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Clemens Brentano Preis der Stadt Heidelberg 2003

Clemens Brentano Preis der Stadt Heidelberg 2003 · 3 CLEMENS BRENTANO PREIS 2003 Der mit 10.000 Euro dotierte Clemens Brentano Preis der Stadt Heidelberg, der in diesem Jahr in der

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Clemens Brentano Preisder Stadt Heidelberg

2003

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CLEMENS BRENTANO PREIS 2003

Der mit 10.000 Euro dotierte Clemens Brentano Preis der StadtHeidelberg, der in diesem Jahr in der Sparte Roman vergebenwird, geht an den 1967 in Bad Nauheim geborenen und in Brixenlebenden

ANDREAS MAIER.

Er erhält den Preis für sein im Jahr 2002 im Suhrkamp Verlag er-schienenen Roman „Klausen“.

Die Jury würdigt in ihrer Begründung die sprachliche und themati-sche Geschlossenheit des Romans. In seinem Buch entwirft Maierdas Bild einer auf Mutmaßungen und Gerüchten gründenden pro-vinziellen Gesellschaft. In „Klausen“ persifliert er die Form desHeimatromans und treibt kommunikatives Handeln satirisch aufdie Spitze.

Der Jury gehörten der Literaturkritiker Helmut Böttiger, der LyrikerUwe Kolbe, die Lektorin Tatjana Michaelis, der Dramaturg undJournalist Matthias Schubert sowie die Germanistik-Studierendender Universität Heidelberg Inga Pokora, Anne Thill und DavidOesch an.

Der Clemens Brentano Preis wird am 12. Mai 2003 in Heidelbergvon Oberbürgermeisterin Beate Weber verliehen. Die Laudatio aufAndreas Maier hält Dr. Ulrich Greiner, Literaturchef der Wochen-zeitung Die Zeit.

(aus der Begründung der Jury am 14.2.2003)

Impressum:

Herausgeberin:Stadt Heidelberg, Kulturamt

Redaktion:Alexandra Eberhard

Mitarbeit:Gela Wittenberg

Satz, Gestaltung:Amt für ÖffentlichkeitsarbeitGabriele Schwarz

Druckerei:Neumann Druck, Heidelberg

Auflage:400 Stück

Textnachweis:Andreas Maier, „Klausen“(Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002)

Bildnachweis:Foto Seite 6 und Seite 20: Jürgen Bauer

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Das Besondere des Clemens Brentano Preises liegt in der außeror-dentlichen Zusammensetzung der Jury, die zur Hälfte mit Studie-renden des Germanistischen Seminars besetzt ist. Eine eigeneLehrveranstaltung widmet sich während eines Semesters der Sich-tung und Diskussion von Neuerscheinungen und nominiert ab-schließend drei Werke.

Herzlich danken möchte ich den studentischen Mitgliedern derJury Frau Anne Thill, Frau Inga Pokora, Herrn David Oesch undihrem Seminarleiter Herrn Dr. Gerhard vom Hofe sowie den teil-nehmenden Studierenden für ihre intensive und von hoher Quali-tät geprägte Arbeit.Die weiteren Jurymitglieder, die Verlagslektorin Frau Dr. TatjanaMichaelis, der Lyriker Herr Uwe Kolbe, der Literaturkritiker HerrDr. Helmut Böttiger sowie der Dramaturg Herr Matthias Schubert,haben nunmehr den gesamten vierjährigen Gattungszyklus desBrentano Preises mit Lyrik, Erzählung, Essay und Roman begleitetund scheiden dieses Jahr aus der Jury aus. Sie haben mit ihremaußerordentlichen Engagement für den Clemens Brentano Preismaßgeblich zur Qualität und Bekanntheit des Preises und zur För-derung seiner Preisträgerinnen und Preisträger beigetragen. Hier-für bedanke ich mich besonders und hoffe, dass sie der Literatur-stadt Heidelberg auch weiterhin verbunden bleiben.

Dem diesjährigen Preisträger Andreas Maier wünsche ich für sei-ne persönliche und literarische Zukunft alles Gute und weiterhinviel Kreativität und Erfolg.

Beate WeberOberbürgermeisterin

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GELEITWORT

DER OBERBÜRGERMEISTERIN

DER STADT HEIDELBERG

Nach Lyrik, Erzählung und Essay steht nunzum insgesamt dritten Mal die literarischeGattung Roman im Mittelpunkt des Interessesdes Clemens Brentano Preises. Die StadtHeidelberg vergibt diese mit 10.000 Eurodotierte Auszeichnung an Schriftsteller undSchriftstellerinnen, die aufgrund ihrer bisheri-gen Arbeiten außergewöhnliche Leistungenauf dem Gebiet der Literatur erwarten lassen.

In Erinnerung an den zeitweise in Heidelberg lebenden und wir-kenden Schriftsteller Clemens Brentano wurde der Preis im Jahr1993 ins Leben gerufen und in den vergangenen zehn Jahrenentwickelte sich diese von der Stadt Heidelberg gestiftete Aus-zeichnung für Literatur zu einem festen Bestandteil des kulturellenGeschehens der Stadt. Sie ermöglicht den Nachwuchsautoren Zu-gang zu einem breiten Publikum und fördert die jungen Talente.

