Cuntz, Michael - Wie Netzwerkuntersuchungen Zu Ermittlungen Über Existenzweise Führen

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  • Zeitschrift frMedien- und Kulturforschung

    Herausgegeben vonLorenz Engeil und Bernhard Siegert

    Heft 212013

    Schwerpunkt ANT und die Medien

    FELIX MEINER VERLAG I HAMBURG

  • ISSN 1869-1366 | ISBN 978-3-7873-2491-0

    Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch frVervielfltigungen, bertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht 53 und 54 URGausdrcklich gestatten. Satz: Jens-Sren Mann. Druck und Bindung: DruckhausNomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbestndig nach ANSI-Norm resp.DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed inGermany.

  • Wie Netzwerkuntersuchungen zu Ermittlungenber Existenzweisen fhrenAnmerkungen zur Enqute sur les modes d'existenceanlsslich eines Interviews mit Bruno Latour

    Michael Cuntz

    HEUTE VON DER >ANT< ZU SPRECHEN hat etwas von der Beobachtung fer-ner Galaxien das Licht ihrer Sterne kndet von einem Zustand, der in der Ver-gangenheit liegt. Einerseits ist es, schon aus Grnden der Verstndigung ber denGegenstand, geradezu eine Notwendigkeit, weiter >Akteur-Netzwerk-Theorie< zusagen: Jeder wei, aufweiche theoretische Konstellation der Finger zeigt.Wenn aberandererseits nach dem Verstndnis dessen, was wir als Akteur-Netzwerk-Theorieadressieren, gilt, dass [d]ie Objekte [...] provisorische Resultate eines heterogenenBeziehungsgewebes [sind], welches unaufhrlich geprft und erfahren, getestet, neumodelliert wird, um andere Objekte herzustellen1, so trifft dies auch auf das Ob-jekt >ANT< selbst zu: Dessen Beziehungsgewebe hat sich verndert und es liee sichsagen: Es ist dichter geworden, hat an Farbe undVolumen gewonnen, eben weil dieunablssigen Prfungen und Tests es notwendig gemacht haben, ber den Statusquo eines Bildes hinauszugehen, das alle immer noch im Kopf haben. Oder, umeinen wichtigen Begriff aus Latours aktuellem Buch, der stark von Etienne Souriaubeeinflussten2 Enqute sur les modes d'existence aufzunehmen: Der Fortbestand von et-was erfolgt durch seine Alteration, weil Entitten nur subsistieren knnen, wenn siedurch und als andere - schon hier zeigt sich die Bedeutung von Prpositionen - ihreExistenz fortsetzen (tre en tant qu'autre).3 Dies ist, bei aller Differenz zwischenden insgesamt 15 Existenzweisen, die Latour in diesem Buch unterscheidet und

    So Antoine Hennion in dieser Nummer, S. 12. Diese Formulierung ist eine signifikanteVerschiebung der Bestimmung, die John Law vor einigen Jahren gegeben hat: ANTsuggests that an object [...] remains an object while everything stays in place and the re-lations between it and the neighbouring entities hold steady, John Law: Objects andSpaces, in: Theory, Culture & Society, 19 (5/6) (2002), S. 91-105, hier S. 93.Vgl. Etienne Souriau: Les diffrents modes d'existence suivi de De l'uvre faire, hrsg.v. Isabelle Stengers und Bruno Latour, Paris 2009.Bruno Latour: Enqute sur les modes d'existence. Une anthropologie des modernes,Paris 2012, S. 118 f.

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    untersucht,4 die Gemeinsamkeit in der Diskontinuitt, im Hiatus, aller, auch der ver-meintlich stabilsten dieser Existenzweisen. Es ist die diskontinuierliche Sub-Sistenzber die Sprnge der Alterationen hinweg, die in diesem Entwurf einer anderenOntologie an die Stelle der Substanz tritt: Erklrungsbedrftig ist, wie etwas sta-bilisiert wird, wie sich die Akteure wechselseitig zusammenhalten, in der Existenzhalten. Dies gilt fr Liebhaber, ihre Gegenstnde und ihren Geschmack ebenso wiefr Gott: Ein empirischer Pragmatismus der Attachements und der Existenzweisenist die jngste Version dessen, was einmal die ANT war.

