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__________________________________________________________________________________________ Bieler Modell Fassung Januar 2007 1 Schule für Ergotherapie Biel Januar 2007 Das Bieler Modell ein Modell zum Entwickeln und Evaluieren ergotherapeutischer Massnahmen Einführung Das Bieler Modell wurde an der Schule für Ergotherapie Biel von einem Autorenteam (U. Mosthaf, M. -Th. Nieuwesteeg et al.) entwickelt. Es handelt sich um ein Arbeitsinstrument, das es erleichtert, die Vielfalt ergotherapeutischer Problemstellungen und Massnahmen zu erfassen, in die Praxis umzu- setzen und die eigene therapeutische Arbeit zu evaluieren. Das Modell bewährt sich seit Anfang der Neunzigerjahre in der Grundausbildung von Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten. Es bietet Grundlagen zur theoretischen Fundierung der Ergotherapie und zur Entwicklung qualitätssichernder Massnahmen. Abb.01. Das Bieler Modell 1. Handeln in der Ergotherapie - zum Konzept der Handlungsfähigkeit Der Ansatz der Handlungstheorien, menschliches Handeln in seinen physischen und psychischen Di- mensionen zu verstehen und darzustellen, führte an der Schule für Ergotherapie Biel dazu, hand- lungstheoretische Modelle als Denkmodelle für eine theoretische Fundierung ergotherapeutischer Ar- beit beizuziehen.

Das Bieler Modell · 2020. 3. 4. · Bieler Modell Fassung Januar 2007 5 Gegenstände (Oerter 1993). Gegenstandsbezogen ist auch „inneres Handeln“ - das Handeln in der Vorstellung

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Schule für Ergotherapie Biel Januar 2007

Das Bieler Modell ein Modell zum Entwickeln und Evaluieren ergotherapeutischer Massnahmen

Einführung Das Bieler Modell wurde an der Schule für Ergotherapie Biel von einem Autorenteam (U. Mosthaf, M. -Th. Nieuwesteeg et al.) entwickelt. Es handelt sich um ein Arbeitsinstrument, das es erleichtert, die Vielfalt ergotherapeutischer Problemstellungen und Massnahmen zu erfassen, in die Praxis umzu-setzen und die eigene therapeutische Arbeit zu evaluieren. Das Modell bewährt sich seit Anfang der Neunzigerjahre in der Grundausbildung von Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten. Es bietet Grundlagen zur theoretischen Fundierung der Ergotherapie und zur Entwicklung qualitätssichernder Massnahmen.

Abb.01. Das Bieler Modell 1. Handeln in der Ergotherapie - zum Konzept der Handlungsfähigkeit Der Ansatz der Handlungstheorien, menschliches Handeln in seinen physischen und psychischen Di-mensionen zu verstehen und darzustellen, führte an der Schule für Ergotherapie Biel dazu, hand-lungstheoretische Modelle als Denkmodelle für eine theoretische Fundierung ergotherapeutischer Ar-beit beizuziehen.

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Handlungstheorien versuchen, äusseres sichtbares Verhalten und die entsprechenden inneren kogni-tiven und teilweise auch emotionalen Vorgänge - Wahrnehmungs-, Denk- und Erlebnisvorgänge - zu erfassen, zu analysieren, und darzustellen. Während Forscher wie Lewin (1969), Leontjew (1982) und Hacker (1986) vor allem die Zusammenhänge zwischen Kognitionen und Handlungen untersuchten, versuchen in jüngerer Zeit Handlungstheoretiker wie Volpert (1983) vermehrt auch emotionale Pro-zesse in die Modelle einzuarbeiten. Von Cranach et al. (1980) versucht, soziale Prozesse und Interak-tionen in die Handlungstheorien einzubeziehen. Bisher sind die meisten Ergotherapie-Modelle im angelsächsischen Sprachraum entwickelt worden (Kielhofner 1995, Kanadisches Modell CMOP 1997, Australisches Modell OPM Australia 1998). In den Übersetzungen des in diesen Modellen verwendeten Begriffes "Occupation" in die deutsche Sprache begegnet man der Schwierigkeit, diesen Begriff sinngemäss zu übersetzen. In Deutschland wird der Begriff häufig mit "Betätigung" übersetzt. Ausgehend von den Handlungstheorien sprechen wir im Bie-ler Modell von der Handlungsfähigkeit des Menschen, vom Handeln und von Handlungen.