Auch in diesem Jahr entschied sich die Jury für einen sehr talen-tierten Autor, dessen Erstlingswerke höchst vielversprechend sind.Andreas Maier erhält die Auszeichnung für seinen im Jahr 2002veröffentlichten Roman „Klausen“. Spielte sein erster Roman„Wäldchestag“ in der Wetterau, wo er aufwuchs, ist der Schau-platz seines neuesten Romans eine Kleinstadt in Südtirol. In demOrt Klausen überschlagen sich die Mutmaßungen über den Her-gang eines Überfalls und diverse ungeklärte Ereignisse, doch dieeigentliche Wahrheit bleibt stets verborgen hinter dem undurch-sichtigen Dunst der entstandenen Gerüchte. Der Autor gewährtseinen Lesern einen tiefen Einblick in die kommunikative Dyna-mik einer Dorfgesellschaft und schreibt die schicksalsträchtigenGespräche der vermeintlichen Akteure humorvoll und spannungs-reich nieder.

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MAN KENNT NUR SEINEN EIGENEN KOPF,SONST GAR KEINEN ...

Ein Gespräch mit Andreas Maier

?: Das Erste, was mich inter-essieren würde, wäre, wie Sieüberhaupt zum Schreibengekommen sind.

Maier: Ich kann mich nichtdaran erinnern, wie ich zumSchreiben gekommen bin.

Es gab keinen Anlass, es gab nichts, was ich irgendwem erzählenwollte. Es ist wie bei einem Musikinstrument. Da kann ich michauch nicht daran erinnern, warum ich damit angefangen habe.Ich glaube, das Entscheidende beim Schreiben war, dass ich esirgendwann ausprobiert habe und gescheitert bin.

?: Gescheitert?

Maier: Weil ich großen Mist geschrieben habe. Und das dannwohl nach einer Seite wieder weggeworfen habe. So ging dasdann wahrscheinlich erst mal eine ganze Zeit, anders ist es janicht denkbar. Also offensichtlich hat das andauernde Scheiternmich angestachelt, dahingehend, das irgendwann mal besser zukönnen. Es war für mich früher ein Rätsel, wie Autoren auf Seitedrei, auf Seite fünf, auf Seite sieben kommen, wie ein Romanimmer weiter geht, wie die das schaffen. Ich hatte davon früherkeine Vorstellung. Ich musste diese Vorstellung erst für mich selbstentwickeln. Ich habe dann früher zum Beispiel in Dostojewski-Romanen, nachdem ich sie gelesen hatte, auf Seite drei nachge-schaut, auf Seite vier, auf Seite fünf und gefragt, was macht derda? Wie geht’s da weiter? Was steht genau auf dieser Seite, da-mit das irgendwie weitergeht? Ich habe es einfach nicht verstanden.Ich habe es dann erst mit der Zeit begriffen, als ich inzwischenselbst weiter in meinen Texten kam, über die fünfzehnte oderdreißigste Seite hinaus. Aber wie es anfing? Ich weiß es nicht.

?: Und wie kam es zu Ihrem Thema und Ihrem Stil? Sind die aucherarbeitet? Ihre Romane zeugen ja von einem ausgeprägten Stil.

Maier: Mit der Zeit kam das schon, aber nicht im Sinne von Vor-lieben für einen gewissen Stil, ein gewisses Thema, sondern eherdurch die Schwierigkeiten, die ich beim Schreiben hatte. DieseSchwierigkeiten beim Schreiben erschienen mir zumindest ur-sprünglich als Schwierigkeiten. Auf eine bestimmte Weise be-trachtet habe ich sie bis heute nicht bewältigt. Allerdings sehe ichsie heute nicht mehr als Schwierigkeiten, sondern als etwas, wasoffensichtlich zu mir dazugehört, als eine Art Grundform. Ich er-zähle ja weder auktorial, auch wenn der letzte Roman eineauktoriale Grundfläche hat, noch habe ich einen Ich-Erzähler zurVerfügung. Aus irgendwelchen Gründen ist es mir nie gelungen,auktorial zu erzählen oder eine Ich-Erzählung zu schreiben. Undmit der Zeit musste ich einfach damit umgehen, dass das bei mirder Fall ist. Das hat dazu geführt, dass in den Romanen immermehr Handlung durch die Reden, die die einzelnen Figuren füh-ren, übernommen wurde. Gesprächsromane könnte man das nen-nen. Das war nie so angestrebt, aber es war etwas, was sich wohlnotwendigerweise bei mir ergeben hat, eben aus jener Grundformheraus, die zu mir gehört. Und dann bin ich natürlich dabeigeblie-ben.

?: Haben Sie vor, irgendwann einen Roman in Ich-Form zuschreiben?

Maier: Vorsätze habe ich gar keine. Inzwischen nicht mehr. Inzwi-schen weiß ich, dass jeder Text, den man schreibt, die Beantwor-tung oder Wiederaufnahme des vorherigen Textes ist, und ich ver-lasse mich darauf, dass sich sowieso immer irgendetwas verändert.

?: Sie haben ja ein großes Interesse am Konjunktiv. Wenn ichmich recht erinnere, haben Sie in der ZEIT einen Artikel dazugeschrieben.