    Die Grnde, warum Bruno Latour und Antoine Hennion in diesem Heft vor al-lem im Rckblick ber die ANT sprechen, liegen zum einen im Fluch des Erfolgs,den der Netzwerkbegriff hatte, der banalisiert und nicht immer von gewnschterSeite aufgenommen wurde.5 bersehen wurde im brigen hufig auch die Ap-positionslogik, die acteur-rseau im Franzsischen hat: Nicht, dass Netzwerke sichaus Akteuren zusammensetzen, sondern vielmehr, dass jeder Akteur und somitjedes >Individuum< sich aus einer Vielzahl heterogener Netzwerke zusammensetzt,Akteur-Netzwerk ist, war die eigentliche Pointe von ontologischer Reichweite.

    Auf diese Missverstndnisse reagierte man schon frh mit dem Versuch eines>Rebranding

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    Musik- und Kunstsoziologen des CSI,7 unter sociologie de la mdiation, also Sozio-logie der Mediation oder der Vermittlung, stattfand (aber weitgehend auf Frank-reich beschrnkt blieb). Mit bersetzung und Mediation erfolgte das Umschaltenvon zwei Entitten, Akteur und Netzwerk, auf zwei Operationen der Transforma-tion, die sich, so Hennion, symmetrisch ergnzten. Die Betonung des Operatio-nalen, das dem von Latour, Callon, Akrich, etc. verfolgten Ansatz immer schoneigen war, erscheint nur als konsequent. Die darin implizierte Ent-Substantiali-sierung hat nicht zuletzt auch Konsequenzen fr den Status der Medien. So ist esnicht berraschend, dass Latour den Anknpfungspunkt zur deutschen Medien-wissenschaft in der Nachfolge Nietzsches, Foucaults, Kittlers dort sieht, wo sie sichfr Prozesse der Mediation interessiert, und, einhergehend damit, fr >unschein-bare< und meist gar nicht als solche wahrgenommene Medien8 im Gegensatz zuMassenmedien. Wenn diese Spielart der Medienwissenschaft regelmig Dingeals Medien beschreibt, die nicht a priori als solche verstanden werden, sondern erstin der Untersuchung konkreter Prozesse, Handlungs- oder Operationsketten alssolche erscheinen, so zieht Latour daraus letztlich die Konsequenz: Weshalb ber-haupt bestimmte Entitten oder Akteure als >Medien< herausdeuten, wenn manMediation und bersetzung als aktantielle Rollen aufzufassen hat, die potentiellvon jedem Akteur bernommen werden knnen? Ebenso wie es fr die Logik desParasiten von Michel Serres als Urheber des allumfassenden bersetzungspara-digmas Hermes wichtiger Impulsgeber der sociologie de la traduction konstitutivist, dass alle Beteiligten jederzeit in die Parasitenposition einrcken knnen, kannjeder Akteur Mediator fr andere Akteure sein. Zwischen Akteuren einerseits undMedien oder auch Mediatoren andererseits kategorisch zu unterscheiden, fhrt danneine falsche ontologische Differenz ein. Wenn Latour im Interview daher Medien,Mediatoren und sogar die Operation der Mediation als fr seine heutige Arbeitunzureichende Begriffe verwirft, so liegt dies eben daran, dass dieses semantischeFeld allen Versuchen der Differenzierung zum Trotz die Zwischengliedslogiknicht los wird: Dabei geht es um mehr als um das Wecken jener irrefhrendenAssoziation, die an Mediation im Sinne eines Konfliktmanagements zwischenzwei Personen oder Parteien denken lsst, also ausgerechnet an die >Behebungeiner kommunikativen Strunge Fundamentaler ist das Missverstndnis, Medienoder Mediatoren >vermittelten< zwischen Akteuren oder auch einem Subjekt undeinem Objekt, die der Operation der Vermittlung vorgngig sind und lediglich inBeziehung zueinander gesetzt wrden, auch wenn die Dissemination ihrer Inten-

    7 Wobei dieser sich im Grunde nie als ANTler verstanden hatte - ganz streng genommenist dieser Begriff also immer noch mit den Science and Technology Studies assoziiert.

