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Darwin und Mendel Klaus Sander Charles Darwin und Johann Gregor Mendel sind die heute bekanntesten Biologen des 19. Jahrhunderts. Ihre Namen stehen fur zwei wissenschaftliche Theorien, die noch immer den Rahmen fur das Denken und Forschen groger Wissenschaftlergruppen liefern und somit als Paradigmen im Sinne von Thomas Kuhn [7] wirken. Wahrend aber Darwins Evolutionstheorie binnen Jahresfrist nach Veroffentlichung seines Hauptwerks in wei- ten Kreisen bekannt war (Zitat I), blieb Men- dels Hauptwerk ohne Wirkung auf die Zeit- genossen (Zitat 2) und seine Bedeutung fur das Vererbungsproblem wurde erst nach ei- nem Menschenalter erkannt. Beide Erschei- nungen, die sofortige Wirkung Darwins wie Mendels Mangel an solcher, sind nur im ge- schichtlichen Zusammenhang zu verstehen. Dabei spielt die Personlichkeit wohl eine ge- ringere Rolle als ihr soziales Umfeld und die wissenschaftlichen und weltanschaulichen Zeitstromungen samt ihren Urspriingen. Diesem Beziehungsgefuge sollen die nachfol- genden Betrachtungen gelten. Beginnen wir mit einem kurzen Blick auf Werk und Leben der beiden Forscher. Die Theorien Darwins 1859veroffentlichte Theorie [lo] be- steht aus 2 getrennt zu wertenden Haupttei- len. Der eine besagt, dal3 die heutigen Orga- nismen einschliefilich des Menschen nicht ge- mafi der biblischen Schopfungsgeschichte ge- schaffen wurden und seitdem unverandert blieben, sondern daB sie ihre heutige Form und Vielfalt durch allmahliche Abwandlung iiber lange, sich vielfach aufspaltende Ahnen- reihen hinweg erreichten. Der zweite Haupt- teil erklart die offenkundige Zweckmagigkeit der heutigen Lebensformen, ihre Anpassung also. Die Anpassung beruht auf ,,natiirlicher Zuchtwahl" - bestimmte Varianten inner- "Nach einem Vortrag im Studium Generale der Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg i. Br. Die Zitate stammen aus den angegebenen Sekundarquellen. Darwin und Mendel Wendepunkte im biologischen Denken" halb einer Art hatten unter den gegebenen Umweltbedingungen bessere Uberlebens- und damit Fortpflanzungschancen als ihre Artgenossen. Soweit die Eigenschaften dieser Varianten erblich waren, reicherten sie sich in nachfolgenden Generationen an und veran- derten sie zunehmend. Der heute mit Mendels Name verkniipfte Aspekt seiner Vortrage von 1865 [6] betrifft die Eigenschaften von Hybriden, also von Nachkommen eines unterschiedlich gestalte- ten Elternpaares. Entgegen der uralten Volks- meinung sollten diese Eigenschaften nicht auf Mischvererbung beruhen (in Analogie zur Vermischung von Flussigkeiten: ,,Halbblut"), sondern auf dem paarweisen Zusammentre- ten vaterlicher und miitterlicher Faktoren. Diese Erbanlagen bleiben fortdauernd als in- dividuelle Elemente erhalten und konnen sich daher bei der Bildung der Fortpflan- zungszellen fur die nachste Generation wie- der trennen. Kombination und Trennung der Erbanlagen folgen den Regeln der Wahr- scheinlichkeit. Beide Forscher gehen also aus von Populatio- nen variabler Individuen bzw. Erbanlagen [ 101 und betrachten sie unter dem statistischen Ge- sichtspunkt der Wahrscheinlichkeit. Dieser Ansatz, die Fulle des Belegmaterials und die gedankliche Scharfe seiner Auswertung unter- scheiden ihre Theorien von friiheren Versu- chen zur Losung der gleichen Fragen. Die un- terschiedliche Resonanz bei den Zeitgenossen beruht wohl darauf, dal3 Mendels Vorstellun- gen - vielleicht weil er ihre eigentliche StoB- richtung nicht klar genug definierte [4] - vor- wiegend fur die Pflanzen- und Tierzucht von Bedeutung schienen, wahrend Darwins Hy- pothese offenkundig ,,den Platz des Menschen in der Natur" (Huxley 1863) und damit das menschliche Selbstverstandnis beriihrt. Ihren epochalen Erfolg verdanken beide Theorien dem gleichen Umstand: Sie zeigen jenen Standpunkt auf, von dem aus ihr hochst ver- wickelter Gegenstand am einfachsten er- scheint -- nach Willard Gibbs (1839 bis 1903) das Ziel jeder Wissenschaft. Biologie in unserer Zeit / 18. Jabrg. 1988 / Nr. 6 0 VCH Verlagsge~e~l~cba~ mbH, 0-6940 Weinbeim, 1988 0045-20iX/88/06l2-0l61 $ 02.50/0 Wie weit kannte der Autor der einen Theorie die Gedanken des anderen? Mendel war schon als Student mit den Evolutionsvorstel- lungen" des friihen 19. Jh. vertraut und Dar- wins Werk, das er vor 1865 kennenlernte, hat ihn vielleicht zu seinen Untersuchungen an- geregt [4]. Darwin kannte Mendels Veroffent- lichung nicht - zu seinem Gliick, mochte man meinen, denn Mendels Erkenntnisse schienen zunachst eher gegen als fur seine Evolutionsvorstellungen zu sprechen. Ande- rerseits hatte Darwin sich vielleicht seine ei- genen gliicklosen Bemuhungen um das Ver- erbungsproblem erspart (Pangenesis-Hypo- these, veroffentlicht 1868), ware ihm Mendels Schrift von 1866 bekannt gewesen. "Der Einfachheit halber wird die stammesge- schichtliche Entwicklung hier durchgangig als Evolution bezeichnet, obwohl dieser Aus- druck erst im spaten 19. Jh. seine heutige Be- deutung erhielt, (s. P. J. Bowler, J. Hist. Ideas 36, 95-114, 1975). 161