Maier: Am Konjunktiv interessiert mich eigentlich gar nichts. Unddennoch bin ich irgendwie zu diesem Konjunktiv gekommen, also

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muss ich mir natürlich meine Gedanken darüber machen. Viel-leicht hängt es mit dem zusammen, was ich eben gesagt habe,mit dieser bestimmten Erzählform. Der Konjunktiv liegt mir, viel-leicht empfinde ich ihn sogar als etwas sehr natürliches. Wennman im Präteritum erzählt, haben die Sätze für mich oft großenKunstcharakter: „Gestern sah ich X und aß mit ihm ein Schnitzel...“ So redet kein Mensch, sondern alle reden im Perfekt. Aberwenn man etwas im Perfekt zu Papier bringt, geht das ausirgendwelchen Gründen nicht. Es sieht sehr eigenartig aus. DasPerfekt gibt keine erzählerische Grundlage her, es wirkt unbehol-fen. Auffälligerweise ist der Konjunktiv der indirekten Redesprachlich näher am Perfekt als unser Präteritum, das macht unse-re deutsche Satzklammer: „ Er sagte, er sei gestern Abend mit Xunterwegs gewesen.“ Vorne „sei“, und hinten als Abschluss „ge-wesen“. Immer diese deutsche Satzklammer. Dieser Rhythmuserscheint mir beim Schreiben wohl irgendwie natürlicher. Aberdas ist eine Interpretation im Nachhinein. Es hatte nie einenbewussten Grund, wieso ich im Konjunktiv geschrieben habe.Ich habe es einfach so gemacht.

?: Bemerkenswert sind ja auch Ihre riesigen Figurenkataloge, in„Klausen“ noch mehr als in „Wäldchestag“. Wachsen die mit derGeschichte oder sind die von irgendwoher inspiriert?

Maier: Das wird mit der Art und Weise zu tun haben, wie ichselbst die Personen in meiner Umwelt wahrnehme. In „Klausen“wird keine der Figuren im normalen romanhaften Sinn lebendig,keine wird sozusagen aus der Innenperspektive erzählt, sondernder Leser und der Betrachter bleiben immer außen vor. Ganz ähn-lich, wie man bei sämtlichen Personen, denen man begegnet,immer außen vorbleibt. Man kann sich der Person annähern, zumBeispiel auch wenn man mit Dritten über die Person spricht, aberman kommt nie in den Kopf hinein. Ich kenne nur meinen eige-nen Kopf, sonst gar keinen. Und die Literatur macht uns oftmalsvor, dass man viel genauer in einen anderen Kopf hineinguckenkann, als man es normalerweise macht. In „Wäldchestag“ wirddas Problem von der anderen Seite angegangen. Da gibt es einePerson, diesen Wiesner, bei dem wird viel zu viel in den Kopf hin-

eingeschaut. Der Erzähler, Schossau, kann ja gar nicht wissen,was dieser Wiesner sich da im Einzelnen zurechtdenkt. Er mussihn sich jeweils neu erfinden, wenn auch auf ziemlich authenti-sche Weise. Offenbar habe ich Schwierigkeiten damit, wenn dieLiteratur voraussetzt, dass sie etwas über ihre Figuren sagen könn-te. Ich kann immer nur ganz einfache Dinge über die Figurensagen; alles andere müssen die Figuren selbst sagen. Im Nachhin-ein – beim Schreiben ist mir die Figurenvielfalt nicht aufgefallen –habe ich mir gedacht, passiert in meinen Romanen ständig, wasauch ich jeden Tag erlebe. Es kommt dauernd eine unüberschau-bare Anzahl von Menschen auf mich zu. Ich gehe irgendwo hinund weiß noch drei Sekunden vorher überhaupt nicht, dass gleichder und der auf mich zukommt und auf mich einreden wird. ImGrunde geht das in den Romanen genauso. Oftmals weiß man jagar nicht, wer da redet, man kennt nicht einmal den Namen derbetreffenden Person. Daher haben manche Figuren bei mir, auchwenn sie viel reden, keinen Namen, sondern heißen den ganzenText durch bloß „Der eine“ oder „Ein anderer“.

?: Wie schreiben Sie?

Maier: Eigentlich immer auf dieselbe Weise. Am Anfang muss derTitel da sein und dann eine Art Hauptfigur. Dann fange ich an,den ersten Satz zu schreiben, und dann geht das so weiter. Ir-gendwann beginnt sich die Geschichte aus dem heraus zu ent-wickeln, was ich bislang auf dem Papier habe. Die Figuren sindvorher nie geplant. Allerdings ist der Schluss des Buches, also dasZiel, am Anfang schon immer im Kopf. Ich muss wissen, wo dasBuch hinführen soll. Aber ich muss beim Schreiben jede Seite desBuches neu erfinden. Ich weiß vorher nicht, was darauf stehenwird, vorher ist das Papier ja weiß. Wenn ich mir vorher ausmale,was auf dem weißen Papier stehen soll, und schreibe es dannauf, gefällt es mir anschließend natürlich überhaupt nicht. Ichmuss alles tatsächlich immer im Augenblick des Schreibens erfin-den. Nur dann wird es lebendig.

?: Können Sie sich erklären, wie es in den Kritiken, vor allem zu„Klausen“, zu dem Prädikat „Heimatroman“ gekommen ist?