    8 Vgl. Lorenz Engeil und Bernhard Siegert: Editorial in: Zeitschrift fr Medien- und Kul-

    turforschung (ZMK) i (2010), S. 5-9, hier S. 5 f.

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    tionen und Aktionen in Inskriptionen, Delegationen, bersetzungen dabei immerbetont wird. Die Semantik von Medium und Mediation trge demnach geradezur Befestigung der Vorstellung von stabilen Subjekten und Objekten bei, wh-rend Medien in Differenz dazu eine Logik der Latenz, der Ungreifbarkeit, derrelationalen Existenz zugeschrieben wird. All das aber gilt eben auch fr jedenNetzwerk-Akteur. Worum es hier also geht, und dies ist die pragmatistischeWende der Ex-ANT, die gerade in Hennions Ausfhrungen zur Bedeutung vonWilliam James deutlich wird, ist eine Ontologie, in der Entitten nicht gegebensind oder auf einer Substanz beruhen, sondern sich in Handlungen, Operationen,Erfahrungen wechselseitig konstituieren und bestndig transformieren: Ohnediese Konstitutionsarbeit existiert nichts. Die Topologie des >Zwischen< ist alsoauch deshalb falsch, weil das Geschehen nicht vor den Subjekten und Objektenhalt macht. Schon hierfr ist der Bezug auf Schriften des Philosophen EtienneSouriau aus den 1930er und 1940er Jahren, ihrerseits vom frhen Pragmatismusbeeinflusst, zentral: Denn eben fr die Beschreibung solcher wechselseitiger Kon-stitutionen hat er Begriffe wie Instauration, Trajektorie und anaphorische Varia-tion9 geprgt. So sind etwa Werk und Knstler, unter Beteiligung einer Vielzahlweiterer Akteure, einander Medium nicht in der Realisation eines Projekts oderVorbilds, sondern in einem Prozess, in dem sich beide transformieren und heraus-bilden.

    Denkt man ausgehend von diesen Begriffen und nimmt zudem jene Auffaltungenvor, von denen sowohl Latour als auch Hennion sprechen, und die verdeutlichen,dass sich die vermeintlichen Zwischenglieder, die reibungslos als Ubermittlerfunktionieren, tatschlich aus einer Vielzahl von Mediatoren oder eben Akteu-ren - zusammensetzen, so fllt auch die Vorstellung des Unmittelbaren, des In-Mediaten in sich zusammen. Der Schatten, den die Medien werfen, ist vor allemder ihrer Kehrseite, die Vorstellung, es gbe ihr anderes, so wie die Rede von der>Mediengesellschaft< in der wir >heute< leben, suggeriert, es htte einmal Zeiten derUnmittelbarkeit gegeben: Doppelklick, der bereits in Paris invisible auftaucht10und nun zur gewissermaen kontrafaktischen Existenzweise [DC] wird, vereintals Abstoungsfigur alle Zge der uns vertrauten, substantialistischen Ontologieauf sich: Identitt des Gleichen, das immer schon gegeben ist, in seiner Buchstb-lichkeit und Bruchlosigkeit, Identitt einer Wahrheit zu der man, wenn man nurdie Strungen der Mediatoren neutralisieren oder am besten noch umgehen kann,

    9 Vgl. Etienne Souriau: L'Instauration philosophique, Paris 1939, ders.: Du mode d'exis-

    tence de l'uvre faire, in: Souriau: Diffrents modes (wie Anm. 2), S. 195-217, ders.:Les diffrents modes d'existence, ebd., S. 77-193. Vgl. dazu Isabelle Stengers und BrunoLatour: Le spinx de l'uvre, in: ebd., S. 175, hier v. a. S.421.

    !0 Bruno Latour und Emilie Hermant: Paris, ville invisible, Le Plessis-Robinson/Paris 1998,S.38.

