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Das Buch 17 Friedrich Ischebeck

Das Buch 17 - ivv5hpp.uni-muenster.de · 2 Einleitung 17 ist die siebte Primzahl und die Summe der ersten 4 Primzahlen: 2 + 3 + 5 + 7 = 17. Sie l¨asst sich als 2 22 + 1 schreiben

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Das Buch 17

Friedrich Ischebeck

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2

Einleitung

17

ist die siebte Primzahl und die Summe der ersten 4 Primzahlen: 2 + 3 + 5 + 7 = 17. Sielasst sich als 222

+ 1 schreiben. Dies ist der Grund dafur, dass man ein regelmaßiges 17-Eckmit Zirkel und Lineal konstruieren kann. Der Entdecker dieser Tatsache, Carl FriedrichGauss, wurde im Jahre 1777 geboren. (Er starb 1855.) Ferner ist 17 die Summe von zweiQuadratzahlen (12 + 42), von drei dritten Potenzen (13 + 23 + 23) und von zwei 4. Potenzenganzer Zahlen (14 + 24). Und 17 = 23 + 32 = 34 − 43 sei auch nicht vergessen.

Der eigentliche Grund aber

fur den Titel dieses Buches ist, dass ich mir Dich, liebe Leserin, lieber Leser, als etwa sieb-zehnjahrigen jungen Menschen vorstelle, der sich fur die Mathematik interessiert.

Man konnte dieses Buch also auch als”Geschenk zum 17. Geburtstag eines jungen Menschen

der Mathe mag“ bezeichnen.

Es soll Dir nutzlich sein, wenn Du vielleicht vorhast, einmal Mathematik, oder auch Physik,Informatik oder Ingenieurwissenschaften zu studieren. Es soll Dir vor allem Vergnugen bereiten!Es soll Dir schließlich auch Gelegenheit bieten, Dich an Hand der eingestreuten Fragen undder Ubungsaufgaben aktiv mit der Mathematik zu beschaftigen.

*******

Der (historische) Anfang der Mathematik war die Beschaftigung mit den naturlichen Zahlen0, 1, 2, 3, . . .

und den geometrischen Figuren. Schon daran erkennt man, dass die Mathematik sich nichtjenseits aller Wirklichkeit befindet – obwohl das manch einem so scheinen mag.

Schon fruh erkannte man, dass Geometrie und Zahlen viel miteinander zu tun haben. Abergerade dieser Zusammenhang erzwingt es, mehr Zahlen als nur die naturlichen zu betrachten.Nun kann man zur Not sagen:

”die Strecke a verhalt sich zu einem Meter (Elle, Fuß) wie 3 zu

5“, statt”a ist 3/5 Meter (Elle, Fuß) lang“ und auf diese Weise den Gebrauch der rationalen

Zahlen vermeiden. Aber ist das wirklich erstrebenswert?

Auch die rationalen Zahlen, d.h. die Bruche mit ganzem Zahler und ganzem Nenner, reichen(zumindest dem Theoretiker) nicht aus. Z.B. kann man die Lange der Diagonale eines Quadratesim Verhaltnis zu einer Seite nicht (absolut genau) als rationale Zahl angeben. Man kann dieses

Verhaltnis nur ungefahr als14

10, besser als

141

100, noch besser als

1414

1000usw. angeben, wobei das

”usw.“ genauer zu erlautern ware.

Da scheint es doch griffiger zu sagen”die Diagonale ist

√2-mal so lang wie die Seite“ und dann

eine Methode anzugeben, wie man√

2 durch rationale Zahlen approximieren kann.

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Nun ist√

2 zwar keine rationale, aber eine reelle Zahl, und so steht es auch mit π und vielenanderen Zahlen. Uber den Begriff ‘reelle Zahl’ muss und will ich Dir in diesem Buch auch einigesmitteilen.

Will man die Punkte einer Ebene (bzw. des Raumes) durch 2 (bzw. 3) Koordinaten beschreiben,so kommt man offenbar ohne negative Zahlen nicht aus. Du siehst, die Betrachtung desRechenbereichs aller reellen Zahlen wird durch die Geometrie mehr oder weniger erzwungen.

Die Zahlen sind nicht nur zum Zahlen und messen, sondern auch zum Rechnen da. Z.B. kannman durch Rechnen das Zahlen vereinfachen. Wenn etwa eine Partei im ersten Wahlbezirk 312,im zweiten 298 und im dritten 99 Stimmen gewonnen hat, so wird man in der Wahlzentralediese Anzahlen addieren, statt die betreffenden Stimmzettel anliefern zu lassen, sie zusammenzu werfen und dann zu zahlen. Du wirst keine Probleme haben, die drei genannten Zahlen‘schriftlich’ zu addieren. Aber versuche das einmal, wenn die Zahlen in romischer Schreibweisegegeben sind: CCCXII, CCXCVIII, IC. Dies zeigt die Uberlegenheit des uns gelaufigen Dezi-malsystems. (Im Altertum hat man mit der mechanischen Rechenmaschine ‘Abakus’ praktischeine Ubertragung der romischen oder griechischen Zahlenschreibweise in das Dezimalsystemvorgenommen!)

Wenn man akzeptiert, dass es beispielsweise auf dieselbe Zahl hinauslauft, ob man die 312und die 298 und die 99 Wahlzettel zusammenwirft und dann zahlt, oder ob man diese Zahlenin beliebiger Reihenfolge addiert, dann akzeptiert man damit auch das Assoziativ- und dasKommutativgesetz der Addition,

a+ (b+ c) = (a+ b) + c, bzw. a+ b = b+ a

(Du kannst Dir daruber weitergehende Gedanken machen – musst es aber nicht. Dahintersteckt schließlich die Einsicht, dass man beim Zahlen einer endlichen Menge von Gegenstandenunabhangig von der Reihenfolge immer zum selben Ergebnis kommt. Die meisten Menschenwerden das in keiner Weise bezweifeln.)

Dem Dezimalsystem liegt die Grundzahl Zehn zugrunde. Dabei ist die Zehn naturlich nichtdie einzig mogliche, aber auch nicht die schlechteste Wahl, jedenfalls, was die Praxis desRechnens betrifft. Die kleinstmogliche Grundzahl 2 (mit den einzigen Ziffern 0 und 1) ist zwarfur Computer am geeignetsten, aber vielleicht nicht fur den Menschen. Wir sprechen vomBinarsystem oder von der Binarschreibweise, wenn wir von der Grundzahl Zwei ausgehen.

Die Multiplikation naturlicher Zahlen kann man als iterierte Addition definieren. Obwohlman sie demnach auf die Addition zuruckfuhren kann, ist es aber sinnvoll, sie als eigenstandigeRechenart anzuerkennen. Warum und wie ich das meine, erlautere ich jetzt mit vier Argumen-ten.

1. Die – wie gesehen – nutzliche Dezimal-Darstellung naturlicher Zahlen benutzt implizit dieMultiplikation: 3024 = 3 · 10 · 10 · 10 + 0 · 10 · 10 + 2 · 10 + 4. (In den Summanden braucht manauf Grund der Assoziativitat der Multiplikation keine Klammern zu schreiben. Ferner habenwir die gelaufige Konvention ‘Punktrechnung vor Strichrechnung’ genutzt.) Beim schriftlichenAddieren benutzt man implizit die Distributivitat, a(b + c) = ab + ac, also eine Regel, in derneben der Addition die Multiplikation eine Rolle spielt.

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2. Man berechnet z.B. das Produkt 127·344 sicher nicht, indem man 127 mal 344 zu sich selbstaddiert, sondern schneller auf andere Weise, namlich so wie Du das ‘schriftliche Multiplizieren’auf der Schule gelernt hast. Wieder erkennt man die Nutzlichkeit des Dezimalsystems, bzw. desBinarsystems fur Computer.

3. Es gilt – wie Du vielleicht weißt, aber auch ziemlich bald in diesem Buch lernen wirst – dieFormel:

1 + 2 + 3 + · · ·+ n =n(n+ 1)

2

Fur nicht zu kleine n ist sicher die rechte Seite dieser Identitat schneller zu berechnen als dielinke, obwohl man rechts nicht nur multiplizieren sondern auch noch dividieren muss. Und diesist naturlich nur eines unter vielen Beispielen.

4. Es ist nicht schwer, die Multiplikation naturlicher Zahlen sinnvoll auf die rationalen Zahlen‘auszudehnen’, wo man sie nicht mehr als iterierte Addition auffassen kann.

Oben habe ich bereits erlautert, wieso die Grundgesetze der Addition, namlich die Assoziativitatund Kommutativitat eigentlich selbstverstandlich sind. Wie steht es um die entsprechendenGesetze fur die Multiplikation? Wenn man das Produkt m · n zweier naturlicher Zahlen alsSumme von m Summanden der Große n definiert, ist es nicht von vorneherein klar, dass beider Addition von n Summanden der Große m dasselbe herauskommt, d.h. ob m · n = n ·m ist.

Wenn Du aber sagst, m · n ist die Anzahl der Apfelsinen, die in m Reihen zu je n Stuckangeordnet ist, wie in folgendem Bild, so wird das Gesetz m · n = n ·m augenscheinlich.

• • • •• • • •• • • •• • • •• • • •

Wie wurdest Du Dir das Distributivgesetz a(b+ c) = ab+ ac fur naturliche Zahlen anschaulichklarmachen?

Fur Potenzen gilt weder die Kommutativitat, noch die Assoziativitat. Es ist ja 23 6= 32, sowie2(32) 6= (23)2.

Wunderbarer Weise kann man die Addition und die Multiplikation auf die rationalen Zahlen,d.h. positive oder negative Bruche, ausdehnen, und es bleiben sogar dieselben Rechengesetzeerhalten.

Fasst man die rationalen Zahlen als Großen auf, ist eigentlich klar, wie man zwei solche zuaddieren hat. (S.u.)

Das Produkt zweier Bruche entspricht geometrisch der Flachengroße des Rechtecks mit denSeitenlangen, die den Bruchen entsprechen. (S.u.)

Warum mussen wir Mathematiker – und mit diesem Wort sind im ganzen Buch alle Mathema-tikerinnen herzlich mitgemeint – die Bruchrechnung beherrschen? Das Addieren von Bruchen

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ist schwerfallig. Ebenso ist es muhsam von zwei gegebenen Bruchen zu erkennen, welcher vonbeiden der großere ist. Vergleiche z.B. 99/101 mit 98/100. (Es ware schon, wenn Du dabei auchein Gesetz erkennen konntest!) Der Praktiker ist sicher gut beraten, abbrechende Dezimal-bruche zu benutzen – wenn auch mit einiger Vorsicht. Der Mathematiker sollte jedoch auch dieHintergrunde verstehen. Außerdem rechnet man mit Bruchen von Termen (etwa (sinα)/(c+b))genauso wie mit Bruchen von ganzen Zahlen.

Die Bruchrechnung wird an der Schule in der 6. oder 7. Klasse erlernt – und spater von vielenvergessen. (Dazu tragen leider auch die an sich nutzlichen Taschenrechner bei, die selber mitBruchen umgehen konnen und so den Schulern das muhsame Addieren von Bruchen ersparen!)Das Rechnen mit konkreten Bruchen kann aber lehren, wie wichtig es ist, dass man nicht einfachalles durcheinander wirft. Man muss unbedingt falsche Analogien vermeiden! Z.B. gilt zwar dieRegel

a

c+b

c=a+ b

c, aber keinesfalls allgemein

c

a+c

b=

c

a+ b

wie man etwa an der Identitat1

2+

1

2= 1

sieht, die niemand bezweifeln wird, auch diejenigen nicht, welche die Bruchrechnung noch nichtgelernt oder wieder vergessen haben.

Da gute Mathematiker sich u.a. dadurch auszeichnen, dass sie falsche Analogien vermeiden(und richtige Analogien nutzen!), erscheint mir die Beobachtung erklarlich, dass Studierende,die zu Anfang ihres Studiums die Bruchrechnung beherrschen, am Ende meist einen gutenStudienerfolg in der Mathematik erreichen.

Ein Abiturient oder eine Abiturientin, die nicht mehr genau weiß, wie man mit Bruchen rechnethat, kann dennoch mit Erfolg Mathematik studieren. Man kann im Mathematikstudium imPrinzip alles Vergessene nachholen. Man muss es allerdings auch wollen und tun!

Du kannst allerdings nicht erfolgreich Mathematik studieren, ohne an diesem FachInteresse und Freude zu haben! Ich bilde mir nicht ein, einen Menschen, der Mathematikuninteressant oder gar atzend findet, vom Gegenteil uberzeugen zu konnen. Fur einen solchenist dieses Buch nicht gedacht.

Dezimalzahlen. Rationale Zahlen, d.h. Bruche kann man als Dezimalzahlen schreiben.

Zum Beispiel36

25= 1,44. Meist kommt man nicht mit endlich vielen Nachkommeziffern aus.

Zum Beispiel1

3= 0,3 = 0,333 . . . wo nach dem Komma unendlich viele 3-en folgen; oder

45

44= 1,0227 = 1,02272727 . . . wo nach 1,02 unendlich oft das Ziffernpaar 27 folgt.

Wenn man eine rationale Zahl als Dezimalzahl schreibt, ergibt sich immer ab einer gewissenStelle eine Periode. Im ersten Beispiel ist dies die Periode 0, im zweiten die Periode 3, imdritten die Periode 27. (Der Fall, wo die Dezimalzahl abbricht, d.h. auf die Periode 0 endet,tritt genau dann ein, wenn der Nenner des gekurzten Bruches die Form 2m5n mit naturlicheZahlen m,n hat. Das liegt naturlich daran, dass 2 und 5 die Primfaktoren von 10 sind.)

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Umgekehrt kann man jede Dezimalzahl, die von einer Stelle an periodisch ist, als Bruch ganzerZahlen schreiben.

Nun gibt es allerdings ‘Zahlen’, wie etwa√

2, die wir auf jeden Fall als Zahlen betrachten wollen,und die man auch als Dezimalzahlen ‘schreiben’, kann. Diese haben keine Periode! Aber mankann theoretisch fur jede naturliche Zahl n mit genugend ‘Fleiß’ die ersten n Ziffern von

√2, π

etc. berechnen. Alle Zahlen, die man als Dezimalzahlen schreiben kann, nennt man die reellenZahlen. (Naturlich durfen sie auch negativ sein.)

Im 2. Kapitel werden Rechenbereiche von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachtet. Undes werden Beispiele gegeben, die Dir vielleicht sehr exotisch vorkommen. Dieses Kapitel zulesen, wird Dir vielleicht nicht so leicht fallen. Es lohnt sich aber! Naturlich darfst Du seineLekture auf spater verschieben.

Mengen und Abbildungen sind Begriffe der modernen Mathematik, denen Du in einemMathematik- und Informatikstudium nicht entgehen kannst. Das entsprechende Kapitel istvielleicht schwer zu lesen, weil es so abstrakt ist. Es mag aber auch sein, dass Du es als sehrleicht zu lesen empfindest, da in ihm alle Schlusse eher simpel sind.

Geometrie. Auch der Geometrie ist ein Kapitel dieses Buches gewidmet. Dort setze ich aller-dings noch mehr als sonst voraus, dass Du ordentliche Kenntnisse aus der Schule mitbringst.

Das Problem der Grundlagen ist fur die Geometrie schwieriger als fur die Zahlen. Welchen Sinnhat es, bevorzugt die sogenannte Euklidische Geometrie zu behandeln, obwohl diese, wir manheute weiß, nicht richtig ist, wenn man Lichtstrahlen (im Vakuum) als Geraden betrachtet? DieAntwort, dass die Euklidische Geometrie keinen Sinn habe, kann man mit Fug bezweifeln.

