquote. „Mit reinem Journalismus haben wir Nachrichten, aber keine Zuschauer generiert“, heißt es aus der Redaktion. Also mehr Gesellschaftsthe-men. Christiansen hatte als Mittelpunkt der Haupt-stadtschickeria noch oft persönlich eingeladen; wen sie rief, der sprang meistens. Bei Will dagegen, die nicht Gastgeberin der Eliten, sondern Vertreterin des Bürgers sein will, sammeln die Redakteure. „Pro Sendung rufst du 50 Leute an, 45 sagen ab, fünf musst du zwingen“, sagt einer von ihnen. Macht sieht anders aus.

Will bereitet sich auf jede Sen-dung vor wie auf Examen, büffelt tagelang, schreibt Skripte selbst. Die Quote steigt stetig, und 2010, als „Anne Will“ wieder mal zur beliebtesten deutschen Talkshow gewählt wird, erfährt sie aus den Nachrichten, dass sie den Sendeplatz zum Jahresende für Jauch zu räumen hat.

In Wahrheit waren nämlich weder Jauch noch die ARD über die geplatzte Verlobung hinweggekommen. Jauch sprach, nachdem er die Gremien als „Profilneu-rotiker“, „Irrlichter“ und „Gremlins“ beschimpft hatte, von seinem „traurigen Gemütszustand“ und erklärt schließlich, er habe die „eigene Sehnsucht, so eine Sen-dung zu machen, unterschätzt“.

DIE NEUE ARD-FÜHRUNG ist unter NDR-Intendant Lutz Marmor – nach diversen gefloppten Formaten und dem Verlust von Oliver Pocher und Jörg Pilawa – starbedürftiger und damit anspruchsloser denn je. „Sie haben Jauch aus der Hand gefressen“, sagt ein Ken-ner der ARD.

Jauch greift sich das Artischockenherz der Sen-deplätze und bekommt maximale Freiheiten für die Produktion seines lang ersehnten Polittalks. Die ARD soll im Jahr fast elf Millionen Euro dafür zah-len, krempelt für Jauch fast ihr komplettes Abend-programm um und nennt es „Strukturreform“. Will wird von Sonntag auf Mittwoch geschoben, Plasberg von Mittwoch auf Montag, Beckmann von Montag auf Donnerstag. Die Talkshow-Inflation, fünf Tage

hintereinander. „Absurd“ findet das Bundestagsprä-sident Norbert Lammert.

Die ARD bekommt, was sie verlangt hat: Quote. Jauch holt 2014 am Sonntagabend 16,2 Prozent Markt-anteil, Anne Will schaffte es 2010 auf 14,5, Christi-ansen lag zum Schluss bei gerade mal 12,9. Die Kos-ten trägt die Debattenkultur am Sonntag. „Für den Takt der Hauptstadtpolitik spielt Jauch so gut wie keine Rolle mehr“, sagt PR-Experte Schmidt-Degu-elle. Zum einen, weil in der zersplitterten Medien-landschaft 2015 selbst große Talkshows nur noch Ni-schenprodukte sind.

DER ANDERE, GRÖSSERE TEIL hat mit Jauch selbst zu tun. Der Programmbeirat der ARD findet schon 2012 in einer internen Auswertung aller Talkshows, Jauch

sei „der einzige Moderator“, den man „deutlich kritisieren“ müsse. Er hake nicht nach, ignoriere Ant-worten, polarisiere, schüre mit sei-nen „Suggestivfragen teilweise Po-litikverdrossenheit“ und komme seiner „Verpflichtung zur jour-nalistischen Sorgfalt nicht nach“. Jauch nehme „dem politischen Talk am Sonntag die Würze“, seine Sendung sei „eher Show als Talk“.

Nicht, dass die ARD daraus den Schluss gezogen hätte, irgend-etwas verändern zu müssen. Allein

2014 haben weder Plasberg noch Illner oder Will ei-nen so geringen Anteil an politischen Themen und Gäs-ten wie Jauch.

„Christiansen war noch Pflicht, Jauch ist es längst nicht mehr“, sagt der Pressesprecher einer Bundes-tagsfraktion. Fünf Mal saß sein Chef im letzten Jahr in Talkshows, davon kein Mal bei Jauch. Da schickt der Sprecher seine Leute ungern hin. Sie kommen dort, sagt er, nicht aus der Defensive, weil Jauch nichts mit Gegenargumenten anfangen könne. „Er steckt nicht drin, versteht Politik nicht, er hört gar nicht wirklich zu, sondern arbeitet einfach nur seine Karten ab.“

Jauch googelt mehrmals wöchentlich seinen Na-men, erzählte er einmal. Das kann zuletzt nur schreck-lich gewesen sein. Keinen Moderator lieben die Deut-schen so wie ihn, behaupten seit Jahren die Umfragen. Keine Talkshow verbockt es so wie seine, behauptet seit Monaten das Feuilleton. Offenbar hat Jauch inzwi-schen selbst gemerkt, dass da etwas faul ist.

CONSTANTIN MAGNIS ist Cicero-Chefreporter. Die Recherche drehte sich eigentlich über Monate darum, ob Jauch richtig bei der ARD sei. Dann erklärte der seinen Rückzug

Christiansen war noch

Pflicht, Jauch ist es längst nicht mehr

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BERLINER REPUBLIK

Jens Spahn, Mitglied des CDU-Präsidiums und der schwarz-grünen Pasta-Connection, Report Seite 50

„ Schwarz-Grün muss für die CDU künftig die

zweite Option sein, denn eine Große Koalition als Dauerzustand wäre für

das politische Klima eine Katastrophe “

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D ie Frau, die zwischen ihm und sei-nem sehnlichsten Wunsch steht, ist immer noch da. Natürlich ging

das Leben nach dem Zusammentreffen mit ihr weiter, gut lief es daheim und beruflich auch. „Ich habe kein schlech-tes Leben“, sagt er. Aber der Wunsch ist nicht kleiner geworden, er ist jetzt 37, und zu alt, findet er, dürfen Eltern auch nicht sein. Er wollte immer Kinder.

Und wenn Patrick Pronk wie jetzt den Passat den Weg zum Haus hin steu-ert, auf das Grundstück mit Kiefern, Lor-beerkirsche und violett blühendem Flie-der, dann denkt man: Es ist alles da. Die große Liebe, die Freunde, die Verwandten, die Nachbarn mit ihren Kindern. Haus, Auto und Rocco, der Hund. Aber genau wie vor knapp zwei Jahren sitzt in Berlin die Frau, die Nein sagt: Angela Merkel. Er hat sie ja damals gefragt, warum, und sie hat keine Gründe genannt, obwohl er dreimal nachgehakt hat. Sie hat nur ge-sagt, dass sie sich schwertue, dass sie nicht sicher sei. Weil er die Kanzlerin so gegrillt hat, ist er danach sogar gefeiert worden in den Medien. Als wäre er der Gewinner.

Ist er nicht. Auch jetzt nicht, nachdem 62 Prozent

der Iren dafür gestimmt haben, dass ein Mann einen Mann heiraten darf und eine Frau eine Frau. Wäre das in Deutschland so, könnten Patrick Pronk aus Worps-wede bei Bremen und sein Partner Kai gemeinsam ein Kind adoptieren. Tut sich jetzt was? „Ich bin skeptisch“, sagt er. Al-lerdings ist die deutsche Debatte wieder in Schwung gekommen. SPD, Grüne und Linke fordern lautstark, die Ehe zu öff-nen. In der Union wird gestritten. Just an diesem diesigen Junitag, als Pronk einen in sein Haus in Worpswede führt, sagt Jens Spahn, Mitglied des CDU-Präsidi-ums, in der Welt, dass die Schwulen und Lesben doch genau das möchten, was der

Union wichtig ist: die Ehe, eine „urkon-servative Institution“.

Pronk lebt ziemlich bürgerlich. Ma-nager in einer Firma für Personaldienst-leistungen, sein Partner ist Lehrer für Deutsch und Politik. Sie sind seit 2004 zu-sammen, seit 2013 als Lebenspartner ein-getragen. „Ich kann nachvollziehen, dass Leute es für komisch halten, wenn andere nackt mit Perücke auf die Straße gehen“, sagt er. Im Wohnzimmer liegt ein Stapel mit Inneneinrichtungszeitschriften, Fami-lienfotos hängen an der Wand, die zwei essen gern Bratkartoffeln und Spaghetti Bolognese. Man könnte sagen: Sie sind Mainstream. Sie sind so Mitte wie Merkel.

Vielleicht sah sie ja deshalb so alt aus damals, 2013 im Fernsehen, als Pronk die Zuschauerfrage stellte, warum er keine Kinder adoptieren dürfe. Auf Ter-rain, auf dem Merkel so sicher ist, tappte sie auf eine unebene Stelle – und strau-chelte. Für Berlins Merkologen wurde es die Episode mit dem „Bauchgefühl“, weil sie keine Argumente nannte. Das Wort hat nicht sie gesagt, sondern der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbands in ei-ner Pressemitteilung. Aber es klebt an ihr wie Heftpflaster, auch weil es so schön im Gegensatz zur Berufslogikerin steht.

UM ZU AKZEPTIEREN, wer er ist, brauchte Patrick Pronk die Frauen. Nicht seine erste Freundin am Ende der Schulzeit, auch nicht die Frau, in die er verliebt war, als er für British Airways arbeitete. Mit Mitte zwanzig sprach er mit zwei sehr guten Freundinnen. Es ging ungefähr da-rum, dass mit dem Sex nicht so viel los war, dass er beim Tennis eher nach den Jungs geschaut hatte. Die Freundinnen er-mutigten ihn. Über das Internet lernte er seinen ersten Freund kennen. Der zweite war Kai. Pronk brauchte eine Weile, bis er es seiner Mutter sagte. „Ich hatte Angst,

ihre Enttäuschung zu sehen, dass sie keine Enkel bekommt.“ Sie hat ihn umarmt. Mit Kai zog er nach Worpswede. In dem Ort verliebte sich einst Rilke, gerade zeigt eine Galerie Aquarelle von Sarah Kirsch, und der Sänger von Revolverheld kommt auch von hier. Aus dem Haus, das Patrick und Kai kauften, war eine Familie ausgezogen, nachdem die Ehe zerbrochen war.

Lesbische Paare können nach einer Samenspende ein Kind bekommen, das die eine Mutter zur Welt bringt und die andere später adoptiert. Schwule könnten ein Kind adoptieren, das Waise ist oder aus einem anderen Grund nicht bei den El-tern sein kann. Für so eine Adoption for-dern die Behörden stabile Verhältnisse, im Grunde solche wie die von Patrick Pronk. Aber es braucht Mann und Frau. Dass ein Mann allein ein Kind adoptiert? Keine Chance. Und wenn: „Wie sollen wir ent-scheiden, wer von uns es adoptiert?“

Er hat einen Patensohn, Kais Neffe. Aber das ist etwas anderes, als ein Le-ben dem eigenen Kind zu widmen und als Familie glücklich zu werden. Den Wunsch dazu hat er schon als Jugendli-cher gespürt. Es ist ein starkes Bauchge-fühl. Deshalb kämpft er, gibt Interviews, lässt sich hier porträtieren.

Im Fernsehstudio war er überrascht, dass Merkel keine der üblichen Floskeln brachte: Wurde doch viel erreicht. Kind braucht Vater und Mutter. Mann und Frau – die Keimzelle der Gesellschaft. Vielleicht hat sie auch nicht argumen-tiert, weil es ihr allein ums Kalkül geht, um den Kontakt ihrer Mitte zum Rand. Der Vorteil wäre, dass sie doch noch Ja sagen kann: Nun bin ich nicht mehr unsi-cher. „Die Zeit läuft“, sagt Patrick Pronk.

ER KÄMPFT UM MERKELS JA-WORTPatrick Pronk will seinen Lebenspartner heiraten. Und sie möchten ein Kind adoptieren. Doch dagegen steht die Kanzlerin, die er einst im Fernsehen ziemlich alt aussehen ließ

Von GEORG LÖWISCH

GEORG LÖWISCH ist Textchef von Cicero. Als Vater kann er Patrick Pronks Kinderwunsch sehr gut nachvollziehen

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BERLINER REPUBLIKPorträt

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A ls Judith Skudelny auf dem vor-läufigen Höhepunkt ihrer politi-schen Karriere ist, wird sie von ei-

ner Saaldienerin gestoppt. Man schreibt das Jahr 2009, die junge Frau ist FDP-Bundestagsabgeordnete und muss in den Plenarsaal. Das Problem: Sie hat ihre vier Monate alte Tochter dabei. „Das Baby ist kein ordentlich gewähltes Mitglied des Hauses“, sagt die Saaldienerin. Guido Westerwelle schaltet sich ein. Er habe hier ja wohl auch etwas zu sagen. Das Baby kommt mit! Die Bilder gehen um die Welt. So etwas gab es noch nie. „Das ist doch kein Zirkus hier“, entfährt es einem Abgeordneten, als er den Säugling sieht.

Fünf Jahre später sitzt Skudelny, 39, in ihrem Stuttgarter Anwaltsbüro und er-zählt von dem Ereignis. Heute ist sie Ge-neralsekretärin der FDP in Baden-Würt-temberg, sie ist eine Hoffnungsträgerin. Denn die Hoffnung der FDP ist weiblich.

Die Geschichte mit Westerwelle und dem Baby scheint eine Ewigkeit her zu sein. Heute dürfen ja nicht mal mehr die erwachsenen FDP-Mitglieder in den Ple-narsaal. Nach dem Wahlsieg hatte sich die Partei das Image erarbeitet, kalt und chauvinistisch zu sein. Es gab einen Se-xismus-Skandal. Die FDP-Frau Silvana Koch-Mehrin bescheinigte den Liberalen ein Frauenproblem. 2013 flog die Partei aus dem Bundestag. Bekannte Männerge-sichter verschwanden, Häme und Trostlo-sigkeit folgten, Seilschaften rissen.

Gefühlt änderte sich das Schicksal der FDP erst im Januar, als die „Tages-schau“ Katja Sudings Beine zeigte. Wäh-rend sich die einen über den schwitzigen Schwenk empörten, freute sich Suding über die Aufmerksamkeit. Die Hambur-ger FDP-Spitzenkandidatin, von älteren Parteikollegen auch „Eye-Catcher“ ge-nannt, fuhr ein gutes Wahlergebnis ein. Lencke Steiner (Selbstbeschreibung:

„kompetent, hübsch“) punktete für die FDP in Bremen. Mit Nicola Beer, die Par-teichef Christian Lindner zu seiner Gene-ralsekretärin gemacht hat, posierte das Trio als „Drei Engel für Lindner“ in der Gala. „FDP tauscht gesamtes Spitzen-personal gegen attraktive Frauen aus“, schrieb die Satire-Website Der Postillon. Paradox: Ausgerechnet die FDP, die stets gegen eine Frauenquote war, hat jetzt mit einer Art Frauenquote Erfolg.

IN BADEN-WÜRTTEMBERG wird nächstes Frühjahr gewählt. Der Spitzenkandidat ist ein Mann. Aber auch im Südwesten haben sie eine Frau in die Führung geho-ben – Skudelny. „Ich wollte das Amt erst nicht“, sagt sie. Doch sie ist mit der FDP aufgewachsen. Als Zwölfjährige verteilte sie Flugblätter am FDP-Stand. Dafür be-kam sie Taschengeld vom Vater, einem Physiker und Lokalpolitiker. Als sie äl-ter war, nahm er sie zu FDP-Treffen mit. So rutschte sie rein in die Politik. Über-nahm ein Amt. Und noch eins.

2009. Skudelny kandidiert für den Bundestag. Ein Einzug gilt als unwahr-scheinlich. Gegen 21 Uhr ruft die Lan-desvorsitzende an. Sie gratuliert Sku-delny und bestellt sie für den nächsten Tag, 11 Uhr, nach Berlin ein. Ungläubig ruft Skudelny einen Kollegen an. „Ver-arscht die mich?“, fragt sie. Am nächsten Morgen sitzt sie im Flugzeug, mit ihrem Baby und einem Satz Windeln.

Die Presse stürzt sich auf sie. Die Kanzlerin macht Gutschi-Gutschi. Sie gilt jetzt als Exotin, obwohl sie eigentlich nur eine junge Mutter ist. Skudelny interes-siert sich für Familienpolitik, aber weil sie aus dieser Ecke nie wieder rauskommen würde, wählt sie das Thema Umwelt. Ihr Mann und ihr dreijähriger Sohn bleiben in Stuttgart. Auf einem Abendempfang übergibt sich das Baby auf ihren Anzug,

sie meidet danach solche Termine. 2013 schafft Skudelny bei der Bundestagswahl das fünftbeste Ergebnis der FDP, wie sie erzählt. Doch es reicht nicht. Sie muss in die Heimat zurück. Die Richter fragen die Anwältin, ob sie jetzt länger bleibe.

Skudelny ist – das passt schon auch zur Lage der Partei – Insolvenzverwal-terin. „Ich kenne wohl mehr Hartz-IV-Empfänger als die ganze Linksfraktion zusammen“, sagt sie. Die Betroffenen be-sucht sie zu Hause, ihre Schicksale sam-melt sie in einer Kladde. „Der hier ist ein Idiot, er hat nicht nur sich, sondern auch seine Familie ruiniert“, sagt sie und tippt auf einen Namen. Scheidung, Al-koholismus, Krebs – all die Wörter blit-zen auf, als sie die Seiten durchblättert. Habe jemand ein schweres Schicksal, sei sie geduldiger. „Ein Rettungsanker bin ich aber nicht.“

Es ist Sonntag, sie hat noch einen Ter-min. Im Konferenzraum der Kanzlei ver-sammeln sich die Liberalen Frauen, de-ren Landesvorsitzende sie ist. „Warst du beim Frisör?“, fragt Skudelny eine Kolle-gin. „Sieht schön aus.“ Dann geht es um die Strategie. Wer steht im Gegenfeuer? Wer braucht Unterstützung? Skudelny re-det schnell, lacht viel. Die Kommunika-tion der FDP sei weiblicher, emotiona-ler geworden, sagt sie später. Eine strikte Frauenquote lehnt sie ab, sie selbst geht Genderfragen spielerisch an. Ein Beleg ist ihr Büro. Männliche Praktikanten hät-ten sich dort immer in ihrer Abwesenheit reingesetzt. „Die Kaffeetassen ließen sie stehen.“ Skudelny überlegte, wie sie ih-ren Arbeitsplatz möglichst unattraktiv für Männer gestalten könnte. Sie rich-tete ihn lila ein.

DIE HOFFNUNG IST WEIBLICHMit Baby kam sie in den Bundestag. Nun arbeitet Judith Skudelny an der Wiedergeburt der FDP im Südwesten. Ausgerechnet ihre Partei hat mit einer Art Frauenquote Erfolg

Von MERLE SCHMALENBACH

MERLE SCHMALENBACH, freie Reporterin in Berlin, schreibt regelmäßig politische Porträts für Cicero

38Cicero – 7. 2015

BERLINER REPUBLIKPorträt

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D rei Ordnungsrufe hat Björn Höcke in seiner kurzen Zeit als Politiker bereits abbekommen. „Halten Sie

doch mal Ihre Klappe“, rief er einer Par-lamentskollegin im Landtag von Thürin-gen zu; Demonstranten nannte er eine

„Spontanzusammenrottung von links-gerichteten Politikrowdys“. Den dritten Ordnungsruf wegen Verstoßes gegen die parlamentarischen Benimmregeln erhielt der Vorsitzende der AfD-Fraktion für den Ausspruch „linke Kasper“.

Unter AfD-Anhängern sind die You-tube-Videos mit Höckes Wutausbrüchen ein Renner. Sie mehren seinen Ruhm als Rebell gegen die „Herrschaft der politi-schen Korrektheit“. Aber irgendwie sind ihm diese Ordnungsrufe zugleich pein-lich. Sie passen nicht zu einem Mann, der preußische Tugenden wie Fleiß oder Dis-ziplin predigt und sich gerne mit einer in-tellektuellen Aura umgäbe.

„Ich bin kein Krawallbruder“, beteu-ert Höcke. Lieber würde er über Nietz-sche und Schopenhauer reden, Philo-sophen, die ihn geprägt haben. Über Marx und Sartre. Oder über Otto von Bismarck – er sei ein „großer Bewunde-rer“. Ein Schwarz-Weiß-Druck des ers-ten Reichskanzlers hängt in seinem Büro.

Höcke ist ein Eurokrisengewin-ner. Als sich die AfD 2013 in Thüringen gründete, wurde er Landesvorsitzender. Er räumte in dem zerstrittenen Verband auf und startete eine dieser zufälligen Karrieren, die es nur in neuen Parteien gibt. Aufgewachsen ist Höcke im Wes-terwald. Sein Vater war Sonderschulleh-rer, seine Mutter Krankenschwester. Der 43 Jahre alte Vater von vier Kindern stu-dierte erst in Bonn zwei Semester Jura, fühlte sich aber unter den „spießigen Ar-mani-Studenten“ nicht wohl. Er wechselt nach Gießen und Marburg, studiert Sport und Geschichte, wird Gymnasiallehrer.

Noch im Sommer 2014 unterrichtet Björn Höcke an einer Gesamtschule im hessischen Bad Sooden-Allendorf. Und bevor jemand so recht weiß, wofür Hö-cke eigentlich steht, sitzt er schon in einer Talkshow. Was ihn nicht davon abhält, weiter über „Sprech- und Denkverbote“ in der Gesellschaft herzuziehen. Die Op-ferrolle kommt an. Mit 10,6 Prozent zieht die AfD im September 2014 in den Land-tag von Thüringen ein. Und noch bevor er sich dort seinen ersten Ordnungs-ruf einhandelt, kungelt Höcke bereits mit der CDU, um die Wahl des „kom-munistischen Ministerpräsidenten“ Ra-melow zu verhindern. Ganz so, als habe er nie über das „Altparteienkartell“ ge-schimpft, sondern sei bei deren Ränke-spielen schon immer dabei gewesen. Au-ßer politischer Folklore jedoch hat Höcke bislang wenig zu den Debatten im Land-tag beigetragen. Zu sehr beschäftigen ihn die innerparteilichen Querelen.

HÖCKE IST EIN GRENZGÄNGER. Er will das Asylrecht erhalten, aber Europa zur Festung ausbauen. Moscheen gehören für ihn zur freien Religionsausübung, zu-gleich nennt er Minarette ein „Symbol der Landnahme“. Angesichts des „Gen-der-Totalitarismus“ kämpft er für die

„natürliche Geschlechterordnung“. Die AfD ist für ihn eine „Widerstandsbewe-gung gegen die Aushöhlung der Identität Deutschlands“. „Völkisches Gedanken-gut“ wirft ihm wegen solcher Parolen nicht nur die Antifa vor, sondern auch sein Parteifreund und Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel. In die Nähe der NPD rückt ihn Parteichef Bernd Lucke. Er hat Höcke deshalb zum Parteiaustritt aufgefordert.

Höcke polarisiert. Anhand seiner Person wird in der AfD darüber gestrit-ten, wie weit diese sich für Systemkritik öffnet. Lucke will eine AfD ohne Höcke,

er will keinen „rechten Flatterrand“. Lu-ckes Widersacherin Frauke Petry zieht die rote Linie anders. Auch sie sagt, Hö-cke habe „Grenzen überschritten“, zwei-felt an dessen Urteilskraft, plädiert aber für Bewährung. Auf dem Parteitag im Juli in Essen kommt es zum Showdown.

In seinem Büro im Landtag be-schwichtigt Höcke. Er sei „kein völki-scher Nationalist, sondern Patriot“. Die Attacken der Linken bestärken ihn in seinem dichotomischen Weltbild. Deren

„Hedonismus, Egoismus, Nazismus“ will er „zugunsten der Gemeinschaft überwin-den“. Aber die „Intrigen und Machtspiele“ in der AfD hätten ihn getroffen, sagt er.

„Sprachlos“ sei er angesichts der „Spal-tungsversuche“ führender Politiker seiner Partei. Schon sein Vater habe gesagt, Par-teien seien Schlangengruben. „Auch die AfD ist eine Partei“, ergänzt Höcke nun. Dabei schaden ihm die Angriffe nicht. An der Basis erhält er Zuspruch, seine „Er-furter Resolution“ haben rund 2000 AfD-Mitglieder unterschrieben.

Nicht zufällig jedoch klingt Höcke mal wie Thilo Sarrazin und mal wie Ernst Jünger, der Vordenker der konservativen Revolution. Bevor es ihn in die Politik zog, tummelte er sich in elitären Ideolo-giezirkeln, interessierte sich für die The-orien der Neuen Rechten. Auch wenn für ihn Politik seinem Vorbild Bismarck fol-gend „die Kunst des Machbaren im Rah-men des Möglichen“ bleibt, will er „ra-dikal“ denken dürfen. Als freilich drei Thüringer AfD-Abgeordnete sich ein paar eigene Gedanken machten, waren sie ihm zu widerspenstig. Er schloss die drei aus der Fraktion aus.

HERR LEHRER MACHT KRAWALLEr räsoniert gern über Bismarck, Nietzsche oder Marx. Doch zuweilen wird Björn Höcke grob. Der AfD-Politiker steht so weit rechts, dass Parteichef Lucke ihn loswerden will

Von CHRISTOPH SEILS

CHRISTOPH SEILS ist politischer Korrespon-dent von Cicero. Er hat am rechten Rand schon den Aufstieg und Fall der Republikaner sowie der Schill-Partei journalistisch begleitet

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BERLINER REPUBLIKPorträt

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In Skandalen um Polizei oder Geheim-dienste übernehmen häufig Ex-Polizisten die parlamentarische Aufklärung. Im Bundestag sitzen so viele Ex-Ermittler wie nie. Wer sind sie und was können sie ?

SOKO BERLIN

Von HARTMUT PALMER

Fotos THOMAS MEYER

Früher haben sie Verbrecher gejagt, ertappt und über-führt. Sie haben Tatorte ge-sichert, Zeugen vernommen und Alibis überprüft. Sie ha-ben drinnen auf der Wache

Protokolle getippt und draußen im Re-gen den Verkehr geregelt. Es war ihre Welt: Prominente schützen und Streit-hähne auseinanderzerren. Beschatten und befragen. Durchsuchen und verhaf-ten. Ziehen, zielen und – wenn nötig – auch schießen.

Sie waren die „Bullen“, die Staats-macht, die Exekutive. Sie wachten dar-über, dass Gesetze eingehalten werden. Jetzt machen sie selbst Gesetze, sind Teil der Legislative. Zwei, höchstens drei ehe-malige Polizisten zählte man früher in den Bonner Legislaturperioden. Jetzt ist ihre Zahl auf zehn gestiegen – so viele wie nie zuvor.

Sie werden auch dringend gebraucht und einschlägig beschäftigt. Im Innen-ausschuss landen die meisten sowieso, weil der für Polizei und Innere Sicher-heit zuständig ist.

Und in einer Zeit, in der das Ver-trauen in Polizei und Geheimdienste ramponiert ist, kommen sie immer

BERLINER REPUBLIKReportage

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SOKO BERLIN

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tschechischen Grenze, wo sich aller-lei Diebesbanden herumtreiben, die ge-stohlene Autos nach Rumänien schaffen. Damals hätte er sich „niemals träumen lassen“, dass er einmal den Präsidenten des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, als Zeugen in einem Untersuchungs-ausschuss vernehmen würde. Vor so je-mand hatte er mächtig Respekt. Als es dann so weit war, beschloss er, den frü-heren Beruf auszublenden: „Ich habe ihn nicht als Polizist vernommen, sondern als Abgeordneter.“

Armin Schuster, 64, musste sich auch erst freimachen von der hierarchischen Denkungsart, die er in Jahrzehnten als Polizist verinnerlicht hatte. Anfangs be-wegte sich der CDU-Abgeordnete vol-ler Ehrfurcht durchs Reichstagsgebäude. Der damalige Verkehrsminister Peter Ramsauer war für den ehemaligen Poli-zisten eine Respektsperson. „Und dann sagt der Minister plötzlich ‚Armin‘ zu mir.“ Inzwischen weiß er, „dass die Gro-ßen dieser Welt alle nur Menschen sind.“

An Schusters 28  Jahre als Polizei-beamter erinnert in seinem Bundestags-büro nur ein kleiner Teddybär mit Poli-zeimütze. Der drahtige Mann sitzt seit 2009 im Parlament. Vorher war er bei der Bundespolizei. Als er sich 2008 bei den CDU-Delegierten in seinem Wahl-kreis Lörrach-Mülheim um die Kandida-tur für den Bundestag bewarb, erwähnte er seinen Beruf mit keinem Wort. Und warum? „Weil es überhaupt nicht ankam. Das ist die alte CDU-Denke: Wir stellen da so einen schönen preußischen Offizier in Uniform hin und da werden die ihn schon wählen. Das stimmt nicht mehr. Wirkt eher schädigend.“

Schon kurios: Die Grüne und der Linke werben damit, dass sie früher einmal Polizeibeamte waren. Der CDU-Mann fürchtet, dass man ihn abstra-fen könnte, wenn er sich als Bulle outet. Auch der Sozialdemokrat möchte eigent-lich gar nicht als Polizist in Erscheinung treten.

Unter PR-Gesichtspunkten ist das nachvollziehbar: Bei der Polizei zu sein und gleichzeitig Mitglied von SPD oder Union – das ist nicht unbedingt etwas Besonderes. Aber Bulle und grün oder links – das macht schon eher neugierig.

häufiger in ihrer früheren Rolle als Auf-klärer und Ermittler zum Einsatz, weil sie in den Untersuchungsausschüssen sit-zen, in denen die Skandale aufgearbei-tet werden sollen: die NSU-Morde, die NSA-Überwachung, demnächst vielleicht die Umtriebe des BND. Im Fall des Kin-derporno-Guckers Sebastian Edathy, bei dem es um den Verrat von Ermittlungsge-heimnissen geht, sind sogar die Bericht-erstatter aller vier Fraktionen – der Linke Frank Tempel, die Grüne Irene Mihalic, der Sozialdemokrat Uli Grötsch und der Christdemokrat Armin Schuster – alles ehemalige Cops.

Es ist ein in der Geschichte des Deutschen Bundestags bisher einzigar-tiges Quartett. Politisch trennen die vier Abgeordneten Welten. Aber als Aufklä-rer und Ermittler agieren sie wie Pro-fis – nicht immer zum Vergnügen ihrer Fraktionsoberen.

F rank Tempel war Kripobeamter in Thüringen. Heute, mit 46 Jahren, gehört er im Bundestag der Links-

fraktion an. Er machte schon Schlagzei-len, als er eines Tages forderte, den An-bau und Konsum von Cannabis straffrei zu stellen. Gregor Gysi fand das nicht lus-tig. Aber Tempel setzte sich durch. Sein Vorschlag steht heute im Programm der Linkspartei. Er verweist gern auf seinen früheren Beruf. „Ich bin im Prinzip im-mer noch Polizist“, sagt er.

Irene Mihalic, 38, macht den alten Beruf sogar zu ihrem Markenzeichen. In ihrem Büro in Berlin hat die Grünen-Abgeordnete nicht nur zwei Teddybä-ren mit Polizeimütze und einen kleinen Streifenwagen. Lebensgroß steht hin-ter ihrem Schreibtisch auch eine Schau-fensterpuppe, die wie eine echte Polizis-tin aussieht, sodass man fast erschrickt, wenn man reinkommt. Mihalic hat der Puppe die Dienstkleidung angezogen, die sie früher selbst trug: Grüne Jacke, gel-bes Hemd, senfgelbe Hose, Schirmmütze.

„Die Uniform soll mich immer daran erin-nern, woher ich komme“, sagt sie.

Für den Sozialdemokraten Uli Grötsch, 39, war es dagegen wichtig, seine alte Rolle abzulegen. Er fuhr frü-her als Polizist Streife – zuletzt in sei-ner oberpfälzischen Heimat, nahe der

Die Grüne und der Linke wer-ben sogar da-mit, dass sie bei der Polizei waren

Frank Tempel, Linke

Früher Drogenfahnder in Thüringen. Im Parlament: Vizechef im Innenausschuss, Mitglied im Edathy-Untersuchungsausschuss

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vermitteln, das heißt: die Sichtweise der Polizei in die Grünen hineinzutragen und die der Grünen in die Polizei.“

Auch Frank Tempel wurde skep-tisch beäugt, als er als Polizist zu den Linken kam. Es war keines-

wegs selbstverständlich, dass einer wie er dort akzeptiert wurde. Aber er hat seinen Beruf nie versteckt, sondern den Partei-freunden erklärt, wie er als Polizist an Probleme herangeht.

Am 9. November 1989 stand Tem-pel  – damals gerade 20 und Offiziers-anwärter der DDR-Grenztruppen – am Brandenburger Tor. Er ahnte nicht, dass an diesem Tag die Mauer fallen und alle seine Zukunftspläne unter sich begraben würde. Aber er hat aus dem Zerfall der alten Autoritäten Konsequenzen für sich gezogen: „Ich lasse mir nie wieder von oben sagen: Das ist so und muss so sein.“

Er arbeitete als Suchtberater für Ju-gendliche, dann half er als Lkw-Fahrer mit, die ehemaligen Grenzanlagen in Thüringen abzuräumen, die er früher mit der Waffe hätte verteidigen sollen. Bei der Polizei bewarb er sich „weil ich et-was mit meinem Abitur anfangen wollte. Mein Traumberuf wurde das erst später.“

Geht das überhaupt, Bulle und grün? „Ja klar“, sagt Mihalic, „als ich anfing, mich für Politik zu interessieren, kam für mich keine andere Partei infrage.“

Als sie 1976 als Tochter einer Unga-rin und eines Kroaten in Waldbröl, gut 60 Kilometer östlich von Köln, geboren wurde, waren Polizisten das Feindbild von Gegnern der Atomkraft und der Ra-ketenrüstung. Sie fingen gerade erst an, aus der politischen Bewegung eine Par-tei zu formen. Die Bullen standen für das System, das sie bekämpften.

Kein Wunder, dass Mihalics Par-teifreunde sie früher gern anpflaumten, Polizisten seien doch sowieso Rassisten. Von den Polizeikollegen bekam sie zu hö-ren, warum sie sich ausgerechnet bei den Steinewerfern und Chaoten von einst en-gagiere. Sie hat sich Respekt auf beiden Seiten verschafft. „Ich versuche eben zu

Irene Mihalic, Grüne

Früher bei der Polizei in Köln. Im Parlament: Mitglied im Innen- und im Edathy-Aus-schuss. Im Bundestagsbüro hat sie: ihre alte Uniform, zwei Polizeibären und einen Spielzeugstreifenwagen

Der Ex-Polizist Schuster ging anfangs vol-ler Ehrfurcht durch den Reichstag

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um halb fünf ein nagelneuer 5er BMW an dir vorbeibraust mit einem jungen Kerl am Steuer, der da nicht hingehört, dann gibt man Gas und guckt sich den mal an.“ Sehr oft war es ein Autodieb.

Zur SPD kam er, weil ein Freund ihn 1994 einmal mit zu den Jusos nahm, dort fühlte er sich gut aufgenommen. Sein Va-ter war in der CSU, aber nicht in irgend-welchen Ämtern aktiv. Er selbst zählt sich in seiner Partei weder zum rechten noch zum linken Flügel. „Wenn Politiker so extrem sind, egal ob rechts oder links, dann gefällt mir das nicht“, sagt er.

Armin Schuster war wie Frank Tem-pel Grenzer – nur stand er auf der west-deutschen Seite, beim Bundesgrenz-schutz in Coburg. Politik faszinierte ihn schon, als er von 1984 bis 1989 Referent im Bonner Innenministerium war. Aber:

„Ich habe damals nicht im Traum daran gedacht, ich könnte mal selbst in die Po-litik gehen.“ 2008 war er Dienststellen-leiter bei der Bundespolizei in Weil am Rhein, gleich an der Grenze zur Schweiz, da suchte die örtliche CDU einen Bun-destagskandidaten. Schuster war Mit-glied der Union. „Es war eine Sturzge-burt. Ich habe selbst nicht geglaubt, dass es klappen würde.“

Mihalic, Tempel, Grötsch und Schus-ter – keiner hat jahrelang darauf hingear-beitet, in den Bundestag einzuziehen. Sie sind von der einen in die andere Welt um-gestiegen. Die Karrieren der vier klingen nicht spektakulär. Eher nach der hartnä-ckigen Ruhe, mit der ein Polizeibeamter durch den mühsamen Alltag kommt. So agieren sie auch im Parlament.

