DAS BEWUSSTSEIN AUS DER SICHT DES TANTRA · PDF file24 Tibet und Buddhismus • Heft 63 • Oktober November Dezember 2002 Dalai Lama m Tantra, speziell im Höchsten Yogatantra, wird

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  • 24 Tibet und Buddhismus Heft 63 Oktober November Dezember 2002

    Dalai Lama

    m Tantra, speziell im Hchsten Yogatantra, wird dasBewusstsein in drei Ebenen eingeteilt, die unter-schiedlich subtil sind: das grobe, das feine (subtile)

    und das uerst subtile Bewusstsein. Die ersten beidensind vorbergehender Natur; sie entstehen und verge-hen. Ein grobes Bewusstsein wie die Sinneswahrneh-mung beispielsweise entsteht im Kontakt mit einem u-eren Objekt. Verschwinden die Objekte und Umstn-de, vergeht das Bewusstsein, das sie wahrnimmt. Neh-men wir ein Sehbewusstsein, das eine Blume beobach-tet: Es besteht, solange das Objekt, die Blume, da ist;auerdem gehrt zu der Wahrnehmung, dass es ein Sin-nesorgan gibt in diesem Fall das Augenorgan , dasauf die Blume gerichtet ist, und einen vorhergehendenMoment von Bewusstsein. Sind diese Faktoren kom-plett, entsteht das Sehbewusstsein, das die Blume er-kennt. Fehlt ein Faktor, zum Beispiel die Blume oderder Blick, der darauf gerichtet ist, dann vergeht diesesSehbewusstsein wieder.

    Auch subtile Bewusstseinsarten wie Zustnde von Be-gierde, Hass usw., die wir im Buddhismus als Geistes-plagen bezeichnen, sind flchtiger Natur. Sie entstehenunter bestimmten Umstnden, etwa wenn wir auf spe-zielle Objekte treffen, die als Auslser fungieren. Auer-dem mssen innere Anlagen vorhanden sein, damit sol-che Geisteszustnde aufkommen knnen. Fehlt das Ob-jekt oder sind die Gedanken auf etwas anderes gerichtet,vergehen diese Emotionen wieder. Das heit, sowohl die

    groben Bewusstseinszustnde, also hauptschlich Sinnes-wahrnehmungen, als auch die subtileren Zustnde desgeistigen Bewusstseins sind wechselhaft und besitzen kei-ne dauerhafte Existenz. In den tantrischen Schriften wer-den 80 konzeptuelle Bewusstseinsarten auf der subtilenEbene aufgezhlt, wobei es sich um begriffliches Be-wusstsein handelt. Sie sind allesamt vorbergehenderArt.

    Im Hchsten Yogatantra wird als drittes das uerstsubtile Bewusstsein genannt, das Klare-Licht-Bewusst-sein. Dieses ist nicht dem blichen Werden und Verge-hen anderer Bewusstseinszustnde unterworfen; insofernbesteht es dauerhaft. Im Todesprozess wird das Bewusst-sein immer subtiler. Die letzten vier Ebenen heienLeere, Groe Leere, Vllige Leere und AbsoluteLeere (sie werden manchmal auch als Weie Erschei-nung, Rote Zunahme, Schwarzes Nahes Erreichenund Klares Licht bezeichnet, Anm. des bersetzers).Letztere ist gleichzusetzen mit dem Klaren Licht, demnatrlich anwesenden Bewusstsein. Dieses kommt nichtauf Grund vorbergehender Bedingungen zustande, undes vergeht auch nicht, wenn diese Bedingungen fehlen.Das subtilste Bewusstsein existiert zu jeder Zeit und wirdniemals unterbrochen. Alle grberen Bewusstseinsebe-nen gehen aus diesem Bewusstsein des Klaren Lichts her-vor und lsen sich auch wieder in dieses auf. Das Be-wusstsein des Klaren Lichts bildet also nach dem Tantradie Grundlage fr jede Art von Bewusstsein.

    S.H. der Dalai Lama

    DAS BEWUSSTSEINAUS DER SICHT

    DES TANTRA

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    Das Bewusstsein istwie ein Strom: Es bildet

    eine Kontinuitt,verndert sich aber von

    Moment zu Moment.