Darwin und Mendel. Wendepunkte im biologischen Denken

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Darwin und Mendel

Klaus Sander

Charles Darwin und Johann Gregor Mendel sind die heute bekanntesten Biologen des 19. Jahrhunderts. Ihre Namen stehen fur zwei wissenschaftliche Theorien, die noch immer den Rahmen fur das Denken und Forschen groger Wissenschaftlergruppen liefern und somit als Paradigmen im Sinne von Thomas Kuhn [7] wirken. Wahrend aber Darwins Evolutionstheorie binnen Jahresfrist nach Veroffentlichung seines Hauptwerks in wei- ten Kreisen bekannt war (Zitat I), blieb Men- dels Hauptwerk ohne Wirkung auf die Zeit- genossen (Zitat 2) und seine Bedeutung fur das Vererbungsproblem wurde erst nach ei- nem Menschenalter erkannt. Beide Erschei- nungen, die sofortige Wirkung Darwins wie Mendels Mangel an solcher, sind nur im ge- schichtlichen Zusammenhang zu verstehen. Dabei spielt die Personlichkeit wohl eine ge- ringere Rolle als ihr soziales Umfeld und die wissenschaftlichen und weltanschaulichen Zeitstromungen samt ihren Urspriingen. Diesem Beziehungsgefuge sollen die nachfol- genden Betrachtungen gelten. Beginnen wir mit einem kurzen Blick auf Werk und Leben der beiden Forscher.

Die Theorien

Darwins 1859 veroffentlichte Theorie [lo] be- steht aus 2 getrennt zu wertenden Haupttei- len. Der eine besagt, dal3 die heutigen Orga- nismen einschliefilich des Menschen nicht ge- mafi der biblischen Schopfungsgeschichte ge- schaffen wurden und seitdem unverandert blieben, sondern daB sie ihre heutige Form und Vielfalt durch allmahliche Abwandlung iiber lange, sich vielfach aufspaltende Ahnen- reihen hinweg erreichten. Der zweite Haupt- teil erklart die offenkundige Zweckmagigkeit der heutigen Lebensformen, ihre Anpassung also. Die Anpassung beruht auf ,,natiirlicher Zuchtwahl" - bestimmte Varianten inner-

"Nach einem Vortrag im Studium Generale der Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg i. Br. Die Zitate stammen aus den angegebenen Sekundarquellen.

Darwin und Mendel Wendepunkte im biologischen Denken"

halb einer Art hatten unter den gegebenen Umweltbedingungen bessere Uberlebens- und damit Fortpflanzungschancen als ihre Artgenossen. Soweit die Eigenschaften dieser Varianten erblich waren, reicherten sie sich in nachfolgenden Generationen an und veran- derten sie zunehmend.

Der heute mit Mendels Name verkniipfte Aspekt seiner Vortrage von 1865 [6] betrifft die Eigenschaften von Hybriden, also von Nachkommen eines unterschiedlich gestalte- ten Elternpaares. Entgegen der uralten Volks- meinung sollten diese Eigenschaften nicht auf Mischvererbung beruhen (in Analogie zur Vermischung von Flussigkeiten: ,,Halbblut"), sondern auf dem paarweisen Zusammentre- ten vaterlicher und miitterlicher Faktoren. Diese Erbanlagen bleiben fortdauernd als in- dividuelle Elemente erhalten und konnen sich daher bei der Bildung der Fortpflan- zungszellen fur die nachste Generation wie- der trennen. Kombination und Trennung der Erbanlagen folgen den Regeln der Wahr- scheinlichkeit.

Beide Forscher gehen also aus von Populatio- nen variabler Individuen bzw. Erbanlagen [ 101 und betrachten sie unter dem statistischen Ge- sichtspunkt der Wahrscheinlichkeit. Dieser Ansatz, die Fulle des Belegmaterials und die gedankliche Scharfe seiner Auswertung unter- scheiden ihre Theorien von friiheren Versu- chen zur Losung der gleichen Fragen. Die un- terschiedliche Resonanz bei den Zeitgenossen beruht wohl darauf, dal3 Mendels Vorstellun- gen - vielleicht weil er ihre eigentliche StoB- richtung nicht klar genug definierte [4] - vor- wiegend fur die Pflanzen- und Tierzucht von Bedeutung schienen, wahrend Darwins Hy- pothese offenkundig ,,den Platz des Menschen in der Natur" (Huxley 1863) und damit das menschliche Selbstverstandnis beriihrt. Ihren epochalen Erfolg verdanken beide Theorien dem gleichen Umstand: Sie zeigen jenen Standpunkt auf, von dem aus ihr hochst ver- wickelter Gegenstand am einfachsten er- scheint -- nach Willard Gibbs (1839 bis 1903) das Ziel jeder Wissenschaft.