S chon in den ersten Wochen auf der Polizeischule wurden ihnen drei Worte eingetrichtert: Geeignet.

Erforderlich. Angemessen. Wenn du als Polizist oder Polizistin vor Ort eine Ent-scheidung treffen musst, so brachte man ihnen bei, musst du zuerst fragen, ob das, was du tun willst, „geeignet, erforderlich und angemessen“ ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Wenn es zum Beispiel gilt, einen von der Polizei verfolgten Ausbrecher zu fassen, der sich hinter ei-ner verschlossenen Kellertür versteckt: Ist das gewaltsame Aufbrechen der Tür

„geeignet“, den Täter zu fassen? Ist es

Er wurde Drogenfahnder. Wenn heute in seiner Fraktion oder im Innen-ausschuss über Drogen geredet wird, hört man ihm zu. „Ich kann die gleichen Ar-gumente zur Entkriminalisierung von Cannabis vortragen wie der Chef des deutschen Hanfverbands und dieselben Zahlen präsentieren wie er – man nimmt sie mir als Ex-Polizist eher ab.“

Als er 2009 für die Linke in den Bun-destag einzog, traf er im Innenausschuss die ehemaligen Polizeibeamten von CDU und SPD. „Die haben mich alle sehr schnell positiv aufgenommen. Und zwar als Polizisten, nicht als Linken.“

Uli Grötsch machte 1992 in Weiden/Oberpfalz die Mittlere Reife und ging dann zur Polizei. Von 1999 bis 2013 ar-beitete er als Schleierfahnder. Er fuhr mit seinem Auto durchs deutsch-tsche-chische Grenzgebiet. „Wenn da morgens

Ihre Karrieren klingen nach jener hartnä-ckigen Ruhe, die im Polizei-alltag hilft

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„erforderlich“, dazu das Schloss kaputt zu schießen? Und drittens: Ist der Schuss-waffengebrauch „angemessen“?

Diese drei Kriterien wenden sie auch in der Politik an – mit jeweils un-terschiedlichen Ergebnissen zwar, aber die bedächtige Systematik hebt sich vom oft eitlen Spektakel des Berliner Betriebs angenehm ab. Und es wäre falsch, die Bundestagsbullen für harmlos zu halten, vor allem wenn sie in der Disziplin arbei-ten, die sie gelernt haben: als Ermittler.

Als der Bundestag vor einem Jahr wegen der Affäre um den früheren SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy einen Untersuchungsausschuss einsetzte, wur-den Mihalic, Tempel, Grötsch und Schus-ter von ihren Fraktionen als Berichter-statter verpflichtet. Der Ausschuss sollte herausfinden, wer wann und wo den frü-heren SPD-Abgeordneten Sebastian Eda-thy darüber informierte, dass gegen ihn wegen des Verdachts ermittelt wurde, sich im Internet Kinderpornos besorgt zu haben. Wo waren die undichten Stellen?

Normalerweise haben in Untersu-chungsausschüssen Juristen das Sagen. Auch ehemalige Richter oder Strafvertei-diger im Parlament beherrschen die Kunst des Verhörs. Aber im Edathy-Ausschuss gibt das Polizistenquartett den Ton an. Nach den Sitzungen treten sie hinterei-nander vor die Kameras.

U nion und SPD hatten anfangs überhaupt keine Lust, die pein-lichen Details, die schon drei-

mal im Innenausschuss beredet wor-den waren, noch einmal auszubreiten. Inzwischen gibt nicht nur Eva Högl, SPD, die Ausschussvorsitzende, son-dern auch CDU-Obmann Schuster zu, dass sie jetzt schlauer sind als vorher im Innenausschuss.

Zuerst glaubten viele der Version des SPD-Bundestagsabgeordneten Mi-chael Hartmann, er habe Edathy nicht über das Verfahren gegen ihn gewarnt, sondern sich nur um dessen labilen see-lischen und gesundheitlichen Zustand

Armin Schuster, CDU

Zuletzt Chef der Bundespoli-zei an der Grenze zur Schweiz. Im Parlament: Innenaus-schuss, Geheimdienst-Kon-trollgremium, Edathy-Unter-suchungsausschuss

BERLINER REPUBLIKReportage

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gesorgt. Tempel und Mihalic haben diese Version Stück für Stück zerpflückt – und dies, obwohl den beiden pro Fragestunde jeweils immer nur acht Minuten zur Ver-fügung stehen. Hartmann bestand darauf, dass er mit Edathy nie über ein mögliches Strafverfahren geredet habe. Da hielt Mi-halic dem SPD-Politiker einen von ihm selbst verfassten Text vor, in dem – wenn auch etwas verschwiemelt – das glatte Gegenteil stand: „In diesem Zusammen-hang haben wir, Edathy und Hartmann, verschiedentlich über seine Befürchtun-gen, gegen ihn könne strafrechtlich er-mittelt werden, kommuniziert.“ Der Treffer saß. Hartmann konnte die Dis-krepanz zwischen seinem Text und sei-nen Beteuerungen nicht erklären.

T empel erschütterte Hartmanns Glaubwürdigkeit, als er eines Abends eine scheinbare Nebensäch-

lichkeit aus den Akten kramte, für die sich vorher nie jemand interessiert hatte. Es war spät. Alle waren schon ziemlich müde. Hartmann hatte stundenlang sein Sprüchlein heruntergebetet: Nie mit Eda-thy über das Verfahren geredet, nur um ihn gekümmert, weil er völlig am Ende war, „selbstmordgefährdet und häufig betrunken“.

„Ach ja?“, hakte Tempel nach und hielt dem Zeugen einen SMS-Dialog vor, der irgendwann im Januar 2014 vor ei-nem geplanten Treffen der beiden über ihre Handys gelaufen war. Ob er „was Vernünftiges zu trinken“ im Haus habe, wollte Hartmann damals von Edathy wis-sen. „Wein?“, simste der zurück. „Was immer du hast“, antwortete Hartmann – eine Petitesse. Aber der frühere Kripobe-amte Tempel nutzte sie, um Hartmanns Version zu erschüttern: „Warum, bitte schön, heizen Sie einen Trinkabend an, wenn Sie sich angeblich um Edathys Al-koholprobleme sorgen?“ Langes Schwei-gen. Dann die wenig überzeugende Ant-wort: „Weil ich nicht sein Therapeut bin.“

Im Parlament stellt die SPD mit ins-gesamt fünf Ex-Polizisten die stärkste Gruppe. Neben Grötsch sind es Susanne Mittag aus Delmenhorst und der frühere Polizeigewerkschaftschef Norbert Spin-rath, die beide 2013 neu in den Bundes-tag kamen. Schon seit 2005 gehören der

Berliner Wolfgang Gunkel – zuletzt Po-lizeipräsident in Görlitz – und seit 2009 Kirsten Lühmann – Schutzpolizistin aus Celle – dem Parlament an.

In der CDU/CSU-Fraktion sitzt ne-ben Schuster Clemens Binninger, Polizei-oberrat a. D. aus Böblingen. Verstärkung bekamen die beiden am 1. Januar 2015 durch den Polizeibeamten Thorsten Hoff-mann aus Dortmund, der für Ex-Kanz-leramtschef Ronald Pofalla nachrückte. Grüne und Linksfraktion stellen mit Mi-halic und Tempel je einen Ex-Polizisten.

Sieben der zehn Bundestagscops sit-zen im Innenausschuss, Tempel inzwi-schen sogar als stellvertretender Aus-schusschef. Dort geht es um alle Fragen, die mit der inneren Sicherheit des Landes zu tun haben – Terrorabwehr, Pass- und Polizeigesetze, Vorratsdatenspeicherung. Binninger ist Vorsitzender des Parlamen-tarischen Kontrollgremiums, das die Ge-heimdienste beaufsichtigt. Auch CDU-Mann Schuster und SPD-Mann Grötsch sitzen dort. In der Spionageaffäre um NSA und BND geht es jetzt auch im Kont-rollgremium um Aufklärung. Im Bundes-tag hielt Schuster eine glühende Vertei-digungsrede zugunsten des BND. Auch Grötsch nahm die Spione in Schutz, ver-langte aber, die parlamentarische Ge-heimdienstkontrolle besser auszustatten. Er forderte auch, die relevanten Informa-tionen auf den Tisch zu legen.

E rkennt ein ehemaliger Polizist ei-gentlich leichter, ob einer lügt oder nicht? „Es gibt gewisse Anhalts-

punkte“, sagt der Sozialdemokrat Gun-kel. „Wenn die Augen flackern und der Zeuge nervös auf seinem Stuhl herum-rutscht, ist das ein Indiz, dass er nicht die Wahrheit sagt – aber noch lange kein Beweis.“

„Wenn einer gut lügt, das merken Sie nicht“, sagt Kirsten Lühmann. Die SPD-Frau saß in der vergangenen Wahl-periode im Gorleben-Untersuchungsaus-schuss. Als Polizistin hat sie Hunderte Male Personen befragt, die einen Un-fall gesehen hatten oder in ihn verwi-ckelt waren. „Ein guter Lügner wird im-mer so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben – und nur den einen Knackpunkt nicht erwähnen. Und diesen Knackpunkt

Uli Grötsch, SPD

Früher Fahnder bei der bayerischen Polizei. Im Parlament: Innenausschuss, Edathy-Ausschuss, Geheim-dienst-Kontrollgremium

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BERLINER REPUBLIKReportage

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zu finden und ihn dann auch noch dazu zu bringen, das zuzugeben – das ist bei einem guten Lügner sehr schwierig.“

Es gibt allerdings auch Reaktionen, die einem geübten Polizeibeamten zei-gen, dass mit einem Zeugen oder Be-schuldigten irgendetwas nicht stimmt. Tempel zum Beispiel fand im Edathy-Ausschuss das Verhalten Hartmanns merkwürdig: Obschon ein gestandener Politiker, war Hartmann überhaupt nicht empört, dass man ihn mehrfach fragte, ob er die Zeugenbelehrung auch richtig verstanden habe. „Ich hätte verstanden, wenn er sich über die aus seiner Sicht eh-renrührige Frage aufgeregt hätte. Statt-dessen: nichts. Keine Reaktion. Er kam mir vor, wie einer, der seine Aussage aus-wendig gelernt hat und kein Jota davon abrücken will – das ist immer verdächtig.“

G egenüber Mitarbeitern und vor allem Chefs von Polizei und Ge-heimdiensten haben die Ex-Poli-

zisten im Parlament auch einen ganz ba-nalen Vorteil: Wer vom Fach ist, kennt den Arbeitsalltag genauer als ein Spit-zenbeamter oder Minister. Als vor kur-zem im Innenausschuss darüber geredet wurde, wie viel Personal nötig ist, um ei-nen zurückgekehrten IS-Kämpfer rund um die Uhr zu bewachen, musste Schus-ter nicht lange rechnen. Ihm war das Pro-blem geläufig. „Um einen zu überwachen, braucht man 20 bis 24 Leute. Wer etwas anderes sagt, hat keine Ahnung.“

Als ebenfalls im Innenausschuss über den Tod eines ehemaligen V-Mannes aus der Neonaziszene gesprochen wurde, un-terbrach der Vizevorsitzende Tempel den vortragenden Verfassungsschutzpräsi-denten Hans-Georg Maaßen. „Tut mir leid, aber so wie Sie es hier schildern, er-folgt eine Leichensachbearbeitung ein-fach nicht. Irgendetwas stimmt da nicht.“

Der Tagesordnungspunkt wurde in der folgenden Sitzung wegen der offe-nen Fragen wieder aufgesetzt. Maaßen und seine Beamten mussten dort noch einmal antanzen.

HARTMUT PALMER, langjähriger Cicero-Autor, hat eigentlich ungern mit der Polizei zu tun. Diesmal war es anders

Nur zur Erinnerung: Demokratie heißt „Herrschaft des Volkes“. In Deutschland will die Hälfte des Volkes offenbar nicht mehr herrschen. In Hamburg wollten im Februar nur 56,5 Prozent

der Wahlberechtigten mitbestimmen, wer sie regiert. Im Mai in Bre-men waren es gerade mal 50,1 Prozent. Ich kenne Bremen – es hätte allen Grund gegeben, dort wählen zu gehen. Aber die einen dach-ten, die Wahl sei schon gelaufen, und viele andere – nicht nur in Bre-men – glauben offenbar, das Öffnen von Bierflaschen und Pöbeln vor dem Fernseher ersetze den Akt der politischen Teilnahme. Statt das wichtigste demokratische Grundrecht zu nutzen, hocken sie zu Hause, schimpfen über „die Politiker“ und halten es für einen revolutionären Akt, Wahlen zu boykottieren.

Die Begründung fürs Nichtwählen heißt oft: „Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen.“ Von wegen! Angela Merkel tut keinen Schritt, ohne vorher eine Umfrage in Auftrag zu geben. Ihre Regierung ist das reinste Wählerwunschkonzert. Auch Landesregierungen sind oftmals sensibler dem Wählerwillen gegenüber, als dem Land guttut.

Am meisten ärgert mich die schlechte Wahlbeteiligung bei Land-tagswahlen in Ostdeutschland (zuletzt Sachsen 49,2 Prozent und Brandenburg 47,9 Prozent). Hey, Ossis: Erst wollt ihr zur Bundesre-publik gehören – und jetzt, wo ihr merkt, dass der Kapitalismus ge-nau die Nachteile hat, vor denen euch die DDR-Oberen gewarnt ha-ben, pfeift jeder zweite von euch auf die Demokratie? Stattdessen marschiert ihr bei Pegida gegen Flüchtlinge auf, obwohl man bei euch Ausländer mit der Lupe suchen muss?

Klar sind es – in Ost und West – überwiegend die sozial Abge-hängten, die nicht wählen gehen, weil sie sich von der Politik nichts mehr erhoffen. Das ist traurig und beschämend für jene, die Politik gestalten. Aber es ist ein riesiger Irrtum. Man stelle sich nur mal vor, die 50 Prozent, die in Bremen nicht gewählt haben, hätten die Linke gewählt. Dann wäre aber was los gewesen! Gerade die, die sich abge-hängt fühlen, müssten massenhaft zur Wahl gehen. Denn wenn bloß die Wohlsituierten und Gebildeten wählen, wird auf Dauer nur noch Politik für Wohlsituierte und Gebildete gemacht. Also für Cicero-Le-ser. Das hätte am Ende mit echter Demokratie nicht mehr viel zu tun.

AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für Cicero schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben sonst an Fragen aufwirft

FRAU FRIED FRAGT SICH …… woher die Demokratiefaulheit kommt

49Cicero – 7. 2015

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DAS SCHWARZ-

GRÜNE NETZWERK

CDU und CSU nervt die Große Koalition. Die Grünen hoffen kaum noch auf ein Bündnis mit der SPD.

So ist Schwarz-Grün in Berlin zum politischen Sehnsuchtsort geworden. 2017 soll es klappen.

Viele ziehen ihre Fäden. Ein Überblick in Text und Grafik

Von CHRISTOPH SEILS

Illustrationen KURZGESAGT

BERLINER REPUBLIKReport

Page 51: Cicero-07_2015

E in Christdemokrat, der keinen Hehl daraus macht, dass er gerne mit den Grünen regieren würde, ist Peter Altmaier. Als junger Abgeordneter in Bonn verspeiste er mit seinen grünen Parla-

mentskollegen gelegentlich Pizza. Inzwischen ist Altmaier Minister in Merkels Kanzleramt. Er achtet genau darauf, dass seine Kontakte zu den Realos und den Linken bei den Grünen gleichermaßen gut sind. Im vergangenen September fädelte Altmaier jenen schwarz-grünen Asyl-kompromiss ein, dem Winfried Kretschmann zustimmte. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg ist Altmaiers wichtigs-ter Counterpart. Die beiden bilden das Zentrum des schwarz-grünen Netzwerks. Die nächste Bewährungsprobe steht im Herbst bevor, dann werden die grünen Stimmen im Bundesrat für die Reform der Erb-schaftsteuer gebraucht.

Im Bundestag unterhalten vor allem zwei Fraktionsvizes beste Beziehungen. Thomas Strobl, zugleich CDU-Landeschef in Baden-Württemberg, und Kerstin Andreae, ebenfalls aus dem Südwesten. „Schwarz-Grün im Bund hätte Charme“, sagt Strobl. In Wirtschafts- und Haushaltsfragen könnten sich die zwei schnell einigen, Strobl macht in seinem Fachgebiet Innenpolitik auf Law-and-Order, vermei-det aber allzu dumpfe Töne.

Was einst in Bonn die Pizza-Connection war, ist heute die Pasta-Connection. Regelmäßig laden die Bundestagsabgeordneten Jens Spahn (CDU) und Omid Nouripour (Grüne) ins Restaurant Spaghetti Western in Berlin-Mitte. Von jeder Seite sind stets 15 Abgeordnete da-bei. Der Andrang ist groß. Auch linke Grüne wie Agnieszka Brugger oder Sven-Christian Kindler sitzen am Tisch. Denn auf eines legt Nou-ripour Wert: „Die Pasta-Connection ist kein Realoprojekt.“ Bei Nudeln und Wein kommen die Abgeordneten schon mal zu überraschenden Erkenntnissen. Ausgerechnet ein Ökonom zum Beispiel, den die CDU zum schwarz-grünen Tête-à-Tête geladen hatte, erklärte den Abgeord-neten, die soziale Schere in Deutschland sei so groß, dass sie volks-wirtschaftliche Schäden anrichte.

Das Zentrum

F rüher pflegte Jürgen Trittin auf die Frage nach Schwarz-Grün mit dem Hinweis zu antwor-

ten, dies sei für seine Partei natürlich eine Machtoption, aber nicht, solange die CDU und CSU Atomparteien seien. Abgehakt. Folglich spielt nun auch der Ex-Umweltminister und Ex-Fraktions-chef im schwarz-grünen Netzwerk eine entscheidende Rolle.

Auf Trittin kommt es an. Zwar hat er sich nach der Kampagnen-Katastro-phe von 2013 aus der ersten Reihe zu-rückgezogen. Aber sein Wort hat noch Gewicht. Zumal die Parteilinken, die ihm gefolgt sind, an der Basis nicht die-selbe Autorität genießen wie der Alt-meister. Nicht Fraktionschef Anton Hofreiter, auch nicht Parteichefin Si-mone Peter.

Selbst linke Grüne sehen kaum noch Chancen für ein rot-rot-grünes Bündnis 2017, obwohl Hofreiter noch von „zwei gleichberechtigten und gleich schwierigen Optionen“ spricht. Ihr Frust über die Dogmatiker in der Linkspartei ist groß. Eine Ampelregie-rung mit SPD und FDP ist eher eine theoretische Möglichkeit. Also geht es inzwischen darum, Themen für den schwarz-grünen Flirt zu setzen, recht-zeitig das Terrain abzustecken. „Bei-des müsste von beiden Flügeln mitge-tragen werden“, sagt Hofreiter. „Ohne die Realos kein Rot-Rot-Grün, ohne die Linken kein Schwarz-Grün.“ Am Ende wird Trittin die Parteilinke einbinden müssen. Und, das hat er intern schon si-gnalisiert, er würde es tun.

Der linke Absicherer

51Cicero – 7. 2015

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CDU-Referenten, die sich fragen, ob Ökos beißenGrünen-Mitarbeiter, die sich fragen, ob CDU-Karrieristen beißen

PROBLEMZONEPROBLEMZONE

DER GRÜNE KOMPROMISS-CLUSTER DER CDU- FANCLUSTER

... üben schon mal im Bundesrat Schwarz-Grün

EVELINE LEMKE

SYLVIA LÖHRMANN ROBERT HABECK

TAREK AL-WAZIR VOLKER RATZMANN A. KRAMP-KARRENBAUER

ARMIN LASCHET JULIA KLÖCKNER

WOLFGANG SCHÄUBLE THOMAS DE MAIZIÈRE

... schwören ihre Partei nachhaltig auf Schwarz-Grün ein

VOLKER BOUFFIER

Ministerpräsident Hessen

RECHTER ABSICHERER

JÜRGEN TRITTIN

BundestagsabgeordneterMitglied Auswärtiger Ausschuss

LINKERABSICHERER

Basisgrüne, die seit Jahrzehnten vor der Kälte der CDU gewarnt haben CDU-Ortsvorsitzende, die seit Jahrzehnten gegen grüne Spinnereien gepoltert haben

BREMSERBREMSER

OMID NOURIPOUR

WINFRIED KRETSCHMANN

KERSTIN ANDREAE THOMAS STROBL

JENS SPAHN

PETER ALTMAIER

DAS ZENTRUM

52Cicero – 7. 2015

BERLINER REPUBLIKReport

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CDU-Referenten, die sich fragen, ob Ökos beißenGrünen-Mitarbeiter, die sich fragen, ob CDU-Karrieristen beißen

PROBLEMZONEPROBLEMZONE

DER GRÜNE KOMPROMISS-CLUSTER DER CDU- FANCLUSTER

... üben schon mal im Bundesrat Schwarz-Grün

EVELINE LEMKE

SYLVIA LÖHRMANN ROBERT HABECK

TAREK AL-WAZIR VOLKER RATZMANN A. KRAMP-KARRENBAUER

ARMIN LASCHET JULIA KLÖCKNER

WOLFGANG SCHÄUBLE THOMAS DE MAIZIÈRE

... schwören ihre Partei nachhaltig auf Schwarz-Grün ein

VOLKER BOUFFIER

Ministerpräsident Hessen

RECHTER ABSICHERER

JÜRGEN TRITTIN

BundestagsabgeordneterMitglied Auswärtiger Ausschuss

LINKERABSICHERER

Basisgrüne, die seit Jahrzehnten vor der Kälte der CDU gewarnt haben CDU-Ortsvorsitzende, die seit Jahrzehnten gegen grüne Spinnereien gepoltert haben

BREMSERBREMSER

OMID NOURIPOUR

WINFRIED KRETSCHMANN

KERSTIN ANDREAE THOMAS STROBL

JENS SPAHN

PETER ALTMAIER

… träumen schon lange von

schwarz-grüner Bundesregierung

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Page 54: Cicero-07_2015

W enn sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die grünen Minister aus mittlerweile neun Bundesländern am Vorabend jeder Bundesratssitzung

mit führenden Bundespolitikern treffen, dann prallen auch zwei grüne Welten aufeinander. Im Bundesrat sind die Grünen eine Macht, sie kon-trollieren 41 von 69 Stimmen, können alle zustimmungspflichtigen Gesetze blockieren. Im Bundestag sind die 63 grünen Abgeordneten politische Zwerge. In den Ländern dominiert ein bunter grüner Prag-matismus, im Bund hingegen macht die Partei ganz auf Opposition.

Die Oppositionsstrategie frustriert viele Landesminister, weil sie den kleinen Erfolgen und großen Kompromissen im Wege steht. Mit der reinen Lehre kommt man im föderalen Geflecht nicht weit. Viel-mehr üben die Länder-Grünen in jenen Donnerstagsrunden schon mal, wie man Kompromisse aushandelt. Gastgeber ist Kretschmann in seiner Berliner Landesvertretung, wo sein Statthalter arbeitet, der Hyperrealo Volker Ratzmann. „Eigenständigkeit“ heißt das Schlüs-selwort, mit dem grüne Länderminister wie Eveline Lemke aus Rhein-land-Pfalz, Sylvia Löhrmann aus Nordrhein-Westfalen oder Robert Habeck aus Schleswig-Holstein ihre Partei auf Schwarz-Grün vorbe-reiten. „Wir müssen uns auf unsere Inhalte konzentrieren“, sagt der Hesse Tarek Al-Wazir. Ein weiterer Wahlkampf mit der Botschaft, dass man entweder mit der SPD oder gar nicht regieren werde, komme für ihn 2017 nicht mehr infrage. Wenn die Donnerstagsrunde etwas mit der Union abklären muss, nutzt Al-Wazir den direkten Draht. Per SMS stimmt er sich dann mit Volker Bouffier ab, der zur selben Zeit in der Merkel-Runde der Unions-Ministerpräsidenten sitzt.

Der grüne Kompromiss-Cluster

W er hätte gedacht, dass Vol-ker Bouffier eines Tages ein Vorreiter von Schwarz-Grü-

nen werden würde. Elf Jahre lang war er ein enger politischer Mitstreiter des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, er war Innenminister des Landes, galt als schwarzer Sheriff und war ein Lieblingsfeind der Grünen. 2010 trat er Kochs Nachfolge an.

Bouffier verkörperte eine konser-vative CDU, die alle Grünen für in-diskutabel hielten. Eine CDU, die Autobahnen baut, die doppelte Staats-bürgerschaft verteufelt und jüdi-sche Vermächtnisse erfindet, um ihre schwarzen Kassen zu tarnen. Doch mittlerweile ist alles anders. Einträch-tig sitzen CDU und Grüne seit Ja-nuar 2014 im Wiesbadener Landtag auf der Regierungsbank. So geräusch-los regieren beide Parteien, als seien sie seit langem füreinander bestimmt. Nach Hamburg ist Hessen die zweite schwarz-grüne Landesregierung und die erste in einem Flächenland. Für Berlin ist es ein Referenzprojekt. „Was in Wiesbaden funktioniert, funktioniert auch in Berlin“, sagt ein Mitglied des CDU-Präsidiums.

Fast scheint es, als habe der Minis-terpräsident als Versöhner zwischen schwarzem und grünem Bürgertum zu sich selbst gefunden. Wird es ernst in Berlin, werden CDU und CSU Politiker wie Bouffier brauchen. Er kann Tradi-tionalisten an der Basis auf Linie brin-gen, weil er für die alte CDU steht.

Der rechte Absicherer

S chwarz-Grün-Gegner unter den Christdemokraten verweisen gerne auf Hamburg. Nach zweieinhalb Jahren Koalition mit den Grünen sei die CDU in der Wählergunst abgestürzt. Wie beide

Seiten ihre Identität wahren können, darum kreisen in Berlin deshalb viele schwarz-grüne Gespräche. Identität ist wichtig, weniger für die Politprofis, die das Geschäft des Gebens und Nehmens so perfekt be-herrschen. Aber an der Basis der Parteien gibt es eine Menge Mitglie-der, denen ihre Werte und Traditionen sehr viel bedeuten.

Anhaltendes Murren und Schimpfen würde die Dynamik eines schwarz-grünen Bündnisses bremsen. Zudem müssen Parteitage einem Koalitionsvertrag zustimmen. Bei den Grünen ist das kein Selbstläufer, die Delegierten müssten überzeugt werden: Einstieg in den ökologischen Umbau der Industrie, eine Innenpolitik, die Bürgerrechte stärkt, und eine Gleichstellung von Schwulen und Lesben wären schon nötig.

Merkel hat es einfacher, ihr folgt die Partei fast blind, solange sie Ergebnisse über 40 Prozent einfährt und regiert. Egal mit wem. Aber ein bisschen Markenkern kann auch der CDU nicht schaden, damit die Konservativen an der Basis nicht nerven. Deshalb braucht die CDU die schwarze Null und eine Energiepolitik, die Interessen der Indust-rie wahrt. Andere Streitfragen, in denen man sich gegenseitig im Weg steht, lassen sich auflösen. In der Asylpolitik etwa, wo die CDU den Flüchtlingen mehr Rechte gewähren und die Grünen einer Obergrenze bei der Zuwanderung zustimmen könnten. Das heißt dann schwarz-grüne Dialektik.

Die Bremser

54Cicero – 7. 2015

BERLINER REPUBLIKReport

Page 55: Cicero-07_2015

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F ragt man in diesen Tagen Schwarze und Grüne in Berlin, warum sie nicht miteinander regieren, dann zeigen sie mit den Fingern aufeinander. Die haben sich nicht getraut, sagen die einen. Die ha-

ben nicht kapiert, dass es uns nicht um die Dienstwagen geht, antwor-ten die anderen. Letztendlich hatten weder die einen noch die anderen den Mut zu springen. Am CDU-Präsidium kann es allerdings nicht ge-legen haben. Mit Volker Bouffier, Julia Klöckner, Armin Laschet und Thomas Strobl werben gleich vier der fünf Stellvertreter von Angela Merkel offen für ein solches Bündnis. Auch die übrigen Präsidiumsmit-glieder gehören fast alle schon lange zu den Fans. Je mehr die CDU von der Großen Koalition genervt ist, desto mehr trauern die Anhänger der verpassten schwarz-grünen Chance aus dem Herbst 2013 nach.

Die Motive sind vielfältig. Meist spielt es eine Rolle, dass ihr die FDP abhandengekommen ist. „Schwarz-Grün muss für die CDU künf-tig die zweite Option sein“, sagt Präsidiumsmitglied Jens Spahn, „denn eine Große Koalition als Dauerzustand wäre für das politische Klima eine Katastrophe.“ Wirkliche Hindernisse sehen führende Christde-mokraten nicht. Wenn es um die Macht geht, dann ist die CDU flexi-bel. „Keine Steuererhöhungen, keine neuen Schulden, über alles andere kann man zumindest sprechen“, sagt Thomas Strobl. Bei der CDU, die nie eine Programmpartei war, ist Macht die wichtigste Kategorie. „Wir müssen die Anschlussfähigkeit herstellen“, sagt ein CDU-Minister, der weiß, seine Partei braucht eine Alternative zur SPD. Sie kann sich nicht darauf verlassen, dass die FDP 2017 als regierungsfähiger Partner in den Bundestag zurückkehrt. Dabei geht es nicht nur vordergründig um Taktik, sondern auch um die Strategie auf dem Wählermarkt. „Die grü-nen Wähler stehen der CDU eigentlich genauso nah wie die FDP-Wäh-ler“, sagt Spahn. Doch in Großstädten habe die CDU fälschlicherweise ein altbackenes Image. Schwarz-Grün im Bund könnte das ändern.

Das CDU-Fancluster

A ls die Sondierungsgespräche im Herbst 2013 gescheitert waren, da standen zwei Abgeordnete, die bei Koalitionsverhandlungen eine wichtige Rolle gespielt hätten, erstmals stundenlang zusam-

men in einem Café in Berlin-Mitte. Einig waren sich die zwei vor allem in einem: Beide Seiten hätten sehr viel früher miteinander reden sollen.

Im Eiltempo haben viele Abgeordnete dieses Versäumnis mittler-weile nachgeholt. Man kennt sich nun. Der Mittelbau hingegen ist die Problemzone: die Referenten und Funktionäre. In den Parteibüros tobt noch der Kulturkampf. Dort arbeiten viele christdemokratische Karrie-rejuristen und grüne Weltverbesserer, die mit Lust die alten Feindbilder vom Betonkopf oder Chaoten pflegen. Im Bundestag bestehen zwischen den Mitarbeitern von Union und Grünen kaum Kontakte.

Eine ganz besondere Problemzone ist die CSU. Ein Jahr nach der Bundestagswahl 2017 wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt. Eine Koalition mit den Grünen in Berlin könnte die absolute Mehrheit da-heim gefährden. Aber vielleicht hilft es ja, dass der Bayer Horst See-hofer und der Baden-Würtemberger Winfried Kretschmann in der Mi-nisterpräsidentenkonferenz nebeneinandersitzen und bereits zum vertraulichen Du übergegangen sind.

Die Problemzonen

CHRISTOPH SEILS ist politischer Korrespondent von Cicero

55Cicero – 7. 2015

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JOSEPH UND JOSEF

Zwei Schweizer versagen auf der Weltbühne. Nachdenken über

Blatter und Ackermann

VonFRANK A. MEYER

W as haben Joseph Blatter und Josef Acker-mann gemeinsam? Nicht nur den Vornamen.Beide sind auch angenehme Menschen, un-

kompliziert im Umgang, direkt, neugierig, offen. Sepp, der Arbeitersohn aus Visp, umarmt gern, lässt seine Herzlichkeit sprühen, ist rasch begeistert. Joe, der Arztsohn aus Walenstadt, hält auf bürgerliche Distanz, ist aber ohne jede Herablassung, stets aufnahmebereit für neue Ideen und andere Meinungen.

Auf Joseph Blatter kann zählen, wer ihn ganz pri-vat zum Freund hat; dasselbe gilt für Josef Ackermann.

Den Sepp wie den Joe hätte man liebend gerne zum Paten der eigenen Kinder.

Beide sind sie bedeutende Schweizer. Sie haben die Welt zu ihrer Bühne gemacht. Joseph Blatter seit 17 Jahren als allmächtiger Chef der Fifa – als deren Allmächtiger! Josef Ackermann zehn Jahre lang, von 2002 bis 2012, als allmächtiger Chef der Deutschen Bank – als deren Allmächtiger!

Ja, so darf, so muss man das sehen: Sepp und Joe sind die weltläufigsten Schweizer der vergangenen 50 Jahre.

Und beide haben sie die Welt aus eigener Kraft er-obert: aus der Provinz ins Globale. Wie von selbst öff-neten sich ihnen die Pforten von Potentaten und Päps-ten des Weltgeschehens. Sie wurden empfangen von gleich zu gleich – bis man sie sogar hofierte: als noch gleicher als gleich.

Welcher Wichtige aus Politik und Wirtschaft hat sich nicht bereitwillig ablichten lassen an der Seite

eines der beiden Schweizer? Im Vatikan, im Weißen Haus, in den Lounges der Luxusklasse!

Gerne sehen sich Macht- und Geldprominente als „Masters of the Universe“. Blatter und Ackermann wurden es wirklich: „Herren des Universums“. Ihres eigenen Universums: der global operierenden Institu-tionen Fifa und Deutsche Bank.

Da waren sie – Paten!Joseph Blatter scheute das Bild nicht, verwen-

dete er doch auch schon mal für sich selbst den Be-griff „Godfather“, bezeichnete er doch die Fifa gerne als Familie, fühlte er sich doch so richtig wohl als Pa-triarch, der das Geschehen bestimmte: mit gewinnen-dem Lächeln und leichter Hand, selber stets unbescha-det, wenn das familiäre Gewusel fatale Folgen zeitigte.

Die Kultur der Fifa: Das ist Joseph Blatter.Nicht anders Josef Ackermann, der sich rühmte,

dass die Bundeskanzlerin ihm einen Geburtstagsemp-fang ausrichtete, dass eine kuwaitische Politikerin ihm voller Bewunderung offenbarte: „Ich denke, dass die deutsche Regierung tut, was Sie sagen.“ Wie hätte Joe solchen Schmeicheleien widerstehen sollen?

Die Kultur der Deutschen Bank: Das ist  – bis heute! – Josef Ackermann.

Sepps Fifa ist ein Sumpf von Korruption – von ge-lenkten Wahlen und Abstimmungen, von gigantischen Geldflüssen, von obskuren WM-Vergaben, von der Ver-wandlung eines Sportverbands zum Skandalverband.

Joes Deutsche Bank ist ein Sumpf von Gier – von Finanzmanipulationen, von kriminellen Handlungen, von globalem Größenwahn, von mehr als 6000 Straf-verfahren, von der Verwandlung einer Weltbank zur Skandalbank.

Was ist geschehen?Die Schweizer Paten waren der Größe ihrer Insti-

tutionen nicht gewachsen. Grenzenlos sollte ihr Welt-geschäft sein, grenzenlos ihre Macht.

Was verstellte ihnen den Blick dafür, dass alles, was auf Dauer gedacht ist, seine Grenzen finden muss, weil es sonst Schaden anrichtet an der Gesellschaft?

War es womöglich die republikanische Kultur der Schweiz, die ja den Umgang mit Größe nicht kennt, ihn also auch nicht lehrt und übt? Haben die Weltrei-che Fifa und Deutsche Bank den Joseph und den Josef ganz einfach überfordert?

Andererseits hätte doch gerade die helvetische Kultur des Misstrauens gegen Größe und Grenzüber-schreitung den beiden globalen Gebietern aus den Kan-tonen Wallis und St. Gallen genetisch eingeimpft sein müssen.

Leider haben die persönlich so sympathischen Na-mensvettern auch ein Letztes gemeinsam: Verantwor-tung ist für sie ein ganz und gar leeres Wort.