In den Handlungstheorien werden die Aktivitäten als Handlungen bezeichnet, mit denen Menschen zielgerichtet und bewusst auf ihre Umwelt einwirken. Die Handlungsfähigkeit eines Menschen wird durch die personalen Möglichkeiten und durch die jeweils konkreten Umweltgegebenheiten bestimmt.

Verschiedene Faktoren charakterisieren menschliches Handeln (Hacker 1986/1995, Volpert 1983, Schüpbach 1995): • Handlungen* sind zielgerichtet und bewusst

Handeln setzt voraus, dass ein möglicher Zielzustand in der Vorstellung entwickelt werden kann. Handlungsziele sind realitätsbezogen, wenn sie die eigenen personalen Möglichkeiten und die massgebenden konkreten Umweltbedingungen berücksichtigen. In Handlungen kann eine Abstu-fung der Bewusstheit von einer insgesamt geplanten und kontrollierten Handlung bis hin zu auto-matisch ablaufenden Routine- oder Gewohnheitshandlungen unterschieden werden.

• Handlungen sind motiviert Motive für Handlungen können in persönlichen, sozialen und sachlichen Bedeutungen liegen. Bei allen Motiven für Handlungen ist die subjektive wie die kulturspezifische Sinnorientierung von zentraler Bedeutung.

• Handlungen sind strukturiert Handlungen umfassen einen Aufbau mit einem Handlungsplan, einen Ablauf und einen Ab-schluss. Handlungen werden auf das bewusste Ziel hin gesteuert und reguliert. Die Handlungser-gebnisse werden bewertet. Viele Handlungsabläufe können unterbrochen, wieder aufgenommen oder ggf. abgebrochen werden.

• Handlungen sind selbst-, mit- oder fremdbestimmt Handeln ist selbst-, mit- oder fremdbestimmt. In der Mitbestimmung liegen graduelle Kombinatio-nen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Fremdbestimmte Handlungen können Aufgaben-stellungen, Anweisungen und Aufträge sein.

• Handlungen gestalten Person und Umwelt Durch Handeln gestalten Menschen ihre Umwelt. Handlungen beeinflussen aber auch den Men-schen, der handelt: Handeln gestaltet den Handelnden. In den verschiedenen Lebensbereichen treffen Menschen auf ein breites Angebot an Handlungsmöglichkeiten, aber auch auf Handlungs-erwartungen (s. 6. Lebensbereiche).

Die Handlungsfähigkeit eines Menschen entwickelt und verändert sich im Verlaufe des Lebens. Im Verlaufe der Sozialisation und Individuation werden einfachste Handlungsmuster des Kleinkindes ausdifferenziert und zu komplexeren Einheiten gruppiert. Strukturen, Formen, Reichweite und Wirkun-gen von Handlungen verändern sich im Leben des einzelnen Individuums. Handlungen werden zu-nehmend ausdifferenziert und durch Wiederholung flüssiger und variationsreicher. Bei alten Men-schen kann beobachtet werden, dass Handlungen aber auch reduziert, "auf das Nötigste beschränkt" werden und zerfallen können. *Unter Handlungen verstehen wir konkretisiertes, lebensbereichsbezogenes Handeln.