In diesem Kapitel sollen insbesondere die Kreisfunktionen (Sinus, Cosinus) geometrisch erklartwerden, die zu den wichtigsten Funktionen der Analysis und auch der Physik gehoren.

Obwohl somit mein Hauptanliegen nicht die klassische Dreiecksgeometrie ist, mochte ich es mirnicht versagen, ihre schonen Satze uber die Eulergerade, den Feuerbachkreis und das Morley-dreieck zu beweisen, die erst im 18. und 19. Jahrhundert gefunden wurden.

Analysis: Die Differenzial-und Integralrechnung betrachtet Funktionen vom geometrischenoder auch dynamischen Standpunkt aus. Du wirst vieles vom Schulunterricht her wissen, viel-leicht aber auch neue Gesichtspunkte kennenlernen.

Komplexe Zahlen. Es gibt mehrere Grunde, warum die komplexen Zahlen aus der modernenMathematik nicht mehr wegzudenken sind. Im Kapitel uber komplexe Zahlen will ich versuchen,dies zu erlautern. Komplexe Zahlen lassen sich in der Form a + bi schreiben, wobei a, b reelleZahlen sind, wahrend i eine neue Zahl mit der merkwurdigen Eigenschaft i2 = −1 ist. Diereellen Zahlen werden als spezielle komplexe Zahlen aufgefasst, namlich als diejenigen a + bi,wo b = 0 ist. Die Addition komplexer Zahlen ist naheliegend, wahrend man die Multiplikationnach meinem Gefuhl nur auf geometrische Weise wirklich verstehen kann. Eine der wichtigstenEigenschaft des Rechenbereichs der komplexen Zahlen ist der Fundamentalsatz der Algebra,der besagt, dass jedes (nicht konstante) Polynom mit komplexen Koeffizienten mindestens einekomplexe Nullstelle hat. Beachte, dass z.B. das Polynom x4−4x3+6x3−3x2+2 = (x−1)4+x2+1keine reelle Nullstelle hat. Die Gultigkeit des Fundamentalsatzes der Algebra wird in diesemBuch zumindest plausibel gemacht.

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Zur gedanklichen Prazision in der Analysis und der Geometrie. Wenn eine Funk-tion zwischen zwei x-Werten a und b uberall definiert und stetig ist und wenn ferner f(a) < 0und f(b) > 0 ist, so hat sie zwischen a und b irgendwo (mindestens) eine Nullstelle. Dieser Satzhat den Namen Zwischenwertsatz und wird gemeinhin im ersten Semester des Mathematikstu-diums bewiesen. Ich hoffe, Du bist mir nicht bose, wenn ich ihn in diesem Buch als anschaulichselbstverstandlich ansehe. Und das ist nur ein Beispiel! Versteh mich richtig. Ich bin nicht derMeinung, dass die prazisen Beweise der modernen Analysis uberfussig waren. Aber ich will jakein Buch fur Erstsemester schreiben. Nicht ganz leichten Herzens opfere ich einen Teil dergedanklichen Prazision, die die moderne Analysis erreicht hat, dem Ziel und hoffentlich auchDeinem Wunsch, schneller zu Ergebnissen zu kommen, die Du nicht eh schon glaubst. Ich werdemir an mehreren Stellen erlauben, mich anschaulicher Schlusse zu bedienen. Dasselbe gilt erstrecht fur die klassische Geometrie, fur die Du in den Buchern von Hilbert oder Lorenzenzwei grundsatzlich verschiedene Weisen der Prazisierung finden kannst.

Zum Schluss die Frage: Was hat die Mathematik mit der Wirklichkeit zu tun und was nutztsie?

Nach meiner Uberzeugung ist die Mathematik eine Wissenschaft, die sich auf die Wirklichkeitbezieht und sich mit ihr beschaftigt. Ihr Nutzen fur die moderne technisierte Welt ist unbe-streitbar. (Die Frage, ob wir ohne Autos, Handis und Supermarktkassen nicht glucklicher waren,kann und will ich nicht beantworten.)

Da heißt nicht, dass es nicht auch prominente Ergebnisse der Mathematik gabe, die wahrschein-lich auch in weiter Zukunft keinen volkswirtschaftlichen Nutzen bringen werden. Der beruhmteSatz, dass fur n > 2 die Summe zweier n-ter Potenzen positiver ganzer Zahlen selbst keinen-te Potenz ganzer Zahlen ist – vermutet (?) von Fermat im 17., bewiesen von Wiles im 20.Jahrhundert – gehort wohl dazu.

Man kann zwei extreme Positionen einnehmen:

1. Die Mathematik hat nur einen Wert, soweit sie sich anwenden lasst. Schon aus ethischenGrunden kann ich es nicht vertreten, mich fur ein ‘Glasperlenspiel’ von der Gesellschaft bezahlenzu lassen.

2. Ich befasse mich mit der Mathematik nur um ihrer Schonheit willen. Schließlich ist sie einegroßartige Kulturleistung. Anwendungen ziehen sie nur herab.

In meiner Jugend neigte ich der 2. Position zu – und habe andererseits manchmal wegen dieserMeinung ein schlechtes Gewissen gehabt.

Heute ist mir klar: Es gibt nicht den geringsten Grund, eine dieser beiden Extrempositioneneinzunehmen. Betreibe die Mathematik mit Freude sowohl an ihrer Schonheit, als auch an ihrenAnwendungen, und suche Dir den Bereich aus, der Deinem Bedurfnis nach Wirklichkeitsnaheoder -ferne am nachsten kommt.

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Es ist ja moglich, dass der eine oder andere Punkt in dem Buch Dir einfach nicht klar werdenwill oder dass die eine oder andere Aufgabe Dir vollig unlosbar erscheint. Nachdem Du dasBuch dann wutend in die Ecke geschmissen hast, hol es bitte wieder hervor und lies an eineranderen Stelle weiter. Auch das Verstehen von Mathematik und das Losen mathematischerAufgaben kann man trainieren.

Vielleicht fallt Dir z.B. im Kapitel uber Ringe und Korper manches sehr schwer, wahrend Dirim Kapitel Differenzial- und Integralrechnung vieles bekannt erscheint.

Mir liegt nicht daran, Dich mit besonders schwierigen Dingen und Aufgaben zu argern. Mancheschonen und interessanten Ergebnisse sind aber nun mal nicht so leicht zu haben. Deshalb freutmich ungemein, wenn es Dir gelingt, auftauchende Schwierigkeiten zu uberwinden.

Hier fur Nachfragen meine elektronische Adresse: [email protected]

Manchmal benutze ich verschiedene Schreibweisen fur dasselbe:

ab

=a

b= a/b ,

∑nk=1 ak =

n∑k=1

ak , limn→∞ an = limn→∞

an .

Mit , gelegentlich auch mit – bezeichne ich das Ende eines Beweises.

Das griechische Alphabet

A,α alpha, B, β beta, Γ, γ gamma, ∆, δ delta, E, ε epsilon, Z, ζ zeta, H, η eta, Θ, ϑtheta, I, ι iota, K,κ kappa, Λ, λ lambda, M,µ my, N, ν ny, Ξ, ξ xi, O, o omikron, Π, πpi, P, ρ rho, Σ, σ sigma, T, τ tau, Υ, υ ypsilon, Φ, ϕ phi, X,χ chi, Ψ, ψ psi, Ω, ω omega.

Unterscheide ζ von ξ.

Manchmal, aber nicht in diesem Buch, werden an Stelle von ε, ϑ, ϕ die Bezeichnungen ε, θ, φbenutzt.

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Kapitel 1

Vom Zahlen, Rechnen und Vergleichen

1.1 Die naturlichen Zahlen

0, 1, 2, 3, 4, 5, . . .

”Die naturlichen Zahlen hat der liebe Gott gemacht.“ (Kronecker)

Na, daruber will ich lieber nicht spekulieren. Aber, wozu sie gut sind, ist wohl klar. Man kannjemandem mitteilen, wieviele Schafe man hat (etwa um sie zu verkaufen), ohne ihm die Herdezeigen zu mussen. Man kann auch ihre Zahl notieren und im kommenden Jahr feststellen,wieviel Zuwachs, bzw. Verlust man gemacht hat. Usw.

Naturliche Zahlen sind Symbole zum Zahlen, zum Vergleichen und zum Rechnen.

Auch wenn man mit dem Zahlen meist mit der 1 beginnt, ist es doch moglich, dass ein Ein-wohner Munsters, wie z.B. ich, gar kein Schaf besitzt und dies auf einer Liste aller BewohnerMunsters dadurch angegeben wird, dass man eine 0 in die entsprechende Spalte eintragt. Die0 ist auch eine Anzahl, weshalb ich sie zu den naturlichen Zahlen rechne. (Etwa die Halfte derMathematiker sieht das allerdings anders.)

Notation: Die Gesamtheit aller naturlichen Zahlen – einschließlich der 0 – bezeichne ich mit N.Eine solche Gesamtheit mathematischer Objekte wird gemeinhin als eine Menge bezeichnet.Man redet somit von der Menge der naturlichen (ganzen, rationalen) Zahlen. Die Notationa ∈ N soll ausdrucken, dass a zur Menge der naturlichen Zahlen gehort, d.h. eine naturlicheZahl ist. (Die Menge der von Null verschiedenen naturlichen Zahlen bezeichne ich mit N1. Diesist der einzige Punkt, wo ich mich nicht einer allgemein gebrauchlichen Notation bediene. Esgibt fur N1 auch die Bezeichnung J.)

1.1.1 Wahrend die Regeln a + b = b + a und a + (b + c) = (a + b) + c nach der alltaglichenBedeutung der Addition in N selbstverstandlich sind oder zumindest erscheinen, kann man sichfragen: Ist die Regel a · b = b · a fur naturliche Zahlen eigentlich auch so selbstverstandlich?Dass 3 · 7 = 7 + 7 + 7 dasselbe ergibt, wie 7 · 3 = 3 + 3 + 3 + 3 + 3 + 3 + 3, kann man leichtnachrechnen. Aber das konnte ja Zufall sein.

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10 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

Fur Potenzen ist die Sache jedenfalls komplizierter. Es ist zwar 24 = 16 = 42, aber 73 = 7·7·7 =343 und 37 = 3·3·3·3·3·3·3 = 2187. (Ich weiß nicht, ob man sich bei der Identitat (3+4)3 = 343irgendetwas denken soll. Ich glaube, eher nicht.)

Die Frage, wieso eigentlich a · b = b · a fur naturliche Zahlen gilt, habe ich bereits in derEinleitung beantwortet

(Einen formalen Beweis, der von einem Axiomensystem fur die naturlichen Zahlen ausgeht, gibtes naturlich auch.)

Die (nicht allzu wichtige) Frage, fur welche positiven reellen Zahlen a, b mit a 6= b die Gleichungab = ba gilt, wird in diesem Buch in 7.6 behandelt. Dazu musst Du ja wissen, was reelle Zahlen sind,und was man unter ab fur positive reelle Zahlen a, b versteht. Aber naturlich darfst Du schon mal indiesem Abschnitt nachlesen.

1.1.2 Zumindest ebenso wichtig wie das Gesetz der Kommutativitat (ab = ba) ist das Ge-setz der Assoziativitat der Multiplikation naturlicher Zahlen: (ab)c = a(bc). Kannst Du Dirseine Gultigkeit geometrisch (im dreidimensionalen Raum) veranschaulichen? (Auch die As-soziativitat gilt nicht fur Potenzen? Vergleiche (102)3 mit 1023

, und beachte dabei, dass nachallgemein gebrauchlicher Konvention 1023

= 10(23) definiert ist.)

1.1.3 Das Gesetz, das den Zusammenhang zwischen Addition und Multiplikation beshreibt,ist das Gesetz der Distributivitat (m+n)k = mk+nk. (In der letzten Regel ist naturlich dieKonvention

”Punktrechnung geht vor Strichrechnung“ anzuwenden; d.h. mk + nk =

(mk) + (nk).) Zusammen mit der Festlegung 1k = k definiert das Distributivitatsgesetz sozu-sagen die Multiplikation naturlicher Zahlen. Nicht wahr? (Aufgrund der Distributivitat ist ja(1 + · · ·+ 1)k = 1 · k + · · ·+ 1 · k mit gleichvielen Summanden links und rechts.)

Auch dieses Gesetz kannst Du Dir anschaulich klar machen.

• • • •• • • •

• • • •• • • •• • • •

Naturlich sieht man es auch so:

mk + nk = k + . . .+ k︸ ︷︷ ︸m

+ k + . . .+ k︸ ︷︷ ︸n

= k + . . .+ k︸ ︷︷ ︸m+n

1.1.4 Die grundlegenden Gesetze der Addition und Multiplikation im Bereich der naturlichenZahlen fassen wir noch mal zusammen:

(1)

m+ n = n+m mn = nm Kommutativitatk + (m+ n) = (k +m) + n k(mn) = (km)n Assoziativitat(m+ n)k = mk + nk Distributivitat

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1.1. DIE NATURLICHEN ZAHLEN 11

Beachte, dass das Distributivitatsgesetz die Addition und die Multiplikation vollkommen un-terschiedlich behandelt und dass eine Unregel entstunde, wollte man die Addition mit derMultiplikation vertauschen: Meist ist mn+ k 6= (m+ k)(n+ k).

Die Assoziativitat der Addition (bzw. Multiplikation) bedeutet, dass man in einer langerenSumme (bzw. Produkt) keine Klammern benotigt, um anzuzeigen, welche Addition (bzw. Mul-tiplikation) man vor welcher auszufuhren hat. Z.B. ist (ab)(cd) = (a(bc))d etc. Klammernbenotigt man erst, wenn Summen und Produkte gemeinsam in einer Formel vorkommen.

Da zusatzlich die Kommutativitat gilt, kann man die Summanden, bzw. Faktoren in beliebigeReihenfolge bringen, ohne dass sich an der Summe, bzw. dem Produkt etwas andert. Z.B. istabcd = cadb.

Im nachsten Kapitel wirst Du Rechenbereiche kennenlernen, wo die Multiplikation zwar asso-ziativ, aber nicht kommutativ ist.

Aus dem Distributivitatsgesetz, sowie der Kommutativitat und Assoziativitat der Addition undMultiplikation kannst Du folgern, dass (a0 + a1 + · · ·+ am)(b0 + b1 + · · ·+ bn) gleich der Summeuber folgende Produkte (in beliebiger Reihenfolge) ist

a0b0 a0b1 a0b2 a0b3 a0b4 a0b5 · · · a0bna1b0 a1b1 a1b2 a1b3 a1b4 a1b5 · · · a1bna2b0 a2b1 a2b2 a2b3 a2b4 a2b5 · · · a2bna3b0 a3b1 a3b2 a3b3 a3b4 a3b5 · · · a3bna4b0 a4b1 a4b2 a4b3 a4b4 a4b5 · · · a4bna5b0 a5b1 a5b2 a5b3 a5b4 a5b5 · · · a5bn

......

......

......

. . ....

amb0 amb1 amb2 amb3 amb4 amb5 · · · ambn

Merke Dir dieses Schema und erinnere Dich daran, wenn es im Abschnitt 4.5 um Produkteunendlicher Summen geht!

1.1.5 Die Zahlen 0 und 1 spielen fur die Addition, bzw. Multiplikation eine Sonderrolle:

(2) 0 + n = n , 1n = n

Man nennt die 0 ein neutrales Element fur die Addition und die 1 ein solches fur die Multi-plikation.