FRANK A. MEYER, geboren in der zweisprachigen Schweizer Stadt Biel/Bienne, ist Journalist und Gastgeber der politi-schen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat

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BERLINER REPUBLIKKommentar

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Die polnische Grünen-Politikerin Anna Grodzka wurde als Mann geboren. Im falschen Körper, wie sie schon in jungen Jahren spürte, Reportage Seite 66

„ Ich wollte nicht nur für mich selbst eine Frau sein. Ich wollte, dass

auch alle anderen mich als Frau sehen “

WELTBÜHNE

57Cicero – 7. 2015

Page 58: Cicero-07_2015
Page 59: Cicero-07_2015

E r bezeichnet sich selbst als „Putins Staatsfeind Nr. 1“. Das ist zwar übertrieben, denn Russlands Prä-

sident hat bekanntlich viele Gegner, von denen einige ihm auch mehr zu schaf-fen machen dürften als ausgerechnet Bill Browder. Aber der ehemalige Investor und Fondsmanager weiß sich zu insze-nieren. Und zu dieser Inszenierung ge-hört eben die gelegentliche Übertreibung. Was auch erlaubt ist, denn schließlich geht es ihm ja um eine gute Sache: um Men-schenrechte in Russland nämlich, um den dortigen Rechtsstaat, nicht zuletzt auch um verlässliche Strukturen für Investoren in diesem rohstoffreichen Riesenland, das zehn Jahre lang Browders zweite Heimat war. Bis es zum Bruch kam, er im Herbst 2005 mit einem Einreiseverbot belegt wurde und wenig später zum Fall für die russischen Strafverfolgungsbehörden, die ein Exempel an ihm statuieren wollten.

Doch dafür haben sie sich offenbar den Falschen ausgesucht. Denn Bill Brow-der schlägt zurück. Aus dem Finanzjon-gleur ist inzwischen ein hauptberuflicher Politaktivist und Kampagnenreiter gewor-den; den Trading Room in der Londoner Zentrale seines ehemaligen Investment-fonds hat er in einen Kommandostand verwandelt, von dem aus Rechtsanwälte und PR-Leute ihren öffentlichkeitswirksa-men Kampf gegen Wladimir Putin und des-sen Machtzirkel führen. Hier empfängt der 51-Jährige regelmäßig Journalisten aus al-ler Welt, um für sein Projekt zu werben. Er tut das mit der verbindlichen Seriosität ei-nes Anlageberaters, dem man ohne Zögern auch sein Vermögen anvertrauen würde.

Und dann gibt es da natürlich noch Browders unlängst erschienenes Buch,

„Red Notice“, in dem er auf 400  Sei-ten die abenteuerliche Geschichte sei-nes russischen Milliardenengage-ments einschließlich der bösen Folgen

erzählt – inzwischen ein Bestseller und in 24 Sprachen übersetzt, sogar ins Rus-sische. Aber in Russland ist „Red Notice“ aus dem Buchhandel verbannt.

Die Kurzfassung geht so: Bill Brow-der, 1964 als Spross einer Akademikerfa-milie in Chicago zur Welt gekommen, will gegen seine linksintellektuellen Eltern re-bellieren und beschließt, ein waschechter Kapitalist und Geschäftsmann zu werden. Er absolviert die Stanford Business School und interessiert sich früh für Osteuropa. Nicht zuletzt, weil Browders Großvater Earl, einstmals Chef der amerikanischen Kommunisten, zu frühen Sowjetzeiten in Moskau gelebt hatte.

MITTE DER NEUNZIGER JAHRE geht Bill Browder also nach Russland und landet ein paar spektakuläre Investments, vor allem mit einer sibirischen Ölgesellschaft. Er gründet einen Fonds, vervielfacht des-sen Wert, verliert zwischenzeitlich wieder viel Geld, schafft aber ein Comeback. Bis das „Wunderkind des Finanzwesens“ sich mit den russischen Oligarchen anlegt, als er deren betrügerische Machenschaften bei ehemaligen Staatsbetrieben aufdeckt. An-fangs lässt Putin ihn gewähren, doch als der russische Präsident immer mehr eigene wirtschaftliche Interessen verfolgt, geht es Browder an den Kragen: Man wirft ihm Steuerhinterziehung in Millionenhöhe vor.

Browder wehrt sich, auch mit der Hilfe seines russischen Anwalts Sergei Magnitsky. Doch dann wird Magnitsky verhaftet und stirbt am 16. November 2009 unter ungeklärten Umständen im Gefängnis. Bill Browder ist überzeugt: Magnitsky wurde von Putins Schergen ermordet. Er schwört Rache – und führt seither als Privatmann eine beispiellose Kampagne gegen das „System Putin“. Mit großem Erfolg: So konnte Browder errei-chen, dass der amerikanische Kongress im

Jahr 2012 mit dem sogenannten „Mag-nitsky Act“ ein Einreiseverbot und Kon-tensperrung gegen 18 Personen beschloss, die im Verdacht stehen, für den Tod von Sergei Magnitsky verantwortlich zu sein.

Jetzt will Browder auch die Europäer zu einem solchen Schritt bewegen. Das Europaparlament hat eine entsprechende Resolution bereits verabschiedet, aber es fehlt noch die Zustimmung der EU-Au-ßenminister. Aus Brüssel ist zu hören, dass mit ihr nicht zu rechnen ist; zu un-terschiedlich seien die Interessen gegen-über Russland in den einzelnen Mitglied-staaten. Bill Browder, heißt es, mangele es bei seiner Privatfehde an Verständnis für politische Zusammenhänge.

Ihm selbst dürften solche Belehrun-gen egal sein. „Ich will die Menschen darüber aufklären, was in Russland vor sich geht“, sagt er mit derselben Über-zeugungskraft, die in Browders früherem Leben den Geldgebern seines Fonds galt. Putin und sein Netzwerk, behauptet Bill Browder, hätten mittlerweile Vermögens-werte in Höhe von 200 Milliarden Dollar unterschlagen. Diese Summe ist zwar nur eine grobe Schätzung. Aber wenn sol-che Zahlen erst einmal in der Welt sind, setzen sie sich auch fest. Als enthusiasti-scher Öffentlichkeitsarbeiter weiß er das natürlich ganz genau. Browders nächstes Projekt: eine Hollywood-Verfilmung sei-nes russischen Abenteuers. Die Gesprä-che mit Regisseuren, Schauspielern und Produzenten liefen bereits.

Und Russland selbst? „Wenn es gut läuft, könnte sich dort in frühestens 30 Jahren ein funktionierender Rechts-staat entwickelt haben.“ Vorher aber, das will Bill Browder damit sagen, sollte dort auch niemand investieren.

PRIVATKRIEG MIT PUTINZehn Jahre lang war Bill Browder als Investor in Russland erfolgreich – doch dann kam es zum Bruch. Inzwischen führt er eine Kampagne gegen Oligarchen und korrupte Politiker

Von ALEXANDER MARGUIER

ALEXANDER MARGUIER ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero

59Cicero – 7. 2015

WELTBÜHNEPorträt

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Page 60: Cicero-07_2015

Über ihren österreichischen Amts-kollegen Werner Faymann soll die deutsche Kanzlerin Angela

Merkel einmal gesagt haben, wenn er sie besuche, dann komme er „mit keiner Meinung rein und geht mit meiner Mei-nung wieder raus“. Faymann wollte die-ses Zitat nie kommentieren, geärgert hat es ihn sicher.

Inzwischen kann dem Österreicher niemand mehr nachsagen, er agiere wie das Beiwagerl deutscher Europapolitik. Unter den EU-Regierungschefs hat sich der 55-Jährige mit dem grau melierten Haar und der Eigenheit, jeden Satz mit ei-nem eingeübten Lächeln zu beenden, zu einem der schärfsten Kritiker des geplan-ten Freihandelsabkommens zwischen den USA und Europa, TTIP, entwickelt.

Nicht nur Merkel dürfte sich wun-dern. Wieso ausgerechnet Faymann? Der Sozialdemokrat, der mit den öster-reichischen Konservativen der ÖVP seit sieben Jahren in einer großen Koalition recht unspektakulär regiert, zählt nicht zur Gruppe linker Revoluzzer unter Eu-ropas Roten. Im Gegenteil. Nicht nur in Europa, auch in Österreich agierte Fay-mann bis jetzt nach dem Motto: nur nicht zu viele Wellen machen. Plötzlich aber präsentiert er sich gemeinsam mit den französischen und schwedischen Premi-ers Manuel Valls und Stefan Löfven, dem SPD-Chef Sigmar Gabriel und dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz Anfang Juni in Paris als Koordinator aller linken, TTIP-kritischen Kräfte Europas.

In Wien überrascht nicht Faymanns Haltung, sondern eher die Verve, mit der er sie nun auch in Europa vertritt. Der ehemalige Wiener Kommunalpoliti-ker ist mit einer Wiener Gemeinderats-abgeordneten verheiratet, er hat sein ganzes Leben im Umfeld der Partei verbracht und dafür sein Jurastudium

geopfert. Es ist kein Geheimnis, dass er sich mit Europa ein bisschen schwertut. Ihn kleingeistig zu nennen, wäre viel-leicht zu hart. Aber sein politischer Ho-rizont reichte lange nur bis an die Wiener Stadtgrenze. Als er Kanzler wurde, er-weiterte er ihn bis an die österreichische Staatsgrenze. Europapolitik blieb lange fremdes Territorium.

NOCH 2008 ÜBERRUMPELTE ER als frisch gewählter SPÖ-Chef seine Partei, indem er ein Plebiszit forderte, sollte der EU-Verfassungsvertrag geändert werden. Er verkündete die neue, scharfe Linie in Eu-ropafragen nicht, wie man es erwarten würde, auf einem Parteitag, sondern in Form eines Leserbriefs im auflagenstärks-ten und EU-kritischen Boulevardblatt Kronen Zeitung. Faymanns Leibblatt.

Zum Regieren brauche er „Bild, BamS und Glotze“, hat Deutschlands Ex-Kanzler Gerhard Schröder einmal gesagt. Faymann hat dieses simple Prinzip für österreichische Verhältnisse seit Jahr-zehnten perfektioniert. Schon als Wiener Wohnbaustadtrat verließ er sich dabei auf die Kronen Zeitung. Enge, persönliche Freundschaften verbinden ihn seitdem mit deren Eigentümern und wichtigsten Blattmachern.

Seit über einem Jahr fährt die Krone eine Kampagne gegen Chlorhühner, Gen-mais und geklontes „Frankensteinfleisch“ und treibt die gesamte österreichische In-nenpolitik vor sich her. Grüne wie die rechtspopulistische FPÖ sind gegen TTIP, die Bevölkerung ist längst eingestimmt. Laut einer Eurobarometer-Umfrage sind 53 Prozent der Österreicher gegen das Freihandelsabkommen. 48 Prozent glau-ben, dass die „Dinge in der Union“ sich in die falsche Richtung bewegen.

Wenn Faymann als Politiker etwas auszeichnet, dann ist das sein Instinkt für

politische Stimmungslagen. Er war nie ein Vordenker oder Visionär, sondern im-mer ein solider Machtpragmatiker. Mög-lichst lange oben zu überleben, ist seine Maxime. Wenn die Krone gegen TTIP mobilisiert, würde er nie dagegenhalten.

Welch ein Unterschied zu Faymanns Vorgänger Alfred Gusenbauer. Der sprach nicht nur fließend Englisch, Französisch und Spanisch und vernetzte sich schnell international. Er irritierte die linken Ge-nossinnen und Genossen auch mit seiner ambitionierten Vorstellung einer „solida-rischen Hochleistungsgesellschaft“.

Faymann musste sein Schulenglisch, als er Kanzler wurde, erst mühsam auf-möbeln. Seiner Partei – vor allem dem mächtigen Gewerkschaftsflügel – liefert er dafür genau das, was sie hören will: Arbeit müsse sich wieder lohnen, Reiche mehr Steuern zahlen und die Macht der Konzerne gebändigt werden.

Faymanns Bilanz nach sieben Jahren Kanzlerschaft ist dennoch mager. Eine nennenswerte Reichen- oder Vermögen-steuer hat die Große Koalition in ihrer Steuerreform nicht zustande gebracht. Die rechtspopulistische FPÖ sitzt ihm im Nacken. Bei zwei Regionalwahlen ge-wann sie jüngst massiv dazu. Im Bundes-land Burgenland ging der dortige SPÖ-Landeshauptmann eine Koalition mit der FPÖ ein, entgegen eines anderslau-tenden Parteitagsbeschlusses. Faymann verhinderte es nicht. Die Parteilinke kocht und setzt den Kanzler noch mehr unter Druck.

Es ist gut möglich, dass Europas So-zialdemokraten einer ihrer vehementes-ten TTIP-Gegner bald abhandenkommt.

DER RANSCHMEISSERÖsterreichs Bundeskanzler Werner Faymann ist unter den EU-Regierungschefs der entschiedenste Gegner des Freihandelsabkommens TTIP. Aus Überzeugung oder Kalkül?

Von BARBARA TÓTH

BARBARA TÓTH ist Historikerin und be-obachtet seit 15  Jahren die österreichische Parteienlandschaft. Sie leitet das Ressort Politik der Wiener Wochenzeitung Der Falter

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WELTBÜHNEPorträt

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MIT RUSSLAND REDEN, ABER WIE?

Die Annexion der Krim, Krieg in der Ostukraine: Europas Sicherheitsarchitektur ist bedroht. Ein Neun-Punkte-Plan, wie

der Westen seine Verteidigung stärken, die Ukraine stützen und gleichzeitig konstruktiv mit Russland zusammenarbeiten kann

Von WOLFGANG ISCHINGER

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WELTBÜHNEKommentar

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S eit der Wahl von Petro Poroschenko zum ukrai-nischen Präsidenten ist ein Jahr vergangen, das fast ausschließlich im Zeichen der militärischen

Auseinandersetzung in der Ostukraine stand. Die Fo-kussierung auf den politisch-militärischen Konflikt mit Russland hat bei manchen den Blick auf die zweite, mindestens genauso große Bedrohung für die ukrai-nische Stabilität verstellt: die Gefahr des wirtschaft-lich-finanziellen Zusammenbruchs.

Die harte Wahrheit ist: Weder die territoriale In-tegrität und politisch-militärische Sicherheit der Uk-raine noch ihre langfristige wirtschaftliche Rehabili-tation lassen sich in einer dauerhaft antagonistischen Beziehung zum großen Nachbarn Russland verwirk-lichen. Folglich muss eine tragfähige Sicherheitsarchi-tektur Europas nicht gegen, sondern mit Russland ge-staltet werden. Diese Überlegung ist und bleibt richtig; genauso richtig ist aber leider, dass auch Sicherheit vor Russland gewährleistet sein muss.

Was also muss geschehen, um die Integrität der Ukraine langfristig zu sichern und um die Sicherheits-architektur des gesamten Kontinents wieder zu fes-tigen? Eines ist klar: Viele konstruktive Vorschläge werden Makulatur bleiben, wenn Russland nicht zu einer kooperativen Politik zurückfindet. It takes two to tango. Ich schlage daher eine Doppelstrategie vor, die im Sinne klassischer deutscher Ostpolitik sicher-heitspolitische und rückversichernde Elemente einer-seits mit Angeboten zur Zusammenarbeit im euro-atlantischen Raum andererseits kombiniert.

ERSTENS: Eine klare militärische Botschaft ist weiter-hin unabdingbar. Durch die russische Annexion der Krim und die andauernde russische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine ist eine erhebli-che Verunsicherung in Europa entstanden – insbeson-dere bei unseren östlichen Nato-Partnern in den balti-schen Staaten und in Polen. Das Bündnis hat darauf zu Recht mit einem Programm der politisch-militärischen Rückversicherung (Reassurance) reagiert. Die Nato-Außengrenzen sind unantastbar. So wie unsere Bünd-nispartner jahrzehntelang ihre Solidarität an der inner-deutschen Grenze unter Beweis stellten, ist nun unsere Solidarität gegenüber unseren Verbündeten gefragt.

Ergänzt werden sollte dieses Programm durch eine Trendumkehr bei den Verteidigungsbudgets vieler Nato-Partner in Richtung des 2014 in Wales bekräftigten Zwei-Prozent-Zieles und durch klare Schritte auf dem Weg zu einer auch sicherheitspoli-tisch handlungsfähigeren EU. Der Zeitpunkt ist ge-kommen, das Prinzip der Integration und der Syner-giegewinnung endlich auch im Verteidigungs- und Rüstungsbereich einzuführen. Damit würde die EU nicht nur ihre sicherheitspolitische Handlungsfähig-keit stärken, sondern auch ein deutliches Signal nach Russland senden.

ZWEITENS: Gehört zur Doppelstrategie auch die mili-tärische Aufrüstung der Ukraine? Nur soweit die Re-habilitation und Demokratisierung der ukrainischen Streitkräfte Teil eines umfassend abgestimmten politi-schen Prozesses sind. Wenn der Konflikt erneut eska-liert, ist niemandem gedient. Andererseits sollten wir Militärhilfe für die Ukraine nicht zu einem kategori-schen Tabu erklären. Denn auch eine wehrlose Ukraine würde auf Dauer die europäische Sicherheit gefährden.

DRITTENS: Europa muss die Ausgestaltung der Ener-gieunion weiter vorantreiben – auch ganz dezidiert mit dem Ziel, bei Öl- und Gasimporten noch mehr zu di-versifizieren und die Abhängigkeit von Russland stra-tegisch zu reduzieren.

VIERTENS: Die Ukraine braucht viel größere finanzielle und wirtschaftliche Hilfe und Rückendeckung. Die bis-her mithilfe des IWF getroffenen beziehungsweise in Aussicht gestellten Maßnahmen werden nicht reichen. Der Investor und Fondsmanager George Soros hat dar-auf hingewiesen und zu Recht betont, dass unsere Hil-fen für die Ukraine existenziell und damit viel wichti-ger sind als die Abstrafung Russlands mit Sanktionen.

Hier kann das „Draghi-Modell“ helfen: So wie der EZB-Präsident die Märkte mit einem einzigen Satz be-ruhigen konnte, so könnte die EU klarstellen, dass sie alles ihr Mögliche tun wird, um die Ukraine auf dem Weg zur wirtschaftlichen Gesundung zu unterstützen. Allein eine solche öffentliche Ankündigung würde be-reits neue Zuversicht für die Ukraine schaffen.

Natürlich wäre es mit einer solchen Ankündigung alleine nicht getan. Wenn Taten folgen sollen, kostet das Geld, viel Geld – angesichts der Griechenland-krise sicher nirgendwo in der EU ein populärer Vor-schlag. Aber was ist die Alternative? Wären die Fol-gekosten – politisch, militärisch und finanziell – eines Zusammenbruchs der Ukraine, des bei weitem größ-ten östlichen Nachbarlands der EU, potenziell nicht noch viel größer?

Natürlich darf ein solches Hilfsprojekt kein Frei-fahrtschein für die ukrainische Regierung sein, anste-hende Reformen, insbesondere im Bereich der Kor-ruptionsbekämpfung, zurückzustellen. Im Gegenteil: Das Projekt sollte an klare Fortschritte in diesem Be-reich geknüpft werden. Eine Art „Troika“ in Kiew, einschließlich eines EU-Sonderbeauftragten, könnte – auch bei der Umsetzung des Assoziierungsabkom-mens – eine wichtige Rolle spielen.

FÜNFTENS: Es geht um weitaus mehr als um die Sa-nierung des Haushalts der Ukraine. Es geht auch um die ukrainische Zivilgesellschaft. Die EU kann in die-ser größten sicherheitspolitischen Krise seit dem Zer-fall der Sowjetunion die Strahlkraft des europäischen Wertekanons beweisen. Nicht zuletzt sind wir das der

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WOLFGANG ISCHINGER war Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und Botschafter in Washington und London. Seit 2008 ist er Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und berät Regierungen und Unternehmen

jungen Generation in der Ukraine schuldig, die im vor-letzten Winter auf dem Maidan demonstrierte – nicht gegen Russland, sondern gegen eine korrupte ukrai-nische Elite, die der Jugend ihre Chancen auf eine eu-ropäische Zukunft nahm. Sie – junge Journalistinnen, die über Unterschlagung berichten, Nachwuchspoliti-ker, die Nepotismus bekämpfen, Nichtregierungsorga-nisationen, die für Verständigung und Ausgleich zwi-schen den Volksgruppen werben – sind die Hoffnung auf eine bessere Ukraine, eine europäische Ukraine. Hier kann Europa noch viel mehr tun, zum Beispiel durch Visumfreiheit, mehr Stipendien für ukrainische Studierende oder die Unterstützung von Nichtregie-rungsorganisationen vor Ort.

Dies ist die eine Seite der Doppelstrategie: Rück-versicherung der Nato-Partner und umfassende Hilfe für und Zusammenarbeit mit der Ukraine. Die andere Seite muss aus Elementen bestehen, die sich insbeson-dere auch an Russland richten.

ERSTENS: Die Sanktionen müssen in Kraft bleiben, so-weit und solange Moskau und die Separatisten bei der Umsetzung der Minsker Beschlüsse nicht umfassend mitziehen. Aber natürlich muss sich auch Kiew bei der Umsetzung von Minsk voll engagieren, sonst verlieren die Sanktionen ihren politischen Sinn. Hier muss mit beiden Seiten Klartext gesprochen werden.

ZWEITENS: Der Streit um die ukrainische Nato-Pers-pektive muss im Interesse der Ukraine beigelegt wer-den. Die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der Ukra-ine ist im Bündnis de facto längst negativ entschieden worden. Nur die Regierung in Kiew hängt – verständ-licherweise – noch an dieser Vorstellung.

Die EU könnte das hier vorgeschlagene umfas-sende finanzielle Hilfsangebot an Kiew an die Erwar-tung koppeln, dass die Ukraine sich stärker als West-Ost-Brücke definiert, etwa dem Beispiel Finnlands und Österreichs oder auch der Schweiz folgend. Natürlich

können nur die Ukrainer selbst diese Entscheidung treffen, die den Blick stärker auf das jetzt Erreichbare lenken könnte: auf eine unabhängige, selbstbestimmte Ukraine mit Bindungen nach West und Ost.

DRITTENS: Es muss über einen Ausweg vom politisch wenig hilfreichen Ausschluss Russlands aus dem G-8-Kreis nachgedacht werden. Dieser lässt sich – mit Blick vor allem auf das Thema Krim – kurz- und mittel-fristig kaum ohne Gesichtsverlust für den Westen rück-gängig machen. Ein denkbarer Ausweg könnte sein, das Format der Iranverhandlungen, „5 plus 1“, künf-tig über die Iranfrage hinaus pragmatisch als Plattform mit Russland zu nutzen. Das hätte den zusätzlichen Charme, dass für das Krisenmanagement im Fall Uk-raine endlich wieder ein Format zur Verfügung stünde, bei dem die USA vollwertiger Teilnehmer wären: We-der im Normandieformat noch in der sogenannten tri-lateralen Kontaktgruppe der OSZE ist Washington da-bei. Das ist weder im Interesse der Ukraine noch im Interesse der EU.

VIERTENS: Es ist unerlässlich, gemeinsam mit allen Teil-nehmerstaaten der OSZE, also auch mit Russland, nach Wegen zur Stärkung der europäischen Sicherheitsar-chitektur zu suchen. Konventionelle und nukleare Rüs-tungskontrolle müssen als gemeinsame Projekte der Krisenprävention und der Vertrauensbildung wieder auf die Tagesordnung. Für militärische Muskelspiele darf angesichts fortbestehender nuklearer Bedrohun-gen kein Platz in Europa sein. Auch Visionen strate-gischer wirtschaftlicher Zusammenarbeit verdienen Aufmerksamkeit, in Anknüpfung an frühere Vorstel-lungen – „von Lissabon bis Wladiwostok“.

Schließlich hat sich die fast tot geglaubte OSZE in der Krise bewährt, insbesondere durch die unter schwierigsten Bedingungen arbeitende Beobachter-mission in der Ukraine. Was liegt näher, als den mul-tilateralen Rahmen der OSZE wieder stärker auszu-schöpfen, um nach dem Ukrainedesaster Sicherheit und Zusammenarbeit in ganz Europa wieder zu the-matisieren? Einen diplomatisch-politischen Prozess in Gang zu setzen, war ja sogar im Kalten Krieg nicht un-möglich. Wir sollten Moskau einen solchen Prozess an-bieten. Dabei muss es darum gehen, ob wir gemeinsam die aufgestellten europäischen Sicherheitsprinzipien und Verhaltensnormen bekräftigen, stärken und, wo sinnvoll, ergänzen können. Es ist dann an Moskau, Ja oder Nein zu sagen – und sich gegebenenfalls mit ei-nem Nein unter den 57 Teilnehmerstaaten der OSZE noch weiter zu isolieren.

Das Format „5 plus 1“ könnte künftig über die Iranfrage hinaus als Plattform mit Russland genutzt werden

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WELTBÜHNEKommentar

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Große Geschichten stehen imDas Reporter-Magazin

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Von EMILIA SMECHOWSKI

Fotos PIOTR MALECKISeit sich der einstige Zehn kämpfer Bruce Jenner im Magazin Vanity Fair als Frau zeigte, spricht die Welt über Transsexualität. Cicero porträtiert die Politikerin Anna Grodzka, die früher Krzysztof hieß. Ausgerechnet im katholi-schen Polen ist sie Parlamentsabgeordnete. An guten Tagen wird sie ignoriert, an schlech-ten mit Rauchgranaten beworfen

NENNT MICH ANNA

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WELTBÜHNEReportage

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Schwuli haben sie ihn genannt, Tunte, Weichei, damals, in der Schule. Die Frau mit dem Boxergesicht, das Neutrum, Manns-weib. Das sagen sie heute, im Parlament.

Manchmal, wenn sie abends nach Hause kommt, aus ihren Pumps steigt und aufs Sofa fällt, mit einem Tee, wie ihn viele Polen trinken, stark, schwarz, mit einem Schnitzer Zitrone, fragt sie sich, was sie noch tun soll. Noch höhere Absätze, noch mehr Hormone, noch eine Operation? Dann taucht wieder dieser Gedanke auf, den sie hasst, weil er alles kaputt macht, alles verhöhnt, ihre Geduld, ihren Mut, diesen Schritt gegangen zu sein vom Mann zur Frau, dieser Gedanke lässt sich nicht abschütteln: Sie wird nie an-kommen. Sie wird nie eine rich-tige Frau sein.

Es ist dieses eine lateinische Wörtchen: trans. Ein Übergang. Nie ganz Mann, nie ganz Frau. Et-was dazwischen.

Anna Grodzka ist 61  Jahre alt – und sie ist Abgeordnete im polnischen Parlament. Wenn man Polen ihr Foto zeigt, können sie nicht sagen, für welche politischen Inhalte sie steht. Aber sie können sagen, dass sie nach Thailand ge-fahren ist, um sich die Brüste ma-chen zu lassen.

Für die Lesben, Schwulen, die Bi- und die Transsexuellen ist Anna Grodzka eine Ikone in ihrem Land. Die Mehrheit der Polen aber sagt: Sie ist eine Beleidigung für richtige Frauen. Ihre Gegner stür-men ihre Auftritte, brüllen Paro-len, halten Plakate in die Luft. Manchmal werfen sie Rauchhandgranaten.

Sie versucht, einfach weiter ihren Job zu machen. Wer von der Zuschauertribüne im Sejm, dem polni-schen Parlament, nach unten blickt, sieht zuerst ein rotes, glänzendes Etwas. Es ist Anna Grodzkas Le-dertasche, die sie gern bei sich trägt und die hier im Parlament wirkt wie der Piranha in einem Meer dun-kelblauer Anzüge.

ANNA GRODZK A WILL sich nicht mehr verstecken. Vergangenes Jahr hat sie die Partei gewechselt, weg von der Newcomer-Partei „Deine Bewegung“, hin zu den Grünen. „Deine Bewegung“ ist vergleichbar mit der Piratenpartei in Deutschland: basisdemokratisch, populistisch, etwas chaotisch. Ihr Anführer Janusz Palikot, ein Politclown, hat Anna Grodzka groß ge-macht. Doch nach der Wahl 2011, die die Partei aus dem Stand zur drittstärksten Kraft im Sejm machte,

fehlten die Inhalte. Anna Grodzka wartete nicht, bis die Umfragewerte unten angekommen waren. Sie stieg einfach aus.

„Ich will, dass die Grünen das entscheidende Ge-wicht in der Opposition gegen rechts werden“, hat sie in die TV-Kameras gesagt und ihre Brille hochgescho-ben. Im Moment tendiert das Gewicht der Grünen ge-gen null, im postsozialistischen Polen hat es eine linke Opposition schwer. Vor zehn Jahren gegründet, hat-ten die Grünen bisher nicht einen Sitz im Parlament. Bis Anna Grodzka wechselte.

Sie will nun die Gewerkschaften stärken, mehr Wohnraum schaffen, eine Trennung von Kirche und Staat durchsetzen im katholischen Polen.

Gibt man jedoch „Anna Grodzka“ bei Google ein, wird ihr Name durch ein drittes Wort ergänzt: „früher“. Das Netz lechzt nach Fotos, auf denen sie als Mann zu sehen ist.

Sie hat einen Sitz im Parla-ment, ganz links, in der ersten Reihe. Weiter kommt sie nicht. Im Frühjahr wollte sie bei der Präsi-dentschaftswahl kandidieren. Die nötigen 100 000  Unterschriften hat sie knapp verfehlt. Vor einem Monat wollte sie Vorsitzende der Grünen werden. Gewählt wurde eine 29 Jahre alte Aufsteigerin aus Breslau. Nun stehen im Herbst die Wahlen fürs Parlament an. Dann will Anna Grodzka ihr Mandat verteidigen.

Sie ist aus Warschau wegge-zogen, in einen Vorort mit Tannen,

40 Minuten mit dem Zug aus der Stadt. Die Leute hier gucken. Aber sie lassen sie in Ruhe. Ihr Haus ist das einzige, das man von der Straße aus nicht sehen kann. Ein zwei Meter hoher Betonwall verhindert die Sicht, und wer die Klingel ohne Namen drückt, wird von der Linse der Kamera fixiert.

WAS IST DAS für ein Leben? Krzysztof Begowski, ge-boren am 16. März 1954 in Otwock bei Warschau. So hat es jedenfalls angefangen.

„Pfui, Karol, aus!“, Anna Grodzka steht in der Tür-schwelle und lächelt entschuldigend, der Hund sei Be-sucher nicht gewöhnt, sagt sie. Die Doppelhaushälfte hat sie vor sechs Jahren gekauft, Teppiche auf dem Boden, ein Buddha in der Ecke, das Bad ganz in Rosa. Zwei Katzen liegen auf dem Sofa, sie scheren sich um nichts.

Sie hat heute wieder ihren langen Rock ange-zogen, Seidenbluse, etwas Rot auf die Lippen. Eine

Vanity-Fair-Cover im Juni: Aus dem Zehnkämpfer Bruce

Jenner wird Caitlyn Jenner und Trans sexualität

weltweit zum Thema

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WELTBÜHNEReportage

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Frau, an deren molligen Busen man sich schmiegen möchte. Eine rich-tige polnische Oma. Wenn nicht diese 1,88 Meter wären. Die im-mer noch zu tiefe Stimme. Der im-mer noch zu steife Gang. Es scheint, als sei alles an ihr etwas zu mas-siv geraten.

Sie muss lange nachdenken, wenn sie sich erinnern soll, wann

das alles angefangen hat, wann die Zweifel kamen: Bin ich wirklich ein Junge?

Anna Grodzka, geschieden, ein Sohn, nimmt zwei Züge aus der E-Zigarette, legt sie weg, streicht ihren

Rock glatt, nimmt sie wieder. Noch ein Zug. Erdbeere mit Minzge-schmack. Auf ihren Snoopy-Haus-schuhen steht: „Hug me“  – um-arme mich.

Dann fällt ihr die Puppe ein. „Ich war vielleicht sechs oder sie-ben, meine Mutter hat sie mir nach langem Betteln geschenkt. Ich habe ihr Kleider an- und aus-gezogen, sie hieß Ania.“ Später nennt sie sich selbst so. „Freud hätte seine Freude an mir gehabt.“ Sie fängt plötzlich an zu lachen, durchdringend, tief, kehlig, ja: männlich.

Das Lachen ist ihre Achilles-ferse, sie lacht oft, und oft vergisst sie, es zu kontrollieren, es weib-lich zu machen wie alles andere. Dann schaut sie erschrocken, wie ein Schauspieler, der aus der Rolle fällt. Sie weiß, dass die Menschen sie beobachten. Was an ihr ist noch zu männlich, was schon weiblich genug?

Anfangs war sie ein glückli-ches Kind. Bis zur Einschulung. Kinder können grausam sein. Du musst die Puppe zu Hause lassen, sagte die Mutter. Der Vater sagte nichts.

Auf dem Schulhof sah der kleine Krzysztof ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen. Wie hast du das gemacht, fragte er. Sie ver-stand die Frage nicht. Er ließ sich die Haare lang und länger wachsen.

Willst du nicht mit Papa angeln gehen, fragte die Mutter. Der Vater sagte nichts.

Lippenstift ist für Anna Grodzka ein Muss. Ihre

Nase ließ sie in Bangkok chirurgisch verkleinern

Seit sechs Jahren lebt Anna Grodzka in einem

Warschauer Vorort in einer Doppelhaushälfte

Anna Grodzka schützt sich mit einem hohen

Tor vor neugierigen Blicken

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Krzysztof wusste, was Jungs so machen. Sie spie-len Fußball, Basketball, sammeln Autos. Er versuchte es mit Fußball, Basketball, er sammelte Autos. Er ging mit Papa angeln.

Dann wünschte er sich zu Weihnachten eine zweite Puppe, eine Freundin für Ania. Unterm Baum lagen Eishockeyschuhe und kleine Bleisoldaten.

Irgendwann schleifte ihn die Mutter zum Friseur. Ein Pilzschnitt. Er heulte. Zum Trost kaufte sie ihm seine Lieblingsbonbons. Karamell, die mit der Kuh drauf. Oft steckte er sich gleich drei in den Mund, er konnte sie kaum kauen, so voll war es zwischen den Zähnen, klebrig süß. Die Kuhbonbons konnten das gut, ihn trösten.

Beim Sportunterricht wurde er noch nicht mal als Letzter in eine Mannschaft gewählt. Sie ig-norierten den dicken Jungen mit der Brille einfach.

Wenn Krzysztof nachts pin-keln ging, sah er oft seine Mut-ter in der Küche sitzen. Sie las in einem Buch, und wenn sie fertig war, stellte sie das Buch ganz oben ins Küchenregal. Einmal schaute Krzysztof nach, die Mutter hatte einen Zettel reingelegt, bei „Trans-sexualität“. Er sah dieses Wort zum ersten Mal. „Transsexuali-tät ist eine Abart der Natur, die aber heilbar ist.“ Er blätterte wei-ter. Hin zu Pädophilie. Koprophi-lie. Nekrophilie. Zoophilie.

Es waren die Siebziger. Es war Polen im Sozialismus. Transsexu-elle wurden in der Fachliteratur in einem Zug genannt mit Menschen, die auf Kinder stan-den, auf Exkremente, auf Tote und auf Tiere.

In den Fünfzigern wurden Transsexuelle in den USA zwangseingewiesen und bekamen Elekt-roschocks. Und heute? Wird „Transsexualismus“ im ICD-10, dem internationalen Standardwerk der Me-dizin, noch immer als Krankheit geführt.

KRZYSZTOFS KÖRPER VER ÄNDERTE SICH, der Bart spross, die Schultern wurden breiter, er hasste seinen Körper. Der erste feuchte Traum fühlte sich an wie ein großer Irrtum.

Im Badezimmer durchwühlte er den Mülleimer. Reste von Lippenstiften, Strumpfhosen mit Laufma-schen, er zog sie über. Wie hässlich Beinhaare darun-ter doch aussahen! Er nahm den Rasierer des Vaters, da knackte plötzlich das Schloss der Wohnungstür. Auf der Schwelle stand seine Mutter. Der Blick, der ihn traf, dauerte eine Ewigkeit. Sie drehte sich um und verließ

die Wohnung. Über seine Transsexualität haben sie nie miteinander gesprochen.

In seinem Kleiderschrank nahm er den Boden raus und versteckte dort alle Requisiten des Mädchens, das er nicht sein konnte. Irgendwann fing er morgens vor der Schule an, sich zu schminken. Nur ein bisschen. Sah ja keiner.

„Na, Püppchen, heute schon die Nase gepudert?“ Sie schubsten ihn. Da rammte er einem den Ellenbogen in den Bauch. Der Nächste bekam eins auf die Fresse. Wieder eine Schlägerei. Wieder ein Verweis. Schule? Kein Bock mehr.

Mit dem Gymnasium wurde es besser. Jungs in-teressierten sich für Mädchen, Mädchen für Jungs,

Krzysztof war plötzlich so et-was wie normal, als er dem ande-ren Geschlecht hinterherlief. Er konnte zuhören, er fand die rich-tigen Worte, die Jungs schauten neidisch.