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Handeln lernen wir vor allem durch Handeln in realen Situationen oder zumindest durch Probehandeln in realitätsnahen Lernsituationen. Die psychischen Strukturen zum Handeln entstehen vor allem beim Kind durch das Handeln selbst und dessen Verinnerlichung zum Denkhandeln (Piaget 1971). Modell-Lernen (Bandura 1973) kann diesen Lernprozess unterstützen. Krankheit und Behinderung aber auch umweltbedingte Über- und Unterforderungen erschwe-ren/beeinträchtigen die Handlungsfähigkeit eines Menschen Die Handlungsfähigkeit eines Menschen kann durch Krankheiten und/oder Behinderung graduell un-terschiedlich erschwert werden. Aber auch über- oder unterfordernde Umweltanforderungen bzw. -erwartungen können die Handlungsfähigkeit eines Menschen beeinträchtigen. Die Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit im Sinne des Untätigseins kann zu physischen und psy-chischen Veränderungen führen, zu Verlust oder Verminderung von Fähigkeiten, zur Auflösung von Gewohnheiten und zeitlichen Strukturen. Handlungsfähigkeit als Leitziel in der Ergotherapie

Occupational therapy is a profession concerned with promoting health and well being through occupa-tion. The primary goal of occupational therapy is to enable people to participate in the activities of eve-ryday life. Occupational therapists achieve this outcomes by enabling people to do things that will en-hance their ability to participate or by modifying the environment to better support participation. (World Federation of Occupational Therapists - Definition 2004)

Ergotherapie hat zum Ziel, die Handlungsfähigkeit des Menschen zu fördern, zu erhalten und/oder wiederherzustellen. Ergotherapie geht davon aus, dass die Fähigkeit eines Menschen, für ihn bedeu-tungsvolle Handlungen/Tätigkeiten auszuführen in einem positiven Zusammenhang steht mit seiner Gesundheit. (Berufsprofil Ergotherapie 2005 – ASSET – EVS) Handeln als therapeutisches Mittel Ergotherapie setzt Aktivitäten als therapeutisches Mittel ein. Das Grundkonzept der Ergotherapie geht davon aus, dass Tätigsein ein menschliches Grundbedürfnis ist und dass in der Vorbereitung und Ausführung ausgewählter und angepasster Handlungen, in der Reflexion dieser Handlungen und in der Bewertung der Handlungsergebnisse therapeutische Wirkungen liegen können. In der Ergothera-pie unterstützt der/die Therapeut/in die Entwicklung von Möglichkeiten des Patienten zur Umweltbe-wältigung. Zudem versucht der/die Therapeut/in bei Bedarf die Umweltgegebenheiten den jeweils konkreten Möglichkeiten des Patienten anzupassen. 2. Handlungsbedingungen Die Handlungsfähigkeit eines Menschen wird durch die personalen und die lebensbereichsbezogenen Handlungsbedingungen bestimmt. Unter den personalen Handlungsbedingungen verstehen wir die individuellen Möglichkeiten und Schwierigkeiten eines Menschen zu handeln. Unter den lebensbereichsbezogenen Handlungsbedin-gungen verstehen wir die situativen Anforderungen sowie die Möglichkeiten in Form von Handlungs-angeboten aus der Umwelt. In allen Bereichen des Bieler Modells werden immer Möglichkeiten und Schwierigkeiten eines Menschen beschrieben. Wir gehen davon aus, dass Menschen trotz Krankheit, Behinderung oder Alter immer noch Handlungsmöglichkeiten haben, die es im Sinne offen gebliebe-ner Möglichkeiten wahrzunehmen gilt. In der Grafik des Bieler Modells sind die personalen und lebensbereichsbezogenen Handlungsbedin-gungen so dargestellt, dass sie sich überschneiden. Dieser Schnittfläche ordnen wir die Verhaltens-grundformen zu (Abb.02.).