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Maier: Ich habe mir schon ab und zu überlegt: Warum ist es fürdie Rezensenten so etwas Augenfälliges, dass beide Romane ineiner kleinen Stadt spielen? Beim Schreiben ist mir das ja garnicht aufgefallen, es war keine bewusste Entscheidung von mir,dass ich die Handlung pointiert in einer kleinen Stadt spielen las-se. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich durch die Wahl des Orteseine Wahl, die mit einer Aussage verbunden sei, getroffen habe.Das ist nicht bewusst gewesen, und ich sehe diese Kategorie fürmich auch nicht. Allerdings meide ich beim Schreiben grundsätz-lich das, was interessant ist, im Sinne von dem, was en vogue ist.Was den Leuten gefällt, da wage ich mich nicht heran. Den Leu-ten gefällt es, literarisch in Berlin zu sein, den Leuten gefällt es,literarisch in New York zu sein. Ich dagegen will offenbar immeretwas schreiben, das nur aus Sätzen besteht, die immer meiden,das zu beinhalten, was interessant ist.

?: Wie haben Sie eigentlich die Verleihung des Wetterauer Kultur-preises empfunden? Diese Region kommt in „Wäldchestag“schließlich nicht so gut weg.

Maier: Finden Sie? Die Verleihung des Wetterauer Kulturpreiseswar eine sich selbst bereits schon bewusst ironisierende Veranstal-tung.

?: Sind ähnliche Reaktionen auch aus Klausen gekommen oder istdas Buch dort gar nicht so stark wahrgenommen worden?

Maier: Der Roman ist in Klausen viel wahrgenommen worden. Inganz Südtirol ist das Buch sehr wahrgenommen worden. Die Süd-tiroler, die Klausner hat offenbar eines beeindruckt, nämlich, dassder Name ihrer Stadt und ihres Landes plötzlich in den großendeutschen Feuilletons vorkommt. Das hat ihre Art, das Buch zusehen, beeinflusst. Ich habe bei beiden Büchern aus den Regio-nen, in denen die Bücher angesiedelt sind, ähnliche Reaktionengesehen. Die erste Reaktion war immer, dass die Leute sich mitdem identifizieren, was im Buch steht, als gäbe es für alles, wasim Buch steht, einen Schlüssel, als sei das nur eine Maskierungder tatsächlichen Realität, und dass hinter jeder Person jemand

Tatsächliches steht. Natürlich ist das eine totale Überinterpreta-tion. Wenn man im Stadium der Überinterpretation ist, dann fühltman sich natürlich schnell beleidigt. Die zweite Reaktion wareben, dass die Leute in der Wetterau und in Klausen dann irgend-wann gemerkt haben: Der macht uns bekannt! Und dann warenalle irgendwie stolz, weil sie ja davon ausgehen, dass sie im Buchvorkommen.

?: Gibt es schon ein neues Projekt?

Maier: Ja, aber wenn man darüber spricht, legt man sich furcht-bar fest. Das kann mitunter eher hinderlich sein. Ich habe in denletzten Wochen wohl ein bisschen zu oft über den neuen Romangesprochen. Also schweige ich lieber. Ich kann nur die Sachensagen, die wirklich unabdingbar feststehen. Der Roman wird„Kirillov“ heißen, das ist ein russischer Name, er spielt in Frank-furt, es kommen ein paar Russen vor, und es wird wohl einenSelbstmord geben.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für dieses Buch und danken Ihnensehr herzlich für das Gespräch.

Das Gespräch mit Andreas Maier führte Inga Pokora.

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le, dann traten zwei Touristen ein, ein deutsches Ehepaar. DieMiene des Gastes verdüsterte sich. Die Touristen bestellten Speckund Wein, erzählten von ihrer Urlaubsroute, lobten das Land Süd-tirol und legten einen Reiseführer auf den Tisch. Sie fingen sofortein Gespräch mit dem Wirt an, das den alleinigen Zweck hatte,zu demonstrieren, wie bewandert sie seien und welch intimeKenntnisse sie über das Land besäßen. Vor allen Dingen erzähltensie irgend etwas sehr Detailliertes über den Vinschgau. Der Wirtallerdings kannte den Vinschgau überhaupt nicht. Sie kennen denVinschgau nicht? fragten die beiden deutschen Touristen er-staunt. Der Wirt sagte, er komme aus dem Eisacktal, nicht ausdem Vinschgau. Die beiden Touristen begannen daraufhin denWirt über den Vinschgau und die insgesamten Schönheiten Südti-rols zu belehren. Der besagte Gast schwieg eine Weile, saß mitimmer dunklerer Miene da und starrte auf die Tischplatte. Dannaber begann er plötzlich selbst zu reden, allerdings sehr abwegigeDinge. Wieder geriet er beim Reden in diesen seltsamen Enthusi-asmus ... Er sagte, das Land habe eine gesunde Mentalität, be-sonders was Erschließungsmaßnahmen angehe, es sei nicht indem Maße von der Regierung und von Umweltschutzmaßnahmenruiniert wie zum Beispiel Deutschland oder Österreich, in Südtirolkönne wenigstens noch gebaut werden, denn so sei es: Die Weltsei doch für die Menschen da, und also müsse sie erschlossenwerden. Er sei Ingenieur. Er arbeite oben am Latzfonser Kreuz.So, am Latzfonser Kreuz, sagte der Tourist mit wisserischer Mie-ne, obwohl er das Latzfonser Kreuz offenbar überhaupt nichtkannte. Der Wirt schaute den Gast erstaunt an, denn dort obenam Latzfonser Kreuz wurde natürlich überhaupt nichts gebaut,dort gab es lediglich Wiesen und ein Gipfelkreuz ... Der Touristmeinte, Südtirols Schönheit sei allerdings auch sein Kapital, mansollte dieses Kapital nicht zerstören, sie kämen zweimal im Jahrvon Münster mit dem Auto herunter, und jedesmal, wenn sie hierseien, atmeten sie auf, Südtirol sei wie ihre zweite Heimat. Manmüsse die Landschaften schützen. Die Gattin des Touristen warfein: Erschließen, aber schützen! Genau, sagte der Mann. Alles imrechten Maß. Man müsse die Landschaft erschließen, aber manmüsse sie auch schützen. Wenn zu viel Industrie gebaut werde,kommen die Touristen nicht mehr. Was denn da oben an diesem