1.1.6 Du kennst sicher bereits großere Zahlbereiche als den der naturlichen Zahlen, namlichden der ganzen, den der rationalen und den der reellen Zahlen. In allen diesen gelten die Gesetze(1) aus 1.1.4, und auch dort sind die Zahlen 0, bzw. 1 die neutralen Elemente fur die Addition,bzw. die Multiplikation.

1.1.7 Man kann naturliche Zahlen der Große nach vergleichen. Genau dann gilt a ≤ b in N,wenn es ein a′ ∈ N gibt mit a+a′ = b. Fur die Relation ‘≤’ in N gelten folgende grundlegendenRegeln:

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12 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

a ≤ a;a ≤ b, b ≤ c⇒ a ≤ c;a ≤ b, b ≤ a⇒ a = b;fur je zwei naturliche Zahlen a, b ist a ≤ b oder b ≤ a.

a ≤ b⇒ a+ c ≤ b+ c;a ≤ b⇒ ac ≤ bc.

Beachte, dass fur eine negative Zahl c (die es in N nicht gibt) die letzte Regel falsch ist.

Ausgehend von ‘≤’ kann man ‘<’ durch

a < b ⇐⇒ a ≤ b und a 6= b

definieren. (Um deutlich zu machen, dass a < b durch [a ≤ b und a 6= b] definiert werden soll,schreibt man auch einen Doppelpunkt vor das Zeichen ⇐⇒ , also a < b :⇐⇒[a ≤ b und a 6= b]. Hier, wie oben sind die Klammern [, ] logische Klammern.)

Naturlich soll a > b dasselbe wie b < a bedeuten und a ≥ b dasselbe wie b ≤ a.

Was bedeuten die Zeichen ‘=⇒’ und ‘⇐⇒ ’?

Fur zwei Aussagen A,B bedeutet A =⇒ B eine der folgenden untereinander aqui-valenten Aussagen:

”wenn A gilt, dann gilt auch B“

”aus A folgt B“

”A ist eine hinreichende Bedingung fur B“

”B ist eine notwendige Bedingung fur A“

Man sagt dazu auch:”A impliziert B“.

Die Aussage A ⇐⇒ B bedeutet, dass sowohl A =⇒ B als auch B =⇒ A erfulltist. Man sagt in diesem Fall auch: A gilt genau dann (dann und nur dann), wenn Bgilt. Ebenso sagt man in diesem Fall auch: Die Aussagen A und B sind aquivalent.

Haufig wird =⇒ mit ⇐⇒ verwechselt!

Betrachte die Aussagen:Wenn heute Fronleichnam ist, ist heute Donnerstag.Bzw. Wenn heute Donnerstag ist, ist heute Fronleichnam.

Kein Mensch wird auf die Idee kommen, dass aus dem ersten dieser beiden Satze der zweitefolgt, da ja jeder weiß, dass es viele Donnerstage gibt, an denen nicht Fronleichnam ist.

Aber in der Mathematik sind die Verhaltnisse oft weniger leicht zu durchschauen. Angenommen,Du hast folgenden (richtigen) Satz bewiesen: Wenn eine differenzierbare Funktion f (auf einemoffenen Intervall) im Punkt x0 einen (lokalen) Extremwert hat, so ist f ′(x0) = 0.Vielleicht mochtest Du daraus schließen: Wenn f ′(x0) = 0 ist, so hat f in x0 einen Extremwert.Das ware aber ein falscher Schluss, wie Du an dem Beispiel f(x) = x3 mit x0 = 0 siehst.

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1.2. PRIMZAHLEN 13

Dieses Beispiel springt aber nicht von selbst ins Auge, wie das der Donnerstage, an denen nichtFronleichnam ist.

Du darfst nie meinen, mit A⇒ B hattest Du auch B ⇒ A gezeigt.

1.1.8 Hat man endlich viele naturliche (auch ganze, rationale oder reelle) Zahlen a1, a2, . . . , an

(mit n > 0) vorgegeben, so gibt es unter diesen eine kleinste und eine großte. Das ist Dirvermutlich klar. (Ein formaler Beweis wurde mit vollstandiger Induktion, die spater behandeltwird, argumentieren.)

Daruber hinaus gilt folgende Aussage: Ist M irgendeine Menge naturlicher Zahlen, die auch ausunendlich vielen Zahlen bestehen darf und mindestens eine Zahl enthalt, so gibt es unter denZahlen aus M eine kleinste. Ist namlich a eine Zahl aus M , so gibt es hochstens a+1 naturlicheZahlen aus M , die ≤ a sind. Die kleinste unter diesen ist auch die kleinste Zahl von M .

Beispiel: Die kleinste Zahl aus der Menge derjenigen naturlichen Zahlen, die nicht als Summevon drei Quadraten naturlicher Zahlen geschrieben werden konnen, ist die 7. (02 ist dabei alsQuadrat der naturlichen Zahl 0 zugelassen.)

1.1.9 Erstaunlicher Weise gibt es uber die naturlichen Zahlen eine reichhaltige Theorie, dieso genannte Zahlentheorie. Einer ihrer wundervollen Satze ist, dass jede naturliche Zahl sichals Summe von 4 Quadratzahlen schreiben lasst. Z.B. ist 103 = 12 + 22 + 72 + 72 und 3 =02 + 12 + 12 + 12. Schreibe 63 als Summe von 4 Quadraten.

Noch erstaunlicher ist vielleicht die Tatsache, dass es Anwendungen der Zahlentheorie fur dieGeschaftswelt gibt. Die besten Verschlusselungen von Zahlen oder Texten beruhen auf (einfa-chen) zahlentheoretischen Erkenntnissen. Am Schluss dieses Buches, will ich Dir hieruber etwaserzahlen.

1.2 Primzahlen

1.2.1 Frage: Gibt es (vielleicht sehr große) naturliche Zahlen m,n > 0, derart, dass 18m = 20n

ist?

Damit Du diese Frage beantworten kannst, will ich ein wenig auf die so genannten Primzahleneingehen.

Eine Primzahl ist eine naturliche Zahl > 1, die sich nur auf triviale Weise als Produkt zweiernaturlicher Zahlen darstellen lasst, d.h. wo einer der Faktoren 1 ist.

Primzahlen sind: 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, . . . Achtung: 2 ist eine Primzahl, 1 nicht!

Es gelten folgende zwei Aussagen:

1. Jede naturliche Zahl > 1 ist ein Produkt von Primzahlen, wobei auch Produkte von nureinem Faktor zugelassen sind.

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14 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

Z.B. 24 = 2 · 2 · 2 · 3, 25 = 5 · 5, 23 = 23. (Sahe man 2 nicht als Primzahl an, wie konnte man24 in Primfaktoren zerlegen?)

2. Die Zerlegung einer naturlichen Zahl > 1 in Primfaktoren ist bis auf deren Reihenfolgeeindeutig. (Beachte: Wenn man die 1 als eine Primzahl ansahe, ware diese Aussage falsch!Es ist 6 = 2 · 3 = 1 · 2 · 3 = 1 · 1 · 2 · 3 usw.)

Z.B. Seien m,n naturliche Zahlen 6= 0 so ist immer 17m 6= 19n. Zeige das Entsprechende fur18m und 20n.

Ich vermag jedem zuzustimmen, der die Aussage 1. fur selbstverstandlich halt. Bei der Aussage2. fallt mir das schon schwerer. Z.B. halte ich es gar nicht fur selbstverstandlich, dass fur von0 verschiedene naturliche Zahlen m,n immer 17m 6= 19n ist.

Ein weiteres Argument dafur, dass die Aussage 2. eines Beweises bedarf, erhalt man, wenn manProdukt-Zerlegungen nur im Bereich der naturlichen Zahlen n ≥ 3 betrachtet. Weder 4 noch 8lassen sich zerlegen, wenn man den Faktor 2 nicht zulasst. Sie sind also in diesem Teilbereichder naturlichen Zahlen unzerlegbar, sozusagen (in diesem Bereich) ‘Primzahlen’. Fur diese giltaber 4 · 4 · 4 = 8 · 8.

Ich gebe im Folgenden einen Beweis der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung, d.h. der Aussage2. Er ist fast wortlich derjenige, den Gauß in seinen Disquisitiones Arithmeticae gegeben hat.Ich glaube, dass ein junger Mensch mit geringen Grundkenntnissen keinen verstandlicherenBeweis finden wird.

Beweis der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung nach Gauß.

Erinnere dich an die sogenannte Division mit Rest, z.B.

16 : 6 = 2 Rest 4

Uberraschender Weise spielt diese eine große Rolle in der Mathematik. Wir wollen allerdingsdie angegebene ‘Gleichung’ (deren rechte Seite eigentlich keinen Sinn hat) folgendermaßen alsechte Gleichung schreiben

16 = 2 · 6 + 4 (oder auch 16− 2 · 6 = 4)

Allgemein gibt es zu je zwei naturlichen Zahlen a, b mit b 6= 0 weitere naturliche Zahlen q, r(denke an Quotient und Rest), so dass zweierlei gilt

a = qb+ r und 0 ≤ r < b .

Wenn Du dies genauer einsehen (und nicht einfach Deiner Rechenerfahrung entnehmen) willst,kannst Du nacheinander die immer kleiner werdenden Zahlen

a− 0 · b, a− 1 · b, a− 2 · b, . . .

betrachten. Die erste Zahl q fur die a− qb < b ist, ist das gesuchte q, und r = a− qb ist danndas gesuchte r. Du wirst bald einen Beweis mit Hilfe der sogenannten vollstandigen Induktionkennen lernen.

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1.2. PRIMZAHLEN 15

Lemma 1.2.2 Seien p eine Primzahl und a, b von 0 verschiedene naturliche Zahlen, die kleinerals p sind. Dann kann p kein Teiler von ab sein.

(Die Bezeichnung ‘Lemma’ wird meist im Sinne von ‘Hilfssatz’ benutzt.) (Beachte dass dieVoraussetzung a, b < p die Beziehung ab > p nicht ausschließt. Es ist ja 2 · 3 > 5.)

Beweis: Angenommen p ware ein Teiler von ab. D.h. b gehorte zur Menge aller von 0 ver-schiedenen naturlichen Zahlen x < p, fur die p ein Teiler von ax ist. Sei dann c die kleinsteunter diesen Zahlen x. Dabei kann c = b, aber auch c < b sein. Jedenfalls ist 1 < c < p. (DieBeziehung 1 < c gilt, da p kein Teiler von a · 1 ist.)

Dividiere p durch c mit Rest, d.h. finde naturliche Zahlen q, γ mit p = qc + γ und γ < c. Dap prim und 1 < c < p ist, kann c kein Teiler von p und folglich γ nicht gleich 0 sein. Es istaber p ein Teiler von aγ = ap− qac, da p sowohl ap wie qac teilt. Die ist ein Widerspruch zurMinimalitat von c, der aus der Annahme, p sei ein Teiler von ab, folgt. Diese Annahme kannalso nicht wahr sein.

Folgerung 1.2.3 (Euklids Lemma.) Ist p eine Primzahl und ein Teiler von ab, wo a, b naturli-che Zahlen sind. Dann ist p ein Teiler (mindestens) einer der Zahlen a, b.

Beweis: Nimm an, p ware weder ein Teiler von a noch von b. Dann dividiere a und b durchp mit Rest: a = pq1 + α, b = pq2 + β mit 1 ≤ α < p, 1 ≤ β < p. Es folgt, dass p ein Teilervon αβ = (a− pq1)(b− pq2) = ab− pq1b− pq2a+ p2q1q2 ist. Dies widerspricht Lemma 1.2.2, daα, β < p sind.

Folgerung 1.2.4 Ist eine Primzahl Teiler eines Produkts a1 · · · am naturlicher Zahlen, so teiltsie einen der Faktoren.

Theorem 1.2.5 Sei eine ganze Zahl > 1 wie folgt auf zwei Weisen in Primfaktoren zerlegt:

p1 · · · pr = q1 · · · qs

Dann stehen links und rechts dieselben Primfaktoren, und zwar auch jeder Primfaktor gleichoft.

Beweis: Offenbar gilt: Ist eine Primzahl p Teiler einer Primzahl q, so muss p = q sein.

Da nach der letzten Folgerung jedes pi eines der qj teilt und umgekehrt, mussen rechts undlinks dieselben Primzahlen stehen, allenfalls noch verschieden oft. Ist ein Primfaktor p auf derrechten Seite m-mal und auf der linken Seite n-mal vertreten und etwa n ≤ m, so dividiere aufbeiden Seiten durch pn. Dann taucht p links nicht mehr und rechts (m− n)-mal auf. Das gehtaber nur, wenn m− n = 0 ist.

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16 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

1.2.6 Frage: Wieviele Primzahlen gibt es? Betrachte dazu folgende Aussagen. Welche istschlussig?

Je weiter man in der Reihe der naturlichen Zahlenreihe fortschreitet, um so seltener wer-den die Primzahlen. Irgendwann muss ihre Folge aufhoren. Folglich gibt es nur endlich vielePrimzahlen.

Aus obiger Aussage uber die abnehmende Haufigkeit der Primzahlen kann man nicht schlie-ßen, dass es nur endlich viele Primzahlen gibt. Auch die unendlich vielen Quadratzahlen 1, 4,9, 16, 25 usw. werden ja immer seltener.

Euklid wusste bereits: Zu je endlich vielen Primzahlen p1, p2. . . . , pn gibt es immer noch eineweitere. Euklid hat aus p1, . . . , pn auf einfachste Weise eine Zahl N > 1 gebildet, die durch keineder Primzahlen p1, . . . , pn teilbar ist. Jeder der Primfaktoren von N ist also von den p1, . . . , pn

verschieden.

Uberlege Dir: Kann die Zahl 2 · 3 · 5 + 1 durch eine der Primzahlen 2, 3, 5 teilbar sein? Nun3 zum Beispiel ist ja ein Teiler von 2 · 3 · 5, aber nicht von 1. Ware 3 ein Teiler der Summe2 · 3 · 5 + 1, so ware 3 auch einer von (2 · 3 · 5 + 1) − 2 · 3 · 5 = 1. Ebensowenig sind 2 und 5Teiler von 2 · 3 · 5 + 1.

Allgemein seien p1, p2, . . . , pn endlich viele Primzahlen, so kann keine von ihnen ein Teiler derZahl N = p1 · p2 · · · pn + 1 sein. Da N > 1 ist, hat N mindestens einen Primfaktor p, der abervon den Primzahlen p1, p2, . . . , pn verschieden sein muss.

1.2.7 Erstaunlicher Weise kann man mit fast demselben Verfahren beweisen, dass die Luckenzwischen aufeinander folgenden Primzahlen beliebig groß sein konnen. Seien namlich p1 =2, p2 = 3, . . . , pn, pn+1 die ersten (d.h. kleinsten) n + 1 Primzahlen (und n ≥ 1), und seim = p1p2 · · · pn. Wir haben ja soeben gelernt, dass m+1 durch keine der Primzahlen p1, . . . , pn

teilbar ist. Aber im Gegensatz dazu ist jede der Zahlen m+ 2,m+ 3,m+ 4, . . . ,m+ pn+1 − 1durch eine der Primzahlen p1, . . . , pn teilbar. Es ist ja m + 2 durch 2 teilbar, m + 3 durch 3,m+4 durch 2, und so weiter. Keine der Zahlen m+2, . . . ,m+pn+1−1 kann also eine Primzahlsein.

(Im obigen Beispiel ist m = 30 und m + 2 durch 2, und m + 3 durch 3, und m + 4 durch 2,ferner m+ 5 durch 5 und schließlich m+ 6 durch 2 (auch durch 3) teilbar.)