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Abb.02. Personale und lebensbereichsbezogene Handlungsbedingungen 3. Verhaltensgrundformen Verhaltensgrundformen (Abb.03.) sind sichtbare, d.h. der Selbst- und/oder der Fremdbeobachtung zugängliche Verhaltensweisen, die sowohl von der Umwelt geprägt als auch vom Individuum her be-stimmt sind. Sie sind also immer sowohl durch lebensbereichsbezogene situative Anforderungen und Möglichkeiten als auch durch individuumspezifische personale Möglichkeiten und Schwierigkeiten be-einflusst. Zu den Verhaltensgrundformen gehören für uns die Bereiche "Haltung/Fortbewegung", "Um-gang mit Gegenständen" sowie "Soziale Interaktion". Alle Bereiche werden verstanden als Interaktionen zwischen Individuum und Umwelt: "Hal-tung/Fortbewegung" als Interaktion des Individuums mit Raum und Schwerkraft, "Umgang mit Gegen-ständen" als Interaktion des Individuums mit der gegenständlichen Umwelt sowie "Soziale Interaktion" als Interaktion des Individuums mit der sozialen Umwelt. Handlungen bestehen immer aus Kompo-nenten von "Haltung/Fortbewegung", "Umgang mit Gegenständen" und aus "sozialen Interaktionen". Haltung/Fortbewegung: Unter Haltung verstehen wir die Haltung des menschlichen Körpers im gegenständlichen Raum in Ab-hängigkeit von der Schwerkraft und der Fähigkeit zu Haltungswechsel und Haltungsanpassung. Fortbewegung dient der Ortsveränderung des Körpers im Raum.

Umgang mit Gegenständen: Handeln ist auf Gegenstände gerichtet (Leontjew 1982). Handeln kann Umgang mit Gegenständen bedeuten, es beinhaltet aber auch die Herstellung von Gegenständen. Gegenstände sind kulturelle Erzeugnisse von Gesellschaften und erhalten dadurch auch ihre Bedeutung bzw. ihren Wert. An den Gegenständen teilhaben und sich handelnd auf sie beziehen kann das Individuum nur, wenn es die Handlungsmöglichkeiten, die von einer Kultur für einen Gegenstand vorgesehen sind, erlernt. Das Kind erwirbt über das Handeln im Laufe seiner Entwicklung den kulturell vorgesehenen Gebrauch der

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Gegenstände (Oerter 1993). Gegenstandsbezogen ist auch „inneres Handeln“ - das Handeln in der Vorstellung als Denkhandeln (Piaget 1975). Es ist das Anliegen der Ergotherapie, die Handlungsfähigkeit des Patienten in diesen Aspekten zu un-terstützen bzw. zu ermöglichen.

Soziale Interaktion: Individuumspezifische Möglichkeiten und Schwierigkeiten werden u.a. bestimmt durch die sozialen Fähigkeiten einer Person (bspw. Einfühlungsvermögen, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, das Wissen um gültige und verbindliche soziale Werte, Normen und Regeln sowie ihre angemessene Berücksichtigung im Handeln), durch die sozialen Fertigkeiten (bspw. Begrüssungen, Kontaktaufnah-men) sowie durch soziale Haltungen und Einstellungen (bspw. Kommunikations- und Kooperationsbe-reitschaft, Angebot und Annahme sozialer Unterstützung).

Abb.03. Verhaltensgrundformen 4. Grundfunktionen Die Grundfunktionen (Abb.04.) sind für uns Konstrukte. Es handelt sich um eine Zusammenstellung und Zuordnung von Einzelfunktionen, die untereinander vernetzt, in enger Wechselbeziehung zuein-ander stehen. Isoliert sind diese Funktionen eigentlich nicht erfassbar. Vor allem beobachtbar ist für uns das konkrete Verhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation: seine Hal-tung/Fortbewegung, sein Umgang mit Gegenständen und seine sozialen Interaktionen. Von den Ver-haltensgrundformen können aber Rückschlüsse auf die Grundfunktionen im sensorisch-motorischen, perzeptiv-kognitiven und emotionalen Bereich gezogen werden. Zwischen Verhaltensgrundformen und Grundfunktionen besteht eine enge Wechselbeziehung. Es ist nicht möglich, das eine ohne das andere zu erfassen und zu beeinflussen.