Biologie in unserer Zeit / 18. Jabrg. 1988 / Nr. 6 0 VCH Verlagsge~e~l~cba~ mbH, 0-6940 Weinbeim, 1988 0045-20iX/88/06l2-0l61 $ 02.50/0

Wie weit kannte der Autor der einen Theorie die Gedanken des anderen? Mendel war schon als Student mit den Evolutionsvorstel- lungen" des friihen 19. Jh. vertraut und Dar- wins Werk, das er vor 1865 kennenlernte, hat ihn vielleicht zu seinen Untersuchungen an- geregt [4]. Darwin kannte Mendels Veroffent- lichung nicht - zu seinem Gliick, mochte man meinen, denn Mendels Erkenntnisse schienen zunachst eher gegen als fur seine Evolutionsvorstellungen zu sprechen. Ande- rerseits hatte Darwin sich vielleicht seine ei- genen gliicklosen Bemuhungen um das Ver- erbungsproblem erspart (Pangenesis-Hypo- these, veroffentlicht 1868), ware ihm Mendels Schrift von 1866 bekannt gewesen.

"Der Einfachheit halber wird die stammesge- schichtliche Entwicklung hier durchgangig als Evolution bezeichnet, obwohl dieser Aus- druck erst im spaten 19. Jh. seine heutige Be- deutung erhielt, (s. P. J. Bowler, J. Hist. Ideas 36, 95-114, 1975).

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Leben und Wirken

Charles Robert Darwin (Abbildung 1), gebo- ren 1809 als Sohn eines beguterten und auger- ordentlich erfolgreichen Landarztes, gab das Medizinstudium auf, um sich auf eine Lauf- bahn als anglikanischer Landpfarrer vorzube- reiten. Seine naturwissenschaftlichen Interes- sen verschafften ihm fruh personliche Bezie- hungen xu bedeutenden Professoren der Uni- versitaten Edinburgh und Cambridge. Einer von ihnen riet Darwin, an der bevorstehen- den Weltumsegelung des kleinen Vermes- sungsschiffes Beagle der englischen Kriegs- marine teilnehmen.

Wahrend der Vermessungsarbeiten des Beagle an den Kusten verschicdener Kontinente und Inseln konnte sich Darwin lange an Land um- sehen. Die dabei gesammelten tiergeographi- schen Beobachtungen waren spater entschei- dend fur den Wechsel vom Schiipfungsglau- ben seiner Jugendzeit zur Evolutionstheorie. Warum, so fragte er sich, sollte der Schopfer Sudamerika mit einer ganz anderen Fauna als das vergleichbar gelagerte sudliche Afrika be- viilkert haben? Warum gehiirten die ausge- storbenen, grogenteils erst von ihm selbst entdeckten Riesenformen Sudamerikas ge- rade zu jenen absonderlichen Gruppen, die auch die lebende Tierwelt dieses Erdteils aus- zeichnen? Konnte der Schopfer sich wirklich die Muhe gemacht haben, jede Insel im Gala- pagos-Archipel mit unterscheidbaren Vertre- tern der gleichen Tier- und Pflanzengattun- gen zu bevdkern?

Darwins Suche nach besseren Erklarungen fand unerwartete Wegweiser, vor allem in 1

Form einer soziologischen Schrift des Theo- logen und Nationaliikonom Thomas Robert Malthus (1766- 1834). Er bekampfte den Fortschrittsglauben der voraufgegangenen Aufklarungszeit mit dem Hinweis, dafl die groBe menschliche Fruchtbarkeit angesichts begrenzter Ressourcen unausweichlich zu Hunger, Elend und Laster (einschliefllich Kriegen) fuhre und damit jede Hoffnung auf cine bessere Zukunft zunichte mache (Zitat 3). Darwin erkannte 1838 bei dieser Lekture, dafl bei den meisten Pflanzen und Tieren die ebenfalls uberreiche Nachkommenschaft zu einem steten innerartlichen Konkurrenz- kampf fuhren mug, in dem bereits kleinste Vorteile die Uberlebenschancen eines Indivi- duums erhohen. Dafl solche kleinen Variatio- nen standig auftreten und erblich sein kon- nen, erfuhr er von den damals fuhrenden eng- lischen Zuchtern. Seit 1838 sammelte er nam- lich Daten aller Art, um sie unter dem Gesichtspunkt der Evolution und der Auslese (Zuchtwahl) zu prufen. In den folgenden Jah- ren veroffentlichte er seinen Reisebericht und andere Werke, die ihm den Ruf eines fuhren- den Naturforschers sicherten. Dennoch konnte er sich nicht zur Veriiffentlichung sei- ner Evolutionshypothese entschlieflen, zum einen wohl aus Furcht vor den weltanschauli- chen Konsequenzen, zum anderen weil ihm einige Schwachpunkte Sorge bereiteten.