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    unverflscht Zugang erhalten knnte. So ist auch die fr Latour negative Seite desInformationsbegriffs zu denken: ihrerseits als Negation der Formation, als Illusionder In-Formation, der Nicht-Formation, also der Mglichkeit, etwas knne zir-kulieren, ohne erst gebildet, umgebildet, trans-formiert werden zu mssen. WennLatour auf der Website des AIME-Projektes zudem klarstellt, dass die Konservie-rung einer Information durch die Transformationen in der Referenzkette hindurchals Sonderfall des wissenschaftlichen Existenzmodus [REF] betrachtet werdenmuss, der zu Unrecht nach Aristoteles in der westlichen Tradition verabsolutiertwurde, obwohl er fr keine andere Existenzweise gilt - erst recht nicht fr [TEC]und [FIC], wie man mit Blick auf das Interview ergnzen kann - dann schliet ersich auch darin de facto der Simondonschen Kritik am Hylemorphismus an.11

    Zieht man an dieser Stelle also eine Zwischenbilanz hinsichtlich der vier Be-griffe, welche die aus dem CSI hervorgegangen Arbeiten einmal charakterisierthaben - Akteur, Netzwerk, Mediation, bersetzung - , so fllt diese, unter vor-lufiger Aussparung von Netzwerk, wie folgt aus: Der Begriff der Akteure wirdgeneralisiert und verdrngt bei Latour wie Hennion die Begriffe Mediation undMediator. Einerseits deswegen, weil letztere eine falsche Abgrenzung implizie-ren das Prinzip der Mediation wird auf alle Akteure ausgeweitet, andererseits,und dies betrifft Latour, weil sie eine falsche Einheit suggerieren - die Spezifikdessen, was zuvor Mediatoren hie, muss demnach fr alle Existenzweisen diffe-renziert werden. In jedem Fall aber knnte keine gesonderte Existenzweise*[MED] beschrieben werden, sondern was Medien zugeschrieben wird, ist allenExistenzweisen inhrent. In jeder Existenzweise scheint es darum zu gehen, dassetwas Medium fr die Emergenz von etwas anderem ist. So charakterisiert Latourim Interview Fiktion [FIC], und auch hier geht es um einen Prozess der wechsel-seitigen Konstitution, unter anderem als Medium der Emergenz von Subjektivitt.Der Begriff der bersetzung, traduction, aber wird im Sinn der hier skizziertenneuen Ontologie radikalisiert im neuen Schlsselbegriff der Alteration, der zu-folge jede Entitt sich selbst in etwas anderes (das Sein-als-Anderes) >bersetzenbersetzung< zur Beschreibung mu-sikalischer, und somit sthetischer Objekte denkbar wenig geeignet war, so wirdschlielich deutlich, warum, auch jenseits der Missverstndnisse, die sich am Be-griff festmachten, Netzwerk als Begriff nicht mehr ausreichend war: Die Netz-werke, die (nicht nur) Latour und Hennion beschrieben, waren einfach zu ver-schieden, als dass ihnen mit der gleichen Herangehensweise beizukommen gewe-sen wre, ohne dass Entscheidendes verloren ging. In der indifferenten Beschreibung

    n Lemma information, www.modesofexistence.org (13.11.2013).

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    als Netzwerke gingen entscheidende Differenzen verloren, was die Qualitt derAssoziationen zwischen den Akteuren anbetraf. Zwar lieen sich potentiell alleAkteure in die jeweiligen accounts einbeziehen, aber, wie Latour auch hierindurchaus in Anlehnung an Souriau anmerkte, blieben die Netzwerke grau. Wo-rum es ging, war ihren unterschiedlichen Frbungen gerecht zu werden. Ausge-hend von Michel Callon einigte man sich zunchst auf das Konzept des Attache-ment. Whrend Hennion es bis heute facettenreich ausarbeitet, schlug auch Latoures zunchst als Ersetzung fr Netzwerk vor.12 Wenige Jahre spter erzeugte dieber Isabelle Stengers vermittelte Begegnung mit Etienne Souriau, vor allem mitLes diffrents modes d'existence, dann offenbar eine Initialzndung.13 Latours Adap-tion des Konzepts der Existenzweisen erlaubte es nun nmlich, zwei Dinge zu-sammenzubringen: Eine qualitativ differenzierte Beschreibung verschiedener As-soziationstypen und den Versuch einer vorlufigen Systematisierung jener Anthro-pologie der Modernen, an der Latour seit Jahrzehnten arbeitet, so dass in dieEnqute natrlich eine Vielzahl frherer Arbeiten einfliet.