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Sensorisch/motorische Grundfunktionen: Unter sensorischen Grundfunktionen verstehen wir die Aufnahme von Daten über die Rezeptoren der Sinnesorgane. Die Sensorik umfasst den olfaktorischen, den gustatorischen, den optischen, den aku-stischen und den taktilen Sinn sowie den propriozeptiven und den vestibulären Sinn (vgl. ICF 2005). Einige theoretische Ansätze (vgl. Gibson 1973) weisen darauf hin, dass Sinnesorgane auch „eigen-ständig“ nach Daten suchen. Unter motorischen Grundfunktionen verstehen wir die vom Körper ausgeführten Bewegungen mit ih-ren mobilen und statischen Komponenten. Die Bewegungen dienen der Ortsveränderung des Körpers oder eines Körperteiles im Raum. Wichtige Bereiche der Motorik sind die statische und die dynamische Grob- und Feinmotorik sowie die Bewegungskoordination.

Abb.04. Grundfunktionen Perzeptiv/kognitive Grundfunktionen: Unter perzeptiven Grundfunktionen verstehen wir die Auswahl von Informationen aus den Daten, die über die Rezeptoren der Sinnesorgane aufgenommen werden. Perzeption (Wahrnehmung) ist ein ak-tiver Prozess, bei dem eine Figur, Gestalt oder Struktur aufgebaut und konstruiert wird. Dieser Vor-gang geht ausserordentlich rasch vor sich. Aus der grossen Menge der auf den Organismus einströmenden Daten müssen diejenigen herausge-filtert werden, die eine Beziehung zum Handlungsziel haben. Die Auswahl dieser Signale ist dabei weniger durch deren physikalische Intensität bestimmt als durch eine aktive Auswahl des Organismus, der aufgrund seiner Erfahrungen bestimmte Signalmuster "sucht" und durch Vergleich mit früher erleb-ten Situationen sich ein Bild von seiner Umgebung zu machen versucht. Signale erhalten wir aus Handlungen und Vorgängen. Merkmale charakterisieren Gegenstände. Im Wahrnehmen suchen wir nach Merkmalen und Signalen, die es uns erlauben, Gegenstände und Si-tuationen zu definieren. Die Perzeption umfasst die Bereiche der olfaktorischen, der gustatorischen, der visuellen und auditi-ven Wahrnehmung sowie der Bereiche der taktilen, propriozeptiven und der vestibulären Wahrneh-

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mung.

Unter kognitiven Grundfunktionen verstehen wir die Formen der Informationsverarbeitung. Kognition bezieht sich als ein umfassender Begriff auf die Art und Weise, wie Menschen Ereignisse ihrer Le-benswelt begreifen, wie sie persönliche Erfahrungen aufnehmen und sich an sie erinnern. Kognition bezeichnet die Prozesse des Denkens bzw. die aktive interne Strukturierung und Neustrukturierung von Situationen, Problemen und Begriffen, wie sie ein Individuum vollbringt (Identifikationen, Analy-sen, Synthesen, Evaluationen u.a.). Wichtige Bereiche handlungsbezogener Kognitionen sind: Gegenstandsverständnis, zielbezogene Si-tuationsanalyse und Handlungsregulation sowie Gedächtnis (Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis) und Konzentration/Aufmerksamkeit. Emotionale Grundfunktionen: Emotionale Grundfunktionen sind Funktionen, die mit dem Gefühlserleben und den entsprechenden Reaktionen verbunden sind. Emotionen lassen sich nach Intensität, Qualität und zeitlichem Ablauf dif-ferenzieren. Unter Affekten verstehen wir einen intensiven, unmittelbaren, in der Regel kürzer dauern-den Gefühlsausdruck und entsprechende Gefühlsreaktionen. Mit Stimmung bezeichnen wir einen an-dauernden, stark gefühlsbetonten Zustand. Wichtige handlungsbezogene Emotionen sind gefühlsmässige Beteiligung in der Planung, Durchfüh-rung und Evaluation der Handlung, Motivation und Frustrationstoleranz.