Im Jahre 1858 schickte ihm der Forschungs- reisende Alfred Russel (1823-1913) ein Ma- nuskript mit dem Titel ,,Uber die Tendenz der Varietaten, unbegrenzt von dem Original- typus abzuweichen". Er entwickelt darin ge- nau jene Theorie der Evolution durch naturli- che Zuchtwahl, die Darwin seit 20 Jahren 2

prufte. Einfluflreiche Freunde verhinderten eine menschliche Tragodie, indem sie das Wallace-Manuskript und einen kurzen Be- richt Darwins in der gleichen Sitzung der Londoner Linn&Gesellschaft verlasen. Zu- gleich drangten sie Darwin zur Veriiffentli- chung seiner Gedanken, und 1859 erschien der ,,Ursprung der Arten". Seine mehr als 400 Seiten betrachtete Darwin lediglich als Zu- sammenfassung eines geplanten umfassenden Werkes. Dieses Werk erschien nie, aber ein er- heblicher Teil des gesammelten Materials ging in einige der 15 Bucher ein, die er zwi- schen 1860 und 1881 veriiffentlichte. Als Dar- win 1882 an Herzversagen starb, wurde er im britischen ,,Nationalschrein", der Westmin- ster-Kathedrale, beigesetzt; seinen Sarg tru- gen fuhrende Wissenschaftler, mehrere Ade- lige und der amerikanische Botschafter.

Johann Mendel (Abbildung 2) wurde 1822 als Sohn armer Kleinbauern im mahrisch-schle- sischen Grenzgebiet geboren; seine Mutter- sprache war deutsch [6]. Nach entbehrungs- reichen Jugend- und Gymnasialjahren trat er, um seiner unertraglichen Armut zu entrin- nen, als Novize unter dem Klosternamen Gregor in das Brunner Kloster der Augusti- ner-Eremiten ein (Zitat 4). Nach der Priester- weihe schickte ihn der Abt z,um Studium der Naturwissenschaften nach Wien, wo ihn vor allem Physik und Mathematik fesselten. Dann wurde er Hilfslehrer an der Brunner Oberrealschule. Seine Versuche, in Wien das neu eingefuhrte Lehrerexamen abzulegen, verliefen erfolglos; er m u k e Hilfslehrer blei- ben und widmete sich daneben naturwissen- schaftlichen Beobachtungen und Experimen- ten. Aus einer sorgfaltig vorbereiteten Serie von Kreuzungsversuchen mit Erbsensorten, die sich uber mehr als 5 Jahre hinzog, leitete er verschiedene Gesetzmafligkeiten der Verer- bung bei Hybridpflanzen ab. Einige davon wurden 1900 zum Grundstock jener neuen Disziplin, die seit 1906 Genetik heifit [15]; andere, die ihm vielleicht wichtiger waren [4], hat die Nachwelt ignoriert. Seine Befunde und Schluflfolgerungen teilte Mendel unter dem Titel ,,Versuche uber Pflanzen-Hybri-

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den" 1866 in den wenig verbreiteten Verhand- lungen des Brunner naturforschenden Ver- cins mit. Diescr Aufsatz bezeugt sein mathe- matisch-physikalisch geschultes Denk- und Darstellungsvermogen und besticht durch seine geistige Unabhangigkeit ebenso wie durch seinen kristallklaren Stil.

Der einzige zeitgenossische Wissenschaftler, von dem eine Reaktion auf Mendels Haupt- werk uberliefert ist, war der beruhmte Bota- niker Nageli in Munchen. Aber auch er nahm es nur fluchtig zur Kenntnis. Zudem gab er Mendel einen verhangnisvollen Ratschlag, der diesen bei seinen weiteren Untersuchun- gen auf Irrwege fuhrte. Mendel veroffent- lichte noch eine kleine Schrift zum Hybridi- sierungsproblem sowie mehrere Mitteilungen uber meteorologische Daten und Imkerfra- gen. Seine wissenschaftliche Tatigkeit er- losch, als er 1869 zurn Abt gewahlt wurde und in den folgenden Jahren seine Krafte im Kampf fur die bedrohten Privilegien des Brunner Stiftes aufzehrte. Er starb 1884 an Nierenversagen und wurde im Klosterbereich des Brunner Zentralfriedhofs beigesetzt. Die groRe Trauergemeinde bezeugte seine Be- liebtheit in Kloster und Stadt; der Dirigent des Requiems hieR Leos Janacek.

Personlichkeit und gesellschaft- liches Umfeld

Trotz ihres so unterschiedlichen Lebenslaufs hatten Darwin und Mendel gemeinsame We- senszuge. Beide waren sensibel - Darwin floh mehrfach aus dem Operationssaal, Men- del war den Belastungen des Seelsorgers am Kranken- und Sterbebett nicht gewachsen. Beide litten jahrelang unter unklaren, ihre ge- waltige Arbeitsfahigkeit zeitweilig mindern- den Krankheitssymptomen. Ursache waren bei Mendel vielleicht die Harten seiner Ju- gendzeit, bei Darwin - wie man heute ver- mutet - ein unaufloslicher seelischer Kon- flikt zwischen seinem Forscherdrang, der ihn zunehmend zu einer materialistisch-agno- stischen Weltanschauung fuhrte, und der Furcht, die tiefe Religiositat seiner Frau (und Mutter seiner 10 Kinder) zu verletzcn. Dar- win wie Mendel hatten Ambitionen [14] (Zi- tat 5), galten aber zugleich als gutig und ver- trauenswurdig. Mendel wurde nicht nur zum Abt gewahlt, sondern auch zum Vorsteher der Mahrischen Hypothekenbank; Darwin war gewahlter Friedensrichter seines Bezirks. Ob Mendel, seinem geistlichen Stande gemaf3, starker religios gebunden war als Darwin, mug offen bleiben - die zuganglichen Doku-

mente geben zumindest keine Hinweise auf eine mehr als konventionelle Glaubigkeit.