Dann kam Tomek. Der Erste, mit dem er reden konnte  – und schweigen. Mit ihm hörte er Jazz. Sie probierten süßen Wein, Ziga-retten, Zitronenlikör. Sie fingen an, sich zu verkleiden. Einfach so, ein Spaß, der Rock der Mut-ter, die schicke Bluse. Jetzt könn-test du meine Freundin sein, sagte Tomek. Sie schlugen sich auf die Schenkel, die Pumps waren schon fast zu klein, da sagte Krzysztof: Nenn mich doch einfach Ania.

Beim nächsten Mal gingen sie raus auf die Straße, mal gucken, wie die Leute gucken. Sie umarm-

ten sich. Was habt ihr denn? Spießer.Dann diese Party im Keller. Die Mädchen bogen

ihre Körper und sangen „Cry baby“. Die Jungs stan-den am Rand und tranken Mut aus Dosen. Die Danuta ist süß, sagte Tomek. Krzysztof verstand nicht: Was? Er drehte den Kopf zu schnell, da passierte es schon, seine auf Tomeks Lippen, ganz kurz nur, aber lang ge-nug. Ihm wurde übel vor Glück. Tomek zog mit seiner Mutter nach Australien.

Krzysztof verliebte sich wieder. Er nannte sie „mein Schneeflöckchen“ und hatte verstanden: Die Liebe schert sich nicht ums Geschlecht.

Was ist das schon, männlich, weiblich? Es ist, was die Gesellschaft als männlich und weiblich definiert, so sieht es die Mehrheit der Soziologen heute. Und wi-derspricht damit einem Paradigma, das lange galt: Die Biologie allein bestimmt das Geschlecht.

Bei der Musterung zum Militär sagte er: Ich bin eine Frau, ich kann unserem Land leider nicht dienen.

Die Mehrheit der Polen sagt, Anna Grodzka sei

eine Beleidigung für richtige Frauen

70Cicero – 7. 2015

WELTBÜHNEReportage

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Sie empfahlen ihm Gruppentherapie. Er schrieb sich an der Warschauer Uni ein, für Psychologie.

Er war mit einer Frau zusammen, die er belog, die ihn nicht kannte. Aber er wollte sie nicht verlieren. Und fiel auf die Knie. Heirate mich! Das Schneeflöckchen sagte Ja.

Krzysztof blieb Krzysztof. So schwer konnte das nicht sein, dieses Leben als Mann. Er würde es eben lernen.

In der Nacht vor der Hochzeit schmiss er alles weg, was Ania gehörte. Vielleicht war das seine letzte Chance, der letzte Schritt, um doch noch ein Mann zu werden. Es war der erste Schritt in die Depression.

87  Prozent der Polen sind ka-tholisch, die Kirche hält nach wie vor alle Menschen, die nicht hetero-sexuell lieben, für krank. Der ehe-malige Papst Benedikt  XVI. sagte einmal, es sei genauso wichtig, die Menschheit vor homo- und transse-xuellem Verhalten zu schützen, wie den Regenwald vor der Vernichtung zu bewahren.

Auffällig ist, dass viele Selbst-mörder in Polen Briefe hinterlassen, in denen deutlich wird, wie sehr sie darunter gelitten haben, nicht so le-ben zu können, wie sie es wollten, sa-gen die Verbände der Schwulen, Les-ben und Transsexuellen.

„Ich war so unfassbar glücklich, als ich mit meinem Schneeflöckchen am Arm das Kirchenschiff durch-schritt“, sagt Anna Grodzka. „Und am Ende habe ich das alles verloren.“ Sie dreht sich weg, steht auf und rennt ins Bad. 15 Minuten braucht sie, um sich die Trauer aus dem Gesicht zu wischen. Die Trauer um ihre große, ihre einzige Liebe.

EIN TANZ, EIN WODK A, ein Tanz, ein Wodka, polni-sche Hochzeit eben, plötzlich nahm Krzysztof einen Stuhl und schepperte ihn auf den Bo-den. Und noch einen. Bis keiner mehr da war, den er zerscheppern konnte. Die Gäste versuchten ein Lächeln. Es tut mir leid, Schneeflöckchen, sagte er am nächsten Morgen. Und ließ sich einen Schnurrbart wachsen.

Die kommenden Jahre schlepp-ten sich so hin. Es kam vor, dass er monatelang den gleichen Pullover trug. Was änderte das schon. Als

Ihr Sitz im Parlament ist ganz links, in der ersten Reihe. Ausnahmsweise

sitzt sie auf der Tribüne

Die Grünen-Abgeordnete will die Gewerkschaften stärken

und eine Trennung von Kirche und Staat durchsetzen

Ihre politischen Gegner wollen keine Anna Grodzkas

in ihrem Land, egal, ob konservativ oder emanzipiert

Page 73: Cicero-07_2015

Krzysztof blieb Krzysztof, doch er begann, Spit-zenunterwäsche unter seinem Anzug zu tragen. Er de-ponierte sie im Auto, zog sich in einer Cafétoilette um, auf dem Rückweg nach Hause noch mal. Später folg-ten eine Halskette unterm Hemd, die Nylonstrümpfe unter der Hose.

Das Symbol der Transsexuellen ist weltweit der Schmetterling, ein Zeichen ihrer Verwandlung. Man-che brauchen ihr halbes Leben, um sich aus diesem Kokon zu befreien.

„Die meisten denken, ich sei ein Mann gewesen, der sich als Frau verkleidet. Aber das war ich nicht. Den Großteil meines Lebens war ich eine Frau, die sich als Mann verkleidet.“ Anna Grodzka nimmt ihren

Kater und setzt ihn sich auf den Schoß, ihre zehn Fingernägel hat sie unterschiedlich lackiert, wie immer. Schwarz, schwarz, türkis, grau, schwarz, und wieder zurück.

KURZ VERKLEIDEN, rein ins an-dere Geschlecht, und dann wie-der zurück: Einem Transvestiten gefällt der schnelle Rollenwechsel, das Spiel mit den Geschlechtern. Ein Transsexueller kann auf Dauer daran zugrunde gehen.

Wie viele Transsexuelle es in Polen gibt, wird nicht erfasst. Aber wer die Szene im Land ver-folgt, dem fällt auf: Die meisten entscheiden sich extrem spät für das Outing, mit etwa 50 Jahren.

„In Polen ist das Phänomen Transsexualität einfach noch un-bekannter als zum Beispiel in

Deutschland“, sagt Anna Grodzka. „Und mit Nicht-wissen geht Unsicherheit einher. Die meisten versu-chen, in ihrem angeborenen Geschlecht zu leben, zu-mindest so lange, bis die Schmerzgrenze erreicht ist. Das ändert sich bei der jungen Generation. Aber sehr langsam.“

Es kamen die Neunziger und mit ihnen das Inter-net und mit ihm die Freiheit. In Foren stellte Krzysztof endlich all seine Fragen. Welche Strumpfhosen muss ich kaufen, um meine Beinhaare zu verbergen? Wel-che Rockgröße brauche ich? Kennt ihr einen guten Pe-rückenmacher in Warschau?

Er sprang hin und her zwischen den Welten, der virtuellen Ania, dem realen Krzysztof. Und wieder zum Arzt. Statt Antidepressiva bekam er diesmal Ös-trogene. Die Welt wurde heller.

Es kamen die nuller Jahre. Immer wieder stach ein Schmerz durch seine linke Körperseite. 2005. Die Niere. Krebs. Bösartig. Plötzlich dieser eine Gedanke:

würde er seinem Leben nur zuschauen, schloss er sein Studium ab, wurde eingezogen in die Armee. Ein Jahr Grundausbildung. Marschieren, salutieren. War ihm egal.

Er fing in einem kleinen Buchverlag an, fuhr auf Messen, London, Bologna, Frankfurt. Es war am Main, als er das erste Mal zwei Männer sich küssen sah. Auf der Straße.

Sein Sohn wurde geboren. Männer durften da-mals nicht mit in den Kreißsaal, er hörte nur, wie der Arzt rief: „Es ist ein Junge!“ Er dachte: Was heißt das schon?

Tagsüber arbeiten, nachts hielt ihn das Kind wach. Er brauchte ein Ventil. Andere Väter kippten Biere in der Kneipe. Er ging in eine Dro-gerie und kaufte Lippenstift. Ich muss zum Arzt, sagte er seiner Frau, er erzählte was von Mig-räne. Und vereinbarte einen Ter-min beim Sexualtherapeuten.

Es waren die Achtziger. Nur wenige Ärzte behandelten Trans-sexualität; wer es tat, wusste zu wenig. Patienten wurden zu Ver-suchsobjekten. Krzysztof ging in Einzel- und Gruppentherapie, füllte Fragebögen aus, unterzog sich einem medizinischen Kom-plettcheck. Zwei Jahre ging das. Am Ende stand die Diagnose: transsexuell, psychisch eine Frau.

Was sein Leben lang ein dif-fuses Gefühl gewesen war, wurde plötzlich zu einer medizinischen Tatsache. Nun stand ihm alles of-fen. Einen Termin beim Gericht be-antragen, sein Geschlecht ändern lassen. Einen neuen, weiblichen Namen suchen. Das Gesicht korrigieren, die Brüste vergrößern, den Adamsapfel verkleinern, eine Vagina modellieren lassen. Alles war möglich.

ER HATTE ÜBER die Operation gelesen. Aus einem Stück der Eichel mit den dazugehörigen Nervenenden wird die Klitoris geformt. Die Harnröhre wird aus dem Penis gelöst und gekürzt. Die Hoden werden komplett entfernt. Die Penishaut dient dazu, einen Hohlraum im Körperinneren zu schaffen, zum Schluss werden aus dem Hodensack die Schamlippen geformt. Manch-mal müssen Monate später weitere Korrekturen erfol-gen. Aber immerhin: Ein Mann, der zur Frau operiert wird, kann später Lust empfinden. Umgekehrt ist das wesentlich komplizierter.

Nur: Wollte er das wirklich? Wie sollte das gehen, ein Leben als Transsexuelle? In seinem Freundeskreis gab es nicht einmal einen Schwulen.

Nach ein paar Wochen Funkstille rief ihr Sohn an. „ Darf ich dich trotzdem noch Papa nennen? “

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WELTBÜHNEReportage

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Wenn er sich jetzt unters Skalpell legte, um sein Leben zu retten, dann nicht das von Krzysztof, Ehemann und Vater. Die Schmerzgrenze war erreicht. Es war das Me-mento mori, das er gebraucht hatte.

Der Tumor wurde rausgeschnitten, er ließ sich ein Korsett anfertigen. Ging zum Perückenmacher, wählte braun und schulterlang, er kaufte Pumps in Übergrö-ßen und falsche Wimpern. Es fühlte sich an wie Hal-loween, als er sich in diesem Aufzug vor seine Fami-lie stellte, tief einatmete und die Bombe platzen ließ:

„Wie ihr seht, bin ich eine Frau.“Sein Schneeflöckchen fing an zu lachen, sie konnte

sich nicht beruhigen, sie lachte weiter, sie schrie, und irgendwann rannen ihr Tränen übers Gesicht. Sein Sohn starrte ihn nur an. Diesen Vater in Rock und Bluse. Er sagte nichts. Krzysztof wusste: Wenn er wirklich als Frau leben wollte, würde er den höchsten Preis zah-len. Den Preis der Einsamkeit.

ER VEREINBARTE einen Termin beim Gericht. In Polen müssen die Eltern der Geschlechtsänderung ihres Kindes zustimmen, egal wie alt es ist. Doch seine Eltern waren mittlerweile tot – und hatten ein großes Geheimnis mit ins Grab ge-nommen. Krzysztof war adoptiert. Ein kurzer Schock, doch auch der sollte ihn nicht mehr stoppen. Er suchte die Adresse der leiblichen Mutter und fuhr hin.

Tränen, Küsse, Umarmun-gen. Nun habe ich nicht nur drei Töchter, sondern auch einen Sohn, sagte sie. Da liegst du falsch, Mutter. Sagte er.

Sein Sohn und seine Ehefrau hatten den Kontakt abgebrochen. Aber die Mutter, über 70 und vom Dorf, nahm ihn einfach in den Arm. Anna Grodzka, gebo-ren im Februar 2008 in Warschau.

Sie hatte lang genug gewartet, nun wollte sie etwas tun, sie gründete mit anderen Transsexuellen, die sie im Chat kennengelernt hatte, einen Verein, Transfuzja. Selbsthilfegruppen in Warschau, rechtliche Hilfe und monatliche Partys, bald auch Büros in anderen Städten. Plötzlich interessierte sich das Fernsehen für sie, ein paar Zeitungen fragten an. Anna Grodzka antwortete.

„Es ist ein Unding, dass ein Erwachsener nicht selbst über seine Geschlechtsänderung entscheiden darf. Durch diese Hürde erhofft der Staat sich, dass der Transsexuelle nicht leichtfertig und vorschnell han-delt. Aber, wer bitte tut das schon? Das Bedürfnis, im richtigen, anderen Geschlecht leben zu wollen, reift in dir jahrelang, du hast Angst davor, deinen Partner,

deine Freunde, vielleicht sogar Job und Wohnung zu verlieren. Wer dann so weit ist, weiß schon, was er tut.“

Mehr als ihr halbes Leben war sie als Frau unsicht-bar gewesen. Nun hätte sie sichtbarer nicht sein kön-nen. Sie trat in TV-Shows auf, gab Radiointerviews, ja, ich habe mich schon immer als Frau gefühlt, nein, ich bin kein verkleideter Mann. Die eine Frage stellte ihr niemand. Sie stellte sie nur sich selbst: Soll ich die Operation wagen?

Sie ließ sich die Beinhaare weglasern, ging zur Kosmetikerin, schmierte Hormoncremes.

Für diejenigen, die gerade den Geschlechtswandel durchlaufen, führte sie die „transkarta“ ein, mit zwei Fotos: ein altes, ein aktuelles. Ein inoffizielles Doku-

ment, das aber nachweislich half, von Behörden ernster genommen zu werden.

Nach ein paar Wochen Funk-stille rief ihr Sohn an. „Darf ich dich trotzdem noch Papa nennen?“ Er durfte.

Anna Grodzka leerte ihr Konto und buchte. Einmal Bang-kok, hin und zurück, alles oder nichts. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum merkte, wie das Flug-zeug abhob und wieder landete. Beim Vorgespräch mit den Ärz-ten der Schock: Ihr Gesundheits-zustand lasse eine Operation an den Genitalien nicht zu. Ihr Herz zu schwach, ihr Körper zu schwer. Das Risiko zu groß. Die Operation dauert sieben Stunden.

Dafür setzten sie ihr Brustim-plantate ein, spritzten ihre Lippen

auf und verkleinerten die Nase. Zwei Tage später ver-ließ sie das Krankenhaus und ging direkt ins Nana, das berühmte Transsexuellenviertel Bangkoks. Über-all halbnackte Körper, alle zwei Meter wurde sie an-gesprochen, waren das jetzt Männer? Oder Frauen? Anna Grodzka flüchtete ins Hotel. Es war zu viel für einen Tag.

ETWA DIE HÄLFTE aller polnischen Transsexuellen lässt sich am Geschlecht operieren, so schätzt es zumindest der Verein Transfuzja. Genaue Zahlen gibt es nicht. Viele fliegen nach Thailand, der Eingriff dort ist billi-ger, die Bürokratie unkomplizierter. Aber braucht es die Operation überhaupt in einem Europa, das in der Welt für Freiheit stehen will? Reicht es nicht, sich als Frau zu fühlen?

Anna Grodzka zieht die Schultern nach hinten und schiebt den Rock über die Knie, die E-Zigarette hat sie abgelegt. „Wenn Sie selbst transsexuell wären,

„ Vielleicht muss ich erst die klas-sische Frau werden, um mich dann emanzipieren zu können “

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EMILIA SMECHOWSKI ist Reporterin. Sie ist in Polen geboren und in Deutschland aufgewachsen. Mehrere Wochen hat sie Anna Grodzka in der Öffentlichkeit begleitet  – und war erstaunt, wie einsam sie lebt

würden Sie wissen: Es reicht nicht.“ Karol sitzt neben ihr und hechelt, aber Anna Grodzka kann jetzt nicht, sie streicht ihre Perücke glatt. „Wichtig ist eben auch der Spiegel, den die Gesellschaft einem vorhält, und wenn dieser Spiegel jahrzehntelang gesagt hat, du bist ein Mann, das macht dich irgendwann fertig. Ich wollte nicht nur für mich selbst eine Frau sein. Ich wollte, dass auch alle anderen mich als Frau sehen.“

Aber: Männer können doch heute zum Waxing gehen und gleichzeitig Kfz-Mechaniker sein, Frauen Staaten regieren und in der Freizeit stricken. Was ist heute noch weiblich und was männlich, Frau Grodzka?

Anna Grodzka steht auf und geht in die Küche. Als sie wiederkommt, mit zwei Gläsern Tee, hat Karol es sich auf dem Sofa bequem ge-macht. „Ab, ins Körbchen, Karol! Wirst du wohl, ab!“ Sie gibt dem Hund einen Schubs mit dem Fuß und stellt den Tee ab. Dann sinkt sie wieder ins Ledersofa.

„Ich wollte schon als Kind lie-ber Gemischtwarenladen spielen als die schönsten Bleisoldaten ha-ben. Ich denke, Frauen brauchen diese Rivalität nicht wie Männer, für sie zählen Emotionen mehr als die Vernunft. Einer Frau ist es egal, ob sie BMW oder Opel fährt. Ihr Terrain ist eher das Haus, die Welt ist für den Mann da. Ich glaube nicht, dass diese Unterschiede nur kulturell, sondern auch biologisch bedingt sind.“ Anna Grodzka würde nie auf die Idee kommen, eine Hose zu tragen.

„Ich weiß, dass ich nicht ge-rade feministisch klinge. Aber vielleicht brauchen wir Transsexuelle diese Dichotomie männlich-weib-lich, um uns orientieren zu können. Vielleicht können wir in Polen nicht zwei Schritte auf einmal machen. Vielleicht muss ich erst die klassische Frau werden, um mich dann, irgendwann, emanzipieren zu können.“

IHRE POLITISCHEN GEGNER wollen keine Anna Grodz-kas in ihrem Land, egal, ob konservativ oder eman-zipiert, erst recht nicht im Sejm. Jarosław Kaczynski ist so einer, ehemals Ministerpräsident, heute Vorsit-zender der nationalkonservativen „Recht und Gerech-tigkeit“, und wie die meisten polnischen Politiker ka-tholisch und 50 plus. Wenn sie sich im Parlamentsflur begegnen, schaut er in die andere Richtung; wenn sie eine Rede hält, verlässt er den Saal.

Worte, die wehtun, lässt er Leute aus seiner Par-tei sagen. „Ein Mann, der Hormone in sich hinein-stopft, ist noch lange keine Frau“, hat eine von ihnen

gesagt, nicht abends in der Kneipe, sondern morgens in die Mikrofone der Journalisten. Der politische Ton in Polen ist rau.

Es ist fast egal, wo sie öffentlich auftritt: Meist sind ihre Gegner schon da und halten Plakate hoch.

„Grodzka raus aus dem Sejm!“, „Hormonverbot für Transen!“, bei einer Lesung ihrer Autobiografie in Warschau randalieren ein paar Hooligans, ihr Kra-kauer Abgeordnetenbüro wird verwüstet, jemand schmeißt eine Rauchhandgranate, ebenso bei einer Po-diumsdiskussion an der Warschauer Uni. Verletzt wird niemand. Anna Grodzka ist eine 1,88 Meter große Pro-vokation auf Stöckelschuhen.

„Für die Polen bin ich keine Frau, ich bin eine Transe“, sagt sie. Das Etikett wird sie nicht mehr los. Es ist wie ein Fluch: Ihr Ziel ist zum Greifen nah. Aber sie wird es nie erreichen.

Ob sie sich am Ende doch ei-ner Vaginaloperation unterzogen hat, das möchte sie nicht mehr sa-gen. Auch nichts zu ihrer Ehefrau. Nur so viel: Sie reden noch immer nicht miteinander.

SEIT ANNA GRODZKA als Frau lebt, hatte sie keine Beziehung mehr, sagt sie. Keine Liebe, keinen Sex. Die Einsamkeit ist zu ihrem stän-digen Begleiter geworden.

„Ich bin eine öffentliche Per-son, jeder auf der Straße erkennt mich. Ich bin Politikerin. Eine transsexuelle noch dazu“, sagt Anna Grodzka. „Würden Sie mit mir zusammen sein wollen?“

Sie versucht, die Einsamkeit wegzuarbeiten. Seit Jahren ist es die Ausnahme, dass sie einen Sonntag frei hat. Wenn doch, liest sie ein Sachbuch oder schaut fern. Ihren Sohn sieht sie, aber selten. Er hat Familie. Die Familie sagt nichts.

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht“, hat Simone de Beauvoir einmal gesagt.

Anna Grodzka würde alles dafür geben, hätte das Leben ihr diese Rolle von allein zugeteilt.

Seit Anna Grodzka als Frau lebt, hatte sie keine

Beziehung mehr. Keine Liebe, keinen Sex

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LEERES LAND

Etwa 700 000 Palästinenser verloren ihren Grund und Boden. Im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 wurden sie vertrieben oder flohen. Was bleibt, sind Ruinen. Bruno Fert hat sie fotografiert

SUBA, westlich von Jerusalem, wurde 1225 auf den Ruinen der Kreuzfahrerburg Belmot erbaut. 1948/1949 war das Dorf Stützpunkt der Truppen der ägyptischen Muslimbrüder

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WADI SALIB, Stadtteil von Haifa, wurde von christli-chen und muslimischen Arabern bewohnt. Während der Kämpfe im April 1948 floh die Mehrheit der Einwohner. Von 70 000 blieben etwa 4000 in der Stadt. Der Anteil der arabischen Bevölkerung in Haifa beträgt heute etwa ein Viertel

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AL-BASSA, nahe der Grenze zum Libanon, war eines der größten Dörfer im Norden des Landes. 1945 lebten hier 1360 Mus-lime und 1590 Christen. Die griechisch-orthodoxe Kirche, die sich heute im Industriegebiet der Stadt Shlomi befindet, ist eines der wenigen erhaltenen Gebäude

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KAFR‘INAN, östlich von Akko, wurde im Oktober 1948 von der Golani Brigade erobert. Die rund 300  Muslime zählende Bevölkerung wurde ausgewiesen. Als die Menschen zurückkehrten, wurden sie erneut vertrieben. 1950 konfiszier-te Israel den Grundbesitz per Gesetz

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AL QUBAYBA, südöst-lich von Ramla, zählte 1720 Einwohner im Jahr 1945. Seit 1929 hatte es in dem Ort eine Grundschule gegeben, die 1945 von 344 Schü-lern besucht wurde. Am 27. Mai 1948 vertrieben israelische Soldaten während der Operation Barak alle Bewohner

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KUWAYKAT, nordöstlich von Akko, heißt heute Beit HaEmek. Der Kibbutz wurde 1949 auf dem Land des einstigen arabischen Dorfes errichtet. Der Boden galt als der fruchtbarste der ganzen Gegend. Die Olivenbäume sind die einzigen Zeugnisse der ehemaligen Bewohner

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Es dauerte fast vier Jahrzehnte, bis die Ge-schichte der aus dem neu gegründeten Staat Israel Geflüchteten und Vertriebenen endlich erzählt wurde. Es war der israelische Histori-ker Benny Morris, der nicht nur die Gescheh-

nisse in dem Krieg dokumentierte, den sechs arabische Länder – Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Liba-non, Syrien und der Irak – dem jüdischen Staat am Tag nach seiner Gründung erklärt hatten. Morris rief in seinem Buch „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ auch eine in Israel verdrängte Erinnerung an

die Absentees – Abwesen-den – wieder ins Gedächt-nis. Etwa 700 000  Ara-ber flohen in den Jahren 1948 und 1949 – auch auf Aufforderung arabischer Staatsführer  – aus ihrer Heimat oder wurden von israelischen Truppen ver-trieben. Ihre Habe lie-ßen sie zurück. Ihr Land wurde auf Grundlage des Absentee-Property-Geset-zes dem israelischen Staat übereignet.

Heute beträgt die Zahl ihrer Nachkommen nach UN-Schätzungen sieben Millionen. Für sie sorgt ein 1948 eigens für

die palästinensischen Flüchtlinge ins Leben gerufe-nes Hilfswerk, die United Nations Relief and Works Agency, UNRWA. In manchen Ländern, wie im Liba-non, leben sie nach wie vor in Flüchtlingslagern und erhalten keine Arbeitserlaubnis. In anderen, wie Jorda-nien, wurden sie Staatsbürger. Die in Israel zurückge-bliebenen Araber sind Bürger des jüdischen Staates; sie machen fast 21 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

Heute nähert sich der französische Fotograf Bruno Fert mit seinen Bildern dem Ursprung des palästinen-sischen Flüchtlingsproblems. Judith Hart

LIFTA, Außenbezirk Jerusalems, wurde während des israelischen Unabhängigkeitskriegs entvölkert. Aber obwohl der Ort nicht vollkommen zerstört wurde, konnten die früheren Einwohner nicht zurückkehren. 55 der einst mehr als 400 Häuser stehen auch heute noch

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KAPITAL

Der Milliardärssohn Benjamin Otto erklärt, warum er erst jetzt in den kriselnden Familienkonzern einsteigt, Interview Seite 100

„ Als mein Vater ins Unternehmen einstieg, hieß es übrigens auch

schon mal, er werde das Erbe verspielen. Dann hat er aus dem dama-

ligen Otto-Versand einen Weltkonzern mit 54 000 Mitarbeitern geformt “

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Für die großen Energiekonzerne ist Rainer Baake das personifizierte Grauen. Er ist der Mann, der schon

vor einem Vierteljahrhundert als hessi-scher Umweltstaatssekretär die Hanauer Nuklearbetriebe stillgelegt und RWE mit seinen Sicherheitsbedenken wegen des inzwischen abgeschalteten Kernkraft-werks Biblis gequält hat. Der, der sich später unter Rot-Grün als Staatssekre-tär in Trittins Umweltministerium den Atomausstieg und das Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz (EEG) ausdachte. Der nach dem Regierungswechsel als Chef der Deutschen Umwelthilfe und Initiator ei-nes Energiewende-Thinktanks selbst ein paar Jahre lang stillgelegt war, zumin-dest aus Sicht der Industrie. Dessen bö-ser Geist endgültig ausgetrieben zu sein schien, als Schwarz-Gelb vor fünf Jah-ren die AKW-Laufzeiten wieder verlän-gerte. Doch dann passierte Fukushima – und Baake war plötzlich wieder im Spiel.

Andere Politiker mögen kommen und gehen, Rainer Baake ist einfach nicht wegzukriegen. Den Energieriesen musste es deshalb wie ein Fluch erschienen sein, als Sigmar Gabriel nach der zurücklie-genden Bundestagswahl ausgerechnet ihn zum Staatssekretär im Wirtschafts-ministerium berief – noch dazu mit dem Zuständigkeitsbereich Energiewende.

Dabei ist Baake nicht einmal Sozial-demokrat, sondern ein Grüner seit mehr als drei Jahrzehnten. Besonders unange-nehm dabei: Rainer Baakes Kompetenz. Dass der Volkswirt sich in der Materie auskennt wie kaum ein Zweiter, streiten nämlich selbst seine Gegenspieler von den Stromkonzernen nicht ab. Aber es treibt sie zur Weißglut, dass der 59-Jäh-rige mit seiner gespielten Naivität gern mal so tut, als könne er kein Wässerchen trüben. Manche nennen ihn deshalb ei-nen verkappten Ideologen.

Rainer Baake sitzt beim Lunch in ei-nem kleinen Restaurant nicht weit von seinem Ministerium entfernt. Der Staats-sekretär ist zu Fuß gekommen; er spricht leise, der große Auftritt ist nicht sein Ding. Sind Sie ein Ideologe, Herr Baake? „Ich sehe mich als Pragmatiker mit einer kla-ren inneren Orientierung“, lautet seine Antwort. Beim Wort Ideologie schwinge stets auch der Vorwurf des Unsachlichen mit. Und unsachlich sei er gewiss nicht – obwohl es in der Anti-AKW-Bewegung immer auch um Emotionen ging.

EMOTIONAL REAGIEREN vor allem Baa-kes Gegner. Ende April zum Beispiel, als 15 000 Menschen, darunter sogar RWE-Chef Peter Terium höchstpersönlich, in Berlin gegen die geplante Klimaschutzab-gabe für ältere Kohlekraftwerke demons-trierten. Auf Plakaten war Rainer Baake zu sehen, der die Fäden einer Sigmar-Gab-riel-Marionette in Händen hielt. Dazu der Spruch: „Baake lässt Gabriel Jobs killen!“ Der so Angefeindete kontert betont sach-lich: „Als wir Mitte des letzten Jahrzehnts den Emissionshandel eingeführt haben, gab es Fackelzüge, und die Deindustria-lisierung Deutschlands wurde vorherge-sagt.“ Heute solle der Stromsektor einen

„bescheidenen Beitrag“ von 22 Millionen Tonnen weniger CO2-Ausstoß leisten, um das nationale Klimaziel zu erreichen – bei Emissionen von über 300 Millionen Ton-nen CO2 „ist das alles andere als ein Koh-leausstieg“. Sämtliche Katastrophensze-narien seien „maßlos übertrieben“.

Die Industrie sieht das naturgemäß anders; inzwischen steht ein Kompro-missvorschlag zur Diskussion. Trotz-dem dürfte Sigmar Gabriel sich über den Proteststurm geärgert haben, den sein Staatssekretär ihm da eingehandelt hat – immerhin waren auch Tausende Ge-werkschafter unter den Demonstranten.

Die Sache mit der Klimaschutzab-gabe ist freilich nur ein Nebenkriegs-schauplatz – Rainer Baakes Kernaufgabe bleibt die Energiewende. Hier müssten die Dinge sortiert werden, um das Vor-haben „plan- und berechenbar zu ma-chen“, sagt er. Denn längst wachsen die Zweifel, ob Deutschland tatsächlich den Ausstieg aus der Kernkraft hinbekommt, ohne seinen Wohlstand zu gefährden. Baake verbreitet Optimismus; er habe

„überhaupt keine Zweifel“, dass das Ex-periment gelingen werde. „Die Energie-wende darf nicht nur eine ökologische, sie muss auch eine ökonomische Erfolgs-geschichte werden.“

Ausgerechnet Baake, der einst mit dem EEG zugunsten der erneuerbaren Energien massiv in die Strommärkte eingegriffen hat, propagiert neuerdings marktwirtschaftliche Prinzipien. So sei es „von zentraler Bedeutung, dass wir eine freie Preisbildung zulassen. In Zei-ten von Knappheit müssen auch Knapp-heitspreise möglich sein.“ Der Grund-gedanke: Falls Wind und Sonne wegen der Wetterlage nicht genug Strom liefern, sollen privat betriebene Kraftwerke den Ausgleich schaffen. Das rentiert sich aber nur, wenn deren Eigentümer in diesen kurzen Zeiten nicht nur ihren Brennstoff, sondern auch ihre Investitionen erwirt-schaften können. Dazu sind wiederum derart hohe Strompreise notwendig, dass die Energiekonzerne fürchten, in solchen Fällen als preistreibende Halsabschnei-der gebrandmarkt zu werden.

Rainer Baake irritiert das nicht. Er bleibt dabei und klingt wieder ganz sach-lich: „Wir werden dank Energiewende auf mittlere Sicht das kostengünstigere Stromsystem haben als andere Länder.“

IMMER SCHÖN SACHLICHRainer Baake ist die Hassfigur der Stromkonzerne – als Grüner kümmert er sich in Sigmar Gabriels Wirtschaftsministerium um das Jahrhundertprojekt Energiewende

Von ALEXANDER MARGUIER

ALEXANDER MARGUIER ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero

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H inter ihm ein großes Transparent, „Wir sind es wert“ steht darauf. In Rot natürlich. Vor ihm Demonst-

ranten in Verdi-Westen. In Rot natürlich. Frank Bsirske trägt Blau. Blaue Hose, blauer Blazer, kariertes Hemd. Das Ge-sicht braun gebrannt, läuft Bsirske durch Hannover. Inmitten von gut 3000 Erzie-hern, die 10 Prozent mehr Gehalt haben wollen. Er plaudert, schüttelt Hände, für ein Foto ist er immer zu haben.

Es ist der Auftritt eines Mannes, der der Republik gerade viel zumutet. Mehr noch als GDL-Chef Claus Weselsky, der als die Zumutung schlechthin gilt. Der hat Zugpassagiere und den von Güter-wagen abhängigen Teil der Wirtschaft verprellt. Bsirske aber, Chef der Dienst-leistungsgewerkschaft Verdi, ist eine Zu-mutung für berufstätige Eltern kleiner Kinder und für diejenigen, die Post be-kommen, sprich: für alle.

Im Mai lässt er die Kita-Erzieher drei Wochen lang streiken. Im Juni schickt er die Zusteller der Deutschen Post in den unbefristeten Streik. So viel Arbeits-kampf war lange nicht mehr.

Es gibt gute Gründe, Kindergärtne-rinnen streiken zu lassen. Sie sind dürftig bezahlt. Es gibt gute Gründe, die Deut-sche Post zu bestreiken. Sie will ihre Zusteller in kleine Gesellschaften aus-gliedern, was meist die Vorstufe zum Lohndumping ist.

Doch Bsirske bringt es fertig, diese guten Gründe vergessen zu machen. In-dem er vor allem auf den Faktor Neid setzt. Wenn es um die Finanzierung der Verdi-Forderungen geht, dann spielt er ungeniert Kita-Erzieher gegen daheim erziehende Eltern aus: „Der Bund verpul-vert Geld für die Zuhause-Prämie.“ Oder er verweist auf Millionäre: „Deutschland ist eine Steueroase für große Erbschaften und Vermögen.“

So muss man wohl argumentieren, wenn man wie Bsirske im Haushalt ei-nes KPD-Mitglieds aufwächst und später neun Jahre Bildungssekretär bei den so-zialistischen Falken ist. Man kann aber auch in der Sache argumentieren, wie es DGB-Chef Reiner Hoffmann macht, der ebenfalls zur Verdi-Solidaritätskundge-bung in Hannover gekommen ist: „Wir erleben doch gerade, dass die Steuermit-tel sprudeln.“ Da versteht jeder, weshalb mehr Geld für Kita-Mitarbeiter drin ist.

BSIRSKE IST EINE ZUMUTUNG für andere Gewerkschaften. Sein Kollege Weselsky lässt Eisenbahner streiken, um sich mehr Einfluss gegenüber Konkurrenzgewerk-schaften zu sichern. Auch der Verdi-Chef mischt sich gerade in die Domänen an-derer Gewerkschaften ein. „Bei uns be-harken sich Verdi und IG Metall regel-recht, um Tarifverträge abschließen zu können“, beobachtet das Führungsmit-glied eines Energiekonzerns.

Dahinter steckt – wie bei der GDL – purer Machterhalt. Verdi ist mit zwei Mil-lionen Mitgliedern nach der IG Metall immer noch die zweitgrößte deutsche Ge-werkschaft. Doch in den letzten 14 Jah-ren hat sie fast ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Bsirske will sie wieder attrakti-ver machen, indem er den Anspruch er-hebt, möglichst viele Berufsgruppen zu vertreten. Der von ihm ausgelöste Wett-streit zwischen den Gewerkschaften wurde so prekär, dass DGB-Chef Hoff-mann vermittelnd eingriff.

Bsirske ist eine Zumutung für die ei-gene Partei. Der Verdi-Mann fällt unter Gewerkschaftsbossen aus dem Rahmen: Er ist der einzige mit grünem Parteibuch. Doch viel gemein hat er mit seiner Partei nicht. „Ich habe den immer als rechten Sozi wahrgenommen“, sagt ein gut ver-netzter Parteifreund.

Der Verdi-Chef vertritt Positio-nen, die dem grünen Parteiprogramm schlichtweg widersprechen. Er ist für die Kohle und gegen den Atomausstieg, schließlich gehören die Mitarbeiter der Energiebranche zu seiner Klientel. Und während Grüne in der Regel einen gro-ßen Bogen um Wirtschaftslobbyisten ma-chen, hat Bsirske kein Problem damit, auf der Housewarming-Party des Cheflobby-isten des Handelskonzerns Metro vorbei-zuschauen. „Der Mann ist nicht verbohrt, nicht fundamentalistisch“, lobt ihn des-halb ein Industrievertreter.