TEXTAUSZUG AUS DEM ROMAN

„KLAUSEN“

Der Unterwirt in Feldthurnskonnte später niemandemmehr sagen, ob es sich miteindeutiger Sicherheit umJosef Gasser gehandelt hatteoder nur um jemanden, derGasser zumindest nicht völligunähnlich sah. Der jungeMann habe sich einen saurenKalbskopf und einen ViertelRoten bestellt, erzählte derWirt, er, der Unterwirt, habesich das deshalb gemerkt,weil der Gast lediglich einGlas Wein getrunken, aber

den Kalbskopf überhaupt nicht angerührt, sondern bloß prüfendangestarrt habe, auf eine sehr auffällige und absonderliche Wei-se, so daß er, der Wirt, gefragt habe, ob denn etwas mit demKalbskopf sei. Der Mann habe diese Frage jedoch überhaupt nichtbeachtet, sondern einen Schnaps bestellt und begonnen, seiner-seits nach ganz verschiedenen Dingen zu fragen. Er wirkte dabeidem Wirt zufolge einerseits aufgeräumt, andererseits aber seltsaminteressiert. Der Unterwirt erzählte, daß er im Feldthurner Kultur-verein sei, daß er dort den Vorsitz innehabe, daß das SchloßVelturns eine einzigartige Sehenswürdigkeit sei, daß Feldthurnsüberdies ein Schwimmbad besitze, und er erzählte alles das alleinaus dem Grund heraus, weil der Gast beim Zuhören in immergrößere Begeisterung kam. Einmal fragte der Gast, und zwar wie-der ohne jede ersichtliche Veranlassung, ob er, der Wirt, katho-lisch sei. Der Wirt sagte ja, natürlich sei er katholisch, alle hieroben seien katholisch, er, der Gast, sei doch vermutlich ebenfallskatholisch, da er ja augenscheinlich auch ein Eisacktaler sei, undder junge Mann geriet darüber in eine geradezu enthusiastischeStimmung. Er klatschte sogar in die Hände. So ging es eine Wei-

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Kreuz gebaut werde? Der junge Gast: Ein Elektrizitätswerk werdegebaut. Er sei der Ingenieur des Elektrizitätswerks am LatzfonserKreuz. (Der Wirt erzählte drei Wochen später einem Journalistendes Eisacktaler Tagblatts, daß der eigenartige Gast genau dasgesagt habe, in diesem Wortlaut, „Ingenieur des Elektrizitäts-werks am Latzfonser Kreuz“.) Auf Strom, sagte der Tourist, könneman natürlich nicht verzichten. Die Frau: Was wäre die Welt ohneStrom. Unvorstellbar, Klaus, wir hätten keinen Strom! Solcherartging das Gespräch dann noch eine Weile hin und her, und demUnterwirt wurde klar, daß der angebliche Ingenieur nur deshalb soein abwegiges Zeug daherredete, um die Touristen zu möglichstpeinlichen Aussagen und Selbstentblößungen zu verleiten. Allesendete damit, daß der angebliche Ingenieur die beiden Touristendann noch geradezu zwang, einen Kalbskopf zu essen, er priesden Kalbskopf als die besondere Spezialität dieses Hauses, jederesse hier diesen Kalbskopf, man könne nicht in Feldthurns imUnterwirt gewesen sein, ohne den Kalbskopf gegessen zu habenetcetera. Dabei war der junge Mann selbst noch nie im Unterwirtoder auch nur in Feldthurns gesehen worden und konnte denKalbskopf aus der Küche des Unterwirts also überhaupt nicht ken-nen. Tatsächlich bestellte das Ehepaar nun zu seinem Speck nochzwei Portionen Kalbskopf sauer angemacht. Der Wirt sagte zualledem nichts. Während der vermeintliche Gasser noch immervor seinem Teller saß, ohne ihn anzurühren, aßen die Deutschenden Kalbskopf auf, eine befremdliche Situation. Dann sei demUnterwirt zufolge der junge Gast aus dem Eisacktal gegangen ...Die Mutter des Unterwirts beharrte später darauf, der betreffendeGast sei mit Sicherheit Josef Gasser gewesen, sie habe ihn dreiWochen später auf den Bildern im Eisacktaler Tagblatt und in derTagesschau sofort wiedererkannt und schon damals bei seinemAuftritt im Unterwirt ein eigenartiges Gefühl gehabt. Mit dem seivon Anfang an etwas nicht in Ordnung gewesen. Freilich gab siedas alles erst der Öffentlichkeit preis, als das Unglück bereits ge-schehen war. Und wenn man sie fragte, warum sie, wenn siedoch alles so genau wußte, nicht schon viel früher etwas darübergesagt hatte, dann behauptete sie einfach, sie habe schon vonAnfang an alles gesagt, aber es habe ihr keiner zugehört. Zwei-oder dreimal wurde sie nach Bozen auf die Polizei gebracht, da-