Nun aber zu den wichtigsten Gemeinsamkei- ten: Darwin und Mendel waren Autodidak- ten auf dem Gebiet der Biologie, die uber- kommene Schulweisheit konnte ihnen also nicht den Blick verstellen. Beide hatten sich ungewohnlich breite Kenntnisse erarbeitet; Mendel war als Imker und Meteorologe min- destens so bekannt wie als Pflanzenzuchter, und Darwins naturkundliches Wissen durfte noch heute jedem Vergleich standhalten. Au- Gerdem konnten beide frei von finanziellen Sorgen forschen, Darwin dank des geschickt gemehrten Familienerbes, Mendel im Schutze des Stiftes. Wirtschaftliche Sicherheit bietet keine Gewahr fur gute Forschung, aber guten Forschern gestattet sie die volle Entfaltung!

Wichtige Unterschiede zeigen sich im sozia- len Umfeld. Mendel war zwar nicht der ein- same Monch, als den man ihn gelegentlich hinstellt, aber sein Brunner Bekanntenkreis durfte doch eher praktischen Dingen als gro- f3en Theorien zugeneigt haben. Er urnfake einige erfolgreiche Schaf-, Obst- und Blu- menzuchter, vorwiegend aber Lehrer ein- schliei3lich der naturwissenschaftlich interes- sierten Klosterbruder, deren Abt Cyril Napp ihre Studien stark forderte. Das Kloster selbst durfte zu jener Zeit - wenn man dem Bericht einer apostolischen Visitation glauben darf - kaum ein Hort des religiosen Lebens gewesen sein, wohl aber eine reiche Quelle des Unter- richts fur die Jugend aus Stadt und Land, und zwar auch in den naturwissenschaftlichen Fa- chern [6] . Diese Grundstruktur erwuchs aus einem Jahrzehnte zuvor von der Wiener Re- gierung erlassenen Dekret, das den Klostern weltliche Erziehungsaufgaben zuwies. Im Revolutionsjahr 1848 z,eitigte sie eine hochst weltlichc Bittschrift der Monche um Gewah- rung burgerlicher Freiheiten (Zitat 6).

In der Donaumonarchie jener Zeit mag sich all dies fortschrittlich ausgenommen haben - mit Darwins ,,Standortvorteil" halt es aber keinen Vergleich aus. Darwin lebte und wirkte im Herzen eines Weltreiches, das - nicht zuletzt dank seiner liberalen Verfassung - hervorragenden Kopfen einzigartige Ent- faltungsmoglichkeiten bot. Das Britische Charles Lye11 (1797- 1885), der Botaniker Jo- Museum und der Botanische Garten von Kew seph Dalton Hooker (1817- 191 I), der Zoo- hatten ihre Konkurrenten in anderen Lan- loge Thomas Henry Huxley (1825-1895) -

dern langst uberflugelt. Vor allem aber stand hatten samtlich mehrere Jahre im Ausland den jungen Burgern dieses Landes die Welt verbracht und kannten, zusammengenom- offen, als Schule fur Leben und Wissenschaft. men, fast die game Welt. Hinzu kam die in- Darwins engste Freunde - der Geologe tellektuelle Atmosphare der Weltstadt: hier

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war (fast) jeder Gedanke erlaubt, nur geist- reich mui3te er sein (Abbildung 3). Die groge Zahl bedeutender Forscher, die sich regelma- gig in verschiedenen wissenschaftlichen Ge- sellschaften trafen - Lye11 beschreibt eine solche Sitzung als ,,grand display of talent" - bot Gewahr fur die unglaublich rasche Aus- wertung des von Darwin in Sudamerika ge- sammelten Materials, und gab ihm damit im fruchtbarsten Lebensalter einen entscheiden- den Anstog zur Evolutionstheorie. Zudem hatte dieses Netzwerk geistiger Verbindun- gen einen erheblichen Verstarkereffekt bei der Ausbreitung von wissenschaftlichen (und anderen) Neuigkeiten; ihm und nicht dem schwer verdaulichen Inhalt des ,,Ursprungs der Arten" ist z. B. der rasche Publikumser- folg von Darwins erstem Buch zu verdanken.