    Dabei soll nun abschlieend noch zweierlei interessieren: Wie >Struktur< undZusammenspiel der Existenzweisen grob funktionieren und wie Medien undinsbesondere ein Medium faktisch die verschiedenen Existenzweisen charakte-risieren bzw. wie sie in der gesamten Konstruktion der Enqute ins Spiel kommen.Zum einen gibt es bestimmte Modi, die deutlich von einem bestimmten Mediumcharakterisiert werden, im Grunde auf einem Medium beruhen. Dieses Mediumist, nicht ganz zufllig, die Sprache. So ist der Modus der Konstitution des Kol-lektivs, Politik [POL], fr Latour jener des sophistischen, ffentlichen und gebo-genen14 Sprechens, das den Zirkel abluft, der eine Gemeinschaft im fortgesetztenDissens zusammenhlt. Vielleicht etwas erstaunlicher ist, wie Latour den Modus

    Bruno Latour: Factures/fractures. De la notion de rseau celle d'attachement, in:Andr Micoud und Michel Peroni (Hg.): Ce qui nous relie, La Tour d'Aigus 2000,S. 189-208.Die sich 2006 in einem aufschlussreichen unverffentlichten Text niederschlgt: BrunoLatour: Sur un livre d'Etienne Souriau: Les diffrents modes d'existence, http://www.bruno-latour.fr/fr/node/207 (13.11.2013). Verffentlicht ist eine englische bersetzung:Bruno Latour: Reflections on Etienne Souriau's Les diffrents modes d'existence, bers,v. Stephan Muecke, in: Graham Harman u.a.: The Speculative Turn. Continental Ma-terialism and Realism, Melbourne 2011, S. 304 333.Stark beeinflusst ist dies von Barbara Cassins Modell der Epideixis, vgl. etwa BarbaraCassin: Sophistics, Rhetorics, and Performance, or: How to Really Do Things withWords, in: Philosophy and Rhetoric 42/4 (2009), S. 349-372. Wenn Latour Politk alsparler courbe bezeichnet (Latour: Enqute (wie Anm. 3, S. 349), ist dies nicht nur derGegensatz zu einem vermeintlich direkten Sprechen, parler droit, sondern darinschwingt natrlich auch die sophistische Absage an den Vorwurf mit, die Politik seifourbe, also falsch, geheuchelt.

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    des Religisen [REL] fasst: Als jene Existenzweise, in der Menschen sich durcheine Gabe von Auen als Personen konstituieren, und zwar, weil sie von Entittenadressiert werden, die nichts anderes als faons de parler sind: Was wir Gottnennen, ist also ganz buchstblich und nichts anderes als logos, also eine Redens-art.15 In diesem Modus ist das Sprechen selbst die immer wieder zu erneuerndeund zu modifizierende Botschaft auch wenn ganz andere Praktiken wie etwaKaufen und Aufstellen einer Kerze darin offenbar auch ihren Platz haben.