5. Physische und psychische Voraussetzungen

Unter physischen und psychischen Voraussetzungen (Abb.05.) werden personbezogene Faktoren be-schrieben, die als Gegebenheiten die personalen Handlungsbedingungen eines Menschen in den Grundfunktionen und in den Verhaltensgrundformen beeinflussen bzw. bestimmen. Zu diesen Faktoren gehören Alter, Geschlecht, Körpergrösse, Längenverhältnisse des Körpers, Ge-wicht, Konstitution und psychische Dispositionen.

Abb.05. Physische und psychische Voraussetzungen

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Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten in den Grundfunktionen sowie die physischen und psychischen Voraussetzungen beeinflussen die Leistungen eines Menschen in den Verhaltensgrundformen mass-gebend. Die Handlungsfähigkeit eines Menschen wird aber nicht allein durch die personalen Bedin-gungen bestimmt, sondern ebenso durch die lebensbereichsbezogenen Bedingungen, das heisst durch die Möglichkeiten und Anforderungen in den verschiedenen Lebensbereichen, in denen ein Mensch lebt, sowie durch die materiellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen.

6. Lebensbereiche Menschen handeln in vielfältiger Weise in verschiedenen Lebensbereichen. In unserem Kulturkreis werden drei Lebensbereiche unterschieden: der Bereich "der Aktivitäten des täglichen Lebens" (der persönlichen Selbständigkeit in Haus, Lebensgemeinschaft und Öffentlichkeit), der Bereich "Arbeit/Beruf bzw. Schule/Ausbildung" sowie der Bereich "Freizeit/Spiel" (Abb.06.). Die verschiedenen Lebensbereiche werden durch die jeweilige materielle, soziale und kulturelle Umwelt sehr stark geprägt. Eine Person trifft in allen Lebensbereichen auf ein Angebot an bestimmten Hand-lungsformen. Handlungsformen sind an Regeln gebundene zielgerichtete Handlungssequenzen, die bestimmte kulturell erwünschte oder geforderte Verhaltensweisen ermöglichen oder verlangen (Kiel-hofner 1995).

Abb.06. Die lebensbereichsbezogenen Handlungsbedingungen Handlungsformen bieten einer Person Möglichkeiten zur Bewältigung und Gestaltung der Umwelt. Handlungsformen werden von einer Person übernommen und in der Regel im Rahmen einer kulturell erlaubten Bandbreite ausgeübt. Die Erwartungen der sozialen Umwelt an eine Person, dass sie be-stimmte Handlungsformen in bestimmten Situationen in einer bestimmten Art ausführen soll, kann aber auf einen Menschen auch grossen Druck ausüben. Die Grenzen zwischen Aktivitäten des tägli-