Vorlaufer und Zeitstromungen

Die fur Darwin so wichtigen soziologisch- weltanschaulichen Faktoren spielten bei Mendel keine entscheidende Rolle, wenn man die soziologischen Ursprunge der zeitgenos- sischen Statistik [12] auger acht lagt. Der Ge- danke der Vermengung und erneuten Tren- nung elterlicher Erbelemente taucht mehr- fach vor Mendels Zeit auf, u.a. bei Pierre Moreau de Maupertuis (1698-1759) und Charles Naudin (1815-1899) [15], deren Werke Mendel offenbar nicht kannte. Allen vorherigen Forschern fehlte jedoch die quan- titative Auswertung ihrer Versuche; deshalb blieb ihnen das Zahlenverhaltnis der Nach- kommentypen verborgen, Mendels entschei- dender Beleg zugunsten segregierender Fak- torenpaare. Wohl aber ist denkbar, dag Men- del aus einigen qualitativen Angaben von 3

Karl Friedrich Gartner (1772- 1850) fruh eine mathematisch formulierte Hypothese ent- wickelte, die er mit seinen Versuchen prufen wollte. Hinweise darauf ergeben sich aus No- tizen in seinem Exemplar von Gartners Buch, aus Besonderheiten wie etwa dem Weglassen gekoppelter Erbgange (die ihm in seinen um- fangreichen Vorversuchen zweifellos begeg- net sein mussen), und aus seinen numerischen Versuchsergebnissen, die zu nahe am Erwar- tungswert liegen. Fur letzteren Umstand gibt es allerdings auch eine andere Erklarung [l 11 - das von Mendel in Wien benutzte Phy- siklehrbuch enthielt die Empfehlung, aus einem grogen Versuchsgut die stark vom Durchschnitt abweichenden Einzelversuche zu eliminieren!

Dai3 Mendels Werk zu seinen Lebzeiten ohne Wirkung blieb, liegt nicht oder nicht nur an seinen Lebensumstanden und der - gemessen am biologischen Schrifttum seiner Zeit - vie1 zu straffen und mathematisch orientierten Darstellung seiner Versuche. Von anderer Seite werden seine Veroffentlichungen nur 1881 in jenem Ubersichtsband erwahnt, der dann Mendels Wiederentdecker Correns und de Vries 1900 auf seine Spur lenkte. Entschei- dend fur die Wirkungslosigkeit von Mendels Gedanken war wohl, dai3 zu jener Zeit die Vorgange der Zellteilung und Befruchtung noch unzureichend erforscht waren. Insbe- sondere fehlte jegliche Kenntnis uber die mi- totische Verteilung der Chromosomen, die erst nach 1880 beschrieben und alsbald als Grundlage der Verteilung von Erbeigenschaf- ten aufgefai3t wurde [2, 131.

Darwins Werk ist weit uber den naturwissen- schaftlichen Bereich hinaus in Zeitstromun- gen und geschichtliche Entwicklungslinien eingebettet. Spekulative Evolutions- und Se- lektionsvorstellungen tauchten schon in der Antike mehrfach auf; im 18. Jahrhundert spielte der bereits erwahnte Maupertuis mit dem Gedanken einer Evolution durch Selek- tion (Zitat 7), und Charles Darwins exzentri- scher Grogvater Erasmus (1 73 1 - 1802) schil- derte die Entfaltung der Organismenwelt in in Prosa und in wohlgesetzten Versen (Zitat 8). Immanuel Kant (1724-1804) fand 1790 derartige ,,Abenteuer der Vernunft . . . nicht eben ungereimt . . . Allein die Erfahrung zeigt

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davon kein Beispiel". Letztere Einsicht hatte auch bedeutende Biologen aus den Jahrzehn- ten vor Darwin vom Evolutionsgedanken ab- gebracht, z. B. Georges Cuvier (1769-1832) und Carl Ernst von Baer (1792-1876). Nur Jean Baptiste Lamarck (1744-1829) gab 1809 zu bedenken, daR die evolutiven Veranderun- gen so langsam ablaufen konnten, daR man sie nicht wahrnimmt. Er war der erste, der die Vorstellung einer biologischen Evolution ein- gehend durchdachte, aber er verquickte sie hochst unglucklich mit der damals schon lange uberholten Urzeugungslehre. Dies und seine skurrilen Kausalerklarungen verhinder- ten die breitere Wirksamkeit seiner Gedan- ken. Zudem war die zeitgenossische Wissen- schaft noch nicht bereit, ihm die langen Zeit- raume zuzubilligen, deren eine allmahliche Evolution bedarf. Es waren geologische Be- obachtungen, insbesondere an bestimmten Erosionserscheinungen, die bald darauf die Vorstellungen uber das Alter der Erde drama- tisch erweiterten [17]. Dai3 Darwins Zeit ,,reif" war fur den Gedanken der Evolution, ist aber mindestens ebenso stark durch be- stimmte politisch-soziologische Faktoren be- dingt. Die grogen Forschungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts, kaum denkbar ohne die Anspriiche und auch die Machtmittel reicher Handelsnationen, schmalerten die Glaub- wiirdigkeit naturwissenschaftlicher Alterna- tiven zur Evolutionsvorstellung, insbeson- dere der Katastrophentheorie Cuviers [lo]. War aber der Evolutionsgedanke einmal zur annehmbaren oder gar besseren Alternative geworden, so stellte sich alsbald die Frage nach den Evolutionsursachen. Hier nun er- hielt Darwin DenkanstoRe von zwei im spa- ten 18. Jh. aufgebluhten Disziplinen, der Ge- sellschaftslehre und der Nationalokonomie. So findet sich das spatere Schlagwort vom ,,Kampf ums Dasein" schon 1798 im bereits erwahnten soziologisch-philosophischen Essay von Malthus. Zur gleichen Zeit spielte der Gedanke des wirtschaftlichen Wettbe- werbs eine bedeutende Rolle (Wirtschaftsli- beralismus). Diese und ahnliche Einflusse wirkten nicht nur auf den jungen Darwin, sondern offenbar auch auf andere nachdenk- liche Naturbeobachter jener Periode; sie mo- gen schon die 183 1 niedergeschriebenen An- sichten von Patrick Matthew (Zitat 9) ge- fordert haben, die allerdings vollig ohne Resonanz blieben. DaR ,,darwinistische" Vorstellungen vor Darwin in der Luft lagen, belegen auch die Schriften des philosophi- schen Autodidakten Herbert Spencer (1820-1903), den man geradezu den Philoso- phen des Entwicklungsgedankens genannt