    Fr jede Existenzweise unterscheidet Latour ihren Hiatus, ihre Trajektorie, dieBedingungen ihres Glckens und Missglckens (hier kommt mit Austins Theoriedes performativen Sprechakts erneut die Sprache ins Spiel), die zu instaurierendenWesen (hier findet sich also Souriaus Instaurationsbegriff wieder) sowie die Weisender Alteration. Gegen Ende des Interviews erwhnt Latour den Modus der Orga-nisation [ORG]: Diesen extrahiert Latour als einen von drei Modi, die in derVorstellung der Modernen von der konomie amalgamiert worden sind (die ko-nomie ist fr Latour im Buch also gerade keine Existenzweise). In ihm geht esdarum, wie wir uns raumzeitlich durch Skripte, d. h. eine Form von Geschichten,die uns performativ zu etwas verpflichten, organisieren, mittels derer wir uns alsAutoren selbst etwa in zuknftige raumzeitliche Situationen projizieren: Wir sindalso gleichermaen Autoren (jetzt, hier) und Figuren (spter, dort) dieser Skripte,die sich heillos berlagern und deren Interferenzen und Konflikte wir permanentaustragen mssen. Das von Latour so genannte Lastenheft fr einen Aktionsverlaufin [ORG] sieht dann wie folgt aus: Hiatus: Verwirrung zwischen verschiedenenOrdnungen und Befehlen (die man sich selbst gibt) {ordres), Trajektorie: Herstellenund Nachverfolgen von Skripten, Glcken/Missglcken: Die Skripte beherrschen/sich in ihnen verlieren, Instauration: Rahmungen oder Einstellungen {cadrages),Organisationen, Reiche, Alteration: Gre und Ausdehnung der Rahmungen/Einstellungen verndern. Heit das entsprechende Kapitel Parler l'organisationdans sa langue, so verweisen auch die Skripte wiederum auf die Sprache.16

    Latours expliziter Skepsis gegenber der Isolierung und berhhung der Spra-che steht seine bestndige Arbeit mit Sprache und sprachtheoretischen Figurengegenber, was sich, 'wenn man dies denn auflsen will, durch eine Generalisie-rung anhand der Sprache aufgestellter Theoreme auf andere Formen und Medienerklren liee.

    15 Latour: Enqute (wie Anm. 3), S.311. Allerdings handelt es sich um ganz besondere

    Redensarten: des mots porteurs d'tres capables de renouveler ceux qui ils s'adressent, ebd.,S. 305.

    !6 Zumindest was seine Trajektorie angeht, ist auch der Modus Fiktion [FIC] stark von derSemiotik Greimas' und ihrer Beschreibung sprachlicher Aussageregime geprgt: Sieberuht auf dem dreifachen Auskuppeln aus einer aktuellen Situation (das berhmtehie nunc ego), nmlich hinsichtlich von Zeit, Raum und Aktant.

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    Vermutlich zeigt sich darin die Schwierigkeit, in der Analyse nicht von sprach-lichen Kategorien auszugehen. Dass dies fr Latours Projekt der modes d'existenceschwierig ist, so dass man bisweilen den Eindruck hat, mit modes dnonciation, alsomit der sprachlichen Pragmatik von Aussageweisen konfrontiert zu sein, liegtnicht zuletzt daran, dass sich zum starken Einfluss von Greimas mit Souriaus Buchzu den Existenzweisen ein Modell gesellt, das seinerseits stark vom Modell derSprache ausgeht. So spricht Souriau ganz explizit davon, dass es ihm um die Ent-zifferung einer Grammatik der Existenz gehe.17

    Wie er diese organisiert, ist fr Latour modellbildend. Denn es reicht eben nichtnur fr die Akteure, sondern auch fr die Existenzweisen nicht (mehr) aus, nureinen account zu geben:

    Zhlen Sie so viele ontische Modi, wie sie wollen, hufen Sie diese zu Pyramiden auf,bedeutet uns Souriau, so haben Sie immer noch nicht definiert, wie man vom einen zumanderen gelangt. Nun besteht aber die Erfahrung eben aus dem bergehen, Abbiegen,Gleiten von einem Modus in den anderen.18

    Dies bedeutet, dass die 15 Existenzweisen sich nicht nur hierarchisch, sondern auchkategorial unterscheiden. Hierarchisch gibt es einen Aufstieg von jener Dreier-gruppe, die sich vor jedem Quasi-Objekt und jedem Quasi-Subjekt situiert, biszur wichtigsten Dreiergruppe, jener, welche die Verbindung zwischen Quasi-Objekten und Quasi-Subjekten stiftet.19 Nicht zufllig findet sich hier neben Or-ganisation und Moral auch das Attachement, dessen Wichtigkeit somit einmalmehr besttigt wird. Kategorial unterscheiden sich aber [RES] und [PRE] (und exnegativo [DC]) von den anderen 12 Modi, denn sie helfen, die Funktionsweisejener Modi zu ergreifen.