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chen Lebens und Aktivitäten der Arbeit und der Freizeit können vom einzelnen Menschen subjektiv fliessend erlebt werden. Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) Der Bereich Aktivitäten des täglichen Lebens beschreibt Handlungsformen, die der Selbstversorgung und/oder der Versorgung Dritter dienen. Er umfasst alltägliche Handlungsformen vor allem im häusli-chen Umfeld, aber auch in der Öffentlichkeit. Menschen verfügen in der Regel über Wahlmöglichkei-ten, wann, wo, in welchem Umfang und wie oft sie Aktivitäten des täglichen Lebens ausführen. Hand-lungsformen des täglichen Lebens entwickeln sich im Laufe des Lebens von einfachen Teilhandlun-gen hin zu differenzierteren und komplexeren Handlungsformen. Aktivitäten des täglichen Lebens können je nach gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung auch Arbeitscharakter aufweisen. Arbeit/Beruf bzw. Schule/Ausbildung Arbeit/Beruf sind charakterisiert durch das Ausüben bestimmter beruflicher Handlungsformen, die in der Regel die Arbeit bzw. den Beruf definieren. Das Ausüben derartiger Handlungsformen schafft normalerweise die materielle Grundlage für den Lebensunterhalt der Person bzw. der Angehörigen, für die die betreffende Person Verantwortung hat/übernimmt. In vielen Arbeiten/Berufen können Men-schen nur sehr bedingt selber bestimmen, welche Handlungsformen sie wählen. Handlungsspielräu-me in der Arbeit/im Beruf zu haben, kann die Motivation und die Arbeitszufriedenheit der Arbeitenden massiv erhöhen (Schüpbach 1995). Schule und Ausbildung können ebenfalls diesem Bereich zugeordnet werden. Die Schule hilft dem Kinde u.a. bestimmte kulturspezifische Handlungsformen zu entwickeln. In Ausbildungen erwerben Absolventen Handlungsfähigkeit für eine bestimmte Bandbreite von Handlungsformen, die sie an-schliessend ausführen werden. Freizeit/Spiel Dem Bereich Freizeit werden in der Regel diejenigen Handlungsformen zugeschrieben, die nicht den Bereichen "Aktivitäten des täglichen Lebens" und "Arbeit" zugeordnet werden können. Freizeit dient häufig der Erholung von den Erfahrungen und Anforderungen der beiden anderen Lebensbereiche. In der Gestaltung der "freien Zeit" haben Menschen meistens grössere Wahlmöglichkeiten als in den beiden anderen Lebensbereichen. Spiel kann beim Erwachsenen eine Form der Freizeitgestaltung sein. Die Grenzen zwischen Frei-zeit/Spiel und Arbeit können vom einzelnen Menschen subjektiv fliessend erlebt werden. In der Ent-wicklung des Kindes kann Spiel aber auch einen bestimmten schon fast "arbeitsartigen" Charakter be-kommen: In der "Spielarbeit" erwirbt bzw. differenziert das Kind viele Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Grundlage bilden für spätere Lernprozesse in allen Lebensbereichen. 7. Materielle, soziale und kulturelle Voraussetzungen Die materiellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen (Abb.07.) sind auf komplexe Weise mitein-ander vernetzt: sie bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Materielle, soziale, aber auch kulturel-le Voraussetzungen beeinflussen die Handlungsfähigkeit eines Menschen in seinen verschiedenen Lebensbereichen.

Materielle Voraussetzungen Unter materiellen Voraussetzungen werden raum-zeitliche Bedingungen, Gegenstände und Materiali-en, sowie finanzielle Voraussetzungen verstanden. Wichtige handlungsbeeinflussende Faktoren sind: Lichtbedingungen, Geräusche/Lärmemissionen, Belüftung, Materialwiderstand, Temperatur, Qualität des verwendeten Werkzeugs, Beschaffenheit und Stabilität der Arbeitsfläche sowie Gefahrenpotential.

Soziale Voraussetzungen Soziale Voraussetzungen sind bspw. soziale Normen, Forderungen und Erwartungen anderer, Ange-bote von sozialer Unterstützung. Sie können von Personen konkret repräsentiert werden oder als all-gemeingültige Normen und Erwartungen vorhanden sein. Die sozialen Voraussetzungen werden durch die kulturellen beeinflusst.

Kulturelle Voraussetzungen Unter kulturellen Voraussetzungen verstehen wir die Gesamtheit der Gewohnheiten, Einstellungen

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und Einrichtungen, die sich auf Familie, staatliche Gestaltung, Wirtschaft, Arbeit, Ethik, Rechtswesen, Denken, Kunst, Religion u.ä. beziehen. Kulturelle Voraussetzungen sind jeweils an das Leben der Gemeinwesen gebunden, in denen sie verwendet/ausgeübt werden.

Abb.07. Die materiellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen

Das Bieler Modell ergibt eine differenzierte Struktur, um menschliches Handeln - verstanden als Interaktion von Individuum und Umwelt - darzustellen.

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