hat. Im Schatten der Darwinschen Datenfulle sind seine scharfsinnigen Betrachtungen hau- fig ubersehen worden. Ihre Thematik reicht von der Evolution des Kosmos uber die Ver- teidigung Lamarcks (Zitat 10) bis hin zu Vor- formen der evolutionaren Erkenntnistheorie; so schlug er 1855 vor, ,,daR die Grundtatsa- chen des Verstandes fur das Individuum apriorisch, fur die ganze Reihe von Einzelwe- sen hingegen, worin es nur das letzte Glied bildet, aposteriorisch sind" [S]. Spencer pragte auch das Schlagwort vom ,,Uberleben des Tiichtigsten" - und dies 1852, also sechs Jahre bevor Darwin und Wallace an die Of- fentlichkeit traten. Alle diese ,,zeitgenossi- schen Vorlaufer" reichen aber in keiner Weise an Darwin heran, wenn es um die Fulle und Qualitat der Beobachtungen und ihrer Deu- tung geht.

Dennoch wurden Darwins Gedanken nicht sofort und oft nur teilweise ubernommen. Unter den alteren Wissenschaftlern seiner Zeit gelangen ihm einige erstaunliche ,,Be- kehrungen" - erstaunlich im Lichte der Er- kenntnis von Max Planck, daR neue Theorien sich allgemein nicht durch Bekehrung, son- dern durch Aussterben ihrer Gegner durch- setzen. Dabei lag die ,,Hemmschwelle" fur den Gedanken der evolutiven Artverande- rung (Transformation) weit niedriger als fur die Selektionsvorstellung (Zitat 1 I). So man- che wissenschaftliche Kritik mag letztlich aus emotional-weltanschaulicher Gegnerschaft entsprungen sein, vor allem jene des spate- ren Lord Kelvin (William Thomson, 1824-1907), die Darwin sehr bedruckte [17].

Revolution: ja oder nein?

Diese im Hinblick auf Thomas Kuhn [7] ge- stellte Frage gestattet keine einfache Antwort. Ein entscheidendes Merkmal der von ihm de- finierten ,,wissenschaftlichen Revolution" besteht darin, daR sie keiner eigentlich neuen Daten bedarf. Was sich andert, und zwar manchmal sprunghaft, sind nicht die Daten, sondern der Blickwinkel ihrer Deutung (,,ko- pernikanische Wende"). Dieses Merkmal fehlt im Falle Mendels. Zum einen gab es die entscheidenden quantitativen Daten vor sei- nen Untersuchungen nicht. Zum anderen hat er einen entscheidenden Schritt der Verallge- meinerung unterlassen, ohne den seine Theo- rie nicht als Alternative zu vorherigen umfas- senden, wenn auch schwachen Hypothesen (etwa Darwins Pangenesis-Hypothese) gelten konnte. Mendel betrachtet namlich nur Paare unterschiedlicher Erbanlagen, erkennt aber

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Darwin unct Mendel

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nicht, dai3 auch glrichartige Erbanlagen paar- weise in ihren Tragern existieren und sich bei deren Gametenbildung wieder trennen [I 11. Zwei Formeln (Abbildung 4) beleuchten dies schlaglichtartig, die er - der sonst so stark mathematisch Gepragte - in mathematisch wie logisch unhaltbarer Weise gleichsetzt. Mendels Verzicht auf Generalisierung (oder seine Unfahigkeit dazu) ergibt sich auch aus dem Text seiner Veroffentlichung, der - wie der Titel - durchwegs auf die Hybriden, aber nirgends auf die reinerbigen Pflanzen abzielt. Dies alles wird verstandlich, wenn man an- nimmt [4], dai3 sein eigentliches Interesse gar nicht den Erbgangen bei der Erbse galt, son- dern der moglichen Rolle von Hybriden bei der Entstehung neuer Arten (wie sie zuerst Linn6 in's Auge gefai3t hatte). Jedenfalls beto- nen erst seine ,,Wiederentdecker" Correns und de Vries die Bedeutung der von Ihnen un- abhangig aufgefundenen Regeln fur das Ver- e r t ,ngsproblem";.

Bei Darwin liegen die Dinge anders, aller- dings auch nicht so eindeutig oder besser ein- heitlich, wie man angesichts des immer wie-

derkehrenden pauschalen Vergleiches mit Kopernikus (Zitat 12) glauben konnte. Auch hier gelten Einschrankungen z. B. fur Einzel- heiten, die erst Darwin (und Wallace) in voller Scharfe erfai3t haben, wie etwa die Unter- schiede zwischen Tierformen benachbarter Inseln. Ein kopernikanischer Blickpunkt- wechsel hingegen lafit sich hervorragend an- hand der vergleichenden Anatomie der Wir- beltiere aufzeigen. Diese iiber Jahrhunderte entwickelte ,,Hohe Schule" der Biologie hatte mit Georges Cuvier und Richard Owen (1804-1892) eine hohere Stufe der theoreti- schen Durchdringung erreicht als alle ande- ren biologischen Disziplinen. Schon Cuvier dehnte die vergleichende Anatomie mit gro- gem Erfolg von den heute lebenden Formen auf die Fossilien vergangener Epochen aus; gerade sein eminenter Einflul3 verhinderte aber die naheliegende evolutionare Deutung der dabei beobachteten GesetzmaRigkeiten.