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    Dalai Lama

    Bewusstsein kann nicht ausMaterie entstehen

    auf diese Weise einen ununterbrochenen Strom voneinzelnen Bewusstseinsmomenten bildet. Auf Grunddieser Beschaffenheit nennen wir es auch natrlichanwesendes, dauerhaftes Bewusstsein.

    Allgemein ist Bewusstsein immer etwas Klares undErkennendes. Innerhalb dieser klaren und erkennendenNatur gibt es verschiedene Arten. Unser menschlichesBewusstsein ist abhngig davon, dass wir einen mensch-lichen Krper haben, der die Grundlage fr ein solchesBewusstsein bildet. Die Tatsache aber, dass diesesmenschliche Bewusstsein die Natur von Bewusstsein hat,ist darauf zurckzufhren, dass es auf der Ebene des Kla-ren Lichts ein ununterbrochenes Bewusstseinskon-tinuum gibt.

    Das menschliche Bewusstsein ist einerseits abhngigvom menschlichen Krper und andererseits vom Be-wusstsein des Klaren Lichts, der Grundlage eines jedenBewusstseins. Diese allgemeine Gesetzmigkeit hat derindische Meister Dharmakrti in seiner Schrift Pra-mavrttika verdeutlicht. Dort schreibt er, dass etwas,das in seiner Natur klar und erkennend, also Bewusst-sein ist, nicht aus substanziellen Ursachen entstandensein kann, die die Eigenschaften von Materie besitzen.Mit anderen Worten: Bewusstsein kann nur aus Be-wusstsein entstehen.

    Natrlich sind noch weitere mitwirkende Umstndentig; im Falle des menschlichen Bewusstseins zum Bei-spiel der Krper als Grundlage. Viele mitwirkende Um-stnde sind an der Entstehung einer Wahrnehmung be-teiligt. Aber die Tatsache, dass diese Wahrnehmung klarund erkennend ist, lsst sich darauf zurckfhren, dassein vorhergehender Zustand von Klarheit und Erken-

    Im Tod lsen sich zuerst diegroben Bewusstseinsebenenwie die verschiedenen Sin-neswahrnehmungen auf;

    dann verflchtigen sich auchdie feineren geistigen Be-wusstseinszustnde. AmEnde bleibt nur das aller-

    subtilste Bewusstsein brig,das Klare Licht des Todes.

    Bewusstsein ist aus buddhistischer Sicht in seinem We-sen klar und erkennend. Aus diesem Grund kann auchseine Grundlage nicht materieller Art sein; es brauchteine Quelle, aus der es als Klares und Erkennendes her-vorgehen kann. Diese Grundlage ist das Bewusstsein desKlaren Lichts; aus diesem gehen smtliche Bewusstseins-arten hervor, und in dieses lsen sie sich alle wieder auf.

    Wir knnen nun die Frage aufwerfen, ob das Bewusst-sein des Klaren Lichts inhrent, von seinem eigenenWesen her existiert. Tatsache ist, dass auch das subtilsteBewusstsein nur in Abhngigkeit von vielen Faktorenbesteht. Zum Beispiel ist es abhngig von einzelnen Au-genblicken, die zusammen sein Kontinuum ergeben. Eininhrentes, aus sich bestehendes Bewusstsein des KlarenLichts kann nicht gefunden werden. Einzelne Momentedieses Bewusstseins reihen sich quasi aneinander undbilden eine Kontinuitt. Weder ein einzelner Momentdieses Bewusstseins noch all die Momente zusammensind dieser Bewusstseinsstrom des Klaren Lichts; viel-mehr existiert das Kontinuum als Benennung in Abhn-gigkeit vieler Momente.

    Das Bewusstsein des Klaren Lichts besteht also Mo-ment fr Moment, und dieser Strom von einzelnenMomenten wird niemals unterbrochen. Andere Be-wusstseinsarten hingegen entstehen und vergehen. DasBewusstsein dieses Lebens beispielsweise entsteht, wennwir bei der Geburt diesen Krper und Geist annehmen und zwar auf der Basis des Klaren-Licht-Bewusstseins.Die verschiedenen Wahrnehmungen, Gedanken undEmotionen dieses Lebens, also die grberen Geistes-zustnde, enden mit dem Tod und lsen sich wieder indas Klare Licht auf.