Bsirske ist auch eine Zumutung für Verdi. Seit fast 15 Jahren steht er an ih-rer Spitze. Dennoch will sich der 63-Jäh-rige im September noch einmal für vier Jahre wählen lassen. Obwohl Verdi ge-gen die Rente mit 67 kämpft. Und obwohl mit seinen Stellvertretern Andrea Kocsis und Frank Werneke junge und profilierte Nachfolger zur Verfügung stünden.

Der Gewerkschaftschef hat aber ein Problem. „Im Vergleich etwa zur IG Metall herrscht bei Verdi Anarchie“, sagt ein einflussreicher Gewerkschaf-ter. Denn auch 14  Jahre nach der Fu-sion von fünf Gewerkschaften existie-ren bei Verdi auf vielen Ebenen immer noch die Strukturen der Einzelgewerk-schaften. „Nur durch Bsirske hält Verdi überhaupt zusammen. Und deshalb muss er noch einmal antreten“, sagt der Gewerkschafter.

Frank Bsirske hat sich unersetzlich gemacht, weil er jene Strukturreformen unterließ, die Verdi zu einer modernen, effizienten Gewerkschaft machen wür-den. Eigentlich eine Zumutung.

SCHLIMMER ALS WESELSKYVerdi-Patriarch Frank Bsirske nervt nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch seine Gewerkschaftskollegen und die eigene Partei. Ein Ende ist nicht in Sicht

Von ANDREAS THEYSSEN

ANDREAS THEYSSEN, Autor in Berlin, hat 16  Jahre Helmut Kohl miterlebt. Seitdem hat er eine gewisse Skepsis gegenüber Amtsträgern, die nicht loslassen können

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G reift ein Kunde das erste Mal zum Spazierstock, ist dieser schon durch viele Hände gegan-

gen. Das Holz wurde gedämpft und ent-rindet, gelagert und umgeschichtet, wie-der erwärmt, gebogen, geschliffen, gesägt oder gedrechselt, poliert und lackiert. Bei jedem Arbeitsschritt fasst stets die Hand des Stockmachers zu. Stockmacher gibt es allerdings kaum noch. Seit Jahrzehn-ten ist der Lehrberuf ausgestorben. „Ich bin Tischler“, sagt Hans-Jochen Gast-rock. „Aber mein Großcousin hier in der Firma ist noch Stockmachermeister.“

Traditionelles Know-how besitzt die Gastrock GmbH in Wahlhausen also noch. Einst war die ganze Gegend an der Grenze zwischen Hessen und Thüringen berühmt für ihre Stockmanufakturen. Das fast 150 Jahre alte Traditionsunter-nehmen ist eines von ganz wenigen, die in dem arbeitsintensiven Gewerbe noch übrig sind. Wer heute in Deutschland ei-nen „Kassen-Fritz“ verordnet bekommt, in England einen „Pfefferrohr-Derby“ erwirbt oder in Frankreich einen Frack-stock mit Silberknauf wählt, wird des-halb mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Gastrock-Produkt benutzen. Nicht mal in Großbritannien gibt es noch Stockprodu-zenten. „Die Engländer pflegen die Spa-zierstockkultur ja sehr, das ist für uns ein ganz wichtiger Markt“, sagt Hans-Jochen Gastrock, der die Firma in fünfter Gene-ration führt. Die Zuneigung geht sogar so weit, dass britische Gärtner geeignetes Holz nach Deutschland schicken.

Denn Spazierstöcke wachsen tat-sächlich in der Natur. Man braucht junge, vier bis sechs Jahre alte Baumtriebe. Di-rekt am Fabrikgebäude steht darum eine Schonung mit heimischen Hölzern wie Buche und Esche, weitere vier Hek-tar bebaut Gastrock in der nahen Um-gebung. Einer Fertigungstiefe von fast

100 Prozent steht damit auch noch eine Kreislaufwirtschaft zur Seite, in der man dank Holzabfällen ohne fossile Brenn-stoffe auskommt.

Fürs Brotgeschäft von jährlich einer halben Million Teile reicht die eigene An-pflanzung allerdings nicht aus. „Nach Ih-rem Besuch sehen Sie die Landschaft mit anderen Augen“, sagt Hans-Jochen Gast-rock. Denn wer mit dem Zug gekommen ist, sieht auf der Rückfahrt im Gleisge-hölz links und rechts der Bahntrasse Spa-zierstöcke im Naturzustand.

DOCH WIE ÜBERLEBT man in einer sol-chen Nische zwischen Handwerk und Industrie?

Rund 40 Mitarbeiter hat die Firma, und natürlich waren die Zeiten schon besser. Früher hatte man Aufträge wie den eines Whisky-Giganten, 4000 Trink-stöcke mit kleinem Alkoholtank zu Wer-bezwecken zu produzieren. In den siebzi-ger Jahren, erzählt der 51-Jährige, habe sein Vater eine Dreiviertelmillion Wan-derstöcke verkauft. Pro Jahr! Wer in die Berge fuhr, kam nicht ohne dieses Souve-nir zurück. Anfang der Achtziger brach das Geschäft ein; heute sind die Wan-derstöcke mit den markanten halbrun-den Griffen nur noch ein Randgeschäft. Genauso wie Sitz- und Zielstöcke für die Jagd und Stützschirme, auf denen das volle Körpergewicht ruhen kann.

Billigimporte bedrohen das Ge-schäft. Rund 80 Prozent des Umsatzes macht Gastrock jedoch mit Gehstöcken für ältere Menschen, und hier unter-wirft man sich einer strengen Medizin-produkte-Zertifizierung. Die Belastbar-keitsangabe im Katalog wird regelmäßig überprüft. Kein übergewichtiger Kunde muss Angst haben, dass sein Stock unter ihm zusammenbricht. Das Modell „Goli-ath“ hält bis zu 225 Kilogramm aus.

Übergewicht und Überalterung ga-rantierten jetzt den Bestand der Firma, sagt Hans-Jochen Gastrock. „Aber wo sich ein Markt öffnet“, schränkt er ein,

„stürzen sich auch andere darauf.“ Die Größe eines kleinen, dennoch weltweit liefernden Mittelstandsbetriebs zu hal-ten, scheint ihm das Optimum.

Gegen Massenfertigung aus China ist er chancenlos, ihr begegnet er vorsorg-lich mit einem Design-Feuerwerk. Zwei-mal im Jahr kommt seine neue Stockkol-lektion heraus. Mehr als 1000 Varianten hat Gastrock im Sortiment. „Das ist eine konservative Ware“, räumt er ein. „Aber natürlich gibt es auch jüngere Leute, die sich für freche Farben oder eine Velours-beflockung begeistern können.“

Individuelle Kollektionen gibt es be-reits ab 30 Stück. Längst ist der Krück-stock früherer Tage keine graue Maus mehr. Passend zu Anzug oder Handta-sche könnte er künftig täglich gewech-selt werden. Darauf, dass ältere Men-schen auf solche Statussymbole Wert legen, setzt einer der letzten Stockma-cher Deutschlands seine Hoffnung.

ER LEBT VON STÜTZENHans-Jochen Gastrock fertigt Spazierstöcke. Seine Kunden sind Jäger, Wanderer, Senioren und Übergewichtige. Das Modell „Goliath“ hält bis zu 225 Kilogramm aus

Von FLORIAN FELIX WEYH

FLORIAN FELIX WEYH, Schriftsteller und Journalist, war verblüfft, welche Eleganz eine medizinische Gehhilfe heutzutage ausstrahlt

MYTHOS MITTELSTAND

Was hat Deutschland, was andere nicht haben? Den Mittelstand! Cicero stellt in jeder Ausgabe einen mittelständischen Unternehmer vor. Die bisherigen Porträts finden Sie unter: www.cicero.de/mittelstand

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Die Abstimmungen bei Hauptversammlun-gen deutscher Topkonzerne erinnern in der Regel an Wahlen in totalitären Dik-taturen. Geht es um die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat oder die Wahl

neuer Aufseher, sind die Ergebnisse meist wie bei Par-lamentswahlen in Nordkorea: 99 Prozent plus x.

Insofern war die Hauptversammlung der Deut-schen Bank am 21. Mai eine Sensation: Die beiden Vor-standschefs Anshu Jain und Jürgen Fitschen wurden nur mit jeweils 61 Prozent der Stimmen der versam-melten Aktionäre entlastet. Für Aufsichtsratschef Paul Achleitner war es der letzte nötige Hinweis, dass Jain und Fitschen nicht mehr zu halten waren, um die neue Strategie der Bank und den notwendigen Kulturwan-del zu verkörpern. Dafür war die Zahl der Rechtsstrei-tigkeiten, kriminellen Handlungen und Zinsmanipu-lationen, in die Deutschlands größte Bank verwickelt ist, einfach zu hoch. Gut zwei Wochen später mussten Jain und Fitschen ihren Rücktritt erklären.

Achleitners Arbeit als Aufsichtsratschef zeigt aber auch beispielhaft, dass sich die Jobbeschreibung der Unternehmenskontrolleure in den vergangenen Jah-ren dramatisch verändert hat und die Anforderungen weiter steigen. Was früher als bezahltes Ehrenamt für Ex-Manager galt, ist inzwischen ein Fulltimejob für ausgewiesene Branchenexperten. Zeit für eine Typo-logie der deutschen Aufseher.

DER CHAIRMAN OF THE BOARDEs wirkte wie ein Treppenwitz angesichts des Chaos bei der Deutschen Bank, dass die Personalberater Rus-sell Reynolds Associates drei Tage nach dem Rücktritt von Jain und Fitschen den Aufsichtsrat der Deutschen

Sie berufen und entlassen

Vorstände, sie müssen die Arbeit

der Konzern-chefs kontrol -

lieren. Der Druck der Öffentlichkeit

auf sie wächst. Aufsichtsrat ist heute ein

Vollzeitjob. Eine Typologie der

Aufseher

DIE HEIMLICHEN BOSSE

Von TIL KNIPPER Illustrationen SUSANN STEFANIZEN

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Ausländer und Branchenexperten stärker in den Auf-sichtsgremien vertreten sind. Unterschiedliche Sicht-weisen erhöhen die Qualität der Kontrolle.

DER PATRIARCH Neben Achleitner hat in den vergangenen Monaten vor allem ein weiterer Aufsichtsratschef die Schlagzeilen beherrscht: Ferdinand Piëch, inzwischen zurückgetre-tener Chefaufseher beim Autohersteller Volkswagen. Piëch gehört zur aussterbenden Art der Patriarchen an den deutschen Konzernspitzen, die nach dem Motto handeln: Ist mir doch egal, wer unter mir Vorstands-chef ist.

Ungewöhnlich war es daher nicht, dass Piëch An-fang April zum wiederholten Male einen Manager mit einer kurzen öffentlichen Äußerung loswerden wollte. Die eigentliche Überraschung bestand darin, dass es ihm nicht gelang. „Ich bin auf Distanz zu Winterkorn“, hatte Piëch in einem Interview mitgeteilt. Aber sein langjähriger Zögling Martin Winterkorn sitzt immer noch auf dem Vorstandssessel in Wolfsburg, während Piëch sich zum Rücktritt gezwungen sah. Der Rest des Aufsichtsrats hatte dem Patriarchen erstmals die Ge-folgschaft verweigert.

Ob der Alte, wie Piëch in Wolfsburg lange ehr-fürchtig genannt wurde, damit ganz weg ist, bleibt of-fen, da er als Mitglied des Porsche-Piëch-Clans wei-terhin einen großen Teil der VW-Aktien kontrolliert.

Dass Piëch abtreten musste, ist für Volkswagen aus mehreren Gründen positiv. Mit 1,48 Millionen Euro Vergütung war er der teuerste Aufseher Deutsch-lands. Außerdem hat der Konzern unter seiner Auf-sicht Trends wie den Elektroantrieb, autonomes Fah-ren oder Carsharing verschlafen.

Das größte Problem am Typus Patriarch, der in Deutschland fast immer ein älterer, weißer Mann ist, besteht darin, dass er vor allem aus Eitelkeit an sei-nem Amt festhält. Er kann den Gedanken nicht ertra-gen, auch noch seinen letzten einflussreichen Posten zu verlieren, und beruft Gleichgesinnte aus seinem Netz-werk ins Gremium. In Zeiten globaler Märkte fehlt die-ser homogenen Gruppen älterer Männer aber häufig die Marktkenntnis, ohne die eine effiziente Aufsicht kaum möglich ist. Gleichzeitig zeigt sich, dass es in deutschen Konzernen an vernünftiger Nachfolgepla-nung für den Aufsichtsrat mangelt.

DER EX-CEOIm Mai konnte man es wieder bei BMW beobach-ten, als Norbert Reithofer aus Altersgründen den Vorstandsvorsitz abgeben musste, aber direkt an die Spitze des Kontrollgremiums gewählt wurde. Das ver-bietet das Aktiengesetz zwar eigentlich, lässt aber eine Ausnahme zu, wenn ein Viertel der Aktionäre diesem übergangslosen Wechsel zustimmt. Das war bei BMW

Bank in einer Studie zum besten Aufsichtsrat der Dax-30-Unternehmen kürte.

Aber was komisch klingt, muss nicht falsch sein. Paul Achleitner verkörpert einen neuen Typus des Chefkontrolleurs. Er weicht die in Deutschland übliche klare Trennung zwischen Aufsichtsrat und Vorstand auf und agiert eher wie ein angelsächsischer Chairman of the Board: Hinter den Kulissen steuert der einstige Deutschland-Chef der Investmentbank Goldman Sachs und Ex-Finanzvorstand der Allianz schon länger die Geschicke der Deutschen Bank, greift weit stärker ins Tagesgeschäft ein, als bei Aufsehern hierzulande üb-lich. Mehr als 60-mal tagte der Aufsichtsrat der Deut-schen Bank im vergangenen Jahr – das ist deutscher Rekord. An seiner Branchenexpertise bestehen ohne-hin keine Zweifel.

Der gebürtige Österreicher ist seit seinem Amts-antritt 2012 Dauergast in der Chefetage der Bank in Frankfurt. Achleitner sagt selbst, er arbeite mehr als zu seiner Zeit im Vorstand der Allianz. Eins muss man ihm lassen: Die Abnabelung von Fitschen und Jain und die Regelung der Nachfolge hat er schnell und elegant gelöst, weil er sich mit dem neuen Vorstandschef John Cryan schon vorher einen passenden Kandidaten in den Aufsichtsrat geholt hatte. Der Brite ist eingearbei-tet und kann problemlos ins Vorstandsbüro wechseln.

Dass sich die Aufsichtspraxis in deutschen Unter-nehmen dem international weiter verbreiteten Board-system angleicht, hängt aber auch damit zusammen, dass der sichere Hafen Deutschland für die großen in-ternationalen Investmentfonds und Pensionskassen ein wichtiger Aktienstandort geworden ist. Sie fordern ak-tive Chefkontrolleure und setzen voraus, dass Frauen,

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der Fall, weil der Großaktionär, die Familie Quandt, einverstanden war.

Diese Konstellation birgt einen Interessenkonflikt, weil der neue Aufsichtsratschef überwachen soll, ob die langfristigen Entscheidungen, die er noch als Vor-standschef getroffen hat, richtig waren. Eine neut-rale Kontrolle sieht anders aus. Eingeführt wurde die Änderung im Aktienrecht im Jahr 2009, um eine zu große Nähe zwischen Vorstand und Aufsichtsrat zu verhindern.

Kein unbegründeter Verdacht, wie eine Studie der WHU in Vallendar und der Universität Mainz zeigt, die Chefwechsel bei 150 börsennotierten Unternehmen untersucht haben: Wird ein Vorstandschef unmittel-bar in den Aufsichtsrat gewählt, steigt das Jahresge-halt seiner ehemaligen Kollegen im Vorstand durch-schnittlich pro Kopf um etwa 122 500 Euro. Wird er direkt Aufsichtsratsvorsitzender, liegt die Gehaltser-höhung im Schnitt sogar bei fast 275 000 Euro.

DER POLITIKERWenn Steuergelder im Spiel sind, fühlen sich Politiker häufig genötigt, Aufsichtsratsmandate anzunehmen. So wie aktuell Michael Müller, Berlins Regierender Bürgermeister, der zunächst nicht in den Aufsichtsrat des Berliner Pannenflughafens wollte, nun aber An-fang Juli den Posten des Vorsitzenden anstrebt.

Dabei machen Politiker nur selten eine gute Fi-gur in Aufsichtsräten, wie schon Müllers Vorgänger Klaus Wowereit und der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck bewiesen haben. Oder die ehemaligen Bundesminister Michael Glos und Peer Steinbrück, die als Aufseher der staatlichen

Kreditanstalt für Wiederaufbau 2008 nicht verhindern konnten, dass deren Tochter, die IKB, mit 9,2 Milliar-den Euro Steuergeldern gerettet werden musste.

Peter Dehnen, der Vorstand der Vereinigung für Aufsichtsräte in Deutschland, plädiert daher dafür, dass mehr Fachleute in die Gremien einziehen. Politi-kern wie Müller fehle es am notwendigen Know-how bei Themen wie Finanzierung, Rechnungswesen und Risikomanagement, kritisiert Dehnen. Eine kritische Kontrolle der Geschäftsführung und eine Diskussion

„auf Augenhöhe“ sei so nicht gewährleistet.

DIE QUOTENFRAUENAn die Spitze des Aufsichtsrats eines Dax-Unterneh-mens hat es bisher erst eine Frau geschafft. Simone Bagel-Trah, Ururenkelin von Gründer Fritz Henkel, vertritt als Aufsichtsratschefin die Interessen der Hen-kel-Familie, die den Konsumgüterkonzern noch zu weiten Teilen besitzt. Schon deswegen ist Bagel-Trah eine Ausnahme.

Wegen der gesetzlichen Quote sind aber alle Kon-zerne händeringend auf der Suche nach qualifizierten Frauen für ihre Aufsichtsräte. Gefragt werden bisher immer dieselben. Ann-Kristin Achleitner, die Frau des Deutsche-Bank-Kontrolleurs, und Renate Köcher haben jeweils zwei Dax-Mandate. Achleitner kontrolliert die Vorstände des Industriegase-Herstellers Linde und des Rückversicherers Munich Re, Köcher Allianz und BMW. Für die Spitze eines Dax-Aufsichtsrats kommen sie aber nicht in Betracht, weil die beiden Wissenschaftlerinnen keine operative Erfahrung in einem Konzern gesammelt haben. Nicola Leibinger-Kammüller, die Mandate bei der Lufthansa und bei Siemens hat, ist als Chefin des Familienunternehmens Trumpf ausreichend ausgelastet.

Bis neben Bagel-Trah noch weitere Frauen zu Chefaufseherinnen werden, können noch Jahre ver-gehen. Erst wenn die Frauen in großer Zahl die Chef-etagen der Konzerne bevölkern, wird es anschließend auch weiblichen Nachwuchs für den Posten des Auf-sichtsratsvorsitzenden geben.

Es bewegt sich vieles beim Thema Aufsichtsrat, und die Anforderungen an die Kontrolleure werden immer größer. Ein Multiaufsichtsrat wie der frühere Deut-sche-Bank-Chef Hermann Josef Abs, der in den sech-ziger Jahren an der Spitze von 21 Aufsichtsräten saß, ist heute nicht mehr denkbar und seine Meinung über Aufsichtsräte ist auch nicht mehr zeitgemäß: „Die Hun-dehütte ist für den Hund, der Aufsichtsrat ist für die Katz.“

TIL KNIPPER ist Ressortleiter Kapital bei Cicero. Aufseher tun ihm leid, denn über ihre Arbeit wird nur gesprochen, wenn etwas schiefläuft

Politiker machen als Aufseher selten eine gute Figur, wie Glos, Steinbrück oder Wowe-reit bewie-sen haben

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DIE JURYDieter von Holtzbrinck, Verleger, DvH Medien GmbH

Dr. Thomas Bellut, Intendant, Zweites Deutsches Fernsehen

Jochen Wegner, Chefredakteur, ZEIT ONLINE

Prof. Dr. Beatrice Weder di Mauro, Universität Mainz

Dr. Tonio Kröger, Geschäftsführer antoni GmbH

Barbara Kux, Mitglied des Aufsichtsrats, Henkel AG & Co. KGaA und TOTAL S.A.

Klaus-Peter Müller, Vorsitzender des Aufsichtsrats, Commerzbank AG

Gabor Steingart, Herausgeber Handelsblatt

Prof. Dr. Miriam Meckel, Chefredakteurin WirtschaftsWoche Dr. Nicole Prüsse, Geschäftsführerin Zentral-, Nord- und Osteuropa, ZenithOptimedia

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Sein Großvater gründete ein Versandhaus, sein Vater schuf

daraus einen Weltkonzern. Benjamin Otto erklärt, warum

er erst jetzt ins kriselnde Unternehmen einsteigt und mit seiner Start-up-Erfahrung neue

Dynamik erzeugen will

Fragen TIL KNIPPER

Fotos HENNING BODE

„ BIN ICH DENN UNTERNEHMER? “

Herr Otto, seit einigen Wochen sind Sie zusammen mit Ihrem Vater „gestalten-der Gesellschafter“ der Otto Group. Was muss man sich darunter vorstellen?

In dieser Position bin ich ein aktiver Gesellschafter, der über den Gesellschaf-terrat und Beiräte einzelner Firmen Zei-chen setzen will. Mit meinem Vater lege ich die Strategie für den Konzern für die kommenden Jahre fest. Um diese Ent-scheidungen treffen zu können, stehe ich in engemAustausch mit dem Vorstand.

Sie sind jetzt 39 Jahre alt. Ihr Vater Mi-chael Otto hatte in Ihrem Alter bereits mehr als zehn Jahre Vorstandserfah-rung im Unternehmen gesammelt. Wa-rum haben Sie den Schritt ins operative Management nicht gewagt?

Ich hatte beide Optionen, hätte auch den Vorstandsweg gehen können. Und ich habe auch in der Vergangenheit ge-zeigt, dass ich operativ erfolgreich arbei-ten kann. Aber ich glaube, dass ich als Gesellschafter viel mehr bewirken kann, weil auf dieser Ebene die wesentlichen Strategieentscheidungen für die Zukunft der Otto Group getroffen werden. Die dann festgelegten Pläne umsetzen, das können andere noch besser als ich.

Wie hat Ihr Vater Ihre Entscheidung aufgenommen?

Sehr, sehr positiv, weil er mich kennt und weiß, wo meine Stärken liegen. Und

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Die Berliner Festspiele werden gefördert durch

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er hat auch gesehen, dass ich mir die Ent-scheidung nicht leicht gemacht habe. Fast alle mir nahestehenden Menschen finden es mutig, dass ich nicht den von der Öf-fentlichkeit erwarteten Schritt in den Vorstand gemacht habe.

Sie haben sich erst vor knapp zwei Jah-ren entschieden, überhaupt ins väter-liche Unternehmen einzusteigen. Wa-rum so spät?

Ich wollte erst mal herausfinden: Bin ich überhaupt ein Unternehmer? Ich habe zwar als junger Mensch gedacht, das könnte mir Spaß machen, aber das heißt ja nichts. Deswegen wollte ich erst mal etwas Eigenes machen und habe eine Unternehmensgruppe für Haus- und Me-dientechnik sowie Immobilienentwick-lung gegründet. Das hat funktioniert und da bin ich auch immer noch als Gesell-schafter aktiv beteiligt.

In den Medien wurden Ihre kaufmän-nischen Qualitäten im Vergleich zu Ih-rem Vater und Ihrem Großvater lange angezweifelt. Der Tenor lautete meist: besonnen, introvertiert, sympathisch, aber zu weich, kein Unternehmerpoten-zial. Wie gehen Sie damit um?

Das berührt mich nicht mehr. Bei den ersten Geschichten habe ich gedacht: Die kennen mich doch gar nicht. Aber ich habe gelernt, dass ich damit leben muss. Wichtig ist, dass ich weiß, was ich kann und will. Als mein Vater ins Unterneh-men einstieg, hieß es übrigens auch schon mal, er werde das Erbe verspielen. Dann hat er aus dem damaligen Otto-Versand einen Weltkonzern mit 54 000  Mitar-beitern geformt. Insofern lässt sich die

Situation damals schwer mit heute ver-gleichen, weil es ein Unterschied ist, ob man ein einziges Unternehmen weiter-entwickelt oder gleich in den Vorstand eines Konzerns aufrückt.

Sie sind als Milliardärssohn von Leib-wächtern zur Schule gefahren worden. Haben Sie sich manchmal gewünscht, in einer normal wohlhabenden Familie in den ohnehin noblen Hamburger Elb-vororten aufzuwachsen?

Ja, aber ich glaube, solche Über-legungen sind normal. Der Druck war schon sehr groß. Seit ich 14 Jahre alt bin, werde ich gefragt, ob ich die Nachfolge meines Vaters antreten will. Seitdem ich dann vor gut einem Jahr in der Otto Group angefangen und das Start-up Col-lins als Geschäftsführer mitent wickelt habe, hat sich der Druck noch mal er-höht, weil ich unter ständiger Beobach-tung der Öffentlichkeit stand. Ich wurde sogar von wildfremden Menschen auf der Straße angesprochen, was ich denn jetzt vorhabe. Die Entscheidung, auf die Ge-sellschafterebene zu wechseln, hatte in-sofern etwas Befreiendes.

Hatten Sie sich jemals konkret überlegt, ganz auszusteigen?

Im Kopf habe ich die verschiedens-ten Ideen durchgespielt, bis hin zur Eröff-nung einer Strandbar in der Karibik. Ich habe mir vor zwei Jahren eine Auszeit

Benjamin Otto

ist seit Juni gestalten-der Gesellschafter der Otto-Group, die zwölf Milliarden Euro Umsatz erzielt, 54 000 Mitar-beiter beschäftigt, und nach Amazon der zweit-größte Onlinehändler weltweit ist. Neben dem Versandhandel gehören auch Handelsketten wie Sportscheck, Manufac-tum und der Logistiker Hermes zur Gruppe

Start-up trifft Versand-handel: Mit der neuen Internettochter Collins will Otto jüngere Ziel-gruppen ansprechen

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Die Berliner Festspiele werden gefördert durch

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genommen, bin viel gereist und habe mir Gedanken über meine Zukunft gemacht. Nur so konnte ich unabhängig entschei-den, ob ich ins Unternehmen einsteigen will oder nicht.

Ist in dieser Auszeit auch die Idee für Collins entstanden?

Nein, mein Vater und unser Vor-standschef Hans-Otto Schrader wollten ein neues, innovatives Konzept ins Leben rufen, um eine junge Zielgruppe anzu-sprechen. Sie haben mich gefragt, ob ich das als Geschäftsführer aufbauen will. Wir haben dann ein Entwicklungsteam von internen und externen Experten zu-sammengebracht, zu dem auch die jetzi-gen Geschäftsführer Tarek Müller, Sebas-tian Betz und Hannes Wiese gehörten.

Collins verkauft über seine Internetsei-ten About You, Edited und Sister Sur-prise Mode für junge Frauen. Das ma-chen Amazon, Zalando und viele andere auch. Was ist daran neu und innovativ?

Der Markt für Bedarfskäufe ist ge-deckt. Wenn ich genau weiß, was für eine Jeans ich kaufen will, kann ich aus sehr vielen Anbietern auswählen. Wenn ich aber inspiriert werden will, um auf neue Ideen zu kommen, muss ich zum Bum-meln in Berlin, Hamburg oder München in die Innenstadt gehen. Diese Inspirati-onskäufe gab es online so noch nicht. Da haben wir ganz klar eine Nische gefun-den, die wir erfolgreich besetzen können.

Wie funktioniert diese neue Strategie technisch?

Es gibt bei uns eine Vielzahl von Apps, mit denen man sich zum Beispiel den Style seiner Lieblingsschauspiele-rin nachkaufen kann, den man vorher in einem Blog gesehen hat. Das geht we-sentlich schneller bei uns als bei einem Einkauf in der Innenstadt. Es gibt ein Fa-shion-Horoskop oder eine App für nach-altige Fairtrade-Fashion. Die Interessen des Nutzers fließen in eine für ihn perso-nalisierte Shop-Ansicht ein, so wie man das aus den sozialen Netzwerken kennt.

Entwickeln Sie die Apps selbst?Das ist die zweite Innovation von

Collins. Wir nutzen die Ideen vieler Nut-zer, indem wir unsere Plattformen für externe Entwickler geöffnet haben, die dann an den Erlösen, die über ihre Apps zustande kommen, beteiligt werden. Wir demokratisieren damit den Handel.

Ist der Erfolg dieser Strategie messbar?Wir haben im ersten Jahr eine halbe

Million aktiver Kunden gewonnen, einen zweistelligen Millionenumsatz erreicht, sind dabei, in die Schweiz und nach Ös-terreich zu expandieren und beschäfti-gen inzwischen mehr als 200 Mitarbeiter.

Sind Kundinnen nicht genervt, wenn sie von Ihnen mit dem personalisierten Ge-schäftsmodell gestalkt werden?

Im Gegenteil, wenn man das intel-ligent macht, empfinden sie es als sehr praktischen Service. Kundinnen, die über Apps bei uns einkaufen, verweilen länger auf unseren Seiten, kehren öfter wieder zu uns zurück und kaufen deut-lich mehr ein als Kundinnen, die auf die Personalisierung verzichten.

Gibt es weitere Unterschiede zu Wett-bewerbern wie Amazon und Zalando?

Die Unternehmenskultur bei Collins, die wir von der Otto Group übernommen haben, ist eine andere. Ich beziehe mich da gerne auf unseren Namensgeber, den Ökonomen Jim Collins: Um langfristig

„ Ich habe auch mal überlegt, eine Strandbar in der Karibik zu eröffnen “

K APITALGespräch

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erfolgreich und innovativ zu sein, muss man den Kern bewahren. Wir gehen re-spektvoll miteinander um, wir wachsen kapitaleffizient und haben uns zum Start vorgenommen, innerhalb von fünf Jah-ren profitabel zu sein, also haben wir noch vier Jahre Zeit.

Wollen die Wettbewerber das nicht?Bei anderen muss die Profitabilität

keine so große Rolle spielen. Sie pushen den Umsatz, versuchen ihren Markt-anteil aggressiv zu vergrößern, um das Unternehmen dann mit einer hohen Be-wertung an die Börse zu bringen oder zu verkaufen. Das entspricht nicht der Phi-losophie der Otto Group.

Aber riskieren Sie so nicht, den An-schluss zu verpassen, weil sie Markt-anteile verlieren?

Unsere Werte schließen eine hohe Geschwindigkeit nicht aus, wie man am Beispiel von Collins sieht. Wir gewinnen in der gesamten Gruppe Marktanteile, wenn wir uns mit unseren Geschäftsmo-dellen von den Wettbewerbern unter-scheiden und den Kunden mehr bieten.

Die Otto Group musste im abgelaufe-nen Geschäftsjahr erstmals einen Ver-lust ausweisen. Was kann der große Konzern von seiner kleinen Tochter Col-lins lernen?

Aber reicht das, um den Einbruch des Geschäfts in Russland, den schwä-chelnden Versandhandel in Frankreich oder die Probleme bei Sportscheck zu kompensieren? Wo sehen Sie die größ-ten Baustellen, um die Otto Group aus der Verlustzone zu führen?

Die haben Sie genannt. Daneben gibt es hervorragend aufgestellte Kern-geschäfte und erhebliche Investitionen in neue Geschäftsfelder. Wir müssen bestimmte Weichen neu stellen. Welche das sind, das werde ich mit meinem Va-ter und dem Vorstand besprechen, aber nicht in der Öffentlichkeit. Wichtig ist, dass ich das Gefühl habe, dass wir alle auf Augenhöhe kommunizieren. Alle im Vorstand sind bereit, auch gravierende Veränderungen vorzunehmen, wenn es notwendig ist und mein Vater und ich als Gesellschafter dahinter stehen.

Das hört sich doch so an, als wollten Sie ins Tagesgeschäft hineinregieren.

Nein, überhaupt nicht. Aber mein Vater und ich müssen wissen, wenn es irgendwo nicht läuft. Niemand hat etwas davon, wenn etwas schöngeredet wird. Dann können wir mit dem Vorstand die richtigen Strategieentscheidungen tref-fen. Wenn die feststehen, muss der Vor-stand sie umsetzen.

Gibt es denn zwischen Ihnen und Ihrem Vater eine klare Aufgabenteilung?

Ich werde mich in meiner neuen Rolle um das Kernthema Digitalisierung kümmern, weil ich mich damit schon meine ganze Karriere lang beschäftige und das nötige Know-how mitbringe. Der Digitalisierungsprozess ist auch in der Otto Group ein permanenter Prozess und da kann ich mich am besten einbringen.

Ihr Vater ist jetzt 72 Jahre alt. Wagen Sie eine Prognose, wie das Unternehmen aussehen wird, wenn Sie 72 sind, also in 33 Jahren?

Ich werde sicherlich irgendwann die Verantwortung für die Otto Group von meinem Vater übernehmen, aber den Zeitpunkt bestimmt er selbst. In 33 Jah-ren wird sich sehr, sehr viel verändern, aber wir werden sicher auch dann noch ein erfolgreiches Handels- und Dienst-leistungsunternehmen sein, hochgradig digitalisiert, mit Sitz in Hamburg.

Die digitale Transformation fordert auch von uns, noch agiler zu werden. Da kann die Gruppe lernen, wie effiziente Strukturen aussehen, wie man Entschei-dungswege verkürzt und wie man insge-samt die Geschwindigkeit erhöhen kann. Collins ist aber auch ein sehr gutes Testv-ehikel für die gesamte Gruppe, weil wir neue Kennzahlen nutzen und damit bei-spielsweise den Erfolg von Online-Mar-ketingmaßnahmen direkt am Markt tes-ten können. Die Start-up-Dynamik von Collins kann mehr Leben ins Unterneh-men bringen.

„ Wenn die Strategie steht, muss der Vorstand sie umsetzen “

Tarek Müller, 26, hat gemeinsam mit Benjamin Otto das erfolgreiche Tochter-unternehmen Collins entwickelt

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STIL

Der Autor Boris Pofalla ist dagegen, dass sich die Dad Bods verbreiten, gemütliche und genussfreundliche Väter mit Fettschicht, Kommentar Seite 109

„ Heute sitzt der überaus kundige Mann den

ganzen Tag im Büro und bewegt maximal Finger

und Augäpfel “

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W as waren das für coole Jungs, die da Anfang der siebziger Jahre auf ihren Skateboards

die Strandpromenaden von Venice Beach und Santa Monica in großen Schwüngen entlangrollten, unter der brennenden Sonne Kaliforniens und schiefen Schirm-mützen. Die sogenannten Z-Boys, Helden einer noch jungen Popkultur. Sie hatten den Sommer der Liebe im Rücken und den Pazifik vor Augen, mit salzigen Haa-ren, Shorts um die schmalen Bronzehüf-ten und liebevoll zerschlissenen Chuck Taylors an den Füßen. In den Neunzigern feierte diese legendäre Surf- und Skate-ära ihr erstes Revival – die amerikani-sche Regisseurin Catherine Hardwicke setzte ihr 2005 in dem Film „Dogtown Boys“ mit einem furiosen Heath Ledger ein Denkmal.

Saison für Saison sucht Malaika Raiss nach Inspiration, kramt in der Ver-gangenheit, in Kunstarchiven und in ih-rer Erinnerung. „In meiner neuen Kollek-tion habe ich praktisch die Hälfte meiner eigenen Jugend verarbeitet. Und die mei-ner Eltern gleich mit“, sagt sie. „Days of Future Past“ soll sie heißen, eine Ode an das Lebensgefühl der Wellen- und Asphaltreiter.

Raiss steht in ihrem Atelier in Ber-lin-Friedrichshain und streift mit den Augen über das Moodboard, das sie an die Wand gepinnt hat. Sie trägt ein wei-ßes Baumwollshirt zu Culottes in Hell-rosa, aus Rattan geflochtene Schnürer und eine Hornbrille zum erdbeerblon-den Schopf. Die Berliner Fashion Week steht vor der Tür. Sie ist in den Endzü-gen bei den Schnitten, die ersten Stoffe kommen an. Ungeduld durchfährt sie. Es gibt noch viel zu tun. Ihre Devise heißt jetzt: „Hands on!“

Diesem Anpackerethos ist es wohl zu verdanken, dass das Label Malaikaraiss

im Juli sein fünfjähriges Jubiläum feiert. Ingesamt zehn Saisons hat sich Raiss laut eigenem Businessplan gegeben, um es auf dem umkämpften Markt zu platzieren. Die Bilanz: schwarze Zahlen.