mit sie dort ihre Aussage zu Protokoll bringe, viele Feldthurnerscharten sich eine Weile um sie, um dies oder das über Gasser(oder die betreffende Person) zu erfahren, sie behauptete sogar,schon kurz nach jener Szene im Unterwirt einen Bittbrief amMariahilfaltar in Sankt Laurentius angeheftet zu haben zumBehufe der Abwendung des bevorstehenden Schicksals. Anderewiederum behaupteten, dieser Bittbrief sei überhaupt erst wenigeTage, bevor die Mutter des Unterwirts von ihm zu erzählen be-gonnen habe, also erst nach dem ganzen Geschehen, mit einemfalschen und rückdatierten Datum von ihr dort aufgehängt wor-den, und er enthalte Informationen, die sie einfach im nachhineinder Zeitung entnommen habe. Die Mutter des Unterwirts erzähltespäter ständig irgendwelche Geschichten über Gasser, über seineHerkunft, seine Familie, über sein Wesen und seine Geschichte,obgleich sie Gasser vorher überhaupt nie in ihrem Leben gesehenhatte. Alles entstammte bloß der Zeitung und dem Fernsehen.Gassers angeblichen Auftritt beim Unterwirt stellte sie dement-sprechend ganz anders dar als ihr Sohn. Gasser habe, so sie, aufeine hinterhältige Weise auf ihren Sohn eingeredet und ihn fürseine Unternehmungen (so nannte sie das) zu gewinnen versucht,indem er zuerst seine Position erforscht und sich insgesamt einBild über ihn zu verschaffen versucht habe. Er habe ihm überdiesdetaillierte Fragen über die lokalen Gegebenheiten gestellt undsich zur Tarnung als Ingenieur ausgegeben. Währenddessen habeer mit großem Appetit eine Portion Kalbskopf verspeist. Dannseien aber glücklicherweise noch zwei andere Gäste erschienen,ein Ehepaar aus Münster, und dieses habe ihren Sohn vor Schlim-merem bewahrt, denn Gasser habe alsbald von seinen Unterneh-mungen abgelassen und sei gegangen ... Die Tochter des Unter-wirts, Julia, sagte ihrerseits, der Gast sei mit Sicherheit nicht JosefGasser gewesen, er habe nicht einmal eine Ähnlichkeit mit ihmbeziehungsweise den veröffentlichten Photographien gehabt. Objener eigenartige und verdächtige Gast seinen Kalbskopf selbstgegessen hatte oder nicht, das konnte bald niemand mehr sagen,und man fand diese eine Zeitlang viel diskutierte und auch imLokalteil des Eisacktaler Tagblatts ausführlich behandelte Frageaus irgendwelchen Gründen sehr wichtig und wendete sie spätersogar ins Politische. Diese Vorgänge wurden im nachhinein als

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eine Art Vorspiel für das Hauptstück in Klausen dargestellt bezie-hungsweise hochgespielt. Möglicherweise, sagten die einen, warGasser dort oben spazieren gewesen, hatte die besagte Wirtschaftbetreten und sich über die Touristen empört; aber vielleicht, sag-ten andere, war einfach alles vom Unterwirt aus Wichtigtuereierfunden ... Es war auch für einige nicht vorstellbar, was mancher-orts erzählt wurde, nämlich daß Auer dort oben in Feldthurns ge-wesen sein soll, denn Auer verließ Klausen bis zu seinem jähenTod nur noch selten, und nachdem er seinen Verkehr mit denLeuten auf der Ploderburg eingestellt hatte, verließ er Klausenüberhaupt nicht mehr. Es war zwar allgemein bekannt, daß sichAuer und Gasser in einer Klausner Wirtschaft tatsächlich einmalals Ingenieure vom Latzfonser Kreuz ausgegeben hatten, undzwar irgendeiner deutschen Seniorenreisegruppe gegenüber, dersie stundenlang etwas vorgelogen hatten, aber da das alles in derZeitung gestanden hatte, wurde durchaus vermutet, daß derUnterwirt Erlebtes und Gelesenes vermischte und insgesamt, wiealle anderen auch, Voriges und Späteres vermengte und zu einemunlösbaren Knäuel verwirrte. Einige wenige glaubten schließlichsogar, daß das ganze Vorspiel in Feldthurns nichts als erfundenwar, eine bloße Kombination im Raum schwebender Motive. ÜberGasser und seine Herkunft gingen die Meinungen damals sehrauseinander. Es wurde viel über ihn erzählt, und später wurdenoch viel mehr erzählt, und die Ansichten über ihn und seine Fa-milie radikalisierten sich dabei. Gasser war der Sohn eines Klaus-ner Schuhmachers, der sein Handwerk schon seit fast zwei Jahr-zehnten nicht mehr ausübte, sondern nur noch Schuhe verkaufte.Lediglich in einem hinteren Winkel hatte er noch eine kleineWerkbank, dort klebte er hier und da Sohlen auf oder ließGummistücke in Lederabsätze ein. Gassers Vater war ein stiller,stark schielender Mann, der tagein, tagaus in seinem Geschäft,das aus einem einzigen Raum bestand, herumsaß, mittags umzwölf den Laden verschloß, mit dem Fahrrad die neunhundertMeter zu seiner Wohnung fuhr, speiste, sich auf die Couch legte,gegen drei wieder zu seinem Laden fuhr, das Fahrrad abschloß,das Geschäft wieder aufsperrte und dann dort bis sechs oder halbsieben herumsaß, ein Schicksal, das er mit sämtlichen Friseurenund Tabakhändlern und sonstigen Selbständigen in Klausen teilte,