    Damit greift Latour die Unterscheidung zwischen Semantemen und Morphe-men auf, die Souriau seiner Existenzgrammatik zugrunde gelegt hat:

    Auf der einen Seite [...] die Semanteme der Existenz, unter denen das reine Phnomenrecht gut das reine und autonom gewordene Adjektiv reprsentiert, das von jeder Sub-stantiven Ordnung ablsbar ist, die das ontische reprsentiert. Auf der anderen Seiteentsprche das Synaptische, die Ordnung der Morpheme all jenem grammatikalischenMaterial (Konjunktionen, Prpositionen, Artikel, etc.) dem man das Ereignis als das-jenige gegenberstellen wrde, das dem eigenen Wesen des Verbs entspricht (wobei manes in die gleiche morphematische Ordnung einschlsse).20

    17 Souriau: Diffrents modes (wie Anm. 9), S. 154.

    !8 Stengers, Latour: Sphinx (wie Anm. 9), S. 54, bers. MC.19

    Und die somit gewissermaen Morphem-Zge innerhalb der Semantem-Gruppe hat.20 D'un ct [...] les smantmes de l'existence, parmi lesquels le phnomne pur prsen-

    terait assez bien l'adjectif pur, et devenu autonome, separable de tout l'ordre substantif

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    Deutlich lsst sich im Setzen auf Phnomen und Adjektiv die empirisch-prag-matische Dimension erkennen, die Latour (wie Hennion) aufgreift: Die Dingesind pragmata, sie haben keine Substanz jenseits der Erfahrungen, in denen sieuns begegnen und wir sie konstruieren. Auf der anderen Seite zeigt sich hier,dass der Modus [PRE] sich nicht, wie man auch denken knnte, von Michel Ser-res herschreibt, der den Prpositionen seinerseits die allergrte Aufmerksamkeitschenkt,21 sondern, wie Latour im Interview erklrt, von William James - undeben von Souriau, der als link zwischen James und Latour ins Spiel kommt.

    Whrend der bse Dmon Doppelklick [DC] in seinem Substantialismus dieSeinsvergessenheit der allgegenwrtigen Assoziation, Alteration und Diskontinu-itt markiert, sind [RES] und [PRE] die synaptische, also die Verknpfungsdimen-sion, die Morpheme, die erklren, wie die Modi sich aufbauen und wie sie inter-agieren. Der Netzwerkbegriff ist also nicht verabschiedet, sondern eingeordnetund ergnzt: Whrend das Netzwerk es erlaubt, die quantitative und auch dietopologische Dimension, denn nie geht es um abgesonderte >Bereiche

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    [TEC FIC] und wo jene Zusammenste sich ereignen, die im Kontrast diejeweiligen Existenzweisen >in Reinform< erkennbar machen. Darber hinaus abergeht es Latour darum, dass (fast) nie eine Existenzweise in Reinform vorliegt.Stattdessen kommt es zum einen zu Interpolationen, d.h. ein Modus integriert eineSequenz eines anderen Modus (wofr es interessanterweise keine gesonderte No-tation gibt) und es scheint so, dass gerade [FIC] immer wieder interpoliert werdenmuss, um andere Modi am Laufen zu halten.22 Schlielich aber gibt es bestndigauch berlagerungen. Diese knnen disharmonisch und verstellend sein wie Sou-riaus aufgehufte Pyramiden - dann nennt Latour sie Amalgame und die beidenwichtigsten dieser Amalgame sind uns bereits begegnet: konomie, Latour zu-folge ein Amalgam aus Moral, Organisation und Attachement, sowie Materie, einhylemorphistisches Amalgam, fr dessen Auflsung Latour den Begriff des Mate-rials vorschlgt. Kommt es hingegen zu positiven >Rckkopplungseffekten