Die 30-Jährige hat sich zum deut-schen Zugpferd der Berliner Modewo-che entwickelt, in den letzten beiden Jah-ren konnte sie den Umsatz verdreifachen, und auch international geht es mit großen Schritten voran: In 27 Ländern verkauft sie ihre Stücke, von Skandinavien über Japan bis nach Kanada. Und das Online-geschäft boomt – auch dank vieler Mo-deblogger, wie Raiss erklärt: „Für mich sind das wichtige Multiplikatoren. Sie verfügen über ein großes, treues Leser-netzwerk, das global funktioniert.“ Und das beklatscht ihre Entwürfe nach jeder Schau.

R AISS KOMMT AUS FR ANKFURT, stu-dierte Modedesign in Mannheim und hat das Nähen von ihrer Oma gelernt, das Zeichnen von ihrem Opa. Mit 16 Jahren gewann sie einen Wettbewerb der Bri-gitte Young Miss, für den sie das kleine Schwarze neu erfand. Ihre Designs bringt sie kreativ und handwerklich auf den Punkt. „Ich mag es, wenn ein Produkt für sich spricht und man keine große Story drum herum bauen muss, damit es funk-tioniert“, sagt sie, während sie mit einem orangenen Neonstift wilde Muster auf ei-nen Klebezettel malt.

Ihre Mode wirkt unprätentiös und deshalb modern und tragbar. So hat sie für ihre kommende Herbst-/Winterkol-lektion die sportlich maskulinen Proto-typen aus der Surf- und Skateszene in lässig feminine, ja, ziemlich coole Dog-town Girls übersetzt.

Dafür arbeitet sie mit einer Farbpa-lette aus Schwarz, Weiß und pudrigen Nudetönen, die gebrochen werden durch

Candypink, Kanariengelb und Himmel-blau. Wadenlange, fließende Baggypants werden zu groben Tops aus Mikrofaser mit Waffelstruktur kombiniert. Es gibt Ensembles aus transparentem Leinen-mix, bedruckte Seide mit marmorierter Achatstruktur und Kleider mit asymme-trisch schwingendem Saum. Pumps aus schwarzem Lackleder und Sandalen mit Schnürung aus farbigem Nappa runden den modernisierten Seventies- respek-tive Nineties-Look ab.

Das Design steht bei Raiss klar im Vordergrund. Trotzdem denkt sie streng wirtschaftlich. Akribisch pflegt sie Ko-operationen zu wichtigen Partnern. Sie ist beim Berliner Modesalon vertreten, auf der Premium Modemesse in München und eröffnet bald ihren ersten Pop-up-Store in der Hauptstadt.

„Talent ist nicht die einzige Voraus-setzung, um ein Label erfolgreich zu ma-chen“, sagt sie. „Man braucht ein Gespür für Business und für die Machbarkeit von Ideen.“ Kreativität müsse sich innerhalb von Grenzen ausleben lassen, die letzt-lich der Endkunde diktiert. Eine wichtige Lektion, die sie auch ihren Studenten an der Modeschule Esmod in Berlin-Kreuz-berg vermittelt. Seit drei Jahren unter-richtet sie hier Textiltechnologie und regt den Nachwuchs an, mit innovativen Ma-terialien zu arbeiten und nachhaltig zu denken.

Malaika, was auf Swahili Engel be-deutet, will die Mode nicht neu erfinden.

„Ich reagiere vielmehr auf das, was um mich herum passiert.“ Man könnte das passiv kreativ nennen. Vielleicht ist es einfach nur sehr klug.

DIE NEONOSTALGIKERINMalaika Raiss schreibt mit ihrem jungen Modelabel bereits schwarze Zahlen. Ein Besuch bei der Modedesignerin während der Vorbereitungen zur Berliner Fashion Week

Von SARAH-MARIA DECKERT

SARAH-MARIA DECKERT ist freie Autorin in Berlin. Auch sie hat bereits ein Revival des Surfer- und Skaterlooks erlebt und mag die feminine Interpretation von Malaika Raiss

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STILPorträt

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SCHWEISS ODER SCHWABBEL?

Von LENA BERGMANN

Entspannter Papa mit leichter Fettschicht: Dad Bod heißt ein neues,

Bier würde ihn niederstrecken. Tod durch Alkoholver-giftung. Frauen sollten all dies im Hinterkopf haben, wenn ein Mad Bod um die Ecke schießt.

Wenn sich hingegen ein stattlicher Dad Bod vor die Sonne schiebt, kann man sich auf wonnige Zeiten ge-fasst machen. Auf Frühstück im Bett mit der Sonntags-zeitung. Und Bacon. Auf Substanz, die Wärme spendet. Auf Schatten statt Windschatten. Auf Wein zum Lunch, auf rotes Fleisch nach acht. Den Dad Bod kann sich

aber nicht jeder erlauben. Um die leichte Fettschicht würdevoll wie einen Mor-genmantel zu tragen, be-darf es einer gewissen Körpergröße, kräftigen und langen Beinen sowie eines Oberkörpers in V-Form, der auf einen breiten Schulterbau zurückzufüh-ren ist. Und nicht auf einen aufgepumpten Latissimus, der dazu dient, eine Flie-genbrust zu verschleiern. Der Dad Bod als genuss-freundliches Schönheits-ideal ist also auf keinen Fall für die breite Masse

gedacht und sollte nicht von Ungeeigneten als Adelung von Atrophie und Verfettung herangezogen werden.

Wenn man noch keinen Dad für sein Kind gefun-den hat und einen Mann mit Dad Bod erspäht, der noch kein Dad ist, dann sollte man zugreifen. Hinter der brutalistischen Fassade steckt ein Mann mit den richti-gen Prioritäten – der durchaus auch sportlich ist. Seine Kalorien verbrennt er beim Denken. Oder beim Sex. Oder beim Holzhacken. Oder beim gelegentlichen Bi-ken hoch zum Gipfelbiergarten. Beim Frau-und-Kind-auf-dem-Schlitten-Ziehen. Bauch und Bauchgefühl? Natürlich gibt’s da einen Zusammenhang.

D as Unangenehme an Meister Sixpack ist, dass man vermuten muss, hinter seinem muskulös definierten Bauch verberge sich ein Smoothies

trinkender, lustfeindlicher Freizeitterrorist. Der mor-gens joggt, mittags stemmt und abends eine basische Suppe püriert. Früher war der durchtrainierte Mann ein harmloser Fitnessstudio-Stammgast, der sich, wenn es hoch kam, Arnold im Blick, ein paar Anabolika gönnte. Heute hat sich der durchtrainierte Mann vom Bodybuilder zum Lifestyler gemausert und sich so auch in gehobenen Schichten aus-gebreitet. Für ihn ist Fitness Identität und Statussymbol. Er sieht mindestens zehn Jahre jünger aus, hat aber für Bücher keine Zeit.

Sein Körper ist sein Tempel. Der trotz Entgif-tens sauer werden kann: Wenn er etwa die Kontrolle verloren und zu einer Schüs-sel Reis gegriffen hat, den verbotenen Kohlehydraten, rumort es in ihm. Er weiß dann selbst nicht, warum er so unausgeglichen ist, aber die aufmerksame, ausgemergelte Frau an seiner Seite weiß es – sie weiß, da hilft nur ein abendlicher Halb-marathon durch die Nachbarschaft. Sie selbst wird nie sauer, auch dann nicht, wenn er für Sex mal wieder zu ausgepowert ist. Lieber ein Tag ohne Orgasmus als ein Tag ohne Sport – das glaubt sie fast schon selbst.

Der krampfhaft durchtrainierte Mann, nennen wir ihn Mad Bod, packt überall Sport rein – in den Urlaub, in den Berufsalltag, ins Wochenende. Seinen Aktionis-mus kann man auf Facebook verfolgen. Auf dem Lauf-band im Kongresshotel trotz Jetlag. 18 Löcher trotz Regen. Seine Partnerin isst Süßes schon lange heim-lich. Alkohol gibt’s nur zweimal die Woche: Einmal Bier (Radler, nach dem Training) und einmal Wein (weil ihn die Kollegen sonst aufziehen). Ein Sixpack LENA BERGMANN leitet das Ressort Stil bei Cicero

PRO

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STILPro und Contra

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SCHWEISS ODER SCHWABBEL?

Von BORIS POFALLA

genussfreundliches Schönheitsideal. Schlägt es das Sixpack?

genug Geld, um zustimmend zu nicken, wenn es heißt, dass die Guacamole zu den Tacos extra kostet.“ In an-deren Worten: Ich darf so sein, weil ich der Versorger bin. Die Frau liebt das Geld an mir. So funktionalisie-ren sich die Geschlechter gegenseitig. Die Frau muss dünn und hübsch sein und der Mann muss viel arbei-ten. Alles andere ist egal. Aber Körper wollen sich be-wegen und nicht sitzen.

Sport zu machen und nicht jeden Unsinn in sich hineinzuessen, muss keine Diktatur unerfüllbarer Ide-ale bedeuten. Deshalb hat der Dad Bod auch nichts mit

„Normalsein“ zu tun. Es ist nicht normal, zu viel zu ar-beiten und zum Entspannen zwei Liter Bier zu trinken. Der Körper des Menschen ist aus Millionen Jahren der Evolution als eine per-fekt angepasste, potenziell tödliche Maschine hervor-gegangen, die den ganzen Planeten erobert hat. Oder wie es bei Sophokles heißt: „Leichtaufmerkender Vögel Schar umgarnt er und fängt,

und des wilden Getiers Stämme, das Wassergeschlecht des Meers, mit reichgewundenem Netzgespinst, er, der überaus kundige Mann.“

Heute sitzt der überaus kundige Mann den gan-zen Tag im Büro und bewegt maximal Finger und Augäpfel. Dabei regrediert er in einen früheren Zu-stand: Dad Bods erinnern nicht von ungefähr an präpubertäre Jungs mit Babyspeck, die mit einer Schale Pommes in der Hand über die Freibadwiese wandern. Wer sich selbst und den Frauen einen Ge-fallen tun möchte, der sollte sich nicht gehen lassen, sondern sich bewegen. Wie ein vernünftiger Mensch.

E rst mal klingt das gut: dass Menschen sich nicht für ihre Körper schämen müssen, auch wenn sie den Schönheitsidealen der Modeindustrie

nicht entsprechen. Dass im wahren Leben doch an-dere Werte zählen als auf den Seiten von Men’s Health. Dass man sich vielleicht doch nicht immer anstrengen muss, sondern auch mal dem Wunsch nach mehr Trin-ken und weniger Sport nachgeben kann – und dafür auch noch begehrt wird. Wenn man sich dann aber durch die mit #dadbod ge-taggten Bilder auf Insta-gram klickt, sieht man viele stolze Männer mit Bierdo-sen und Bauchansatz. Die Frauen um sie sind aber im-mer ausnahmslos dünn, epi-liert und Pilates-gestählt.

An den Anforderun-gen, die die Gesellschaft an den weiblichen Körper stellt, ändert sich durch den Dad Bod nichts. Im Gegen-teil, er schreibt sie fest. Als Grund für die Attraktivi-tät der Plauzenmänner gilt der Erfinderin des Begriffs ausgerechnet der Umstand, dass die Frauen neben einem solchen Bärchen bes-ser – sprich: schlanker – aussähen. „Wir möchten nicht, dass ein Mann uns Unsicherheit wegen unseres Kör-pers einflößt“, schreibt Mackenzie Pearson, auf deren Text der Hype um die Wampe zurückgeht. Warum aber haben Frauen diese Unsicherheit? Weil der Mann nicht schön sein muss, die Frau schon. Der Mann ver-sorgt, die Frau ist dekorativ. Die Weltsicht der fünfzi-ger Jahre kehrt zurück. Oder ist sie nie weg gewesen? Manche Männer haben den sexistischen Kern der Sa-che sofort erkannt und feiern sich gerade selbst. „Der Dad Bod ist nicht attraktiv wegen des Anblicks, son-dern wegen der Aussage“, schreibt der stolze Bauchan-satzinhaber Peter Holley in der Washington Post. Der Dad Bod sagt: „Ich habe einen Job, Verantwortung und BORIS POFALLA hat gerade den Roman „Low“ veröffentlicht

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„ WIR BIETEN SCHAMANEN “

Wie will der moderne Mensch reisen? Ein Gespräch mit Claus Sendlinger, Gründer der Design Hotels AG, über Superfood, Yoga für Gäste und den Astrologenservice auf Mykonos

Herr Sendlinger, Sie gelten als einer der kreativsten Macher in der Reiseindus-trie. In den Neunzigern hatten Sie die Idee, neben etablierten Hotelgruppen wie Relais  & Chateaux oder The Lea-ding Hotels of the World die Marke De-sign Hotels aufzubauen. Für eine jün-gere Klientel?

Claus Sendlinger: Es ging darum, kleine, individuelle und auch günstigere Hotels mit starkem Design einer größe-ren Masse bekannt zu machen. Wir haben uns abgesetzt vom Markt der faden Hotel-ketten oder den teuren Luxushotels. Die Entwicklung von Boutiquehotels haben wir mitgeprägt. Durch Kontakte zur Mu-sik- und Modebranche konnten wir Veran-staltungen in Hotels organisieren, die vor-her noch nicht groß etabliert waren und die dadurch als cool galten. Wenn wir Mu-siker wie Robbie Williams oder die Spice Girls in Hotels eingebucht haben, hat die Presse darüber berichtet. Die Marke stand für gutes Design und für eine gute Szene. Ein Hotel ist nur so cool wie seine Gäste.

Müssen Hotels auch den Einheimischen etwas bieten?

Das macht ein Hotel für Gäste auf je-den Fall interessanter. Die Entwicklung des Boutiquehotels stand ja für eine neue Lebensart. Es war Inspiration. Es gab ei-nen Grund, in der Hotellobby zu sitzen.

Wofür steht Design Hotels heute? Wir haben einige Krisen hinter uns.

Ereignisse wie der 11. September oder die Bankenkrise gehen an der Reisein-dustrie nicht spurlos vorbei. Wir beglei-ten gesellschaftliche Entwicklungen. Wir haben uns oft neu ausgerichtet. Gutes De-sign bildet bei unseren Hotels immer noch den Schwerpunkt, aber damit kann man bei den Gästen nicht mehr hausieren ge-hen. Wir fragen uns ständig: Wie ticken die jungen Leute? Was wird wichtig?

Was waren die Trends der letzten Jahre?

Claus Sendlinger

53, stammt aus Augsburg und ist Gründer und CEO der Design Hotels AG. Seine Karriere begann er mit der Planung von Events für Klubs und Hotels. 1993 gründete er Design Hotels, das er 1999 an die Börse brachte

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STILInterview

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Es wurde zum Beispiel das Prinzip der amerikanischen YMCA-Hotels, also der Jugendherberge wiederbelebt. Mit der Marke 25 Hours haben wir günstige Häu-ser in Großstädten für eine junge Klientel geschaffen, die nicht viel mehr wollen als ein cooles Hotelzimmer, einen Internetan-schluss und eine coole Lobby in einer Top-lage in der Innenstadt. Außerdem muss-ten wir darauf reagieren, dass Freizeit und Arbeit sich immer mehr vermischt haben. Die Leute wollten WLAN am Strand.

Was bringt die Zukunft für die Branche?Ein starker Trend ist das Klubkon-

zept, wie es zum Beispiel die Soho-House-Kette in ihren Hotels umsetzt, indem es Mitgliedschaften gibt. Der Klub ist in der digitalisierten Welt Familienersatz.

Und dann sitzen da alle mit ihren Gad-gets herum?

Nicht ausschließlich. Für mobile Ar-beiter gibt es neue Nischen, die natürlich auch die Hotelindustrie ernst nehmen muss, wie zum Beispiel den Co-Working-Space: In New York hat das Neue House eröffnet, das Solopreneurs und Teams die Möglichkeit gibt, in funktionalen, gut gestalteten Büroräumen oder Ateli-ers alleine oder gemeinsam zu arbeiten und sie für Events zu nutzen. Man checkt am Frontdesk ein wie im Hotel, Mitglie-der können den Screening Room und das Aufnahmestudio buchen und in der Kan-tine mit Kunden essen. Ein perfekt gestal-tetes Arbeitsumfeld für Kreative aus Film, Design, Mode, Kunst und der Verlags- und Tech-Industrie. Es geht auch um das inter-disziplinäre Networking, das diese Räume fördern. Nur übernachten kann man nicht.

Zurück zur klassischen Hotelindustrie.Die muss sich ständig neu erfinden.

Wichtiger werden auch hybride Konzepte wie der Anbieter Plus One Berlin: Man bucht darüber nicht nur eine Unterkunft, sondern auch einen Stadtführer, also ei-nen Local mit Insiderperspektive. Auch Konzepte wie Airbnb oder OneFineStay, wo man Privatwohnungen und Häuser für eine Nacht mieten kann, führen dazu, dass die Hotelindustrie umdenken muss.

Das Internet als Buchungsplattform spielt bereits eine große Rolle. Geht da noch mehr?

neuen Hotel Scorpios auf Mykonos kön-nen Gäste nun Astrologen und Schama-nen zurate ziehen, die mit Energiefeldern arbeiten.

Brauchen wir mehr alte Weisheiten?Die größte Gesellschaftskrankheit ist,

dass sich keiner mehr mit diesen Weishei-ten beschäftigt. Was meine Großmutter mir gesagt hat: „Alles zu seiner Zeit“ oder

„Die Dosis macht’s Gift“ sind die gleichen Weisheiten, die meine Schamanen mir er-zählen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe das alles ausprobiert.

Man reist auf die Insel, um bei sich selbst anzukommen. Und sich dann wieder aufzupäppeln.

Es gibt bereits Gäste, die wegen sol-cher Angebote aus dem Bereich der ganz-heitlichen Medizin kommen. Und es wird mehr von ihnen geben. Auch Essen spielt hier eine Rolle: Superfood, also heilende Zutaten und Gerichte auf Gourmetniveau sind ein großer Trend. Wir haben im Scor-pios übrigens auch eine riesige Saftbar.

Darf man dort noch ins Internet?Die Gäste wählen ihren Urlaubsmo-

dus natürlich selbst. Ob sie es einfach lang-sam angehen lassen wollen, feiern wollen oder mit der Familie kommen, wir kura-tieren ein Gesamtangebot für den Aufent-halt, wenn gewünscht mit Kinderbetreu-ung. Mein Ziel ist, dass es im Hotel einen Betreuer für Kinder gibt, der ihnen bei-bringt, warum auf den Kykladen alle Häu-ser weiß sind, oder ihnen zeigt, was ein Fischer dort fängt. Das können die Kinder dann beim Essen den Eltern erzählen. Das Letzte, was ich will, ist, dass die Familien ins Restaurant kommen und die Kinder dann mit ihren Tablets am Tisch sitzen.

Inzwischen leben Sie mit Ihrer Familie in Tulum, Mexiko und sind Vielflieger. Er-innern Sie sich noch an die Urlaube Ih-rer Kindheit?

Wenn ich an Strand denke, denke ich häufig noch an Rimini, wo ich als kleiner Junge war. Wenn ich die Augen schließe, ist alles da: Ich sehe den Italiener mit sei-ner sonnenroten Lederhaut auf seinem Ruderboot vor mir. Und ich rieche Spa-ghetti Bolognese.

Dienstleistungen werden stärker mit-einander verzahnt. Durch Profiling und Ortung wird es möglich sein, dem Reisen-den etwa durch Apps immer individuel-lere Angebote zu machen, je nachdem, wo er gerade ist. Auch Kundenbindungspro-gramme wie Meilen werden sicher noch grenzenloser, noch weltumspannender werden.

Andererseits wollen die Leute im Urlaub doch auch immer mehr raus aus dem Internet.

Den Trend gibt es auch. Anhänger des russischen Wissenschaftlers Nikolai D. Kondratieff und seiner zyklischen Kon-junkturtheorie nennen es so: Wir befinden uns im sechsten Kondratieff-Zyklus, eine Konjunkturperiode, die weg vom Compu-ter und hin zum Menschen führt und seine psychosoziale Gesundheit in den Vorder-grund stellt, die durch Überkommunika-tion in Mitleidenschaft gezogen wird.

Ist Gesundheit das neue Design?Ich sehe es so. Das Design von Hotels

auf der ganzen Welt befindet sich auf sehr hohem Standard. Alles ist erlaubt, jeder Stil, jedes Zitat, sofern es gut gemacht ist. Was jetzt zählt, sind zusätzliche Angebote für Gäste. Damit meine ich nicht Well-ness. Das ist Pflege für die Fassade. Auch Yoga ist inzwischen Standard. In unserem Das Gespräch führte LENA BERGMANN

„ Beim Reisen wird es bald

stärker um die psycho soziale

Gesundheit gehen “

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Sie machen Mode, sie bauen Museen,

sind große Sammler: Noch nie waren die Verbindungen von

Kunst und Mode so eng. Jedes wichtige Luxus-

modelabel hat heute eine Kunststiftung – besonders in Italien

DIE NEUEN MEDICI

Von ANNE WAAK

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STILReportage

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A ls die dichte Wolkendecke, die seit Tagen wie ein alter Winterman-tel über Mailand hängt, endlich

die Frühsommersonne freigibt, taucht der Turm alles in einen goldenen Schein. Die Fassade der Ausstellungshalle, die Terrasse der eiscremefarbenen Bar, die Pflastersteine des kleinen Platzes davor: golden beschienen im Glanze des Turmes.

„Wir wissen jetzt, warum man durch die Jahrhunderte versucht hat, echtes Gold zu verwenden“, sagt Chris van Duijn vom Architekturbüro Oma, der das Ge-lände so gut kennt wie kaum ein anderer.

Er ist der ausführende Architekt der Fondazione Prada, einem nach sie-benjähriger Bauzeit im Mai neu eröff-neten Kunst- und Kulturzentrum im Sü-den Mailands. Das Gebäudeensemble auf dem 19 000 Quadratmeter großen Areal einer ehemaligen Destillerie ist der vor-läufige Höhepunkt der schon seit Jahr-zehnten zu beobachtenden Annäherung zwischen Mode und Kunst, als deren Symbol der goldene Turm gelten kann.

Mit allen möglichen Farben habe man experimentiert, erzählt van Duijn, schließlich auch mit einem Fassadenan-strich in einem Goldton. Aber je nach Lichtverhältnissen habe das schlichte vierstöckige Gebäude mal grünlich und mal bräunlich ausgesehen. Bis jemand auf die naheliegende und in der Archi-tekturgeschichte bewährte Idee kam, tat-sächlich Gold zu verwenden. Nun kleben drei Kilogramm Blattgold an der Fassade des ehemaligen Verwaltungsgebäudes und reflektieren das Sonnenlicht auf al-les Umliegende.

Zehn Gebäude gehören zum Cam-pus der Fondazione Prada. Neben dem Turm, in dem Werke von Louise Bour-geois und Robert Gober zu sehen sind, ist das Podium, ein neu gebauter zwei-stöckiger Ausstellungsraum, in dem mit

„Serial Classic“ noch bis Ende August aus den namhaftesten Museen der Welt entliehene griechische Statuen und ihre römischen Kopien gezeigt werden. Des Weiteren gehören zu der Kunstkleinstadt am Rande Mailands etwa: eine lang ge-streckte Halle, in der italienische Kunst der sechziger Jahre aus der Prada-Pri-vatsammlung im Fokus steht, ein Kino, in dem derzeit eine Dokumentation über die filmischen Inspirationsquellen Ro-man Polanskis läuft, und ein Café, dessen

Gestaltung im Stil einer Mailänder Bar aus den Fünfzigern der retroverliebte Re-gisseur Wes Anderson besorgt hat.

Noch nie waren die Verbindungen zwischen Luxusmodelabels und der Kunst so eng. Mit dem gegenwärtigen Kunstmarktboom ist die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst zu so etwas wie einem Elitensport geworden. Der globale Kunstumsatz wurde 2014 auf 51 Milliarden Euro geschätzt, doppelt so viel wie noch zehn Jahre zuvor. Gleich-zeitig hat sich die Bedeutung von Luxus-mode sowohl kulturell als auch finanziell verstärkt. Zählten Mitte der Neunziger rund 90 Millionen Kunden zu den Lu-xuskäufern, waren es 2013 mit 330 Mil-lionen mehr als drei Mal so viele.

Kunst ist in Mode, und so hat fast jedes Luxusmodelabel heutzutage eine eigene Kunststiftung – aufgrund ihrer Gemeinnützigkeit äußerst steuergüns-tig – oder tritt als Sponsor eines Kunst-preises auf. Und seit Modeunternehmer zu den wichtigsten Kunstsammlern zäh-len, werden sie auch zu Bauherren – oder Bauherrinnen – ihrer eigenen ausstellen-den Institutionen, die ihnen gleichzeitig als Statussymbole und als Ventile für phi-lanthropische Impulse dienen.

Nun sind vermögende Privatsamm-ler nichts Neues in der Kunstgeschichte. Berühmtestes Beispiel: die Medici. Die enorm reiche und mächtige florentini-sche Familie investierte vom Ende des 14. Jahrhunderts an viel Geld in die Kunst und das öffentliche Leben. Die Nachwelt hat ihnen Gebäude wie die Basilica di San Lorenzo di Firenze zu verdanken, als Mäzene sammelten die Medici die Werke von Künstlern und Schriftstel-lern und förderten damit Figuren wie Michelangelo, Botticelli und Donatello. Deren Werke dienten zu Zeiten, als das Konzept Museum noch lange nicht exis-tierte, allerdings allein dem Vergnügen der Auftraggeber.

Miuccia Pradas Engagement hinge-gen zielte von Beginn an darauf, Kunst auch zu zeigen. 1993 gründete sie zu-sammen mit ihrem Mann, dem Prada-CEO Patrizio Bertelli, die Fondazione. Und zwar in Mailand, dort also, wo ge-nau 80 Jahre zuvor ihr Großvater mit sei-nem Ledergeschäft das Fundament für das Unternehmen gelegt hatte. Seitdem hat die Stiftung mehr als zwei Dutzend

„ Kunst ist in Mode und so hat fast je-des Luxusla-bel eine eigene Kunststiftung “

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Ausstellungen international bedeuten-der Künstler gezeigt, wie Walter De Ma-ria, Carsten Höller oder Laurie Ander-son. Seit 2011 residiert die Fondazione, mittlerweile eine der wichtigsten italie-nischen Institutionen für zeitgenössische Kunst, in der herrschaftlichen Casa Cor-ner della Regina in Venedig, einem aus istrischem Kalkstein gefertigten Barock-palazzo direkt am Canale Grande. Sie wird weiterhin betrieben werden, trotz Mailand.

Der belgische Künstler Carsten Höl-ler sagte einmal über die Rolle der Künst-ler innerhalb des Pradaversums: „Wir sind nicht so naiv zu denken, dass wir nicht zum Geschäft beitragen.“ Eine von Höllers silbernen Rohrrutschen schmückt

Miuccia Pradas Büro, er wiederum saß schon in der Frontrow von Prada-Schauen. „Aber es geht ihr um mehr als Geld. Vor allem, denke ich, geht es da-rum, dass sie Angst vor Vulgarität hat.“

Für Miuccia Prada gilt es deshalb, den Verdacht auf Beeinflussung der Kunst durch die kurzlebige Handelsware Mode zu vermeiden. Aus diesem Grund hält sie die Fondazione und das Label Prada strikt voneinander getrennt. So ist es gut mög-lich, dass die fernöstlichen Touristen, die sich in der Innenstadt Mailands mithilfe von Selfie-Sticks vor dem Prada-Store ablichten, keine Ahnung von den hoch-karätigen Ausstellungen in der Fondazi-one haben. Deshalb auch sträubt Miuccia Prada sich derzeit noch gegen die nahelie-gende Idee, das Kollektionsarchiv – Tau-sende Entwürfe aus mehr als 100 Jahren Firmengeschichte – auf dem Gelände der Fondazione auszustellen. Dem Guardian gegenüber formulierte sie ihre Absicht folgendermaßen: „Ich habe mit einer Idee angefangen, und die lautete, etwas zu tun, von dem ich denke, dass es wichtig und relevant ist.“ Und fast wie nebenbei wirft das Resultat einen goldenen Glanz auf die Welt um sich herum.

Nur einen Spaziergang von der De-pendance der Fondazione in Venedig ent-fernt liegt der barocke Palazzo Grassi, der das Museum der François Pinault Foundation beherbergt. Der Mann hin-ter der Stiftung, der 78-jährige Fran-çois Pinault, hatte das Unternehmen seines Vaters zum Konzern PPR aufge-baut, der heute Kering heißt. 2003 dann übertrug Pinault das Geschäft überra-schend seinem Sohn François-Henri, des-sen Ehe mit der Hollywood-Schauspie-lerin Salma Hayek dem Konzern heute zusätzlichen Glitzer verleiht. Zu Kering gehören rund 60 Labels, darunter Yves Saint Laurent, Gucci, Balenciaga, Stella McCartney und Brioni, aber auch das Auktionshaus Christie’s. Auf der Web-site der Holding namens Groupe Artémis, zu der Kering gehört, taucht die Kunst nicht etwa unter „Visionen“ auf, sondern unter „Investitionen“.

Pinault begann in den siebziger Jah-ren, Kunst zu kaufen. Heute gehören rund 2500  Arbeiten zu seiner Samm-lung, darunter Werkgruppen etablierter Künstler wie Cindy Sherman, Damien Hirst und Ólafur Elíasson. Auf der vom

Die Fondazione Prada in Mailand, entworfen vom Architekturbüro Oma. Der Turm trägt Gold

Zur Sammlung gehört auch eine Dauerausstel-lung mit Arbeiten von Robert Gober (links)

Oben: Powercouple der Mode: Miuccia Prada mit ihrem Mann Patrizio Bertelli, CEO von Prada

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Kunstmagazin ArtReview herausgegebe-nen Liste der 100 wichtigsten Personen der Kunstwelt steht er auf Platz 34. Dem Wall Street Journal sagte er 2013 zum Thema Kunst und Luxuswaren: „Die Vermischung beider Genres kann extrem gefährlich sein. Bei Mode und Luxus geht es ums Handwerk und das Geschäft. Es gibt sehr talentierte Designer, aber Mode ist nie die reine Kreation.“

Seine Geschichte lässt sich kaum ohne die des Mannes erzählen, der auf der Kunstmenschen-Liste auf Platz Nummer 23 steht: Bernard Arnault. Der 66-Jährige ist der wahrscheinlich ein-flussreichste Geschmacksbildner der Lu-xuswelt, nicht zuletzt durch Designko-operationen seiner Marke Louis Vuitton

mit Künstlern wie Takashi Murakami. Zu Arnaults Konzern LVMH gehören au-ßerdem Dior, Fendi, Céline, Pucci, Krug, Dom Pérignon – die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen.

Arnault ist ein großer, schmaler Mann, der es nach Aussage seiner Frau hasst zu verlieren. Und das erste Aufei-nandertreffen mit Pinault, das verlor er, nämlich die Schlacht der beiden Unter-nehmerfürsten um die Übernahme des damals siechen Hauses Gucci. Pinault siegte, und Gucci wurde die Grundlage für die Neuausrichtung des Kering-Kon-zerns. Ab dem Zeitpunkt war zwischen den beiden französischen Tycoons der Kampf um die Vorherrschaft im Geschäft und eben auch in der Kunst eingeläutet.

Die permanente Samm-lung der Pinault Collec-tion befindet sich in der Punta della Dogana

Tadao Ando hat das ehemali-ge Zollamt von Venedig umgebaut. Zu sehen ist eine Installation von Roni Horn

François-Henri Pinault, der  rund 60 Labels verant-wortet. Sein Vater baute die Fondazione auf

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WELT.DE/NEU

Die Welt gehört denen, die Hirn haben

und Stirn bieten.DOROTHEA SIEMS, REDAKTEURIN

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den 100 Millionen Euro teuren Bau der mit dem Guggenheim-Museum in Bilbao weltberühmt gewordene kanadische Ar-chitekt Frank Gehry. In elf Galerien auf 11 700  Quadratmetern Gesamtfläche wird „LVMHs anhaltendes Engagement in Sachen Kulturförderung vertieft“ und

„dem breiten Publikum ermöglicht, eine Vielzahl an künstlerischen Schöpfungen zu erleben“, wie es auf der Unterneh-mens-Website heißt. Die Eröffnungsaus-stellung wurde dem Architekten Gehry gewidmet.

ANNE WAAK schreibt über Mode und Pop. Die Uniformen der Museumswärter bei Prada fand sie so schick, dass sie sich selbst dort bewerben wollte

Denn auch Arnault ist Sammler. Von Picassos, Yves Kleins und Andy War-hols, mehr als Tausend sollen es insge-samt sein. 2006, im selben Jahr, in dem Pinault den Palazzo Grassi eröffnete, gründete Arnault die Fondation Louis Vuitton pour la Création. Seit Oktober vergangenen Jahres ist im Westen von Paris, im grünen Bois de Boulogne, nun ein gigantischer, in Wolken gehüllter Eis-berg zu begehen.

Das Gebäude ist auch eine Geste Arnaults in Richtung des Konkurrenten Pinault, der jahrelang versucht hatte, ein Museum bei Paris zu eröffnen, bis er aufgrund von bürokratischen Hürden ir-gendwann entnervt aufgab und sein Mu-seum in Venedig eröffnete. Geplant hat

Oben: „La Colonne sans Fins“ von Constantin Brancusi, da neben ein Piet Mondrian

Rechts: Die Foundation Louis Vuitton pour la Création hat Frank Gehry gebaut

Einflussreichster Geschmacks bildner der Modewelt: LVMHs CEO Bernard Arnault

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Männer des Jahres

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WARUMich trage,

WASich trage

M odisch habe ich einiges auspro-biert – manches war vielleicht auch peinlich. So wie diese

furchtbaren dänischen Gesundheitslat-schen aus braungelbem Leder, die ich während meiner Zeit in der Oberstufe trug.

Ich hatte damals meine „alternative Phase“, in der ich auf „Insignien der Bür-gerlichkeit“ wie Krawatte oder Anzug verzichtet habe. Meinen ersten Schlips kaufte ich mir erst an dem Tag, als ich mein Diplom von der Uni Frankfurt in die Hand gedrückt bekam. Ich ging di-rekt in einen Laden auf der Zeil und kaufte mir eine schwarz-silberne Kra-watte – für 20 Mark, mehr wollte und konnte ich damals nicht ausgeben.

In meinen ersten Parlamentsjahren trug ich dunkle Anzüge mit schwarzen Krawatten. In dieser Phase nannten mich zwei Parlamentskolleginnen scherzhaft

„Black Beauty“.Abends, wenn ich die Kleidung für

den nächsten Tag herauslege, frage ich mich: Was gibt mir das Gefühl, sicher und angemessen gekleidet zu sein? Im Bundestag und in Kabinettssitzungen gilt bei mir: Anzug mit Krawatte. Wenn ich im Wahlkreis eine Bürgersprechstunde habe, kann das auch mal eine Jeans mit Hemd sein. Bei der Akkreditierung von Botschaftern beim Bundespräsidenten muss es ein Cutaway sein.

Kleidung ist eine Frage von Halt und Haltung. Wenn man etwas trägt oder es bewusst nicht trägt, ist das immer ein Statement – auch und gerade in der Poli-tik. Wir in Parlament und Regierung sind mittlerweile ein bunter Haufen. Die Po-litik insgesamt, auch was Kleidungsstile anbelangt, ist vielfältiger geworden. Das finde ich gut.

individuell. Deshalb erlaube ich mir Fir-lefänzchen. Das kann zum Beispiel eine Krawatte in leuchtendem Grün sein  – aber nie in Rot, die Farbe finde ich für einen Sozi mit meinem Namen zu viel des Guten. Ich erfreue mich an Kleinig-keiten, die verborgen bleiben oder nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Zum Beispiel farbige Strümpfe.

Krawatte und Einstecktuch gleich-zeitig finde ich übertrieben. Manschet-tenknöpfe trage ich selten. In letzter Zeit mag ich aber ab und an ganz schlichte, die aussehen wie alte griechische Münzen. Ein ehemaliger Amtskollege aus Grie-chenland hat sie mir geschenkt. Die zu tragen, ist derzeit ja auch ein Statement.

Aufgezeichnet von VINZENZ GREINER

In anderen Ländern geht es oft stren-ger zu – dem muss man Rechnung tra-gen. Das hat auch etwas mit Respekt ge-genüber den Gastgebern zu tun. In der Türkei beispielsweise trägt man bei offi-ziellen Anlässen grundsätzlich Anzug – egal ob es 35 Grad heiß ist, wie ich bei einem Besuch eines Flüchtlingslagers an der türkisch-syrischen Grenze feststellen musste. Bei allen Formalitäten bleibe ich

MICHAEL ROTH

Michael Roth

44, ist Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt und Beauftragter für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Seit 1998 ist er SPD-Bundes-tagsabgeordneter

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STILWarum ich trage, was ich trage

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Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, kritisiert die Instrumentalisierung der Kultur und deren viel zu unstete Finanzierung, Essay Seite 126

„ Dass Kultur vergeht, ist gewiss.