die allesamt auf dieselbe Weise in ihren Läden herumsaßen. ZuHause, wenn er mit der Familie in der Stube war, sprach der alteGasser fast nichts; alle Anwandlungen eines Gesprächs machte erdort zumeist durch solche Laute wie ach oder oi zunichte, dennihm war alles andere zu anstrengend, es überforderte ihn. Aberwenn er in seinem Schuhladen saß, dann bereitete es ihm diegrößte Freude, wenn einer seiner selbständigen Nachbarn mitblauer Schürze zu ihm in den Laden kam und sie beide dann füreinen Augenblick in die nächste Bar gingen, um einen Roten zutrinken. Die Nichtgespräche, die dann am Pudl geführt wurden,dieses Hinundherknurren irgendwelcher Geräusche, das war es,wobei er sich wohlfühlte. Oder der alte Gasser ging selbst zu ei-nem seiner Nachbarn, dem Friseur oder dem Tabakhändler, bandsich dafür eigens die blaue Schürze um und schlug seinerseits vor,in die Bar zu gehen. Josef Gasser hatte dieses Leben seines Vatersvon Anfang an nervös gemacht. Wenn er als Kind zwei Stundenin dem Laden seines Vaters herumsaß und dort irgend etwas half,dann mußte er anschließend sofort hinauslaufen und auf dennächsten Berg rennen. Später soll er als Schüler aus irgend-welchen Gründen gewisse Theorien über den Kapitalismus ent-wickelt und zugleich begonnen haben, sich sehr für die italieni-sche Wirtschaft zu interessieren. Das erzählten die Klausner nachden Ereignissen. Vor allem seine früheren Mitschüler oder Lehrerredeten plötzlich ständig davon, und zwar in so allgemeinen Wen-dungen wie: Der Gassersohn habe früher immer viel von der ita-lienischen Wirtschaft gesprochen, schon vor der Matura; oder: Anallem, was die italienische Wirtschaft betreffe, habe der Gasserimmer großes Interesse gehabt; oder: Der Gasser habe von An-fang an den Staat ökonomisch betrachtet, und er habe sich aufkeinem Gebiet so gut ausgekannt wie auf dem der italienischenWirtschaft. Andere sagten, er habe überhaupt keine Ahnung vonÖkonomie gehabt, sondern nur deshalb irgend etwas überWirtschaftsformen dahergeredet, weil er sich der damaligenMode entsprechend als Kommunist habe aufspielen wollen, undfolglich habe er das Wort von der italienischen Wirtschaft bloß alsideologische Kampfvokabel gebraucht, es sei eine völlig leereWorthülse gewesen, so wie solche Schüler eben immer in völligleeren Worthülsen reden. Als Schüler galt Gasser als renitent, und

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später versuchte er sich eine Zeitlang über seine eigene damaligeRenitenz aufzuklären, indem er Bücher wie etwa die gewisserEntwicklungspsychologen las. Er betete dann eine Weile allgemei-ne Theorien nach (unter anderem die Lebenszyklustheorien vonErikson) und sprach zum Beispiel viel über Allaussagen und dar-über, wie der junge Mensch, der seine Sprache noch nicht verste-he, mit solchen Allaussagen ein Allmachtsgefühl entwickle, dasdann zur Renitenz führe, da die älteren Leute, die er damit nichtin Ruhe lasse, ja wüßten, daß nichts hinter diesen Aussagen stek-ke außer einer bloß grammatischen, also formalen Möglichkeit,nichts tatsächlich Erfahrenes und wirklich Gelebtes - er betetealles das eine Weile nach, dann warf er diese Bücher wieder wegund ekelte sich vor seinen eigenen Theorien, die er plötzlich alseine komplette Verunreinigung seiner selbst ansah. Nach derSchule, die er schon mit siebzehn beendete, ging er fort und stu-dierte, und er erschien jahrelang nicht mehr in Klausen. Er studier-te zuerst in Innsbruck und später dann in Berlin. In Berlin verlor erseinen Dialekt fast gänzlich, tatsächlich hörte man, als er zurück-kam, kaum mehr eine Färbung bei ihm. Die Journalisten behaup-teten, Gasser habe nie viel über seine Zeit in Berlin gesprochen,mehr sei von Sonja Maretsch zu erfahren gewesen, die zeitweiseirgendwo in Neukölln bei ihm gewohnt hatte. Gasser soll sich eineWeile im Dunstkreis irgendwelcher linken oder radikal-linkenGruppierungen aufgehalten und an einigen Veranstaltungen, dieallesamt von sehr jungen Leuten ausgerichtet worden waren, teil-genommen haben. Er nannte das im nachhinein angeblich immerdas Experiment und drückte alles diesbezügliche sehr mysteriösaus. Bald, so wurde gesagt, ekelte es ihn vor der volkstümlichenAnbiederung dieser Leute oder gewisser Teile dieser Gruppierun-gen, die immer von der Wichtigkeit des Sozialen, von der gerech-ten Gesellschaft etcetera sprachen. Gasser sei damals nämlich inseinen Begriffsauflösungen so weit gekommen gewesen, daß ersich unter dem Wort gerechte Gesellschaft nicht mehr das ge-ringste habe vorstellen können. Er habe, heißt es, solche Begriffeimmer mehr für eine bloße sprachliche Erfindung gehalten. Er solleinmal gesagt haben: Die Politiker suchen die Probleme, gegendie sie kämpfen können, nur aus dem Grund, weil sie Wählersuchen, und der Wähler werde am besten über das Problem, das