Beispiel 1.2.8 In obigem Beispiel ist 2 · 3 · 5 + 1 = 31 wieder eine Primzahl. Das muss nichtimmer so sein:

2 · 3 · 5 · 7 · 11 · 13 + 1 = 30031 = 59 · 509.

Man pruft leicht nach, dass 59 und 509 Primzahlen sind. Und sie sind – wie es sich gehort –von den Primzahlen 2, 3, 5, 7, 11, 13 verschieden.

Wir haben uns uberlegt, dass die Zahlen 30032, 30033, . . . , 30046 alle keine Primzahlen sind.In der Tat sind (gemaß einer Primzahltafel) die Zahlen 30029 und 30047 Primzahlen, zwischendenen es keine weiteren gibt.

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1.2. PRIMZAHLEN 17

Bemerkung 1.2.9 Jede naturliche Zahl erhalt man, indem man zur 0 eine gewisse Anzahl von1-en addiert:

0 + 1 + 1 + · · ·+ 1

In Bezug auf die Multiplikation gilt etwas analoges jedenfalls fur die von 0 verschiedenen naturli-chen Zahlen. Namlich man erhalt jede solche Zahl, indem man 1 mit einer gewissen Anzahl vonPrimzahlen multipliziert:

1 · p1 · p2 · · · pn

Die Primzahlen spielen also fur die Multiplikation dieselbe Rolle wie die 1 fur die Addition. Die0 fur die Addition entspricht der 1 fur die Multiplikation, die man deshalb nicht als Primzahlansieht. (Der Zahl m = 1 · p1 · p2 · · · pn kommt man von 1 · p1 · · · pk aus, wo k < n ist, durch dieMultiplikation mit pk+1 einen Schritt naher. Das ware nicht so, wenn man die 1 als Primzahlauffasste und pk+1 = 1 ware!)

Bezeichnung: Die Menge (Gesamtheit) der Primzahlen wird mit P bezeichnet.

1.2.10 Wozu sind Primzahlen gut?

Nachdem man mindestens 24 Jahrhunderte lang Primzahlen fast nur als interessante Objekteder ‘reinen’ Mathematik angesehen hat (es gibt ein etwa 1000 Seiten dickes Buch uber Prim-zahlen), haben Mathematiker und Informatiker vor einigen Jahrzehnten wichtige Verschlusse-lungsmethoden erfunden, die Kenntnisse uber Primzahlen verwenden.

Angenommen, Du hast einen verschlusselten Text und weißt, wie die Verschlusselung vorge-nommen wurde. Dann sollte man doch meinen, Du konntest den verschlusselten Text auchwieder entschlusseln.

Dem ist nicht so!

Was man bei kleinen naturlichen Zahlen noch nicht so richtig merkt, bei großen naturlichenZahlen ist es ungeheuer muhsam, diese in Primfaktoren zu zerlegen. Ja, bei sehr großen Zahlenetwa mit 300 oder mehr Dezimalstellen ist es – außer in speziellen Fallen – schlechterdingsauch mit Computer-Hilfe nicht moglich. (Es sei denn Du hattest einen Computer, der dieQuantenstruktur der Materie ausnutzt, einen sogenannten Quantencomputer. Solche gibt eszwar der Idee nach, aber in der Realitat noch nicht wirklich.)

Ich muss gestehen, bislang ist es nur eine Erfahrungstatsache, dass man große Zahlen nur mitgroßem Aufwand in ihre Primfaktoren zerlegen kann. Mathematisch bewiesen ist es bis jetztnicht.

Andererseits kann man sehr wohl, von Zahlen der angegebenen Großenordnung mit Computer-Hilfe in wenigen Sekunden oder Minuten feststellen, ob sie prim sind – ohne eine Faktorzerlegungim negativen Falle angeben zu konnen. Wie man das macht, kann ich leider im Rahmen diesesBuches nicht beschreiben.

Auf Grund dieser Diskrepanz ist es moglich, Texte nach einem offentlich gemachten Schlusselzu verschlusseln, die man ohne eine zusatzliche Information nicht mehr enschlusseln kann. Wiedieses geht, erfahrst Du ganz am Ende dieses Buches.

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18 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

AUFGABEN

1. a) Zeige, dass jede naturliche Zahl n, die nicht durch 3 teilbar ist, sich in der Formn = 3m± 1 mit einem geeigneten m ∈ N schreiben lasst.

b) Welche Primzahlen p haben die Eigenschaft, dass auch 2p2 + 1 (bzw. p2 + 2) einePrimzahl ist? (Du kannst a) benutzen.)

2. Zerlege 15! := 1 · 2 · 3 · · · 15 in Primfaktoren.

3. Finde zu jeder geraden Zahl n mit 4 ≤ n ≤ 50 Primzahlen p, q mit p+ q = n. (Dabei darfp = q sein.) Leider weiß man bis heute nicht, ob dies fur alle geraden Zahlen > 3 moglichist.

4. Zeige: Eine ganze Zahl zwischen 8 und 120 (einschließlich) ist genau dann eine Primzahl,wenn sie durch keine der Zahlen 2, 3, 5 oder 7 teilbar ist. (Versuche, ein allgemeinesGesetz zu formulieren.)

5. 101 Senatoren wahlen 2 Konsuln. Jeder wahlt zwei (verschiedene) Kandidaten. (Enthal-tung sowie die Wahl nur einer Person sind verboten.)

Sind dann folgende Regeln oder auch nur eine von ihnen sinnvoll?

a) ‘Gewahlt ist, wer mindestens 51 Stimmen hat.’

b) ‘Wer im ersten Wahlgang weniger als 51 Stimmen bekommen hat, wird kein Konsul.’

1.3 Potenzen mit naturlichen Exponenten

1.3.1 Potenzen: Bekanntlich definiert man an := a · · · a, wobei die Anzahl der Faktorengleich n ist. Dies ist eine klare Definition, wenn n ≥ 2 ist. Und ich denke auch a1 = a ist dannklar. Wir haben ja bereits einmal ein Produkt aus nur einem Faktor anerkannt.

Offenbar ist an+1 = an · a. Damit diese Regel auch fur n = 0 gilt, muss man a0 = 1 setzen –jedenfalls wenn a 6= 0 ist. Es gibt gute Grunde, auch

00 = 1

zu definieren. Wir wollen dies so machen!

(Erinnere Dich daran, dass in der Potenz an die Zahl a als die Basis, die Zahl n als derExponent bezeichnet wird.)

Fur naturliche Zahlen a, b,m, n gelten, wie Du wahrscheinlich bereits weißt oder leicht siehst,folgende drei Gesetze (Regeln):

am+n = am · an, (ab)n = an · bn, amn = (am)n

Diese Regeln kannst Du wie folgt einsehen:

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1.3. POTENZEN MIT NATURLICHEN EXPONENTEN 19

Wenn man ein Produkt aus m einander gleichen Faktoren a mit einem ebensolchen aus nFaktoren multipliziert, erhalt man ein ebensolches Produkt aus m+ n Faktoren.

Ein Produkt aus n Faktoren der Form ab kann man durch Vertauschung der Faktoren alsein Produkt aus 2n Faktoren schreiben, derart dass die ersten n gleich a und die letzten ngleich b sind. Dabei benutzt man allerdings die Kommutativitat der Multiplikation, wahrendzur Gultigkeit der ersten Regel nur die Assoziativitat gebraucht wird.

Die dritte Regel kann man auf die erste zuruckfuhren:

amn = am+···+m = am · · · am = (am)n

wobei im zweiten Term der Exponent die n-fache Summe von m ist und der dritte Term das n-fache Produkt von am ist. Auch hier wird nur die Assoziativitat und nicht die Kommutativitatder Multiplikation gebraucht.

Die ersten beiden Regeln entsprechen dem Distributivgesetz zwischen Multiplikation und Ad-dition. Beachte aber, dass dabei die Basen und die Exponenten der Potenzen verschieden be-handelt werden.

Aus dem dritten Gesetz folgt (23)2 = 26 = 64, wahrend = 2(32) = 29 = 512 ist! Potenzieren istnicht assoziativ! Beachte: Man definiert abc

:= a(bc). Demgemaß ist 232= 512.

Achtung: In der Potenzrechnung sind ‘Gesetze’, die nur so ahnlich wie die obigenaussehen, meist falsch!

22+2 6= 22 + 22, 23−2 6= 23 − 22, (1 + 1)2 6= 12 + 12, 22·3 6= 22 · 23

Mit Wurzeln muss man genauso vorsichtig umgehen: Berechne√

9 + 16 und√

9+√

16. Ebensomuss man bei iterierten Potenzen aufpassen: Berechne 231+1

und 231 · 231, ferner 232 · 232

und(23 · 23)2.

1.3.2 Wir studieren die Potenzen von 2, um uns einen Eindruck ihres Wachstums zu machen:

20 = 1, 21 = 2, 22 = 4, 23 = 8, . . . , 29 = 512, 210 = 1024, . . . .

Wir wollen versuchen, diese in einem (Funktions)-Diagramm darzustellen, und zwar mit derEinheit 1 mm : Wandert man vom Nullpunkt aus auf der waagerechten Achse um 5 mm nachrechts, so mussen wir von dort um 32 mm nach oben gehen, um den Wert 25 = 32 abzutragen. 4mm weiter mussen wir schon um 51,2 cm nach oben gehen. Der entsprechende Punkt passt nichtmehr auf die Buchseite. In einem Ballon, der 220 mm hoch uber dem Meeresspiegel schwebt,konnen wir bequem den Kahlen Asten uberqueren. Und 223 mm ist etwa die Hohe des Himalaja.Und ist man auf der x-Achse bei 39 mm angelangt, so ist der Punkt, der den Wert 239 beschreibt,schon weiter als der Mond entfernt!

Man spricht von exponentiellem Wachstum.

Ware es nicht schon, 2x auch fur nichtganze x definieren zu konnen? Man kann! Davon handeltdas Kapitel 5.

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20 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

1.3.3 Fakultat Noch starker wachst die Folge der n! (n-Fakultat). Dabei wirdn! := 1 · 2 · 3 · · ·n definiert.Offenbar ist n!(n+ 1) = (n+ 1)! . Damit dies auch fur n = 0 gilt, setzt man 0! = 1.

Berechne (3!) · (3!), (3 + 3)! und (3 · 3)! . (Bist Du zu faul zu rechnen, erkenne zumindest, dass(3!) · (3!) < (3 + 3)! < (3 · 3)! gilt. Welche der angegebenen Zahlen haben den Primfaktor 5,welche den Primfaktor 7?)

Bemerkungen 1.3.4 a) Auch wenn n! fur gar nicht so große Zahlen schon riesig ist, sind dochdie Primfaktoren von n! nicht großer als n. Man kann verhaltnismaßig leicht berechnen, wie ofteine Primzahl in der Primfaktorzerlegung von n! vorkommt. Davon spater.

b) Ware es nicht schon, x! auch fur nichtganze x definieren zu konnen? Man kann! Schlageunter dem Stichwort ‘Gamma-Funktion’ nach – etwa in der Wikipedia oder in ForstersAnalysis I oder vielen anderen Texten.

Die beiden Aussagen aus Abschnitt 1.2.1 uber die Moglichkeit und Eindeutigkeit der Primfak-torzerlegung positiver ganzer Zahlen kann man auch folgendermaßen ausdrucken:

Satz 1.3.5 Seien p1, p2, p3, . . . die Primzahlen in ihrer naturlichen Reihenfolge, d.h. p1 =2, p2 = 3, p3 = 5 usw. Jede naturliche Zahl n ≥ 1 lasst sich eindeutig als unendliches Po-tenzprodukt folgender Form schreiben:

n = pa11 p

a22 p

a33 · · ·

Dabei sind die ai ∈ N, durfen insbesondere 0 sein. Ja, bis auf endlich viele i sind alle ai = 0.Das Produkt hat dann unendlich viele Faktoren, die gleich 1 sind, und nur endlich viele Faktorendie von 1 verschieden sind. Wir geben diesem (unendlichen) Produkt einen Sinn, indem wir dasProdukt unendlich vieler Einsen als 1 definieren.

1.3.6 Zum Beispiel wird der Zahl 24 auf diese Weise die Folge (3, 1, 0, 0, 0, . . .) zugeordnet undder Zahl 25 die Folge (0, 0, 2, 0, 0, 0, . . .), da einerseits 24 = 23 ·31 ·50 ·70 ·110 · · · und andererseits25 = 20 · 30 · 52 · 70 · 110 . . . ist. Der Zahl 1 wird die Folge (0, 0, 0, . . .) zugeordnet

In einem abstrakten Sinne gibt es also genau so viele Folgen der o.a. Art, wie naturliche Zahlen≥ 1. Ist das nicht uberraschend?

(In diesem abstrakten Sinne, gibt es auch nicht mehr Bruche naturlicher Zahlen als naturlicheZahlen selbst. Versuche Dich an dieser Aussage! Sie wird im Kapitel 4 behandelt.)

Wenn man eine naturliche Zahl als Potenzprodukt von Primzahlen, d.h. als eine gewisse Folgenaturlicher Zahlen, auffasst, entspricht dem Produkt in N1 die Summe im Bereich der Folgennaturlicher Zahlen, wobei

(a1, a2, a3, . . .) + (b1, b2, b3, . . .) := (a1 + b1, a2 + b2, a3 + b3, . . .)

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1.4. BRUCHE 21

definiert ist. In einem abstrakten Sinn ist also die Multiplikation naturlicher Zahlen nicht vielkomplizierter als ihre Addition. (Das hilft allerdings gar nichts, wenn man die Primfaktozerle-gung der Faktoren nicht leicht berechnen kann.)

Die Schwierigkeit und der Reiz der Zahlentheorie entstehen erst, wenn man Addition undMultiplikation zugleich betrachtet.

1.4 Bruche

Vorbemerkung: Bruche schreibe ich meist in der Forma

b, gelegentlich aber auch in der Form

a/b.

1.4.1 Seien a, b, a′, b′ naturliche Zahlen mit b, b′ 6= 0. Dann gilt bekanntlich

a

b· a

b′=aa′

bb′(1.1)

(Formal kann man diese Regel als Definition ansehen. Aber wenn man von ihr verlangt, dasssie gewisse Anforderungen erfullen soll, ergibt sie sich zwangslaufig, wie Du unten sehen wirst.)Warum soll dann eigentlich nicht auch

a

b+a′

b′=a+ a′

b+ b′gelten??? (1.2)

Ware das jedoch richtig, so musste auch

1

2+

1

2=

2

4=

1

2gelten.

Nun soll aber die Zahl 12

doch gerade diejenige Zahl sein, fur die

2 · 12

= 1, d.h.1

2+

1

2= 1

gilt. Die letzte oben vorgeschlagene ‘Regel’ ist also eine Unregel !!!

1.4.2 Wir betrachten Bruche als ‘Großen’. (Etwa als Langen von Strecken.) Der Bruch mn

als‘Große’ hat folgende Bedeutung. Teile die (Maß-)Einheit in n gleiche Teile und nehme dasm-fache eines solchen Teiles. Dabei ist naturlich m

1mit m zu identifizieren.

Bemerkung: Es ist nicht vollig unsinnig, m0

= ∞ (fur m 6= 0) und m∞ = 0 (fur m 6= ∞) zu

setzen. In gewissen Zusammenhangen wird das auch gemacht. Aber den Ausdrucken 00, ∞∞ ,

∞−∞ kann man keine sinnvollen Bedeutungen geben. Wir wollen das hier nicht weiter vertiefen,sondern 0 als Nenner nicht zulassen!

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22 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

Aus der Vorstellung von mn

als Große entnimmt man

m

n=km

knfalls k 6= 0.