    Das Bewusstsein des Klaren Lichts ist ein ununter-brochenes Kontinuum; es gibt nicht einen Moment, indem es nicht bestnde. Trotzdem ist es kein bestndigesPhnomen, sondern augenblicklich. Ein Moment desKlaren Lichts folgt auf den nchsten Moment usw. ohneUnterbrechung. Wir haben es also mit einem Phno-men zu tun, das von Moment zu Moment existiert und

    Jens N

    agels

    Durch die Initiation wird heil-sames Potenzial ins Bewusst-

    seinskontinuum gelegt.

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    Dalai Lama

    nen da war. In diesem Sinne ist Dharmakrtis Aussage zuverstehen. Die groben und subtilen Bewusstseinszustndebrauchen als substanzielle Grundlage Klarheit und Er-kenntnis, damit sie berhaupt entstehen knnen. Des-halb bedeutet Dharmakrtis Aussage, dass jedes Bewusst-sein nur auf der Basis des Bewusstseins des Klaren Lichtsentstehen kann. Dieses subtilste Bewusstsein hat keinenAnfang. Natrlich knnen Gelehrte darauf beharren, dasses einen Anfang gegeben hat; sie knnen eine andere Sub-stanz postulieren, aus der im nchsten Moment das Be-wusstsein des Klaren Lichts entstanden ist, aber dieseAnsicht wird von den Buddhisten abgelehnt. Das Argu-ment hatte ich schon genannt: Etwas, das in seinem We-sen klar und erkennend ist, kann nicht allein aus Ursa-chen hervorgehen, die ganz anderer Natur sind. Gewissknnen andersartige Phnomene am Entstehen von Be-wusstsein beteiligt gewesen sein, aber die wesenhaftenoder substanziellen Ursachen mssen die Eigenschaftendes Bewusstseins haben. Dies trifft auch auf das Bewusst-sein des Klaren Lichts zu. Aus den beschriebenen Grn-den denken wir im Buddhismus, dass es keinen Anfangfr Lebewesen gibt, d.h. dass es keinen Zeitpunkt gab, zudem keine existiert haben. Somit ist das Ich oder Selbstohne Anfang und hat kein Ende.

    Das subtilste Bewusstsein wird zweifellos auch von an-deren Faktoren beeinflusst, z.B. von karmischen Anlagen,die in diesem Bewusstsein transportiert werden knn-en. Und es beeinflusst selbst wiederum die grberen odersubtileren Bewusstseinsebenen, die aus ihm hervorgehen.Die wesenhafte Ursache fr das Bewusstsein des KlarenLichts kann jedoch nur ein vorhergehendes Bewusstseindes Klaren Lichts gewesen sein. So lsst sich zusammen-fassen, dass zwar grbere Bewusstseinsarten aus dem sub-tilsten entstehen, dieses aber selbst nicht aus grberen Be-wusstseinsebenen hervorgeht, sondern aus vorhergehen-den Momenten des Klaren Lichts.

    Wir erkennen, dass das Bewusstsein des Klaren Lichtskontinuierlich existiert und zwar seit anfangsloser Zeit,ohne einen Anfangspunkt. Genauso wird sich dieses Be-wusstsein in der Zukunft fortsetzen, ohne Unter-brechung. Dieses allersubtilste Bewusstsein wird in sei-nem Weiterbestand nicht durch wechselhafte Ursachenund Umstnde behindert, da es nicht daraus entstandenist. Andere Phnomene, die aus wechselhaften Ursachenund Umstnden hervorgegangen sind, werden durch dieVernderlichkeit in ihrem Bestand gehindert. Eine Blu-me entsteht z.B. auf Grund bestimmter Ursachen undUmstnde; da diese sich wandeln, kann die Blume alsBlume nicht weiterbestehen, sondern sie muss vergehen.Die sich wandelnde