Was wir heute bei verwandten Tier- oder Pflanzenformen als Erbe von gemeinsamen Ahnen her verstehen, erklarten Cuvier und Owen als Abwandlungen eines ,,Bauplans" oder ,,Archetypus", verstanden als Leitidee, der die Natur bei der Erzeugung dieser Ge- schopfe gefolgt war. Von den groi3en Stam- men der Tiere und Pflanzen iibertrug man diese ,,idealistische" Vorstellung mit zuneh- mender Detailkenntnis auf kleinere systema- tische Einheiten (Abbildung 5). Darwins ,,Re- volution" bestand darin, dai3 er den jeweili- gen Archetyp durch den gemeinsamen Vor- fahren ersetzte (Abbildung 6).

Der Begriff der Revolution stammt ebenso- wenig aus dem Bereich der Biologie oder iiberhaupt der Naturwissenschaften wie der des Kampfes ums Dasein. Er hat politisch- soziologische Urspriinge, und so ist es kein Wunder, dai3 Darwins Theorie - im Gegen- satz zu den damals ,,wertneutralen" bzw. konservativen Erkenntnissen von Mendel - tief auf diese Gebiete zuruckwirkte. Schon friihere Evolutionsvorstellungen hatten Reaktionen provoziert, die das Ausmai3 der kommenden weltanschaulichen Erschutte- rungen ahnen lieflen (Zitat 13). Darwin wa- ren diese Ahnungen vertraut und er litt dar- unter - man hat ihn einmal als ,,ungliickli- chen Bombenleger" charakterisiert. Die Aus- einandersetzungen jenseits der Biologie, die

Vererbung im heutigen Sinne. Bis 1900 um- f a k e der Vererbungsbegriff auch die Steue- rung der Ontogenese, siehe [13].

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Darwin und Mendel

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seine Theorie zwar nicht verursacht, wohl aber gefordert hat (Zitate 14, 15), wirken bis heute nach.

Literatur

Hinweise: Die im Text mit Namen und Jahr erwahnten Veroffentlichungen findet man in [1], [9] und [15]. Die Darwin-Literatur ist uferlos, als Leitfaden eignen sich neben [I] verschiedene in Taschenbuchform erschie- nene Biographien.

[I] R. W. Clark (1984) Charles Darwin. Bio- graphie cines Mannes und einer Idee. Fischer, Frankfurt.

[2] Th. Cremer (1985) Von der Zellenlehre zur Chromosomentheorie. Springer, Berlin.

[3] G. Czihak (1984) Johann Gregor Mendel. Ausstellungskatalog Salzburg.

[4] M. Egli, H.-M. Aeppli (1988) Berechnetes Leben: Carl Wilhelm von Nag& und die Wurzeln mathematischer Modellsimulation in der Biologie. BiuZ 18, 116-121.

[5] 0 . Gaupp (1900) Herbert Spencer. F. Frommanns Verlag, Stuttgart.

[6] J. Ktiieneck$ (Hrsg.) (1965) Gregor Jo- hann Mendel. 1822-1 884. J. A. Barth Verlag, Leipzig.

[7] T. S. Kuhn (1962/1979) Die Struktur wis- senschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp Ta- schenbuch Wissenschaft 25.

[8] W. Lefkvre (1984) Ilie Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. Ullstein Buch 35186.

[9] S. I-’. Mason (1961) Geschichte der Natur- wissenschaft in der Entwicklung ihrer Denk- weise. Kroner, Stuttgart.

[lo] E. Mayr (1984) Die Entwicklung der biologischen Gedankenwclt. Springer, Berlin.

[1 I] 0 . G. Meijer (1982) The essence of Men- del’s di5covery. In: The Past, Present and Fu- ture of Genetics 1982 (V. Ohrel, A. Matalovj (Hrsg.)). Mendelianurn, Brunn/UNESCO, pp. 123-178.

[ 121 T. M. Porter (1986) The rise of statistical thinking 1820- 1900. Princeton University Press.

[13] K. Sander (1984) August Weismann (1834-1914) - Naturforscher und Theoreti- ker der allgemeinen Biologie. BiuZ 14, 189-193.

[14] S. L. Sob01 (Hrsg.) (1959) Charles Dar- win. Autobiographic. Urania-Verlag, Leip- z1g.

[15] H. Stubbe (1963) Kurze Geschichte der Genetik. Fischer, Jena.

[16] G. R. Taylor (1963) Das Wissen vom Le- ben. Dromer/Knaur, Munchen.

[I71 S. Toulmin, J . Goodfield (1970) Entdek- kung der Zeit. Goldmann, Munchen.

Anschrift: Prof. Dr. Klaus Sander, Institut fur Biologie I, Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg, Al- bertstrai3e 21a, D-7800 Freiburg.

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