D.h. man darf erweitern und kurzen (nicht mit 0). Am elegantesten definiert man die Gleichheitvon Bruchen durch

m

n=m′

n′⇐⇒ mn′ = m′n.

Dies ist aquivalent dazu, dass man mit Erweitern und Kurzen von mn

zu m′

n′kommt. (Beweise

das!)

1.4.3 Aus der Großenvorstellung ergibt sich auch sofort, wie man Bruche mn

und m′

n′addiert.

Ist n = n′, so solltem

n+m′

n=m+m′

n(1.3)

sein. Andernfalls kann man durch Erweitern erreichen, dass die Nenner gleich werden. Manbekommt so die Regel

m

n+m′

n′=mn′ +m′n

nn′(1.4)

Einfacher ist eine allgemeine Formel fur die Addition von Bruchen nicht zu haben! (In derSchule hast Du vielleicht keine Formel, sondern folgendes Verfahren zur Berechnung derSumme zweier Bruche kennengelernt: Bestimme den kleinsten gemeinsamen Nenner derBruche, d.h. das kleinste gemeinsame Vielfache k von n und n′, erweitere beide Brucheso, dass k ihr Nenner wird und addiere dann gemaß 1.3. Wenn n und n′ nicht teilerfremdsind, bedeutet dies, dass man mit kleineren Zahlen rechnen kann als nach Formel 1.4. Al-lerdings ist auch dann nicht garantiert, dass das Ergebnis bereits gekurzt ist. Beispiel: 1

3+ 1

6= 1

2.

0 113

12

23

Da wird der Physiker doch sagen: Da nehm ich meinen Taschenrechner, rechne m/n und m′/n′

als Dezimalzahlen aus und addiere diese dann mit dem Rechner. Dagegen ist auch nichts zusagen. Aber wenn er etwa

x

x2 + 1+

x3

x2 + 5

auf einen Bruchstrich bringen soll, so muss er es ganz genau so wie mit Bruchen von Zahlenmachen. Schon, wenn er dann weiß, wie’s geht!

1.4.4 Die Definition (1.1) des Produktes zweier Bruche wollen wir auch geometrisch begrunden:

Wenn man ein Rechteck mit den Seitenlangen 1/3, bzw. 1/5 Meter hat, so kann man es 15-malin einem Quadrat, dessen Seiten 1 m lang sind, unterbringen. Es ist also 1/15 m2 groß. EinRechteck mit den Seitenlangen 2/3 und 4/5 Meter ist dann (2 · 4)/15 m2 groß.

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1.5. NEGATIVE ZAHLEN 23

1.4.5 Ist a durch b in N (oder Z) teilbar, so ist naturlich ab

gleich der ganzen Zahl, die aus abeim Teilen durch b wird.

1.4.6 Fur den Großenvergleich von Bruchen (mit positiven Nennern) gilt:

m

n<m′

n⇐⇒ m < m′ und allgemein

m

n<m′

n′⇐⇒ mn′ < m′n

Wann ist also1

n<

1

n′?

1.4.7 Fur die Addition und Multiplikation von Bruchen gelten dieselben grundlegenden Ge-setze wie bei den naturlichen Zahlen: Assoziativitat, Kommutativitat, Distributivitat, Existenzneutraler Elemente. Dies kannst Du leicht nachprufen, d.h. auf die entsprechenden Gesetze furdie naturlichen Zahlen zuruckfuhren – wenn es auch bei der Assoziativitat der Addition undder Distributivitat etwas dauern mag.

1.5 Negative Zahlen

1.5.1 Im Bereich der naturlichen Zahlen kann man die Gleichung x+n = m genau dann nachx auflosen, wenn n ≤ m ist. Es gibt dann genau eine naturliche Zahl d mit d + n = m. DieseZahl d wird mit m− n bezeichnet.

Dasselbe gilt fur den Bereich der ‘nichtnegativen rationalen Zahlen, d.h. der Bruche naturlicherZahlen’, die wir bis jetzt betrachtet haben. Die Erweiterung dieser Bereiche um die sogenanntennegativen Zahlen erlaubt es, obige Gleichung immer zu losen.

Die moderne Mathematik kann nicht auf negative Zahlen verzichten, z.B. um die Punkte einerEbene mit Koordinaten zu beschreiben. Bis jetzt haben wir naturliche Zahlen und Bruche vonsolchen betrachtet. Zu jedem Bruch, bzw. jeder naturlichen Zahl q 6= 0 erfinden wir einen ‘ent-gegengesetzten’ Bruch, bzw. ’entgegengesetzte’ ganze Zahl −q. Ferner sei −0 = 0. Zusammenmit den nichtnegativen Bruchen, bzw. naturlichen Zahlen ergeben sie die rationalen Zahlen,bzw. die ganzen Zahlen. Bezeichnungen: Z bezeichnet die Menge der ganzen Zahlen, Q dieder rationalen Zahlen.

1.5.2 Geometrisch stellen wir uns die ganzen, bzw. rationalen Zahlen als Punkte auf einerGeraden vor. Auf ihr ist ein Punkt als 0 (Nullpunkt) ausgezeichnet. Rechts von ihm liegen diepositiven Zahlen, insbesondere die 1, links von ihm die negativen Zahlen.

Insbesondere sind die Abstande aufeinanderfolgender ganzer Zahlen einander gleich. (Manchmalbetrachtet man ja auch einen logarithmischen Maßstab, hier nicht.) Wir sprechen von einerZahlengeraden. Allerdings werden wir bald sehen, dass man auf geometrische Weise Punkte aufihr konstruieren kann, die keiner rationalen Zahl entsprechen!

(Die Worte ‘rechts, links’ haben einen Sinn, wenn die Gerade in einem Buch oder auf einerTafel gezeichnet ist, wo die Richtungen ‘oben, unten’ ausgezeichnet sind und klar ist, von woman guckt.)

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24 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

1.5.3 Wenn wir die nichtnegativen rationalen Zahlen durch die negativen rationalen Zahlen –und damit auch die naturlichen Zahlen durch die negativen ganzen Zahlen – erganzt haben, gibtzu jeder rationalen Zahl r ein sogenanntes additiv Inverses −r = (−r). Dieses ist bestimmtdurch die Eigenschaft r + (−r) = (−r) + r = 0. Damit ist offenbar r auch ein additiv Inversesvon (−r), d.h. −(−r) = r.

Wenn man bereits negative Zahlen, also auch zu jeder Zahl ein additiv Inverses hat, brauchtman formal den Begriff einer Differenz nicht mehr. Statt a− b kann man ja a+ (−b) schreiben.Unter a− b− c+ d versteht man a+ (−b) + (−c) + d, etc.

1.5.4 Anordnung der rationalen Zahlen. Bezeichne mit Q+ die Menge derjengen ratio-nalen Zahlen, die als Bruche naturlicher Zahlen geschrieben werden konnen. Wir wollen die Zahl0 = 0

1mit einschließen. (Mit Q− sei dann die Menge aller −a, fur die a in Q+ liegt, bezeichnet.)

Die Ungleichung a ≥ b fur a, b ∈ Q wird dann durch a−b ∈ Q+ definiert. Geometrisch bedeutetdas, dass a rechts von b liegt oder mit b ubereinstimmt.

1.5.5 Ein paar Aufgaben zu Bruchen

a) Berechne1

2− 1

3,

1

3− 1

4,

1

n− 1

n+ 1.

Das Ergebnis der ersten Differenz hast Du oben bereits geometrisch gesehen.

b) Berechne damit1

1 · 2+

1

2 · 3+ · · ·+ 1

n(n+ 1).

c) Zeige:1

12+

1

22+

1

32+ · · ·+ 1

n2< 2,

sowie1

0!+

1

1!+

1

2!+

1

3!+ · · ·+ 1

n!< 3.

1.5.6 Fur ganze Zahlen m ≤ n definiert man

n∑k=m

ak := am + am+1 + · · ·+ an, insbesonderem∑

k=m

ak = am

(Ist m > n so setzt mann∑

k=m

ak = 0. )

Schreibe obige Summen in dieser Form.

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1.5. NEGATIVE ZAHLEN 25

1.5.7 Seien a, b positive rationale Zahlen. Warum ist eigentlich (−a)(−b) = ab?

Die richtige Frage ist:”Warum definiert man dies so?“ Nun, wenn man naheliegender Weise

(−a)0 = 0 und (−a)b = −(ab) definiert, und das Distributivgesetz weiter gelten soll, so isteinerseits (−a)(b + (−b)) = (−a)0 = 0, andererseits (−a)(b + (−b)) = (−a)b + (−a)(−b) =−(ab) + (−a)(−b). Also ist (−a)(−b) das additiv Inverse von −(ab), also gleich ab.

Im nachsten Kapitel findest Du hierzu mehr.

Wir lassen auch Bruche mn

zu, wo m oder n negativ sind. Dafur gelten die Regeln

−mn

=m

−n= −m

nund

−m−n

=m

n

1.5.8 Hier ein Beispiel fur den Nutzen negativer Zahlen. Die Gleichung

x2 + 312 = 37x

hat die Losungen 13 und 24, wie man leicht durch Rechnen in N, also im Positiven nachpruft.Das bekannte Losungsverfahren – mit quadratischer Erganzung – benutzt jedoch mit Gewinndas Rechnen mit negativen Zahlen. An diesem Beispiel sieht man auch, wie richtig und wichtiges ist, das Produkt negativer Zahlen so zu definieren, dass z.B. (−37)2 = 372 ist.

1.5.9 Der Satz uber die Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung ist nicht nur fur Bereich derganzen Zahlen von Bedeutung. Aus ihm folgt z.B., dass es keine rationale Zahl gibt, derenQuadrat (2-te Potenz) gleich 5 ist. Das heißt, dass sich die Lange der Hypotenuse einesrechtwinkligen Dreiecks dessen Katheten 1, bzw. 2 Fuß lang sind, sich zu 1 Fuß nicht wie m : nmit – wie auch immer gewahlten – naturlichen Zahlen m,n verhalt.

Wenn Du mit einem Taschenrechner√

5 = 2,2360679 ausrechnest und das Ergebnis quadrierst,so erhaltst Du 4,99999965341041, eine Zahl, die zwar ziemlich nahe bei 5 liegt, aber doch nichtexakt gleich 5 ist. Der Praktiker sagt – vollig zu Recht –

”Wenn Euch das noch nicht genugt,

konnt ihr√

5 mit einem Computer noch etwas genauer ausrechnen“. Aber uns Theoretikerinteressiert nun einfach die Tatsache, dass man

√5 durch einen endlichen (d.h. nach endlich

vielen Stellen abbrechenden) Dezimalbruch niemals vollig genau ausdrucken kann, ja dass√

5uberhaupt kein Bruch ganzer Zahlen ist. (Abbrechende Dezimalbruche lassen sich ja als Bruchemit ganzem Zahler und ganzem Nenner schreiben, nicht wahr? Umgekehrt lassen sich allerdingssehr viele Bruche ganzer Zahlen nicht als abbrechende Dezimalbruche schreiben! Immerhin gibtes in diesem Fall eine Periodizitat.)

Satz 1.5.10 Es gibt keine ganzen Zahlen m,n mit(mn

)2

= 5.

Beweis: 5 ist sicher nicht das Quadrat einer ganzen Zahl. Wenn also(mn

)2

= 5 mit teiler-

fremden m,n und n > 0 ist, so muss n > 1 sein. Wir zerlegen m und n in Primfaktoren:

m

n=p1 · · · pr

q1 · · · qs,

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26 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

wobei s ≥ 1 und wegen der Teilerfremdheit pi 6= qj fur alle i, j ist. Durch Quadrieren erhaltman den Bruch

p21 · · · p2

r

q21 · · · q2

s

.

Neue Primzahlen treten nicht auf! Wegen der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung kann manhier sowenig kurzen wie vor dem Quadrieren. Der Bruch kann also keine ganze Zahl, alsoinsbesondere nicht gleich 5 sein.

Dem Beweis siehst Du sicher an, dass man in ihm die Zahl 5 ohne weiteres durch die Zahl 2ersetzen kann. Ja, es gilt ganz allgemein:

Satz 1.5.11 Seien n, r naturliche Zahlen und r ≥ 2. Wenn n keine r-te Potenz einer ganzenZahl ist, kann n auch nicht die r-te Potenz einer rationalen Zahl sein.

Noch allgemeiner ist die Behauptung in Aufgabe 13.

1.5.12 Das Folgende darfst Du erst einmal uberschlagen.

Wir wollen die Primfaktorzerlegung von n! bestimmen. Dazu treffe ich folgende Definitionen:

Sei n eine ganze Zahl 6= 0 und p eine Primzahl. vp(n) bezeichne die Anzahl der Primfaktorenvon n, die gleich p sind.

Also ist z.B. v2(24) = 3, v3(24) = 1 und vp(24) = 0 fur alle Primzahlen p 6= 2, 3.

Man nennt vp(n) die Vielfachheit von p in n. Wir wollen eine Methode, vp(n!) zu berechnen,angeben.

Gauß-Klammern. Fur eine rationale (oder reelle) Zahl a sei mit [a] die großte ganze Zahl≤ a bezeichnet, also z.B.

[32

]= 1,

[−3

2

]= −2

Behauptung: Es gilt vp(n!) =[

np

]+[

np2

]+[

np3

]+ . . .. Ist m groß genug, wird

[n

pm

]= 0.

D.h. wir haben in Wahrheit eine Summe, in der nur endlich viele Summanden ungleich 0 sind.Eine solche Summe setzt man immer gleich der endlichen Summe ihrer von 0 verschiedenenSummanden.

Beweis der Behauptung: Der Summand[

np

]zahlt aus jedem der Faktoren 1, 2, . . . , n von

n!, der durch p teilbar ist, genau einen Primfaktor p. Der Summand[

np2

]zahlt aus jedem der

Faktoren 1, 2, . . . , n, der durch p2 teilbar ist, einen zweiten Primfaktor p. Der Summand[

np3

]zahlt aus jedem der Faktoren 1, 2, . . . , n, der durch p3 teilbar ist, einen dritten Primfaktor p.Und so weiter!

Insgesamt hat man jeden Primfaktor von n!, der gleich p ist, genau einmal gezahlt.–

An dem speziellen Beispiel n = 13, p = 2 sei dieser Beweis noch einmal erlautert: Betrachte

(∗) 13! = 1 · 2 · 3 · 4 · 5 · 6 · 7 · 8 · 9 · 10 · 11 · 12 · 13

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1.5. NEGATIVE ZAHLEN 27

Es ist

[13

2

]= 6 die Anzahl der Faktoren, die durch 2 teilbar sind, d.h der Zahlen 2, 4, 6, 8, 10, 12

(Die anderen Faktoren haben nicht den Primfaktor 2). Aus den Zahlen 2, 4, 6, 8, 10, 12 zahle

ich mit

[13

2

]= 6 zunachst nur je einmal den Primfaktor 2. Die Zahlen 2, 6, 10 sind damit

”erledigt“, da sie den Primfaktor 2 nur einmal haben.

[13

22

]= 3 ist die Anzahl der Faktoren

aus (∗), die durch 22 teilbar sind, d.h. der Zahlen 4, 8, 12. Aus diesen zahle ich mit

[13

22

]= 3

jetzt je einen zweiten Primfaktor 2. Es ist

[13

23

]= 1. D.h. es gibt in (∗) genau einen Faktor,

namlich 8, der durch 23 teilbar ist. Dessen ‘dritten’ Primfaktor 2 zahle ich mit

[13

23

]= 1.

Fur k ≥ 4 ist

[13

2k

]= 0 und es ist auch keiner der Faktoren aus (∗) durch 2k mit k ≥ 4 teilbar.