Kunst hingegen bleibt “

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N atürlich ist er eigentlich ein Net-ter. Sagt sehr höflich „Guten Tag“ und singsangt zum Abschied

„Tschü-hüss“. Spricht mit sanfter Stimme. Denkt lange nach, bevor er etwas sagt. Und dann sagt er gar nicht doofe Sachen wie: „Wenn man die Provokation in nette Musik verpackt, dann erhöht das den Ef-fekt.“ Wie das halt oft so ist mit den büh-nenwirksamen Berserkern: Im wahren Leben entpuppt sich selbst ein Till Lin-demann als umgänglicher Papiertiger.

Till Lindemann, 52 Jahre alt, gebo-ren in Leipzig, aufgewachsen bei Schwe-rin, Mutter Kulturjournalistin, Vater Kin-derbuchautor, erste lyrische Gehversuche im Alter von neun Jahren, ist der einzige aktuell international relevante deutsche Popstar. In den USA ist der Frontmann von Rammstein mindestens so bekannt wie Heidi Klum. Vielleicht sogar bekann-ter. Einige finden, er sieht besser aus.

Allerdings gibt es auch Menschen, die das Schaffen von Lindemann für verabscheuungswürdiger halten als die zynische Show, die Klum im Fernsehen moderiert. Aber das ist womöglich ein Missverständnis. Denn wenn die Öffent-lichkeit Till Lindemann sieht, dann sieht sie einen nackten, muskelbepackten, in seiner Jugend als Leistungsschwimmer gestählten Oberkörper, der im Stech-schritt über die Bühne getragen wird, während um ihn herum ein irrwitziges Pyrospektakel leuchtet. Sie sieht einen schweißüberströmten Berserker von knapp zwei Metern, dem der Philosoph Slavoj Žižek bescheinigt, „auf obszöne Weise die faschistische Utopie zu sabo-tieren“. Wenn Peter Tägtgren Till Lin-demann sieht, dann allerdings sieht er

„einen sensiblen Typen, der trotzdem Spaß haben will“, und einen „großarti-gen Dichter, der Gefühle auf den Punkt bringen kann wie kaum ein zweiter“.

Im Zweifelsfall sollte man Peter Tägtgren vertrauen. Er ist dichter dran als Musikerkollege, Saufkumpan, Freund und nun Kooperationspartner auf „Skills in Pills“. Lindemanns erstes Album ohne Rammstein ergänzt die Metal-Riffs der Stammband mit einer Dosis Gothic-Düs-ternis und wird veröffentlicht unter sei-nem Nachnamen. Nicht nur deshalb darf es als erster Versuch gelten, dem fest-zementierten Image des 90-Kilo-Man-nes neue Nuancen hinzuzufügen. Der Schwede Tägtgren fühlt sich berufen, Deutschland seinen ebenso umstritte-nen wie erfolgreichen Kulturbotschafter zu erklären: „Wie ich das sehe, kann Till problemlos für zehn Lieder in zehn ver-schiedene Charaktere schlüpfen. Damit kommen einige nicht klar.“

DAMIT RÜHRT TÄGTGREN an den Kern des Problems. Dass Werk und Werkur-heber nicht notgedrungen identisch sind, an diesem Konzept verzweifeln viele. Dass Lindemann und Rammstein auf der Bühne ein Rollenspiel aufführen, dass er als Dichter nicht unbedingt von sich selbst erzählt, sondern Licht in die dun-kelsten Niederungen der menschlichen Psyche bringt, das irritiert weiterhin.

Den Irritierten weiterzuhelfen, das allerdings verweigert der Urheber der Ir-ritation, so umgänglich er sich sonst gibt.

„Ich soll meine Texte immer analysieren“, sagt Lindemann beim Interview im hei-matlichen Berlin, dann hebt sich der ge-waltige Brustkorb ein gutes Stück und der große Mann sinkt leise seufzend auf seinem Stuhl in sich zusammen, „aber in Wirklichkeit denke ich gar nicht so viel darüber nach.“

Das tun andere umso ausführli-cher. Seit Rammstein Mitte der neunzi-ger Jahre auf der Bildfläche erschienen sind, gründet ihr erstaunlicher Erfolg

vor allem darauf, dass sie das Klischee-bild vom bösen Deutschen mehrfach iro-nisch gebrochen in die Welt tragen. Wenn Lindemann nun zusammen mit Kum-pel Tägtgren erstmals englische Texte schreibt und singt, dann, sagt er, „will ich auch weg von den Rammstein-Erwar-tungen“. Allerdings gibt er ein Alleinstel-lungsmerkmal auf, das nicht zuletzt zum internationalen Erfolg von Rammstein geführt hat. Jetzt verstehen die Amis, was sie da mitgegrölt haben, während sie auf den Feuerschein einer explodie-renden Bühne starrten.

Auf „Skills in Pills“ singt Lindemann in einer ihm fremden Sprache von altbe-kannten Sujets, von Schmerzen, von Kre-aturen, die aus Löchern kriechen, und immer wieder von Sex, der, sagt Linde-mann, „einzigen wahren Triebfeder des Menschen“, in allen, eben auch abseiti-geren Spielarten. Diesmal rühmt er – das wird und soll wieder nicht allen gefallen – in „Golden Shower“ die Freuden des ge-zielten Harndrangs und singt mit „Fat“ ein Loblied auf die Erotik der Leibesfülle.

Allerdings wird im Englischen, viel-leicht weil Lindemann nicht mehr zu-rückgreifen kann auf jenes antiquierte Deutsch, mit dem er seine Rammstein-Texte verfremdet, umso deutlicher, welch humanistischer Humor seinen Reimen in-newohnt. Lindemann ist ein Menschen-freund, dem nichts Menschliches fremd ist. Doch an das allzu Menschliche ihrer Existenz werden die Menschen einerseits nicht gern erinnert. Andererseits mögen sie den Grusel angesichts ihrer eigenen Abgründe. Und dabei hält uns der nette Herr Lindemann gern die Hand.

UNSER LIEBER SEELENDOKTORDer bekannteste deutsche Popstar, Till Lindemann, gibt auch ohne Rammstein und mit englischen Texten den abgründigen Bürgerschreck. Ist es Pose oder Rollenspiel?

Von THOMAS WINKLER

THOMAS WINKLER ist Musikjournalist und fand schon den Humor von Rammstein groß-artig. Dicken Damen vermag er nicht so viel abzugewinnen wie Lindemanns lyrisches Ich

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Exotendasein kann anstrengend sein. All die Ohs und Ahs, die irritier-ten Blicke, die offenen Münder und

jene Stimmen, die sich lieber nach der Gefährlichkeit von elektromagnetischen Feldern erkundigen, als die Intensität der Interpretation zu bewundern. „Ich bin kein Freak“, sagt Carolina Eyck, zuckt mit den Achseln und steckt sich ein Stück Minzschokolade in den Mund. „Für mich ist das Theremin völlig normal. Mich in-teressiert einfach nur die Musik, die man damit machen kann.“

Das musikalische Refugium von Ca-rolina Eyck ist ein Wohnstudio in einer ehemaligen Spinnerei im Westen von Leipzig. Durch die Fenster fällt der Blick auf den Karl-Heine-Kanal, davor reckt eine mannshohe Kaktee ihre Arme in die Luft, von den beige gefliesten Wänden leuchten farbintensive Gemälde. Auf dem Fußboden mümmelt ein frei herumlau-fendes Kaninchen am Kohlblatt, während sich Kaninchen Nummer zwei geräusch-voll hinter den Löffeln kratzt. Gleich ne-ben zwei aufgebauten Theremins, einem Keyboard, einem Notenständer und je-der Menge Kabelsalat hockt die Herrin des Instruments im Schneidersitz auf ei-nem Sofa und streichelt mit den Händen eine Plüschwärmflasche: „So wie ich ge-rade lebe, kann ich alles machen, was ich will. Das ist total toll und wie ein Spiel-platz, auf dem man sich austoben kann.“

Die zierliche junge Frau mit den dun-kelbraunen Haaren und der kraftvollen Gestik ist eine der wenigen international auftretenden Theremin-Virtuosinnen. Sie konzertiert als Solistin und Kammermu-sikerin, schätzt die Interpretation klas-sischer Werke von Bach bis Strawinsky ebenso wie die Jazz-Improvisation. Sie bestreitet jeglichen missionarischen Eifer und präsentiert sich in ihren Konzerten und im Internet doch als Botschafterin

des geheimnisvollen Spieles mit Luft und elektromagnetischer Energie.

1987 nahe Berlin geboren, umgaben Eyck schon im Krabbelalter künstlich er-zeugte Klangwolken. Während ihr Vater als Musiker einer elektronischen Band Konzerte gab, saß Eyck bei ihrer Mut-ter hinter der Bühne auf dem Schoß und inhalierte den verwegen schwirrenden Sound. Eine elektronische Frühförde-rung mit Langzeitwirkung: „Auch heute noch finde ich den Klang von Synthesi-zern total anziehend.“ Als sie sechs Jahre alt war, stand dann ein Theremin daheim auf dem Esstisch. Ein dunkelbrauner Kas-ten, gekauft vom Vater, der etwas Beson-deres wollte für die Tochter.

NEBEN DEM SPIEL von Geige, Klavier und Bratsche lernte Eyck also Theremin. Sie verfiel jenem Klang, welcher zu Ver-gleichen zwingt und doch so eigen ist: Ein schwebender, rufender Ton aus dem Nirgendwo, der mal einer zittrig singen-den Frauenstimme ähnelt, mal einem wa-bernden Geigenvibrato, und der mit sei-nem sphärischen Timbre in jaulenden Glissandi schon manche Hitchcock-Gän-sehaut zu verantworten hatte. Eine sin-gende Säge auf Elektronisch, sagen man-che. „Das ist einfach das Theremin“, sagt Eyck, nippt am Tee und blickt entspannt zu den Kaninchen.

Unter den Instrumenten ist das The-remin ein Paradiesvogel. Ein elektroni-sches Faszinosum, das trotz seines für ein elektronisches Instrument relativ hohen Alters bis heute weitgehend unbekannt ist. Als technologischer Vorfahre des spä-teren Synthesizers wurde das Theremin 1920 vom russischen Physiker Lew Ter-men erfunden und später von der Syn-thesizer-Legende Robert Moog weiter-entwickelt. In seinem Erscheinungsbild präsentiert sich das berührungslos

gespielte Instrument denkbar puristisch: An einen Holzkasten mit Radiosender-elektronik schließen zwei Antennen an. Beide umgibt ein elektromagnetisches Feld, das mit den Händen beeinflusst werden kann, wobei diese je nach Nähe zu den Stäben die Höhe und die Laut-stärke des Tones bestimmen.

Was auf der Bühne wirkt wie ein musikalischer Schamanentanz, verlangt beinhartes Training. Das Spiel mit dem Klang, das korrekte Messen der Ab-stände in der Luft, die Kunstfertigkeit der richtigen Intonation und der Lini-engestaltung brachte sich Carolina Eyck zwangsläufig weitgehend autodidaktisch bei. Nur einmal jährlich kam ihre Lehre-rin Lydia Kavina aus Russland zu Besuch. So wurde Eyck nicht nur zur Virtuosin, sondern auch zur gefragten Lehrmeiste-rin, die ihr Wissen heute in Buchform packt und über mehrsprachige Videos im Internet verbreitet. Ein forderndes Pio-nierunternehmen: „Das ist schon schwer. Man muss sich immer alles selbst ausden-ken, keiner hat es vorgemacht.“

Die internationale Theremin-Jün-gerschaft weiß Eycks Einsatz zu schät-zen, und so pilgern Anfänger, Fortge-schrittene und Profis mehrmals im Jahr zu Theremin-Akademien in Leipzig, Col-mar und Lippstadt. Unter Carolina Eycks Anleitung erkunden die Theremin-Fans dann den musikalischen Spielplatz: Sie verfeinern die Körperhaltung, perfekti-onieren die Spieltechnik und erzeugen beim Tanz der Finger in der Luft sinnlich fließende Klanggemälde. Offene Münder sucht man hier vergebens. Es musizieren: Exoten unter sich.

LUFT PLUS LIEBE GLEICH MUSIKCarolina Eyck ist die Königin des Theremins – eines elektronischen Instruments, das klingt und schwingt und surrt, ohne dass man es berührt. Hitchcock wäre stolz auf sie

Von DOROTHEA WALCHSHÄUSL

DOROTHEA WALCHSHÄUSL musste bei der Beobachtung des Theremin-Spieles streng Abstand halten. Sie störe sonst das elektro-magnetische Feld, warnte Carolina Eyck

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IN SO VIEL GUNST

STIRBT ALLE KUNST

Nur frei kann wachsen, was bleibt. Kein

Projektgeld hilft da, kein Chichi: Acht Thesen zur Finanzierung von

Kunst – vom Intendanten der Berliner Festspiele

Von THOMAS OBERENDER

Illustrationen SUSANN STEFANIZEN

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1. KUNST DARF NICHT MIT PÄDAGOGIK

VERWECHSELT WERDEN

Kunst scheint zunehmend das im Beipackzettel von Förderanträgen und Förderrichtlinien Mitgemeinte zu sein. Zu Leitbegriffen werden: Education, Nach-barschaft, Partizipation. Der dynamische Bereich der Kulturförderung jenseits der fixen Zuwendung für die klassischen Institutionen dient oft sozialen Zwecken und weniger der Förderung künstlerischer Produktion.

Die traditionelle Geste, dass ein Souverän, ein Mä-zen oder der Staat Künstlern durch Aufträge ihre Frei-heit gewährt, wird abgelöst von einer Geste, die ver-mittels der Kunst eine spezifische Pädagogik verfolgt: mehr Bildung, Austausch und Integration, mehr Ver-netzung, Nachhaltigkeit und Innovation.

Gefördert wird oft ein sozialer Zweck, der durch die Kunst vermittelt werden soll. Einen solchen parti-zipatorischen Ansatz pflegen Kinder- und Jugendthea-ter mit Migranten oder Stadtteilbewohnern. Kunst gilt plötzlich als sekundäres, unsicheres Phänomen. Viel-leicht liegt dieser Geisteswandel, dem zufolge weniger die Kunst der Förderung bedarf als der Zustand unse-res Gemeinwesens, daran, dass der Hype der bilden-den Kunst suggeriert, Kunst käme am Markt allein zu Geld. Diese Entwicklung hat zwei bedenkliche Effekte: Sie ersetzt den Eigenwert künstlerischer Arbeit durch Begründungszwänge. Und sie verstärkt in den seltenen Fällen, in denen noch künstlerische Projekte gefördert werden, die Tendenz zu großen Namen und zu Forma-ten, die Aufmerksamkeit und Sicherheit versprechen.

2. KUNST MUSS EIN WAGNIS BLEIBEN

Viele Firmenstiftungen folgen dem Konzept der Cor-porate Social Responsibility, CSR. Sie verpflichten sich, mehr für die Umwelt, die Gesellschaft und die eigenen Mitarbeiter zu tun, als es gesetzlich vorgeschrieben ist. Firmen agieren dabei wie zivile Personen, die über den Rahmen des gesetzlich Vorgeschriebenen hinaus

Kunst und Kultur werden in Deutschland groß-zügig durch die öffentliche Hand unterstützt. Die festen Budgets vieler Museen, Theater oder

Konzerthäuser aber stagnieren seit geraumer Zeit oder werden gekürzt. Die Finanzierung ändert sich radi-kal: Die arbeitssichernden Mittel werden zunehmend durch punktuelle Projektförderung auf Antrag ge-währt, während die Institutionenförderung erodiert. Dieser Paradigmenwechsel schlägt zurück auf die sol-chermaßen neu und anders subventionierte Kunst.

soziale Verantwortung übernehmen, um ihre gesell-schaftliche Akzeptanz zu gewährleisten. Kulturförde-rung aus einer Grundhaltung der CSR fördert daher eher Konsenspositionen als das Extreme oder Riskante.

Provenienzforschung beispielsweise ist in dieser Perspektive gut; dass jedes Kind ein Instrument er-hält, ist auch gut, da risikoarm und ertragssicher. Das Young Directors Project in Salzburg, das jungen Künst-lern half, ihre oft unkonventionellen Projekte zu prä-sentieren, braucht hingegen eine andere Lobby, die auch aushält, dass manchmal etwas wehtut oder un-verständlich bleibt. Geht dies nur, wenn Brad Pitt mit-spielt? Eine solche Sichtweise wäre falsch.

Wenn für Kunst Geld gegeben werden soll, dann bitte für das vielversprechende Wagnis. Auch darin drückt sich gelebte Verantwortung aus, wie sie mäze-natische Persönlichkeiten wie die Guggenheims, Get-tys oder Feltrinellis vorgelebt haben.

3. WER NUR PROJEKTE FÖRDERT, STIEHLT

SICH AUS DER VERANTWORTUNG

Staatliche und private Kulturförderungseinrichtun-gen wollen sich Spielräume für aktuelle Reaktionen erhalten. Da jede Form dauerhafter Förderung diese Spielräume einschränkt, ziehen öffentliche wie pri-vate Hand zunehmend ein temporäres Engagement vor oder machen es für neue Initiativen zur Bedingung.

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LUCERNE FESTIVAL IM SOMMER14. August – 13. September 2015

Starke StimmenMi, 19.8. LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA | Andris Nelsons | Matthias Goerne

Werke von Gustav Mahler

Mi, 26.8. Bamberger Symphoniker | Chor der Oper Zürich | Jonathan Nott | SolistenGiuseppe Verdi Falstaff

Sa, 5.9. Les Arts Florissants | William Christie | Absolventen des «Jardin des Voix»«Un Jardin à l’italienne». Arien, Kantaten und Madrigale

Mo, 7.9. Sächsische Staatskapelle | Christian Thielemann | Anja HarterosWerke von Richard Strauss

Sa, 12.9. Wiener Philharmoniker | Semyon Bychkov | Elisabeth KulmanWerke von Haydn, Wagner und Brahms

Karten und Informationen zum vollständigen Programm: +41 (0)41 226 44 80 | www.lucernefestival.ch

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Projektförderungen erlauben den Geldgebern, ihr Ziel klar zu definieren. Die Arbeit wird evaluierbar.

Diese Projektkultur bringt neue Phänomene mit sich: das Antragswesen, die Jurys, die Macht der Po-litiker, die striktere Beeinflussbarkeit der Kunstpro-duktion, die Ex-und-hopp-Kultur der Festivals, pre-käre Arbeitsbedingungen. Projektförderung fördert Chancen, niemals Sicherheit. Sie übernimmt keine Ver-antwortung, sondern setzt nur Impulse. Sie behandelt selbst durchgesetzte Talente wie Start-ups.

Firmen fördern entweder noch auf mäzenatische Weise, sind also loyal zu Künstlern und Institutionen wie bei den Salzburger Festspielen. Oder aber sie tre-ten als Sponsoren spezifischer Projekte auf, wobei sie sich loyal gegenüber der eigenen Firma und der eige-nen Zielgruppe verhalten müssen. Auch die öffentli-che Hand sponsert inzwischen gern Projekte. Sie ver-knüpft ihre Förderung mit strategischen Impulsen, die deutlich von kulturpolitischen, oft auch pädagogischen Interessen geprägt sind. Auch so wird Macht ausgeübt statt freie Kunst ermöglicht.

4. IN INSTITUTIONEN KANN KUNST SICH

PRINZIPIELL FREIER ENTFALTEN

Viele Institutionen wollen ihre finanzielle Unterde-ckung ausgleichen, indem sie Projektmittel einwerben. Schleichend, aber grundlegend ändern sich dadurch die Arbeits- und Vertragsstrukturen. Die Beschäfti-gungsverhältnisse vieler Mitarbeiter werden prekär. So entsteht ein süßsaurer Bereich aus neuen Möglich-keiten und neuen Härten. Die klassischen Institutionen werden unterstützt, wo und sofern sie innerhalb ihrer Mauern Insellösungen für Projektaufgaben schaffen.

Angesichts dieser projektkapitalistischen Entwick-lungen bieten Institutionen die freiere Struktur, da in ihnen eine künstlerische Arbeit mit langer Laufzeit und jenseits aufwendiger Bürokratien möglich ist. Die Entwicklung hin zu hybriden Institutionsformen ist dennoch unaufhaltsam: Auf der Sockelstruktur eines Hauses setzt eine fluide Arbeitsstruktur der Projekte auf, die häufig weit über die Hälfte der notwendigen Mittel auf dem freien Markt der befristeten Bedarfs-fallgelder besorgt, also Drittmittel akquiriert.

5. CLUSTER HEISST DAS FALSCHE

ZAUBERWORT

Stiftungen und Förderstrukturen schließen sich auch in Europa zu Fonds und Organisationen zusammen. Im Windschatten dieser Großakteure bildet sich ein Tross von kleineren Dienstleistern – unabhängige Agentu-ren, die Projekte lancieren und Expertisen anfertigen, Büros für Kundenbetreuung, Pressearbeit, Veranstal-tungsservice. So entsteht eine dezentrale Korona um die großen Flaggschiffe der wirtschaftsnahen und staatlichen Fördereinrichtungen.

Hinzu kommt auch auf staatlicher Ebene der Trend zum sogenannten Cluster wie dem Humboldt-Forum in Berlin. Solche Verbundstrukturen bilden annähernd geschlossene Arbeitsketten zwischen Künstlern, Resi-denzen, Shops und Firmensitzen der Kreativindustrie.

Das Wort Cluster klingt unangenehm nach Che-mielabor, Vernunftehe und schickem Design. Letztlich ist es genau das: ein duftendes Marketingversprechen, das eine Win-win-Situation suggeriert. So bilden Clus-ter hybride Milieus zwischen Online- und Offlinewel-ten im Handel oder im Bereich der kulturellen Arbeit.

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THOMAS OBERENDER ist seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele und war zuvor Schauspieldirektor bei den Salzburger Festspielen. Er schrieb u. a. „Leben auf Probe“ und „Das schöne Fräulein Unbekannt“

Eines der wenigen gelungenen Beispiele ist das Tokio-ter 3331 Arts Chiyoda – Kulturhaus, Galerie- und Ate-lierhaus, Kindergarten und Firmensitz in einem.

6. WENN GELDGEBER ZU VERANSTALTERN

WERDEN, FEHLT EIN KORREKTIV

Während es lange eine strikte Trennung gab zwi-schen Geldgeber und Veranstalter, mit unterschiedli-chem Selbstbewusstsein und Auftrag, vermischen sich diese Sphären immer stärker. Siemens veranstaltet in Salzburg eigene Festspielnächte, Vattenfall veranstal-tet die Hamburger Lesetage und BMW sein Guggen-heim-Lab. VW leistet sich ein Tanzfestival, Bayer, die Deutsche Bank und die Hypo-Vereinsbank unterhal-ten Kulturhaus oder Museum.

Auch die staatliche Bundeszentrale für politische Bildung unterstützt nicht mehr nur Produktionen, son-dern veranstaltet selbst ein Theaterfestival. Die Kul-turstiftung des Bundes richtet Symposien aus. Diese Neuheit zeigt, dass der alte europäische Geist von der Freizügigkeit der Künstlerförderung einer stark prag-matischen Haltung weicht, wonach Kultur und künst-lerische Produktion maximal zu kontrollieren seien. So wird die Wirtschaftslogik unmittelbar auf die Sphäre der kulturellen Produktion übertragen.

Dass Geldgeber zu Veranstaltern werden, spiegelt sich auch in einem anderen Bereich: Die Freundes- und Fördervereine bilden exklusive Klubs, die wie Firmen agieren. Die Freunde der Nationalgalerie in Berlin sind zu einem veranstaltenden Akteur geworden, der mit eigener Infrastruktur die öffentlich erhaltene Immobi-lie vermietet und den Museumsshop betreibt, um durch die Erlöse Ausstellungen und Ankäufe zu finanzieren und den Institutionen wiederum Projektmittel zukom-men lassen zu können, die natürlich oft einer eigenen Agenda der Unterstützer folgen. Wer mag da klagen?

7. DER PRIVATISIERTE IST DER KOMMERZI-

ALISIERTE KULTURRAUM

Wir erleben heute eine Privatisierung öffentlicher Räume, die immer auch Kulturräume waren. In Europa und insbesondere den deutschsprachigen Ländern seit dem 19. Jahrhundert hielt der Staat solche Plätze der Begegnung eigens frei, ob dies nun Parks, Spielplätze oder Museen waren. Etwas Ähnliches passiert gerade in der digitalen Welt. Das alte Internet mit seinen zu-nächst von Staaten, dem Militär und den Universitä-ten geschaffenen Infrastrukturen wird wohl in naher Zukunft von den Netzwerken großer Monopolisten

abgelöst. Google oder Facebook schaffen geschlos-sene Nutzerwelten, die auf dem Eigentum der priva-ten Netzwerkbesitzer beruhen.

Die Kultur dieser digitalen Welt mit ihrem Total-scan unseres Verhaltens wird in die Welt der analogen und dinglichen Kulturräume eindringen. Der Streit um TTIP und die sehr unterschiedliche Auffassung des Be-griffs Kultur in Europa und den USA geben einen ers-ten Vorgeschmack. Wem aber gehört das Gedächtnis der Welt, das von den Beständen von Foto Marburg umsiedelt in Serverfarmen hoch oben in Finnland?

8. EUROPA IST ANDERS

Die Blüte der deutschen Kultur ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ist nicht denkbar ohne die zahlreichen Fürstenhöfe. An ihnen wurden Musiker und Dichter, Architekten und Gelehrte gefördert, die in eine sich herausbildende Bürgergesellschaft hineinwirken konn-ten. Die repräsentative Demokratie zwei Jahrhunderte später macht die Entscheidung darüber, welche Kunst gefördert wird, zur parlamentarischen Debatte.

Es ist in hohem Maße staunenswert, dass in Eu-ropa der Staat überhaupt Geld gibt für die Künste. Je-der amerikanische Künstler in Berlin schreibt davon nach Hause. Ein Großteil der amerikanischen Thea-teravantgarde, von Robert Wilson bis Zachary Ober-zan, wäre nicht existent ohne die europäische Festi-vallandschaft. Die Blüte des europäischen Sprech- und Tanztheaters in den Benelux- oder deutschsprachigen Ländern hat auch mit einem über Jahrzehnte gut aus-gestatteten System aus staatlich getragener Ausbildung und Praxis zu tun, das sich am Broadway nie bewähren würde, in der Welt sonst aber schon. Etwa 0,4 Prozent des Bundeshaushalts werden für die Kultur verwendet, zwischen 1,4 und 1,9 Prozent der Budgets der Städte und Länder. Um Mitglied in der Nato zu sein, muss ein Staat mindestens 3 Prozent seines Haushalts ins Militär investieren. Es ist also noch deutlich Luft nach oben für die Kultur in jenen Ländern, die bis heute dank ih-rer Geschichte und Lebensqualität als Kulturnationen hohe Standortvorteile genießen.

Diese spezifische Kultur ist das Resultat von Kunstwerken, die in freier Intelligenz und eigenem Auftrag Schönheit schufen und Einsicht. So mag auch heute jeder seine Berechnungen anstellen mit der Kunst. Doch dass Kultur vergeht, ist gewiss. Kunst hingegen bleibt.

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Mein HERZ im Stein, es schlägt so hart und fest Von BEAT WYSS

132Cicero – 7. 2015

SALONMan sieht nur, was man sucht

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In keinem Land Europas stehen Fa-schismus und Moderne so zwingend nah beieinander wie in Italien: Wer sich dort für Architektur interessiert, wird als Ikonen moderner Baukunst

neben der Casa del Fascio von Terragni und dem Bahnhof Firenze Santa Maria Novella von Michelucci gewiss die Casa Malaparte auf Capri nennen. Alle Ge-bäude entstanden in den dreißiger Jah-ren, als Mussolinis Stern im Zenith stand.

Der Bauherr des berühmten Hauses auf Capri, der Journalist Kurt Erich Su-ckert, der sich Curzio Malaparte nannte, vereinigt in Leben und Werk nahezu alle politischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts. Der Sohn eines sächsi-schen Textilunternehmers und einer Mai-länderin war im toskanischen Prato auf-gewachsen. Als genialischer Heißsporn hatte er sich schon 16-jährig, vor dem Kriegseintritt Italiens, freiwillig der fran-zösischen Fremdenlegion Garibaldi ange-schlossen. 1922 reihte er sich unter die Faschisten, die mit Mussolini den Marsch auf Rom in Szene setzten.

Malapartes schroff zugespitzte Mei-nungen in der Tageszeitung La Stampa waren ungemein populär. 1931 erschien in Paris sein Buch „Die Technik des Staatsstreichs“. Darin gibt der polyglotte Literat eine Anleitung zur Machtergrei-fung. Seine Politikanalyse sollte Mala-parte allerdings nicht besser bekommen als Macchiavelli sein Fürstenspiegel. So-sehr Mussolini das Buch schätzte, er ließ es verbieten. Malaparte wurde 1933 aus der Partei ausgeschlossen und auf die äolische Insel Lipari verbannt.

Mussolinis Schwiegersohn und Freund des Dichters, Galeazzo Ciano, er-wirkte die Freilassung. Gern schmückte sich Italiens Regime mit dem intellektu-ellen Rabauken. Anders als im bieder pa-thetischen Dritten Reich galt ein kantiger Individualismus als Bestandteil faschisti-scher Haltung. Curzios Verbannung war der Peitschenhieb, dem das Zuckerbrot folgte in Form der Bewilligung für den Bau eines Künstlerhauses auf Capri.

Adalberto Libera lieferte einen ers-ten Entwurf: jener Architekt, der dem italienischen Faschismus eine modernis-tische Fassade schenkte und sein Lebens-werk 1960 mit dem olympischen Dorf in Rom krönen durfte. Die Entfremdung zwischen den beiden wuchs allerdings schnell, da es den Architekten störte, wie der Dichter den Bau seiner Villa als Bühne der Selbstinszenierung nutzte. Liberas Ehrgeiz lag nämlich im sozialen Wohnungsbau. Ein lokaler Baumeister brachte das Werk in vier Kriegsjahren schließlich zustande.

„Ich fühle mich wie ein Vogel, der seinen Käfig verschluckt hat. Ich werde meine Zelle in mir tragen wie die Schwangere das Kind in ihrem Schoß“, schreibt Malaparte in Erinnerung an seine Zeit der Verbannung auf der Vul-kaninsel. Mit der Casa Malaparte hat der Dichter das würgende Gefühl ausgespien. Sein einstiger Kerker klebt jetzt als kris-tallin versteinerter Auswurf an der Punta Masullo, der südöstlichen Spitze von Ca-pri: vor sich die verblauende Küste von Amalfi und weiter, im Dunst versunken, die Ebene von Paestum und, gegen Mit-tag dann, die Schatten der duftenden Wälder von Cilento. Es sei „ein Haus wie ich: traurig, hart und streng“. Durchge-hend bewohnt hat es der Bauherr nie. Er konnte mit seinem Selbstporträt in Stein nicht leben.

Malaparte starb 1957. Er vermachte das Haus der Volksrepublik China, nach-dem er mit Mao Zedong ein Interview geführt und das Parteibuch der PCI zu-gestellt bekommen hatte. Zuvor war er zum katholischen Glauben übergetreten.

Als Wohnung ungeeignet, ist die Casa Malaparte eine fabelhafte Bühne für Künstler, die den Zwiespalt zwi-schen ästhetischer Selbstermächtigung und dem Talent zur Massenseele ken-nen. Für Godards Film „Die Verachtung“ wurde das Haus zum Schauplatz einer Ehekrise, hinreißend kühl gespielt von Brigitte Bardot und Michel Piccoli. Karl Lagerfeld entdeckt durch seine Fotogra-fie im Bau den utopischen Laufsteg, des-sen unwirtliche Schönheit sich nur ent-faltet, wenn er von Spuren menschlichen Lebens unberührt bleibt

Die Casa Malaparte für Curzio Malaparte ist ein Selbstporträt ihres Bauherrn. Sie verbindet die politischen Extreme des Jahrhunderts

Beat Wyss

ist einer der bekanntesten Kunsthistoriker des Landes. Er  lehrt Kunstwissenschaft und Medienphilosophie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und schreibt jeden Monat in Cicero über ein Kunstwerk und dessen Geschichte. Kürzlich erschien bei Philo Fine Arts sein Essay „Renais-sance als Kulturtechnik“

Karl Lagerfeld fotografierte die Casa Malaparte im November 1997 mit seiner Polaroid-Kamera

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DU KANNST NICHT IMMER 14 SEIN? DU KANNST ES!

Der Zeichner Jeff Kinney wurde mit „Gregs Tagebuch“ zum Erfolgsautor. Ohne die Lektüre des Romans „Der Fänger im

Roggen“ wäre alles anders gekommen. Und ohne das FBI auch

Von SEBASTIAN MOLL

Jeff Kinneys Arbeitsraum könnte das Zimmer eines Teenagers sein. In der Ecke stehen eine Gitarre und ein Schlagzeug für die Playstation, mit denen man einen Rockstar mimen kann. In der Mitte thront ein Tisch-eishockeyspiel, der Schreibtisch ist vor allem ein elektronischer Zeichentisch.

Eigentlich ist der Raum aber das Wohnzimmer eines Einfamilienhauses in einem ruhigen Gebiet der Kleinstadt Plainville, 60 Kilometer westlich von Boston im ländlichen Massachusetts. Kinney hat das Haus in den Hauptsitz seines Ein-Mann-Medienimperiums umgewandelt, das mit Kinderbüchern und Computerspielen jährlich zweistellige Millionenbeträge umsetzt. Zwei Assistenten haben im Obergeschoss ein Büro, in den Küchenschränken sind Exemplare seiner Erfolgsbücher, der „Diaries of a Wimpy Kid“ verstaut.

Ein kleiner Bücherschrank steht in der Ecke. Er beherbergt ein paar Bände des Disney-Zeichners Carl Barks, alle Werke der Kollegin Judy Blume, die er als „große Inspiration“ bezeichnet, ein paar Sportlerbiografien, aber auch „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Der Fänger im Roggen“. Kin-ney, dessen weiche Gesichtszüge ihn aussehen lassen wie einen zu groß ge-ratenen 14-Jährigen, entschuldigt sich, dass seine Sammlung an Gedruck-tem so mager und willkürlich wirkt. „Wissen Sie, die meisten meiner Bücher sind hier“, sagt er und holt sein iPad hervor. Da hat sich der 43-Jährige ganz an das Zielpublikum, die Internetgeneration, angeschlossen.

Kinney erzählt seine Geschichten gleichermaßen digital wie auf Papier. Die ersten Episoden der Tagebücher seines pubertierenden Comic-Helden Greg Heffley erschienen als Blog. Mit seinen narrativen Computerspielen wie Poptronic macht Kinney genauso viel Umsatz wie mit den Büchern. Doch die Tatsache, dass er Bücher am liebsten als Hörbücher konsumiert, hat nichts mit einer Präferenz für das Digitale zu tun. Eigentlich liebt er das gedruckte Wort. „Das Buch“, sagt er, „ist eine geniale Technologie und dem Computer in vielerlei Hinsicht überlegen.“ Er kaufte in Plainville einen Ge-mischtwarenladen und will dort in diesem Jahr einen Buchladen eröffnen.

Für seine eigenen Bedürfnisse sind handfeste Bücher nicht praktisch. „Ich habe mindestens fünf Jobs“, sagt er, „als Spieledesigner, Zeichner, Vater,

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SALONBibliotheksporträt

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SEBASTIAN MOLL lebt und arbeitet in New York. Er war auch einmal 14  Jahre jung

Drehbuchschreiber für die Wimpy-Kid-Verfilmungen und als Buchautor.“ Die Zeit, sich ausschließlich in ein Buch zu vertiefen, hat er nicht. Deshalb hört Kinney am liebsten Hörbücher, meistens, wenn er an seinen Tagebü-chern zeichnet. „Ich sitze manchmal bis zu 15 Stunden am Zeichentisch“, sagt er. „Da höre ich dann oft ein ganzes Buch pro Tag.“

Welche Bücher inspirieren ihn zu den lustigen Alltagsgeschichten des 14 Jahre alten Greg, der sich mit Selbstironie und schwarzem Humor durch die Pubertät kämpft? „Ich kann beim Zeichnen eigentlich nur Sachbücher hören“, sagt Kinney. Belletristik würde ihn von den eigenen Geschichten ablenken. Für Sachbücher hingegen „benutze ich einen anderen Teil meines Gehirns“. Kinney ist überzeugt, dass er wie viele Teenager an ADS leidet, am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Er könne gar nicht anders, als meh-rere Dinge auf einmal tun. Das aber sei „eher ein Talent als eine Krankheit“.