er habe oder zu haben meine (oder durch den Politiker eingere-det bekomme), angesprochen, das sei alles ein sehr widerlicherProzeß, der unter den Menschen zu nichts als immer nur zu gro-ßer Falschheit geführt habe ... Dieses und anderes legten sich dieKlausner, quer durch alle Gesellschaftsschichten, über Gasser inihren Vermutungen zurecht ...

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DER PREISTRÄGER

Andreas Maier wurde 1967 in BadNauheim geboren und wuchs inFriedberg in der Wetterau auf. Er lebtheute zeitweilig in Bad Nauheim und inBrixen (Südtirol). Maier studierte inFrankfurt am Main Philosophie, Lateinund Germanistik und verfasste eine Dis-sertation über den österreichischenSchriftsteller Thomas Bernhard. Im Jahr2000 veröffentlichte er seinen ersten

Roman „Wäldchestag“, in dem er in sprachphilosophisch-skepti-scher und komödiantischer Weise seine Heimat porträtiert, denWetteraukreis, nördlich von Frankfurt am Main gelegen. Er erhieltdafür den Aspekte-Literaturpreis des ZDF für das beste deutsch-sprachige Debüt des Jahres. Außerdem bekam Maier denLiteraturförderpreis 2000 der Jürgen-Ponto-Stiftung zugesprochen,der Manuskripte von Erstlingswerken noch nicht veröffentlichterBücher auszeichnet. Im selben Jahr erhielt der Autor den ErnstWillner Preis, gestiftet von insgesamt 27 Verlagen, welcher imRahmen des Ingeborg Bachmann Wettbewerbs vergeben wird.2002 wurde er für seinen Debütroman mit dem Wetterauer Kul-turpreis geehrt. Maiers zweiter Roman „Klausen“ spielt in seinerWahlheimat Südtirol.

DER LAUDATOR

Ulrich Greiner, geboren 1945 in Offenbach, studierte Germani-stik, Philosophie und Politikwissenschaft an den Universitäten inFrankfurt und Tübingen. Nach seinem Staatsexamen im Jahr 1970wurde er Redakteur in der Feuilletonredaktion der FrankfurterAllgemeinen Zeitung. 1974 wechselte er ins Literaturblatt derFAZ. 1980 ging er zur ZEIT, deren Feuilleton er von 1986 bis 1995leitete. Seit 1999 ist er Literaturchef der ZEIT. 1984 war er Fellowam Center for European Studies in Harvard. Er hatte Gastprofes-suren für Literaturkritik an der Gesamthochschule Essen und ander Washington University in St. Louis. Er veröffentlichte u.a.„Der Stand der Dinge. Kulturkritische Glossen und Essays“ (1987),„Revision. Denker des 20. Jahrhunderts auf dem Prüfstand“(1993), „Gelobtes Land. Amerikanische Schriftsteller über Ameri-ka“(1997) und „Mitten im Leben. Literatur und Kritik“ (2000).

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DIE JURY

Dr. Helmut BöttigerLiteraturkritiker (Berlin)

Uwe KolbeLyriker (Berlin)

Dr. Tatjana MichaelisVerlagslektorin (München)

David OeschStudent (Heidelberg)

Inga PokoraStudentin (Heidelberg)

Matthias SchubertDramaturg und Journalist (Braunschweig)

Anne ThillStudentin (Heidelberg)

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DIE BISHERIGEN PREISTRÄGER

1993Günter Coufal

für seine Erzählung „Am Fenster“

1995Gabriele Kögl

für ihren Roman „Das Mensch“

1996Barbara Köhler

für ihren Gedichtband „Blue Box“

Jörg Schiekefür seinen Gedichtband „Die Rosen zitieren die Adern“

1997Daniel Zahno

für seinen Erzählband „Doktor Turban“

1998Benjamin Korn

für seinen Essayband „Kunst, Macht und Moral“

1999Norbert Niemann

für seinen Roman „Wie man’s nimmt“

2000Oswald Egger

für seine Gedichtbände „Herde der Rede“ und „Der Rede Dreh“

Hendrik Rostfür seinen Gedichtband „Fliegende Schatten“

2001Sabine Peters

für ihren Erzählband „Nimmersatt“

2002Doron Rabinovici

für seinen Essayband „Credo und Credit“