Die Summe

[13

2

]+

[13

22

]+

[13

23

]= 6 + 3 + 1 zahlt

aus den Zahlen 2, 4, 6, 8, 10, 12 je einmal den Primfaktor 2, dazuaus den Zahlen 4, 8, 12 je ein zweites Mal den Primfaktor 2 und dazu schließlichaus der Zahl 8 ein drittes Mal den Primfaktor 2.

Ich hoffe, Du siehst, dass auf diese Weise jeder Primfaktor 2 in einer Primfaktorzerlegung allerFaktoren aus (∗) genau einmal erwischt wird.

AUFGABEN

1. Lose die folgenden Gleichungen, oder zeige, dass es in dem einen oder anderen Fall nichtmoglich ist:

23

+ 76

34− 1

x

= 1 ,43− 1

676

+ 1x

= 1

2. Zwei Menschen wandern einander auf einer geraden Straße entgegen. Der eine startet

in A und wandert mit einer Geschwindigkeit von23

6

km

h. Der zweite startet im 19,5 km

entfernten B eine halbe Stunde spater als der erste und wandert mit der Geschwindigkeit21

4

km

h. Wann und wo treffen sich die beiden?

3. Seien p1, . . . , pn verschiedene Primzahlen mit n ≥ 2. Zeige: Der Nenner von

a :=n∑

j=1

1

pj

in der gekurzten Form ist p1 · · · pn. (D.h. nach erfolgter Addition der auf den kleinstengemeinsamen Nenner gebrachten Summanden kann man nicht kurzen.) Insbesondere gilta /∈ Z. (Wenn Du die erste Aussage nicht sofort beweisen kannst, zeige zunachst die letzte.Ist p1 · · · pn−1a ∈ Z?)

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28 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

4. Zeige: Fur n ≥ 2 ist a :=n∑

k=2

1

kkeine ganze Zahl. (Tipp: Sei m das kleinste gemeinsame

Vielfache aller Nenner. Was gilt fur am/2 ? Betrachte die großte 2-Potenz unter denNennern.)

5. Zeige: Fur n ≥ 2 ist a :=n∑

k=2

1

k!keine ganze Zahl.

6.”Opa“, rief Peter

”Opapa! Wie alt wirst Du in 11 Tagen?“

Opa fuhlte sich in seinem Mittagsnickerchen gestort und antwortete unwirsch:”Na, das

weißt Du doch! Sechsundsechzig.“

”Aber Opa, weißt Du auch, was herauskommt, wenn man eins und zwei und drei und so

weiter bis elf zusammenzahlt?“

”Na, lass mal sehen. Also elf mal zwolf, geteilt durch zwei macht sechsundsechzig, in der

Tat.“

”Siehst du? Aber Du solltest doch zusammenzahlen und nicht malnehmen und teilen.

Warum hast Du denn das gemacht?“

”Um Zeit zu sparen. Sieh mal her! Ich denke mir die Zahlen von eins bis elf hingeschrieben,

und dann noch einmal darunter in umgekehrter Reihenfolge:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1111 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1

Wenn du je zwei Zahlen, die ubereinander stehen, zusammenzahlst, was kommt dannheraus?“

”Zwolf, Opa. Und zusammen bekomme ich elf mal zwolf. Dann muss ich aber noch durch

zwei teilen,“ sprudelte Peter immer hastiger hervor”weil ich ja jede Zahl zweimal hinge-

schrieben habe. Toll!“

Da grinste der Opa, und Peter dachte:”Opa ist ja wieder ganz wirsch. Na klar, wenn

er mit seiner Mathe angeben kann!“ Mit dieser feinen psychologischen Erkenntnis lag ernicht ganz falsch.

Deine Aufgabe ist nun, fur ganze Zahlen x, y mit x > y die Summe∑x

k=y k in eine andereForm zu bringen!

7. Bestimme die Summe der ersten n ungeraden naturlichen Zahlen, d.h.

n∑k=1

(2k − 1)

• • • • • •

• • • • •

• • •

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1.5. NEGATIVE ZAHLEN 29

8. Seien a, b ganze Zahlen. Bestimme die (eindeutige) Losung des folgenden linearen Glei-chungssystems im Bereich Q der rationalen Zahlen.

x+ y = ax− y = b

Offenbar ist die Losung genau dann ganzzahlig, wenn entweder a und b beide gerade odera und b beide ungerade sind.

9. Jede ganze Zahl ist trivialerweise eine Summe von zwei oder mehr aufeinander folgendenganzen Zahlen. Z.B. ist 2 = −1+0+1+2 (und 0 =?). Hingegen ist nicht jede positive ganzeZahl eine Summe von zwei oder mehr aufeinanderfolgenden positiven ganzen Zahlen. ZumBeispiel sind 1, 2, 4, 8 nicht von dieser Art.

Bestimme alle (positiven ganzen) Zahlen n, die sich als Summe von zwei oder mehraufeinander folgenden positiven ganzen Zahlen schreiben lassen.

(Benutze die beiden vorangehenden Aufgaben! Da n =∑x

k=y k = 12(x+ y)(x− y+1) und

x > y > 0 sein soll, kommt es darauf an, ob man 2n als Produkt eines geraden und einesungeraden Faktors schreiben kann, die beide ≥ 2 sind, nicht wahr?)

10. Ebenfalls mit Aufgabe 7 und 8 kann man folgende Fragen beantworten:

a) Welche ganzen Zahlen kann man als Differenz zweier Quadrate ganzer Zahlen schrei-ben?

b) Kann eine Gleichung der Form x2 − y2 = a mit festem a ∈ Z im Bereich der ganzenZahlen unendlich viele Losungen haben? Wie ist es im Bereich der reellen Zahlen?

d) Welche ganzen Zahlen sind von der Form

x2 + y2 − z2 (x, y, z ∈ Z) ?

e) (Am 6. Dezember zu losen.) Frau Nicole Niklas wurde von ihrem Sohn Kolja gefragt,wie alt sie sei. Aus verstandlichen Grunden gab sie nur eine verschlusselte Antwort: WennDu die vierte Potenz meines Alters von der vierten Potenz des Alters Deines Vaters Klausabziehst, erhaltst Du die Zahl 1606160. Wie alt sind Klaus uns Nicole Niklas? (Mit demAlter ist jeweils eine ganze Anzahl von Jahren gemeint.) Naturlich darfst Du zur Losungdieser Aufgabe einen Taschenrechner benutzen. Ein ziemlich primitiver reicht.

11. Vereinfachea

(k + 1)!(n− k − 1)!+

a

k!(n− k)!.

12. Gib systematisch alle Tripel (a, b, c) ganzer Zahlen an, fur die folgendes gilt:

0 < a ≤ b ≤ c und1

a+

1

b+

1

c∈ Z

13. Seien a1, . . . , an ganze Zahlen und x eine rationale Zahl mit xn+a1xn−1+· · ·+an−1x+an =

0. Zeige, dass x ganz ist. (Wichtig ist dabei, dass der Koeffizient von xn gleich 1 ist. ImBereich Z kann man ja nicht immer durch den Koeffizienten von xn dividieren!)

14. Sei n > 1 eine ganze Zahl und n = pm11 · · · pmr

r ihre Primfaktorzerlegung mit untereinanderverschiedenen Primzahlen pi. Wieviele (positive) Teiler hat n?

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30 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

1.6 Vollstandige Induktion

1.6.1 Ein sehr machtiges Beweismittel fur Aussagen, die man fur alle naturlichen Zahlen be-weisen mochte, ist die vollstandige Induktion.

Sei A(x) eine Aussage uber naturliche Zahlen x mit folgenden beiden Eigenschaften:

(i) (Induktionsanfang) A(0) ist richtig,(ii) (Induktionsschritt) fur alle n ∈ N folgt A(n+ 1) aus A(n).

Dann gilt A(n) fur alle n ∈ N.

Denn angenommen, ich soll A(m) fur ein beliebiges (festes) m beweisen.Wegen (i) gilt die Aussage A(0). Wegen (ii) folgt hieraus A(1); wieder wegen (ii) folgt (aus derletzten Aussage) A(2); wieder wegen (ii) folgt A(3); und so weiter, bis ich bei A(m) angelangtbin.

Statt direkt A(n) fur alle n zu zeigen, muss man nur fur alle n die bedingte Aussage

A(n)⇒ A(n+ 1)

beweisen. Und das ist haufig einfacher.

Der Name ‘Vollstandige Induktion’ kommt folgendermaßen zustande: Ein Gesetz durch Indukti-on zu begrunden, heißt, es aus Einzelfallen abzuleiten. So mussen es die Naturwissenschaftler tun.‘Vollstandige’ Induktion bedeutet, ein Gesetz zu beweisen, indem man es fur jeden Einzelfall zeigt.(Allerdings lasst man das Wort ‘vollstandig’ aus Faulheit meist weg.)

Sollte Dir das Ganze etwas ratselhaft erscheinen, arbeite die folgenden Beispiele durch!

Beispiele 1.6.2 a) Wir beweisen, dass

n∑k=0

2k := 20 + 21 + · · ·+ 2n = 2n+1 − 1 ist.

(Dies ist eine spezielle geometrische Reihe. Allgemeine geometrische Reihen werden spater be-handelt.)

Induktionsanfang: n = 0. Wir mussen

0∑k=0

2k = 20+1 − 1 beweisen.

Nun, beide Seiten sind gleich 1.

Induktionsschritt: Wir mussen

n∑k=0

2k = 2n+1 − 1 =⇒n+1∑k=0

2k = 2(n+1)+1 − 1 beweisen.

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1.6. VOLLSTANDIGE INDUKTION 31

D.h. wir mussenn+1∑k=0

2k = 2(n+1)+1−1 beweisen und durfen dazun∑

k=0

2k = 2n+1−1 voraussetzen.

Aus letzterer Gleichung folgt

n+1∑k=0

2k =n∑

k=0

2k + 2n+1 = 2n+1 − 1 + 2n+1 = 2 · 2n+1 − 1 = 2n+1+1 − 1.

b) Wir beweisen die ‘Bernoullische Ungleichung’

(1 + a)n ≥ 1 + na fur alle naturliche Zahlen n und rationale a ≥ −1 .

Der Induktionsanfang n = 0 ist klar.

Wir beweisen die Ungleichung fur n+ 1 unter der Voraussetzung, dass sie fur n gelte:

(1 + a)n+1 = (1 + a)n(1 + a) ≥ (1 + na)(1 + a) = 1 + (n+ 1)a+ na2 ≥ 1 + (n+ 1)a .

Dabei haben wir benutzt, dass wegen der Voraussetzung (1+a) ≥ 0 ist und dass a2 und n auchbeide ≥ 0 sind.

(Diese Ungleichung gilt naturlich auch fur beliebige reelle Zahlen a ≥ −1. Sie gilt auch furreelle Exponenten, die ≥ 1 oder ≤ 0 sind. Falls a ≥ −1 und 0 < r < 1 ist, gilt (1+a)r ≤ 1+ra.)

c) Eine hubsche Anwendung des Induktionsprinzips ist der Beweis, dass man in dem – imfolgenden beschriebenen – Spiel (Puzzle) der

”Turme von Hanoi“ (Lucas) immer zum Ziele

kommen kann.

Das Spiel besteht aus einem Stapel von n kreisrunden Scheiben, die gleich dick sind, aberpaarweise verschiedene Durchmesser haben. Sie liegen der Große nach aufeinander, die großteScheibe unten, auf einem von 3 Spielfeldern.

Die Aufgabe ist nun, diesen Stapel in mehreren Schritten auf ein anderes der drei Spielfelder auffolgende Weise zu bringen: Bei jedem Schritt ist eine Scheibe auf ein anderes Spielfeld bzw. aufeinen dort bereits befindlichen Stapel zu legen, ohne dass jemals eine großere Scheibe auf einerkleineren zu liegen kommt. (In den praktischen Ausfuhrungen dieses Spiels haben in der Regeldie Scheiben in der Mitte ein Loch und werden durch drei senkrecht stehende Stabe fixiert.)

Beim Beweis verwende man Induktion nach n. Oder man schließe mit Induktion nach k, wobeidie Aussage A(k) bedeuten soll: Man kann die k obersten Scheiben des Ausgangsstapels aufeines der beiden anderen Spielfelder den Spielregeln gemaß stapeln.

d) Vielleicht hast Du den Wunsch, die haufig benutzte Moglichkeit der Division mit Rest exaktzu beweisen. Zu n,m ∈ N mit m > 0 gibt es eindeutig bestimmte q, r ∈ N mit n = qm+ r undr < m.

Verwende Induktion nach n, wobei der Fall n = 0 trivial ist. Induktionschritt. Nimm n = qm+rmit r < m an. Dann ist n + 1 = qm + r + 1. Unterscheide zwei Falle: 1. r < m − 1. Dann istr + 1 der neue Rest. 2. r = m− 1. Dann ist n+ 1 = qm+m = (q + 1)m+ 0.

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32 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

Zur Eindeutigkeit: Sei n = qm + r = q′m + r′ (mit r, r′ < m) und etwa r ≤ r′. Dann istr′ − r = n− n+ qm− q′m = (q− q′)m. Also gilt 0 ≤ r′ − r < m− 0 und andererseits ist r′ − rdurch m teilbar. Das ist aber nur moglich, wenn r′− r = 0 ist. Dann ist qm = q′m, also q = q′,da m > 0 gilt.

Bemerkungen 1.6.3 Das Induktionsprinzip wird haufig etwas variiert.

a) Wenn man mit dem Induktionsprinzip eine Aussage A(x) nur fur alle naturlichen Zahlenzeigen will, die ≥ einer gewissen Zahl k sind (etwa weilA(n) fur n < k falsch ist oder keinen Sinnhat), so kann man als Induktionsanfang die Aussage A(k) beweisen und dann die ImplikationA(n)⇒ A(n+ 1) fur alle n ≥ k zeigen. (Formal kann man diese Methode auf das erstgenannteInduktionsprinzip zuruckfuhren, indem man dieses auf die Aussage B(x) := A(x+k) anwendet.)

b) Haufig benutzt man die vollstandige Induktion in der Art, dass man die Aussage A(n + 1)aus allen A(k) mit k ≤ n ableitet.

(Auch dies lasst sich formal auf das o.a. Induktionsprinzip zuruckfuhren, indem man dieses aufdie Aussage B anwendet, wo die Gultigkeit von B(n) bedeuten soll, dass A(k) fur alle k ≤ ngilt.)

1.6.4 Weitere Beispiele. a) Wir zeigen mit Induktion

1 + 2 + · · ·+ n =n(n+ 1)

2d.h.

n∑k=1

k =n(n+ 1)

2fur alle n ∈ N1 .

Du kennst das von Aufgabe 6 des letzten Abschnittes. Aber es sei hier zur Ubung noch einmalmit Induktion nach n gezeigt.

Wahle n = 1 als Induktionsanfang. Wir haben 1 = 1·22

zu zeigen. Kein Problem!

Induktionsschluss: Unter der Voraussetzung∑n

k=1 k = n(n+1)2

zeigen wir∑n+1

k=1 k = (n+1)(n+2)2

.

Dazu rechnen wir

n+1∑k=1

k =n∑

k=1

k + (n+ 1) =n(n+ 1)

2+ n+ 1 =

n(n+ 1) + 2(n+ 1)

2=

(n+ 2)(n+ 1)

2

Wenn wir jetzt noch die Kommutativitat der Multiplikation nutzen, sind wir fertig.

b) Wir zeigen

13 + 23 + · · ·+ n3 =n2(n+ 1)2

4d.h.

n∑k=1

k3 =n2(n+ 1)2

4

fur alle ganzen n ≥ 1. Wieder benutzen wir Induktion nach n. Der Induktionsanfang ist wiedertrivial.