So kann er gleichzeitig zeichnen, wie Greg Heffley mit einem Video-spielverbot umgeht, weil er heimlich obszöne Rockmusik gehört hat, und sich mit den Theorien des Soziologen Malcolm Gladwell, einem Lieblings-autor, über Talent und Erfolg beschäftigen. Oder sich anhören, warum Bill Bryson das Jahr 1927 für das vielleicht wichtigste des 20. Jahrhunderts hält.

Die Bücher, die seine Arbeit beeinflusst haben, hat er vor langer Zeit ge-lesen und nicht mit der Absicht, sie für die eigene Kunst zu verwerten. Wie die meisten amerikanischen Jugendlichen konnte er sich als 16-Jähriger mit der Hauptfigur des „Fängers im Roggen“, Holden, identifizieren, mit dem Gefühl, allein und unverstanden in der Welt zu stehen. „Ich bin im Rück-blick sicher, dass es ohne Holden Caulfield keinen Greg Heffley gegeben hätte“, sagt er heute. Doch eine bewusste Anlehnung habe es nicht gegeben.

Sehr bewusst arbeitete Kinney daran, sich in einen 14-Jährigen zu ver-setzen, als er über die Geschichten für „Gregs Tagebuch“ nachdachte. In der hintersten Ecke des Bücherschranks steckt ein abgegriffenes Notizbuch, das Kinney behandelt wie ein Heiligtum. Vorsichtig streicht er über die Sei-ten. „Ich habe vier Jahre lang gezielt versucht, mich daran zu erinnern, wie es war, 14 zu sein. In diesem Büchlein hier sind meine Aufzeichnungen.“

Es sind winzige Einträge, in kleinen Kästen über das Papier verteilt. Manche Seiten sind so vollgeschrieben, dass kaum das Papier durchschim-mert. Kinney war damals 28. Sein Berufswunsch, Comic-Zeichner bei einer Zeitung zu werden, war gescheitert, ebenso seine Karriere als FBI-Agent, mit der er sich einen Knabentraum erfüllt hatte. Die Stelle als Computer-programmierer bei der Bundespolizei war nach dem Fiasko des FBI bei der Belagerung der Davidianer-Sekte in Texas 1992 gestrichen worden.

Heute sieht er das alles als Glücksfall. Er hat sich eine Existenz geschaf-fen, in der er immer 14 sein kann. „Ich werde oft als Erfolgsautor einge-laden. Ich komme mir dann vor wie ein Betrüger, weil ich mich eigentlich gar nicht als Autor sehe.“ Eher wie einen großen Jungen, der in eine Sache liebend hineingestolpert ist, die ihn grenzenlos erstaunt.

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W as die Großen einbrocken, sol-len die Niedrigen ausfressen. Schießen die Großen Böck,

so treten sie die Kleinen in den Dreck, dass sie sich daran wieder aufrichten …“ Es muss einer schon ein ausgewachsener Narr sein, der seiner Herrschaft eine sol-che Grußadresse zukommen lässt – wo-möglich auch noch in Buchform, damit die Fixierung der Funktion, die die „Klei-nen“ für die „Großen“ haben, auf jeden Fall ihre gesellschaftlichen Kreise ziehen

kann. Der Narr, der dies tatsächlich tat, hieß Joseph Fröhlich. Doch wie immer in seinem Leben ging er auch dabei klug zu Werke.

1694 wurde er im österreichischen Altaussee geboren, war ein gelernter Müller und hatte als Handwerksbursche auf der Walz allerhand Taschenspieler- und Zaubertricks erlernt: Eine rote Rose verwandelte er in eine weiße, indem er sie über angezündeten Schwefel hielt, er setzte Wasser mithilfe eines präparierten

Späte Post für HeinzDrei Hofnarren in einem Roman: Hans Joachim Schädlich

porträtiert eine bis heute präsente Berufsgruppe

Roman

Neue Bücher, Texte, Themen

Literaturen

Auf seinem berühmten Dresden-Gemälde porträtierte Canaletto 1748 den Hofnarren

Augusts des Starken: ganz rechts, mit weißem Hündchen

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Hühnereis in Brand oder ließ eine mag-netisierte Nadel auf einem Spiegel tan-zen; lauter harmlose, unterhaltsame Dinge also, dazu geeignet, Jahrmarkts-besucher für ein bisschen Geld zu unter-halten. Und für ein bisschen mehr Geld, wenn alles gut ging, dann auch die Herr-schaften bei Hofe.

Für Joseph Fröhlich ging alles gut – es ging sogar alles immer noch besser. Dass ein professioneller Narr das genaue Gegenteil eines Idioten ist, lässt sich an seiner Lebensgeschichte beispielhaft stu-dieren. Zuerst erhielt er eine feste Anstel-lung beim Markgrafen Georg Wilhelm in Bayreuth als „Hof-Taschenspieler“. Nun konnte er auf die Marktauftritte verzich-ten und das höfische Publikum damit amüsieren, dass er einen Brief in einem Ei versteckte oder sich, in ein Eulenkos-tüm gehüllt, aus dem Theaterschnürbo-den abseilen ließ und auf der Bühne ei-nem jugendlichen Wilderer mit Aplomb das arge Handwerk legte: Er packte ihn und ließ ihn mit sich in den Schnürboden hinaufziehen. Markgraf und Gräfin wa-ren entzückt, der Komödiant kommen-tierte trocken: „Das war anstrengend, aber nicht besonders originell.“

Die Herrschaften sahen das ganz an-ders, und bald wurde Fröhlich an den Hof des sächsischen Kurfürsten ausgeliehen. August der Starke, überdies König von Polen und Großfürst von Litauen, hatte seine Freude an dem Spaßmacher und wollte ihn gleich engagieren; erst 1727 aber, nachdem sein Bayreuther Gönner gestorben war, ging Fröhlich nach Dres-den. Seine Frau war nach der Geburt des dritten Kindes gestorben, neu verheiratet unternahm er mit seiner Familie den Um-zug. Und erhielt von August eine perga-mentene Ernennungsurkunde – nun war er „kurfürstlich-königlicher Hoftaschen-spieler“, außerdem „Lustiger Rat“ und Bürgermeister eines fiktiven Ortes na-mens „Narrendorf“. Seine Aufgabe for-mulierte August schlicht: „Bring mich einmal pro Tag zum Lachen oder zwei-mal zum Lächeln.“ Das sollte zu schaf-fen sein.

Seinen obersten Dienstherrn redete Fröhlich auf dessen Anweisung mit „Au-gust“ und „Du“ an, Zuneigung und Re-spekt waren gegenseitig. Doch wenn auch der Hofnarr, dessen Spezialität au-ßer Zaubertricks bissige Spottgedichte

waren, in die höfische Gesellschaft bes-tens integriert war, wenn er sich gegen adlige Beamte nicht nur Frei-, sondern gern auch Frechheiten herausnehmen konnte, wenn er von Canaletto gemalt und von zeitgenössischen Künstlern in Porzellan und Elfenbein dargestellt, von gebildeten Mitbürgern in Büchern gewür-digt wurde – es konnte doch nie ein Zwei-fel daran bestehen, welches seine eigent-liche Aufgabe war: für das Pläsier seiner Herrschaft zu sorgen. Dies schloss ein, dass der König seinen bevorzugten Un-tertan mit einer Maulschelle begrüßte und entließ (je nach Laune mal stärker, mal sanfter ausgeführt) oder ihn zu de-mütigenden, auch physisch peinigenden Spielen abkommandierte. Sosehr er sich auch sträubte, letztlich hatte der „Lus-tige Rat“ den Wünschen seines Kurfürs-ten und Königs klaglos Folge zu leisten.

Hans Joachim Schädlich hat, ge-stützt auf historische Quellen, das er-staunliche Leben des Joseph Fröhlich jetzt neu erzählt: Mal resümiert er selbst in Schädlich’scher Knappheit, was die historische Forschung zum Thema her-gibt, mal lässt er seinen Narren selbst be-richten. So ergibt sich ein raffiniert insze-niertes, die Innen- und die Außenansicht immer wieder gegeneinander führen-des Porträt eines bodenständigen Intel-lektuellen. Denn genau dies waren sie ja, die Narren, wenn sie ihr Hand- und Mundwerk wirklich verstanden – geliebt und abgestraft für ihre Fähigkeit, ihre

Herrschaft und deren politische wie pri-vate Manöver scharfsichtig zu analysie-ren und das Ergebnis sodann in der Rolle der „Lustigen Person“ öffentlich mitzu-teilen. Hätte dies die eigene Existenz ge-fährdet, musste die Mitteilung eben auch mal bis zum Ableben der Beteiligten auf-geschoben werden. So geschah es auch mit Fröhlichs eingangs zitierten, auf den mächtigen sächsischen Premier Heinrich Graf von Brühl gemünzten Sätzen, den Fröhlich mit konstanter Bosheit nur als

„Heinz“ titulierte: Fröhlichs Sohn veröf-fentlichte sie sechs Jahre nach dem Tod des Vaters, immerhin aber noch im To-desjahr Brühls.

Neben das kurzweilige, betrieb-same, nicht allezeit leichte, immer wie-der aber doch glückende Narrenleben des Joseph Fröhlich setzt Schädlich als Kontrast zwei weitere Modelle aus der-selben Zeit: ein Porträt des unseligen, in der geistfeindlich-verrohten Umgebung des preußischen Soldatenkönigs Fried-rich I. letztlich an seiner eigenen haltlo-sen Eitelkeit zugrunde gehenden Jacob Paul von Gundling, in einer eigenständi-gen Beschreibung sodann das Leben des Peter Prosch, eines Handschuhmachers aus Tirol, der sich 1753 als neunjährige Vollwaise allein auf den Weg in die Welt machte, um sein Glück zu finden.

Ist Gundling ganz der bizarre be-amtete Intellektuelle, der von seinem hohen Ross umso weniger herunterfin-det, je mehr man ihn verhöhnt, so ist Peter Prosch der treuherzig Naive, der von der höfischen Umwelt in die Nar-renrolle eingesetzt wird, ohne es recht zu begreifen. Obwohl auch er es zu et-was bringt und in seinem anhaltend kindlichen Unverstand seine Umgebung immer wieder bezaubert – von seinem Narrsein hat der Typus Prosch letztlich nichts: Unfähig zur Distanz, bleibt er der unfreiwillige Spiegel seiner Geldge-ber. Intellektuelle der Gegenwart, im-merhin, haben die freie Wahl zwischen allen drei hier so einprägsam gezeich-neten Modellen. Frauke Meyer-Gosau

Hans Joachim Schädlich„Narrenleben“

Rowohlt, Reinbek 2015. 176 S., 17,95 €

Dass ein professioneller Narr alles andere ist als ein Idiot, lässt sich an der Geschichte

des Joseph Fröhlich am Hof Augusts

des Starken beispielhaft

ablesen

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der kapitalistischen Gesellschaft. Drum-herum lässt Murakami den Protagonisten manch Düsteres aus seiner Kindheit und bisherigen Jugend erzählen, was für ein wenig melancholische Atmosphäre sorgt und streckenweise darüber hinwegtäu-schen kann, dass die Handlung mit ih-ren sommerlichen Alltagsbegebenheiten dann doch etwas dünn ist.

Im zweiten Roman, „Pinball 1973“, sind die Figuren und Alltagsgeschich-ten noch ein wenig skurriler als im ers-ten. Die Handlung setzt drei Jahre nach Ende des ersten Teiles ein. Inzwischen arbeitet der Protagonist als selbstständi-ger Übersetzer und teilt Bett und Woh-nung mit zwei rätselhaften, körperlich identischen Frauen, mit denen er nach Dienstschluss Backgammon oder Golf spielt oder auch mal – ein absurd-komi-scher Höhepunkt des Buches – feierlich einen Telefonverteiler beerdigt. Bei al-ledem vermisst der Protagonist die Zeit, in der all sein Denken um das nächste Flipperspiel in der Kneipe seiner Hei-matstadt kreiste. Er macht sich schließ-lich auf die Suche nach seinem einstigen Lieblingsflipperautomaten.

Außer diesen beiden Romanen ent-hält der Band noch ein persönliches Vorwort des heutigen Murakami. Da-rin schildert er die äußeren Umstände, unter denen seine ersten beiden Werke entstanden sind. Im Tokio der Siebziger besaßen er und seine Frau eine Jazz-bar, mussten viel arbeiten, lebten da-für aber ein für japanische Verhältnisse freies und unkonventionelles Leben. Seine ersten Romane habe er ziemlich übermüdet nachts am Küchentisch ge-schrieben, erinnert sich der Autor. Die beiden „Küchentisch-Romane“ sind so-mit auch Zeugnisse einer Ära, in der der große Murakami selbst noch ein Lässig-keit zur Schau tragender Großstadt-junge war, der sich in sein eigenes Par-alleluniversum flüchtete. Und vielleicht ist das Bewusstsein, dass man als Leser ein paar unverbrauchte Zeilen aus die-ser Anfangszeit vor sich hat, tatsächlich das Reizvollste an ihnen. Julia Frese

Haruki Murakami„Wenn der Wind singt“, „Pinball  1973“Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont, Köln 2015. 350 S., 19,99 €

Spitze Zungen behaupten ja, wenn man ein Buch von Haruki Mura-kami gelesen habe, kenne man sie

im Grunde alle: Motive wie der unnah-bare Großstadtjunggeselle oder die sui-zidale Geliebte wiederholten sich doch etwas zu häufig. Der phänomenale Ver-kaufserfolg der Bücher gehe letztlich nur darauf zurück, dass sie so schön simpel geschrieben seien und für den westli-chen Geschmack nicht allzu exotisch. Das stimmt zwar, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. In seiner Heimat Japan im-merhin gilt Murakami vielen als Aufrüh-rer, der mit seinen politischen Seitenhie-ben alles andere als massentauglich ist.

„Wenn der Wind singt“ und „Pin-ball 1973“ sind seine beiden ersten Bü-cher. Bislang waren sie nur dem japani-schen Lesepublikum zugänglich, seit Mai gibt es sie nun nach 35 Jahren auch auf Deutsch. Es heißt, Murakami habe lange gezögert, ehe er die Bitten seiner Fange-meinde erhört und einer Neuveröffentli-chung zugestimmt habe – er selbst sei von der literarischen Qualität seiner Debüt-werke nicht überzeugt. Und auch wenn sie so schlecht nicht sind, bleibt tatsäch-lich zweifelhaft, ob sie eine große Leser-schaft begeistern könnten, würde nicht inzwischen alles, auf dessen Umschlag

„Murakami“ steht, verkauft wie Limo-nade in der Wüste. Simpel geschrieben und nicht sonderlich exotisch kommen auf jeden Fall auch sie daher.

Die beiden Hauptfiguren sind ein 21-jähriger Student, der die Semesterfe-rien in seinem Heimatort verbringt, und sein bester Freund Ratte, beide eher passive Charaktere, die so ziemlich den ganzen Tag nur in ihrer Lieblingskneipe herumhängen und Bier trinken. Dabei be-gegnen sie den unterschiedlichsten Mäd-chen und Frauen und sinnieren über das Leben, den Tod und die Ungerechtigkeit

D er Stuttgarter Historiker Wolf-ram Pyta untersucht in seinem neuen Buch Hitlers Selbstver-

ständnis als Künstler und Genie. Sein we-sentlicher Ansatz besteht darin, Hitlers Vorgehensweise nicht logozentrisch zu analysieren, also Hitler nicht als um Ra-tionalität bemühten politischen Akteur zu sehen und dann zu erklären, wie er trotzdem seine ungeheuerlichen Verbre-chen begehen konnte. Stattdessen stellt er Hitler als Performance-Künstler dar, der wesentlich mehr auf die Form als auf die Logik und den Inhalt achtete und da-her auch problemlos Anleihen bei der po-litischen Linken nehmen konnte.

Hitler wird hier nicht als mehr oder weniger talentierter Kunst- und Archi-tekturmaler charakterisiert, sondern als an Richard Wagner geschulter „Über-wältigungskünstler“. Der spätere Dikta-tor hatte sich einzelne Wagner-Auffüh-rungen mehr als hundertmal angeschaut und handelte auch in der Politik nach äs-thetischen und theatralischen Kategorien.

Ist Pytas Ansatz neu? Und über-zeugt er? Die erste Frage kann ich mit ei-nem „ja, aber“ beantworten. Pytas Vor-gehensweise ist in dieser Verschränkung mit neuen Studien zur Ästhetik- und Ge-niegeschichte und auch in der Gewichtung, die er Hitlers künstlerischer Herangehens-weise an politische Probleme gibt, neu. Andererseits ist es eine Grundannahme der Hitler-Biografik, den Faschismus als Ästhetik wahrzunehmen und Hitler in seinem Selbstverständnis als Künstler zu beurteilen. Joachim C. Fest arbeitete mit ähnlichen Annahmen.

Hier müssten auch Hitlers Vorläufer, wie Gabriele D’Annunzio oder Musso-lini, ins Spiel gebracht werden. Sie hat-ten die faschistischen Zeremonien im-merhin erfunden. Auch auf sie würde die Annahme, dass sie in der Politik das

Von Murakamis Küchentisch

Performance und Verblüffung

Zwei Selbstbildnisse des Meisters als junger Mann: die ersten Romane

Wolfram Pyta deutet Hitler als Künstler und scheut die Überdehnung nicht

Zwei Romane Sachbuch

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Wirkungsfeld des Künstlers und nicht des buchhalterischen Verwaltungsbeamten sahen, voll zutreffen. Überzeugt Pyta mich also? Dass Hitler nicht nach streng logischen Kategorien handelte, zeigt das verheerende Resultat. Der Versuch, ihn als seine Zeitgenossen verblüffenden,

„durchgeknallten“ Performancekünstler mit Genieanspruch statt als fehlgreifen-den, aber um Rationalität bemühten po-litischen Akteur zu sehen, ist originell und regt zum Nachdenken an.

Hitlers Verachtung für die Grenzen, die nüchterne Fachkompetenz zog, ist ein zentrales Element seiner Herrschaft. Aber Pyta überdehnt die These im zwei-ten Teil des Buches, wenn er sich Hitler als Feldherrn während des Zweiten Welt-kriegs zuwendet. Hier spricht Pyta über Hitler als Künstler und Augenmenschen und von dessen kartografischer Beherr-schung des Raumes – einer Art Verblüf-fungsperformance vor der Karte – und dem Selbstverständnis als Architekt der Defensive, der dem Bewegungskrieg skeptisch gegenüberstand. Das alles könnte auch anders eingeordnet werden.

Es ist klar, dass sich Hitler in der zweiten Kriegshälfte auf seine Halte-befehle versteifte und am Ende auf der Karte Einheiten hin und her schob, die in der Wirklichkeit nur Schatten ihrer selbst waren. Aber das Arbeiten mit der Karte könnte sehr wohl in der Tradition und als normales Handwerkszeug des Mi-litärs gesehen werden und gleichzeitig als preußische Herrschertradition; Hin-denburg und Wilhelm II. sahen auch ih-ren Platz vor der Karte des Operateurs. Pyta reduziert das komplexe Geschehen eines verloren gehenden Weltkriegs zu sehr auf sein Kernargument. Das Streben nach Originalität führt ihn hier zu weit.

Die Gesamtbilanz ist dennoch posi-tiv. Pyta beherrscht die Quellen und die ungeheure Literatur zum Thema. Sein Buch liest sich ausgesprochen gut, und auch wenn man dem Autor nicht in al-len Schlussfolgerungen folgen mag, han-delt es sich um eine interessante und in-spirierende Lektüre. Holger Afflerbach

Wolfram Pyta„Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse“Siedler, München 2015. 848 S., 39,99 €

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bizarre Jugoslawienmission ausgerech-net wegen der falschen Krawatte eines ei-gens für ihn eingestellten Doppelgängers fast platzen lässt und sich immer wieder über die Stillosigkeit des neuen James Bond erregt, ist von großartiger Komik.

„Stil heißt, sich selbst beweisen, dass man den Dingen gewachsen ist“, lernt Pierre von seinem großen Vorbild Cary Grant, und um diesen Beweis kämpfen alle Be-teiligten. Sie stolpern und schlagen die irrwitzigsten Volten, und je weiter das Jahr 1954 voranschreitet, desto größer wird das Lesevergnügen. Die Welt der ehemaligen Partisanen rund um die Bar Aurora in Bologna, deren Partei ebenso korrupt wird wie alle anderen, ist düster. Sie trauern der Zeit ihres Widerstands nach, müssen sich durchschlagen, wäh-rend in der Welt der Gangster nur der Profit zählt. Steve Cemento, Lucianos rechte Hand, will vom Drogengewinn ge-nügend abzweigen, um seinen Boss los-zuwerden – „das Unglück in Profit ver-wandeln. Wiederauferstehen“.

Im Wunsch nach Wiederauferste-hung berühren sich die Welten aller Akteure. Ihre Bahnen kreuzen sich und sorgen dafür, dass sich die Verhältnisse bis ins Absurde verwirren. Das italieni-sche Autorenkollektiv Wu Ming, dessen Name so viel bedeutet wie „ohne Na-men“ oder „fünf Namen“ und als Ver-beugung vor den chinesischen Dissiden-ten verstanden werden will, bürstet die Geschichte gegen den Strich und spürt ihr utopisches Potenzial jenseits der offi-ziellen Lügen auf, in der Sprache der vie-len, den „Gedanken aller Menschen aller Zeiten und Länder“, wie es das Walt-Whitman-Motto des Romans verlangt. Dieses Vorhaben ist trotz einiger stilis-tischer Brüche geglückt: Die Autoren nehmen die Sprache und die Hoffnun-gen aller ebenso ernst wie das bewusste Spiel mit Genreformen und Mythen. Und weil Wu Ming auch keiner surrealisti-schen Zuspitzung aus dem Weg geht, ist dem Bologneser Kollektiv ein so glaub-würdiges wie satirisches Zeitgemälde ge-lungen. Lore Kleinert

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W örter sind nicht nur dazu da, verstanden zu werden, man spricht sie aus, weil man sie

gerne sagt, aus Lust am Sprechen“ – so preist Lucky Luciano, nach Neapel heim-gekehrter Gangster aus New York, Italien, dessen korrupte Regierung ihm den Start erleichtern soll. Den Rauschgiftmarkt will er erobern, in diesem besonderen Jahr 1954, als Vietnam nach der Nie-derlage der Franzosen geteilt wird, Ita-lien Istrien und Dalmatien an Titos Ju-goslawien verliert und Triest bekommt, der KGB entsteht, Deutschland der Nato beitritt und die Nachkriegszeit endgül-tig vorüber ist. In diesem ungewöhnli-chen Roman wird die Lust am Sprechen auf die Spitze getrieben. Alles spricht: sogar ein amerikanischer Fernseher na-mens McGuffin Electric Deluxe, auf den viele Italiener scharf sind – als Status-symbol, Lieferant von Fußballspielen und Rauschgiftversteck. Als erstklassi-ger McGuffin, wie ihn Alfred Hitchcock als filmischen Spannungsverstärker er-dacht hat, wandert er von Hand zu Hand

Das äußerst schräge Jahr 1954Herrlich absurd: Cary Grant spielt Tito, und ein Staubsauger erobert Italien

Krimi

durch den ganzen Roman, und siehe da, auch Hitchcock selbst taucht am Ende auf, als er in Nizza seinen berühmten Film mit Grace Kelly und Cary Grant dreht.

Da hat der Schauspieler seine große Krise schon hinter sich; Cary Grant, der als Archibald Alexander Leach auf Hän-den lief und jonglierte, muss sich 1954 neu erfinden, und die Politik interes-siert ihn dabei am allerwenigsten. Als er als möglicher Tito-Darsteller an der jugoslawischen Küste landet, rettet ihn ein junger Italiener aus den Fallstricken der Geheimdienste, die ein böses Spiel inszenieren. Pierre Capponi ist hier auf der Suche nach seinem Vater, einem der Partisanen, die nach dem Krieg nicht zurückkommen konnten und zwischen allen Stühlen landeten. Wie Grant die

Wenn so der Kalte Krieg aussah, dann doch gern mehr davon: Cary Grant in Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“ ( 1954 )

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In ihrem Buch „Reformiert euch!“ stellt Ayaan Hirsi Ali fünf islamisch-theo-logische Konzepte vor, die verändert

werden müssen, um den Islam zu reformieren. Das sind: 1.) Mohammeds Status als „Halbgott und Unfehlba-rer“ sowie die wörtliche Auslegung des Korans. 2.) Das Leben nach dem Tod sei wichtiger als das Leben im Diesseits. 3.) Die Scharia als Rechtslehre des Islam. 4.) Das Monopol religiöser Autoritäten, den Islam auszulegen. 5.) Das Dschihad-Konzept im Islam.

Es ist keine Frage, dass nur durch eine ständige Reform des Islam, im Sin-ne der Aktualisierung seines Verständ-nisses, dieser im Leben der Muslime aufrechterhalten werden kann. Denn nur in der ständigen Auseinanderset-zung und Konfrontation zwischen der Lebenswirklichkeit und der Religion können Muslime immer neu aus ihr schöpfen. Ansonsten bleiben sie auf der Ebene der Rekonstruktion vorhandener Positionen starr – und so stirbt auch der Islam. Der Prophet Mohammed drückte diese Tatsache so aus: „Gott schickt dieser Gemeinschaft alle hundert Jahre jemanden, um ihre Religion zu erneuern.“ Dabei geht es nicht um die Zahl 100 oder um eine bestimmte Person, sondern um die Tatsache der Notwendigkeit der Erneuerung an sich.

Die eigentliche Herausforderung ist jedoch die Frage nach dem Um-setzen von Reformen. Der Islam kennt keine Kirche und im Grunde auch keine

autoritären religiösen Institutionen oder Strukturen. Das heißt, Reformen können nur gelingen, wenn sie von „unten“ getragen werden. Und hier sehe ich das Hauptproblem einiger Reformversuche, die von oben via Imperativ „Reformiert euch!“ Veränderungen herbeizaubern wollen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die im Buch vorgestellten fünf Konzepte unmittelbar die islami-sche Theologie betreffen. Nun erwartet der Leser einen theologischen Diskurs, in dem diese Konzepte authentisch erörtert werden. Aber genau das leistet das Buch nicht; dazu schreibt Hirsi Ali: „Doch dies ist kein theologisches Werk. Es geht mir vielmehr darum, mich öffentlich in die Debatte über die Zukunft des Islam einzuschalten.“

Mit pauschalen Aussagen wie „Der Islam ist inhärent gewalttätig“ ver-liert Hirsi Ali ihre eigentliche Zielgrup-pe, nämlich die Muslime selbst, auch wenn sie an anderen Stellen im Buch versucht, solche Pauschalurteile zu relativieren. Hirsi Ali teilt die Muslime in drei Gruppen: Die Mekka-Muslime als friedliche Mehrheit, die Medina-Muslime als extremistische Minderheit – und schließlich die Reformer. Sie beschreibt die gefährlichen Medina-Muslime als diejenigen, die „den Glauben wörtlich nehmen und streng danach leben“. Dadurch gerät aber jeder Muslim, der meint, sich beispielsweise wortwörtlich an das islamische Gebot der Nächsten-liebe halten zu müssen, der seine fünf Gebete am Tag einhält und im Ramadan fastet (wie der Autor dieser Zeilen selbst, der ja als reformorientiert gilt), unter Extremismusverdacht.

Die Fachliteratur bietet eine viel hilfreichere Differenzierung, denn nicht jeder streng praktizierende Muslim ist ein Extremist oder sehnt sich nach der Errichtung eines Kalifats. Auch muss der Begriff Scharia nicht unbedingt als juristisches Konzept aufgefasst, sondern kann ebenso als spiritueller und ethi-scher Weg zu Gott verstanden werden.

Um ernsthafte Reformen anzu-stoßen, reicht es nicht, die negativen Narrative in der islamischen Tradition zu kritisieren. Theologen sind herausge-fordert, sich für die positiven Narrative einzusetzen und diese zu stärken, um Alternativen anzubieten. Ich verstehe Religionskritik als Angebot, sich im Spiegel des „anderen“ zu sehen und seine eigenen Positionen und Argumen-te immer wieder zu überprüfen. Nur so können sich Religionen vor Verschleiß-erscheinungen schützen.

AYA AN HIRSI ALI:REFORMIERT EUCH!

Von MOUHANAD KHORCHIDE

Ayaan Hirsi Ali„Reformiert euch!“

Knaus, München 2015.300 S., 19,99 €

Das politische Buch

143Cicero – 7. 2015

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Ich wusste, dass dieser Tag kom-men wird. Jetzt ist es definitiv. Als Erstes schießt mir durch den Kopf: Sind die Verhältnisse wohlgeordnet, wenn ich diese Welt verlasse? Am

liebsten wäre es mir natürlich, wenn ich mit den Menschen zusammen wäre, die ich am liebsten mag. Meiner Frau und meinen beiden Kindern. Doch wenn der Tod so schnell kommt, binnen 24 Stun-den, sind meine Kinder zu weit entfernt, um sie zu erreichen. Aber der Mensch ist ein faszinierendes Wesen. Allein die Stimme meiner Lieben weckt die Erin-nerungen und Emotionen an sie gänzlich, als wären sie da.

Ich habe im Laufe meines Lebens ge-merkt, dass sich der menschliche Geist bei wirklich wichtigen Gedanken nicht ablenken lässt. Ich setze mich also den Gedanken um den Tod voll aus. Unpa-thetisch, ohne Sorge. Ich lebe gerne, doch ich bin mir auch meiner Endlichkeit be-wusst. Es gab sogar eine Hellseherin, die mir vor vielen Jahren einmal genau vor-hergesagt hat, wie ich sterben werde. Für derlei Aberglauben bin ich jedoch über-haupt nicht empfänglich.

Mich zieht es an diesem Tag hinaus in die Natur. Ich liebe die Pflanzenwelt und bin tief davon überzeugt, dass wir alle Teil der Natur sind. Wir Menschen sind nicht die Krone der Schöpfung, son-dern nur ein wunderbares, doch zufälli-ges Element in dieser Welt. Nichts ande-res als ein besonderer Prozess der Natur hat uns erschaffen. Genetische Codierun-gen haben Kohlenstoffmoleküle zu unse-ren Körpern geformt. Und nach unserem Tod gehen wir wieder in diese Natur ein. Ganz so wie es die katholische Kirche sagt: Denn Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren.

Ich verstehe den Gedanken derer, die an eine Seele und an ein Weiterleben nach dem Tod glauben. Doch ich bin Wis-senschaftler genug, um zu wissen, dass jegliche Art von Denken mit materiel-len Neuronen verbunden ist. Wenn nun diese Materie nach dem Tod nicht mehr da ist, gibt es auch kein Denken mehr. Mit dem Ende der Funktion des Gehirns endet einfach alles. Natürlich missfällt das unserem Denken und unserer Logik. Sie wehrt sich förmlich dagegen. Doch logisch betrachtet ist die Sache ein ganz sauberer Exit.

Ich habe in den letzten Jahrzehnten viel über Religion und den Glauben nach-gedacht. Mein Orbitflug mit dem Space Shuttle in 300 Kilometern Höhe hat mich nicht näher zu Gott gebracht, wohl aber das Nachdenken über ihn. Vor allem hat sich für mich herauskristallisiert, dass man unterscheiden muss zwischen Reli-gion und Gott: einem Wertekanon, nach dem wir unser Leben ausrichten einer-seits – und dem Glauben an ein höheres Wesen andererseits.

Ich glaube an keinen Gott, wie die Offenbarungsreligionen ihn sich vor-stellen. Ich bezeichne mich hingegen als einen Wertechristen. Die Funktion der Religion ist ein ganz essenzieller Be-standteil unserer Gesellschaft. Es ist wie ein imaginäres Sicherheitsnetz, das uns umgibt. Angefangen von den Zehn Ge-boten bis hin zur Nächstenliebe. Ich halte es deshalb für grundfalsch, sich dieser re-ligiösen Werte zu entledigen, die traditi-onell auf uns zugeschnitten sind.

Vom Spaziergang zurück, möchte ich gern die Musik hören, die mich schon im Weltraum begleitete. Dazu zählen Vival-dis „Vier Jahreszeiten“, „Abbey Road“ von den Beatles und „Pages of Life“ von Jon & Vangelis. Diese LPs sind für mich einzigartig, weil alle Lieder aufeinan-der abgestimmt sind und so ein Gesamt-kunstwerk bilden.

Die letzten Takte vor meinem Tod werden wahrscheinlich ganz anders ver-laufen, als ich es mir jetzt vorstelle. Es könnte gut sein, dass ich, um es ganz harsch zu formulieren, sage: Lasst mich in Ruhe. Ich möchte jetzt einfach alleine sein.

Aufgezeichnet von BJÖRN EENBOOMULR

ICH

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Ulrich WalterDer 1954 gebo-rene deutsche

Physiker flog 1993 als Wissenschaftsastronaut

mit der Columbia ins Weltall. Er  lei-

tet den Lehrstuhl für Raumfahrttechnik an der

TU München

Die letzten 24 Stunden

Vivaldi soll mich leiten, die Beatles

dürfen singen, beim Exit allein

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SALONDie letzten 24 Stunden

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Die Welt könnte so schön sein, das Leben so einfach, die Menschen so

glücklich miteinander – wenn doch endlich wohlmeinende Journalisten und Leitartik-ler an der Macht wären. Und nicht diese elenden Politiker, die bekanntlich nur des-halb gewählt wurden, weil wohlmeinende Journalisten und Leitartikler schon wie-der keine Zeit dazu hatten, sich selbst zur Wahl zu stellen. Was auch verständlich ist, denn sie sind ja mit dem Verfassen wohl-meinender Leitartikel über das ständige Versagen der elenden Politiker bereits be-schäftigt genug. Eine teuflische Wechsel-wirkung, aus der es praktisch kein Entrin-nen gibt.

Heribert Prantl zum Beispiel, das gute Gewissen der Süddeutschen Zeitung: Der Mann verfasst ein 3,99 Euro teures Mani-fest, in dem er unter dem Titel „Im Namen der Menschlichkeit“ auf 32 Seiten mal eben die gesamte Flüchtlingskatastrophe löst. Ein Geniestreich, der auch deshalb so beeindruckend ist, weil sich unter dem Eindruck seiner bibelfesten Empörungs-rhetorik jedes politische Dilemma in Luft auflöst. Das schafft einfach kein Politiker, das schafft nur der wohlmeinende Leit-artikler. Aber leider bloß auf dem Papier.

„Pontius Pilatus wusch sich seine Hände in Unschuld. Europas Politi-ker waschen sie in dem Wasser, in dem die Flüchtlinge ertrinken“: Das ist der typische Erlösungssound eines Heribert Prantl, der keine Emphase scheut, um es sich auf seinem moralischen Hochsitz bequem zu machen. Von dieser überlege-nen Warte aus lässt sich natürlich umso besser der ungehinderte Zuzug aller Ent-rechteten und Erniedrigten dieser Welt fordern: Man hat ja den Überblick. Um

das Kleinklein sollen sich dann gefälligst andere kümmern. Zum Beispiel die elen-den Politiker, indem sie Flüchtlinge mit

„den Erfahrungen ihrer uralten Subsistenz-wirtschaft“ in Mecklenburg-Vorpommern ansiedeln: Als Selbstversorger könnten sich die Einwanderer dort nämlich „eine bescheidene Existenz aufbauen“. Neue Hinterwäldler braucht das Land.

Prantls Humanismus ist wahrhaft grenzenlos. Wer es als Flüchtling erst ein-mal bis nach Lampedusa geschafft habe,

„hätte eine Belohnung verdient: seine Le-galisierung“. Mit anderen Worten: Der Ex-odus durch afrikanische Wüsten und auf Schleuserbooten übers Mittelmeer sorgt mit seiner natürlichen Auslese schon von allein dafür, dass nur die Starken zu uns durchkommen. Also: Glück auf!

„Absaufen lassen ist billig“, heißt es in Heribert Prantls selbstgerechter Streit-schrift. Seine Argumente sind es erst recht.

ALEXANDER MARGUIERist stellvertretender Chefredakteur

PRANTL

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 30. JULI

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