Jetzt rechnen wir

n+1∑k=1

k3 =n∑

k=1

k3 + (n+ 1)3 =n2(n+ 1)2

4+ (n+ 1)3 =

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1.6. VOLLSTANDIGE INDUKTION 33

n2(n+ 1)2 + 4(n+ 1)3

4=

(n2 + 4(n+ 1))(n+ 1)2

4=

(n+ 1)2(n+ 2)2

4

Fertig!

c) Was kann man aus a) und b) sofort schließen? Na klar!

n∑k=1

k3 =

(n(n+ 1)

2

)2

=

(n∑

k=1

k

)2

oder schon ausgeschrieben:

13 + 23 + · · ·+ n3 = (1 + 2 + · · ·+ n)2.

Na, wenn das nichts ist?

1.6.5 Peano-Axiome. Will man die naturlichen Zahlen axiomatisch beschreiben, so wird ausdem Induktionsprinzip ein Axiom.

Die Menge der naturlichen Zahlen kann man folgendermaßen axiomatisch beschreiben:

N ist eine Menge zusammen mit einem ausgezeichneten Element 0 ∈ N und einer AbbildungN→ N, n 7→ n′ derart, dass folgendes gilt:

(i) n′ = m′ ⇐⇒ n = m(ii) 0 6= n′ fur alle n ∈ NIst M eine Teilmenge von N mit den Eigenschaften 0 ∈ N und [n ∈ M ⇒ n′ ∈ M ], so istM = N.

Bemerkung 1.6.6 Hier wurde n′ (der Nachfolger von n) anstelle von n+ 1 geschrieben, dadie Addition erst im Nachhinein definiert werden soll, und zwar so:

Es sei n+ 0 := n und n+m′ = (n+m)′. Dadurch wird die Addition eindeutig definiert.

Will man z.B. die Assoziativitat der Addition zeigen, also (n + m) + k = n + (m + k), soargumentiert man mit Induktion nach k.

Sei M die Menge der k, fur welche (n+m) + k = n+ (m+ k) stimmt.

Induktionsanfang: Die Behauptung 0 ∈ M , d.h. (n + m) + 0 = n + (m + 0) ist klar, da nachDefinition (n+m) + 0 = n+m und m+ 0 = m ist.

Induktionsschluss: Wir setzen k ∈M , d.h. (n+m)+k = n+(m+k) voraus; es folgt (n+m)+k′ =((n+m) + k)′ = (n+ (m+ k))′ = n+ (m+ k)′ = n+ (m+ k′), also k′ ∈M . –

Im Nachhinein wird auch erst 1 = 0′ definiert. Die Multiplikation kann man dann auf folgendeWeise definieren: n ·0 = 0, n ·m′ = n ·m+n. (Damit siehst Du etwa: n ·1 = n ·0′ = n ·0+n =0 + n = n.)

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34 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

AUFGABEN

1. a) Zeige 12 + 22 + · · ·+ n2 =n(n+ 1)(2n+ 1)

6

b) Zeige:n∑

k=1

k(k + 4) =n(n+ 1)(2n+ 13)

6.

2. Zeige, dass man n verschiedene Gegenstande, etwa die Zahlen 1, 2, 3, . . . , n auf n! ver-schiedene Weisen in eine Reihenfolge bringen kann.

3. Zeige:n∑

k=0

k · k! = (n+ 1)!− 1.

(Dies geschieht mit vollstandiger Induktion ohne Muhe. Wie man allerdings auf dieseIdentitat gekommen ist, ist dem Beweis nicht anzusehen.)

4. Zeige: Fur jedes n ∈ N ist 2 · 53n+1 + 4n durch 11 teilbar, d.h. es gibt zu jedem n ein (vonn abhangiges) k ∈ N mit 11 ·k = 2 ·53n+1 +4n. (Auch hier fuhrt ein Induktionsbeweis zumZiele, ohne dass Du leicht erkennen kannst, wie ich auf solch eine Behauptung uberhauptgekommen bin.)

Bemerkung: Du magst die zu beweisende Behauptung, dass 2·53n+1+4n immer durch 11teilbar sei, nicht gerade naheliegend und vielleicht auch uninteressant finden. Du solltestDich trotzdem zur Ubung an dem Beweis versuchen. Er ist namlich kein automatischerBeweis, andererseits auch nicht allzu schwer.

5. Zeige durch Induktion nach k: Fur jedes ganze k ≥ 1 und jede ungerade Zahl u ist u2k−1durch 2k+2 teilbar. (Erinnere Dich, dass nach Definition u2k

= u(2k) ist.) Beachte: Furk = 0 stimmt die Aussage nicht, und das wird ja auch nicht behauptet.

6. In dieser Aufgabe benutzen wir die Zahl√

5. Diese ist nicht rational! Aber ich nehme an,dass Du trotzdem in der Lage bist, mit ihr umzugehen. Da sie dazu benutzt wird, ganzeZahlen auszurechnen, sollte Dir dies ein Ansporn sein, sich mit allgemeinen reellen Zahlenzu beschaftigen.

Die Folge (Fn) der Fibonacci-Zahlen ist folgendermaßen definiert:

F1 := F2 := 1, Fn := Fn−2 + Fn−1 fur n ≥ 3.

Zeige:

Fn =1√5

((1 +√

5

2

)n

(1−√

5

2

)n)(1.5)

Setze dazu Gn gleich der rechten Seite der behaupteten Gleichung, ferner

u :=1 +√

5

2, v :=

1−√

5

2

u und v erfullen u2 = u+1 und v2 = v+1. Berechne dann Gn−2 +Gn−1 und ersetze darinu + 1 durch u2, sowie v + 1 durch v2. Du erhaltst damit Gn. Schließlich musst Du nochG1 = G2 = 1 nachprufen.

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1.7. GROSSTER GEMEINSAMER TEILER, EUKLIDISCHER ALGORITHMUS 35

7. Zur effizienten Berechnung der Fn mittels der Formel 1.5 benotigt man nur den erstenSummanden, da ∣∣∣∣∣ 1√

5

(1−√

5

2

)n∣∣∣∣∣ < 1

2

ist,

8. Definiere H1 = a, H2 = b. Hn = Hn−1 +Hn−2. Wie lasst sich Hn mit Hilfe der Fibonacci-Zahlen (sowie a und b) ausdrucken?

1.7 Großter gemeinsamer Teiler, Euklidischer Algorith-

mus

Angenommen, Du bist im Jahr 1987 geboren. Da es mir (und auch Dir?) nun mal die Zahlen7 und 17 besonders angetan haben, wollen wir versuchen, diese Zahl 1987als Summe einesVielfachen von 7 und eines Vielfachen von 17, d.h in der Form 7a + 17b mit ganzen Zahlen aund b darzustellen. Dazu versuchen wir zunachst die 1 so zu schreiben. Kein Problem: denn esgilt ja 7 · 5 + 17 · (−2) = 1. (Dass hierbei nicht beide Faktoren a und b positiv sein konnen, istja klar.)

Dann ist aber auch 1987 = (7 · 5 + 17 · (−2)) · 1987 = 7 · (5 · 1987) + 17 · (−2 · 1987), also

1987 = 7 · 9935 + 17 · (−3974) (∗)

Weil 1987 groß genug ist, konnen wir hier auch positive ganze Faktoren a′, b′ mit 1987 = 7a′+17b′

finden. Das tun wir wie folgt: Fur jede ganze Zahl n ist sicher

0 = 7 · (−17n) + 17 · (7n)

(**)

Nun ist 3974/7 < 568 (knapp) und deshalb 7 · 568 > 3974. Mit der Wahl n = 568 addieren wir(∗∗) zu (∗) und erhalten

1987 = 7 · (9935− 17 · 568) + 17 · (−3974 + 7 · 568) = 7 · 279 + 17 · 2

Um es gleich zu sagen, ich mochte in diesem Abschnitt keineswegs eine mysteriose Eigenschaftder Zahlen 7 und 17 studieren, sondern Dir zeigen, dass es zu beliebigen ganzen Zahlen m,n,die teilerfremd sind, d.h. keinen gemeinsamen Primfaktor haben, ganze Zahlen a und b mitma+nb = 1 gibt. Fur großere naturliche Zahlen k gibt es dann auch naturliche Zahlen a′, b′ mitma′ + nb′ = k. Diese Aussage ist aber nicht so wichtig, weshalb ich ihren Beweis als Aufgabestelle.

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36 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

Definition 1.7.1 Seien a, b ∈ Z. Man sagt, a ist ein Teiler von b oder a teilt b, und schreibta|b, wenn es ein c ∈ Z mit a · c = b gibt. Wenn a kein Teiler von b ist, schreiben wir a - b.

Beachte, dass die Relation ‘|’ nicht symmetrisch ist. Beispielsweise gilt 2|6, aber 6 - 2. Auchgibt es (viele) Zahlenpaare a, b, fur die weder a|b noch b|a gilt, z.B. a = 6, b = 10.

1.7.2 Grundlegende Eigenschaften von”|“: a) Fur alle a ∈ Z gilt 1|a, − 1|a und a|0.

Du hast Dich nicht verlesen, da a · 0 = 0 ist. In der obigen Definition ist c = 0 nicht ausge-schlossen.b) a|b ⇐⇒ |a|

∣∣∣ |b|.(Dabei ist |a|, der Betrag von a, als die großere der beiden Zahlen a,−a definiert.)c) a|b, b|c⇒ a|c.d) a|b⇒ a|bb′ fur eine beliebige ganze Zahl b′,

d’) a|b, a|c⇒ a|b+ c, also insgesamtd”) a|b, a|c⇒ a|bb′ + cc′ fur beliebige ganze Zahlen b′, c′.e) a|b, a - c ⇒ a - bb′ + c fur jede ganze Zahl b′.Sonst ware a|bb′ + c− bb′, wo die rechte Zahl gleich c ist.f) Sind a, b > 0 und gilt a|b, so ist a ≤ b. (Aber naturlich nicht umgekehrt!)

Ich habe einen großen Strich∣∣∣ geschrieben, wo man den den Strich, der fur ‘teilt’ steht von den

‘Betragsstrichen’ unterscheiden mochte.

Definition 1.7.3 Seien a, b ∈ Z. Unter einem großten gemeinsamen Teiler von a, b ver-steht man eine naturliche Zahl d mit folgenden Eigenschaften: (i) d|a, d|b ; (ii) c|a, c|b =⇒c|d .

Bemerkungen 1.7.4 a) Wenn es einen großten gemeinsamen Teiler von a, b gibt, ist diesereindeutig bestimmt. Seien namlich d, d′ solche, so muss d|d′ und d′|d gelten. Da wir listigerWeise vorgeschrieben haben, dass d, d′ ≥ 0 sein sollen, folgt die Gleichheit d = d′. Falls a, b ∈ Zeinen großten gemeinsamen Teiler haben bezeichnen wir ihn mit ggT(a, b)

b) ggT(a, 0) = |a|. Insbesondere ist ggT(0, 0) = 0. (Die Bezeichnung ‘großter gemeinsamerTeiler’ ist im letzten Fall nicht wortlich zu verstehen.)

1.7.5 Du hast sicher in der Schule gelernt, wie man den großten gemeinsamen Teiler zweierganzer Zahlen findet, wenn man deren Primfaktorzerlegung kennt.

Z.B. ist ggT(12, 90) = ggT(22 · 31 · 50 , 21 · 32 · 51) = 21 · 31 · 50 = 6

Allgemein gilt ggT(±pr11 · · · prn

n , ±ps11 · · · psn

n ) = pMin(r1,s1)1 · · · pMin(rn,sn)

n . Dabei sind p1, . . . , pn

die ersten n Primzahlen, und die Exponenten durfen 0 sein.

Eine Primfaktorzerlegung herzustellen ist bei großeren Zahlen bekanntlich ziemlich zeit-aufwandig. Deshalb sollst Du hier eine schnellere Methode kennenlernen, den ggT zu berechnen,

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1.7. GROSSTER GEMEINSAMER TEILER, EUKLIDISCHER ALGORITHMUS 37

von der bereits Euklid wusste. Da diese fur jedes Paar ganzer Zahlen funktioniert, hat man da-mit naturlich auch die Existenz des ggT bewiesen.

Daruberhinaus werden wir mit diesem Verfahren zu a, b ganze Zahlen a′, b′ bestimmen, derartdass aa′ + bb′ = ggT(a, b) gilt.

Der Euklidische Algorithmus

Ein schnelles Verfahren zur Berechnung des großten gemeinsamen Teilers.

Hilfsbemerkung: In Z gelte a = bc + d. Dann ist jeder gemeinsame Teiler von a und bauch ein solcher von b und d und umgekehrt. D.h. fur t ∈ Z hat man:

t|a, t|b ⇐⇒ t|b, t|d.

Der Algorithmus lauft wie folgt: Seien a, b ∈ Z− 0. (ggT(a, 0) = |a|.) Setze r0 := a, r1 = b.Dividiere mit Rest nach und nach:

r0 = r1q1 + r2 mit |r2| < |r1|r1 = r2q2 + r3 mit |r3| < |r2|r2 = r3q3 + r4 mit |r4| < |r3|

usw.

Solange ri 6= 0 ist, kann man qi, ri+1 finden mit

ri−1 = riqi + ri+1 und |ri+1| < |ri|.

Da aber |r1| > |r2| > . . . > |ri| > |ri+1| usw. gilt, muss zweifellos fur ein n der Rest rn+1 gleich0 sein. Das Verfahren bricht also ab:

rn−2 = rn−1qn−1 + rn mit 0 < |rn| < |rn−1|rn−1 = rnqn + 0.

Behauptung: |rn| = ggT(a, b).

Wegen obiger Hilfsbemerkung hat man fur t ∈ Z die Aquivalenzen

t|r0, r1 ⇐⇒ t|r1, r2 ⇐⇒ t|r2, r3 ⇐⇒ . . . ⇐⇒ t|rn−1, rn ⇐⇒ t|rn, 0.

Unter Beachtung von a = r0, b = r1 folgt ggT(a, b) = ggT(rn, 0) = |rn|.

Man bekommt mit obigem Algorithmus auch eine Darstellung von rn in der Form aa′ + bb′.Einen Ausdruck aa′ + bb′ nennt man eine Linearkombination von a und b.

Hilfsbemerkung: Seien c = aa1 + bb1 und d = aa2 + bb2 als Linearkombinationen vona und b gegeben. Dann erhalt man jede Linearkombination cc′ + dd′ von c und d explizit alsLinearkombination von a und b; es ist namlich cc′ + dd′ = (aa1 + bb1)c

′ + (aa2 + bb2)d′ =

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38 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

a(a1c′ + a2d

′) + b(b1c′ + b2d

′).

Wir betrachten nun wieder die Gleichungsfolge aus 1.7.5. Zunachst sind r1 = b und r2 = a− bq1als Linearkombinationen von a und b gegeben. Falls man schon induktiv ri−1 und ri alsLinearkombinationen von a und b gewonnen hat, gewinnt man auch ri+1 als eine solche, dari+1 = ri−1 − riqi gilt. (Manchmal wird diese Methode auch der erweiterte EuklidischeAlgorithmus genannt.)

Bemerkung 1.7.6 Wenn man beim euklidischen Algorithmus mit moglichst wenigen Schrittenauskommen will, muss man negative Reste zulassen, um bei jedem Schritt |ri+1| ≤ |ri|/2 zuerreichen. (Es muss zugestanden werden, dass der Gewinn beim Gebrauch negativer Restenicht sehr groß ist. Gilt namlich a > b > 0 und a = bq + r mit 0 ≤ r < b, so ist immer nocha ≥ b+ r > r + r, also r < a/2, was nicht viel schlechter als |r| ≤ b/2 ist.)

Definition 1.7.7 a, b ∈ Z heißen (zueinander) teilerfremd, wenn ggT(a, b) = 1 ist. (Manbenutzt auch die Sprechweise, dass in diesem Fall a zu b teilerfremd ist.)

Bemerkungen 1.7.8 a) Naturlich sind a, b genau dann teilerfremd, wenn sie keinen gemein-samen Primfaktor besitzen.

b) Die ganzen Zahlen a, b sind teilerfremd genau dann, wenn es a′ und b′ in Z mit aa′ + bb′ = 1gibt. Denn, wenn a und b teilerfremd sind, liefert der euklidische Algorithmus die gesuchtena′, b′. Wenn umgekehrt t ein Teiler von a und von b ist, ist t auch ein Teiler von aa′ + bb′ = 1 .

c) Wenn a, b teilerfremd sind, gibt es fur alle c ∈ Z Zahlen a, b ∈ Z mit aa+ bb = c.(c = 1 · c = a(a′c) + b(b′c).)

Wir erhalten einen neuen Beweis von Euklids Lemma.

Lemma 1.7.9 Seien p eine Primzahl, a, b ∈ Z und p|ab. Dann teilt p mindestens eine derbeiden Zahlen a, b.

Beweis: Wenn p|b gilt, sind wir glucklich. Andernfalls sind b, p teilerfremd und es gibt deshalbc, d ∈ Z mit bc+ pd = 1. Dann gilt p | abc+ apd, wo abc+ apd = a ist.

Erinnere Dich, dass aus Euklids Lemma ziemlich direkt die Eindeutigkeit der Primfaktorzer-legung folgt.

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1.7. GROSSTER GEMEINSAMER TEILER, EUKLIDISCHER ALGORITHMUS 39

AUFGABEN

1. Welche Massen kannst Du mit einer Balkenwaage wiegen, wenn Du beliebig viele Gewichtevon 70g und von 125g zur Verfugung hast und in beide Waagschalen Gewichte legendarfst?

2. Zwei große, etwa halbvolle Badewannen stehen nebeneinander. Kannst Du mit einem7- und einem 19-Litermaß durch Hin- und Hergießen (der vollen Maße) erreichen, dassschließlich das Wasser der einen Badewanne um einen Liter vermehrt, das der anderenum einen Liter vermindert ist?

3. Seien a, b teilerfremde ganze Zahlen. Bestimme alle ganzen Zahlen x, y mit ax+ by = 0.

4. Sei ggT(a, b) = 1. Dann gibt es ja a′, b′ ∈ Z mit aa′ + bb′ = 1.

Uberlege, auf welche (einfache) Weise man a′ und b′ verandern kann, ohne dass dieseGleichung an Gultigkeit verliert.Kann man zum Beispiel a′ ≥ 0 erreichen? (Dies geht, wenn b 6= 0 ist.) Man kann samtlichea′, b′ mit aa′ + bb′ = 1 bestimmen. Vgl. Aufgabe 3.

5. Seien a, b, c ∈ N1, ggT(a, b) = 1 und c ≥ (a− 1)(b− 1).a) Zeige: Es gibt a′, b′ ∈ N(!) mit c = aa′ + bb′. D.h. c ist eine Linearkombination mitnicht negativen Koeffizienten.

b) Zeige: d = ab−a−b lasst sich nicht in der Form aa′+bb′ mit naturlichen a′, b′ schreiben.

6. Schreibe die Jahreszahl Deiner Geburt in der Form n · 30 +m · 49 mit n,m ∈ N.

7. Mach Dir Gedanken daruber, wie viele Divisionen mit Rest Du ausfuhren musst, um denggT zweier naturlicher Zahlen zu bestimmen. Unterscheide dabei, ob Du nur nichtnegativeoder auch negative Reste zulassen willst. Im ersten Fall erhaltst Du bei der Division von26 durch 7 die Darstellung 26 = 7 · 3 + 5, im zweiten Fall darfst Du auch 26 = 7 · 4 − 2schreiben.

a) Sind a, b > 0 ganz und a ≥ b, so schreibe im 1. Fall a = bq+ r mit 0 ≤ r < b. Dann istq ≥ 1, also a ≥ b + r > r + r und deshalb schließlich a > 2r. Fur die ri im euklidischenAlgorithmus erhalt man somit ri > 2ri+2. Das bedeutet: Ist a ≤ 2k so benotigt manweniger als 2k Schritte.

b) Sind a, b 6= 0 ganz und |a| ≥ |b|, so schreibe im 2. Fall a = bq + r mit |r| ≤ |b|2. Ist also

|b| ≤ 2k, so benotigt man hochstens k Schritte. Das bedeutet gegenuber a) eine leichteVerbesserung.

8. Seien m,n ∈ N1 zueinander teilerfremd. Beweise:a) Es gibt ein k ∈ N mit m|k und n|k + 1. (Benutze Aufgabe 4.)b) Die Gleichung xm + ym = zn hat eine Losung in naturlichen Zahlen > 0.(Lose zunachst xk + yk = zk+1.)

(Zu a) Es gibt naturliche Zahlen m′, n′ mit −mm′ + nn′ = 1 also nn′ = mm′ + 1. Setzek = mm′.

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40 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

Beachte: Wenn es zu m,n ∈ Z eine ganze Zahl k mit m|k und n|k + 1 gibt, sind m,nzueinander teilerfremd.) (Zu b) 2k + 2k = 2k+1. Hat man also m′, n′ mit nn′ = mm′ + 1gefunden, so gilt (2m′

)m + (2m′)m = (2n′)n.)

9. a) Bestimme ggT(11 111 111, 111 111 111 111 111). b) Allgemeiner: Bestimme

ggT(1.....1, 1.....1) ,

wenn die erste Zahl m, die zweite n Stellen hat.

c) Noch allgemeiner: Bestimme

ggT

(n−1∑i=0

di,

m−1∑i=0

di

)fur n,m, d ∈ N1.

10. Berechne ggT(408277 , 222191) und stelle diesen als Linearkombination dieser beidenZahlen da.

Wenn Du einen Computer die Primfaktorzerlegung dieser beiden Zahlen bestimmen lasst,bringst Du Dich um die Erkenntnis, wie effektiv die Berechnung des ggT mit Hilfe deseuklidischen Algorithmus ist. Gut ware es naturlich, Du konntest einem Computer deneuklidischen Algorithmus beibringen.

11. a) Finde ganze Zahlen m,n mit1

225=m

9+

n

25.

b) Allgemeiner seien a, b zueinander teilerfremde Zahlen > 0. Wie kann man ganze m,nbestimmen, so dass

1

ab=m

a+n

bgilt?

12. Sei m ∈ N2 und M die Menge aller positiven Teiler von m (einschließlich 1 und m). Aufder Menge M kann man folgendes Spiel fur 2 Spieler spielen:Abwechselnd belegen die Spieler je eine der Zahlen aus M mit einem Spielstein unterBeachtung folgender Regel: Ist bereits d ∈ M belegt und gilt d′|d, so darf d′ nicht mehrbelegt werden.Wer m belegt, hat verloren.Zeige: Es gibt eine Gewinnstrategie fur den beginnenden Spieler. (D.h. er hat die Moglich-keit zu gewinnen, was auch immer der andere Spieler fur Zuge macht.)(Hinweis: Eine besondere Rolle spielt die Zahl 1. Allgemeiner als angegeben, darf M ei-ne beliebige endliche teilweise – d.h. nicht notwendig total – geordnete Menge mit einemkleinsten und einem davon verschiedenen großten Element sein. Ich kenne ubrigens keinenBeweis obiger Behauptung, der eine Gewinnstrategie konkret angibt.)

13. Die Farey-Folge der Ordnung n(≥ 1) ist die nach aufsteigender Große geordnete Folgederjenigen rationalen Zahlen a aus dem Intervall [0, 1], d.h. mit 0 ≤ a ≤ 1, deren Nennerin der Standardform (d.h. gekurzt mit positivem Nenner) ≤ n ist. Z.B. ist die Farey-Folgeder Ordnung 4 die Folge:

0

1,

1

4,

1

3,

1

2,

2

3,3

4,

1

1.

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1.7. GROSSTER GEMEINSAMER TEILER, EUKLIDISCHER ALGORITHMUS 41

Fur die Farey-Folge der Ordnung n gilt:

a) Wenn a1/b1, a2/b2 aufeinanderfolgende Glieder dieser Folge in der Standardform sind,so ist

• 1. a2b1 − a1b2 = 1,

• 2. b1 + b2 > n,

• 3. b1 6= b2 im Falle n > 1.

b) Wenn a1/b1, a2/b2, a3/b3 drei aufeinanderfolgende Glieder der Farey-Folge (in ihrerStandardform) sind, so ist a2/b2 = (a1 + a3)/(b1 + b3). (Der letzte Bruch ist nichtnotwendig gekurzt.)

Um a) und b) zu beweisen, zeige zunachst c) bis e):

c) Aus a1/b1 < a2/b2 folgt a1/b1 < (a1 + a2)/(b1 + b2) < a2/b2.

d) Wenn a2b1 − a1b2 = 1 ist, gilt auch

(a1 + a2)b1 − a1(b1 + b2) = 1 und a2(b1 + b2)− (a1 + a2)b2 = 1.

Sind ai, bi ∈ Z, so folgt also insbesondere: Der Bruch (a1 + a2)/(b1 + b2) ist gekurzt.

e) Aus ai, bi, u, v ∈ Z, bi, v > 0, a2b1−a1b2 = 1 und a1/b1 < u/v < a2/b2 folgt v ≥ b1 +b2.

Anschließend kannst Du die Farey-Folge der Ordnung n auf folgende Weise konstruieren:Beginne mit 0/1, 1/1. Ist n > 1, fuge 1/2 = (0 + 1)/(1 + 1) ein und fahre so fort.Namlich, solange es in Deiner Folge noch zwei aufeinanderfolgende Glieder a1/b1, a2/b2mit b1 + b2 ≤ n gibt, fuge (a1 + a2)/(b1 + b2) gemaß c) zwischen ihnen ein.Fur die am Ende erhaltene Folge ist a) 2. offenbar erfullt, und a) 1. folgt aus d).Aus a) 1. kannst Du leicht b) folgern. Ferner folgt a) 3. aus den Ungleichungena/b < a/(b − 1) < (a + 1)/b fur a + 1 < b. Schließlich siehst Du mit e), dass Du dieFarey-Folge der Ordnung n konstruiert hast.

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42 KAPITEL 1. VOM ZAHLEN, RECHNEN UND VERGLEICHEN

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Kapitel 2

Neue Rechenbereiche

2.1 Grundlegende Definitionen

Betrachte dieses Kapitel als Abenteuer! Ich glaube namlich, Du wirst etwas Neues lernen.

In (1.1.4) haben wir elementare Rechengesetze fur die naturlichen Zahlen angegeben. Dannhaben wir die Menge (i.e. Gesamtheit) N der naturlichen Zahlen zur Menge Q der rationalenZahlen (die auch negativ sein durfen) erweitert. Hierin findet sich die Menge Z der ganzenZahlen (die auch negativ sein durfen). Wenn wir noch die Menge der rationalen Zahlen ≥ 0 mitQ+ bezeichnen, erhalten wir folgendes Schema:

N −→ Z↓ ↓

Q+ −→ Q

(Man kann, um von den naturlichen zu den rationalen Zahlen zu gelangen, sowohl den Weguber die nicht-negativen rationalen Zahlen, als auch den Weg uber die ganzen Zahlen wahlen!)

In all diesen Mengen kann man addieren und multiplizieren. Es gibt in ihnen neutrale Elemente– ubrigens immer 0 und 1 – und zu manchen Elementen auch additiv, bzw. multiplikativ Inverse.

Definition 2.1.1 Ein Ring R ist eine Menge zusammen mit zwei Verknupfungen (Rechen-arten) ‘+’ und ‘·’ (Addition und Multiplikation), fur welche folgende Regeln gelten:Assoziativitat: a+ (b+ c) = (a+ b) + c und a(bc) = (ab)cKommutativitat der Addition: a+ b = b+ aDistributivitat: a(b+ c) = ab+ ac, (b+ c)a = ba+ caExistenz neutraler Elemente: In R gibt es ein Element 0 mit der Eigenschaft a+ 0 = a undein Element 1 mit der Eigenschaft 1a = a1 = aExistenz additiv Inverser: Zu jedem a ∈ R existiert ein Element (−a) (auch einfach −ageschrieben) mit der Eigenschaft a+ (−a) = 0.

Es lohnt sich nicht, den hier definierten algebraischen Begriff ‘Ring’ mit dem alltaglichen (geo-metrischen) Begriff eines Ringes zu vergleichen.

43

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44 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Bemerkungen 2.1.2 a) Wie ublich, lasst man den Multiplikationspunkt haufig weg. Und wirbeachten die Konvention ‘Punktrechnung geht vor Strichrechnung’, um Klammern zu sparen.

b) Die neutralen Elemente sind eindeutig bestimmt: Seien etwa 0, 0′ neutrale Elemente derAddition, so ist 0 = 0+0′ = 0′+0 = 0′. Dasselbe gilt fur neutrale Elemente der Multiplikation.(Bei der Forderung der Existenz additiv Inverser braucht man also nicht anzugeben, welchemneutralen Element der Addition die Summe a+ (−a) gleich sein soll.)

c) Ebenso gibt es zu a nur ein additiv Inverses. Sind namlich (−a), ( a) zu a additiv invers,so gilt: (−a) = (−a) + 0 = (−a) + (a + ( a)) = ((−a) + a) + ( a) = 0 + ( a) = ( a).Insbesondere gibt es auch nur ein additiv Inverses von (−a), namlich welches?

d) Die Kommutativitat der Multiplikation fordern wir nicht, da es interessante Beispiele gibt,wo diese nicht erfullt ist. Siehe Abschnitt 2. Ohne die Kommutativiat ist es nicht allgemeinmoglich, eines der beiden Distributivgesetze aus dem anderen zu folgern.

Naturlich kann man auch Rechenbereiche betrachten, in denen auf die Forderung der Assozia-tivitat der Multiplikation verzichtet wird – und tut dies manchmal auch! Wir wollen hier aberdiese Allgemeinheit nicht anstreben.

e) Es wird nicht verlangt, dass 0 und 1 verschiedene Elemente sind. Allerdings besteht in demFall 0 = 1 der Ring nur aus einem Element, welches sowohl 1 wie 0 ist. (Dies steht in derfolgenden Bemerkung a).) Ein solcher Ring heißt ‘der’ Nullring.

f) Die ersten Beispiele fur Ringe sind Z und Q, wahrend N kein Ring ist, da zumeist die additivInversen fehlen.

Bemerkungen 2.1.3 a) Aus 0 + 0 = 0 folgt a0 = a(0 + 0) = a0 + a0. Indem man auf beidenSeiten von a0 = a0 + a0 das Element −(a0) addiert, erhalt man a0 = 0. Ebenso zeigt man0a = 0. Sollte 0 = 1 gelten, folgt a = a · 1 = a0 = 0, und der Ring ist der Nullring.

b) Es ist ab + a(−b) = a(b + (−b)) = a0 = 0. Also ist a(−b) das additiv Inverse zu ab,d.h. a(−b) = −(ab). Ebenso ist (−a)b = −(ab). Ferner ist a das additiv Inverse zu −a, d.h.a = −(−a). In jedem Ring gilt deshalb (−a)(−b) = −a(−b) = −(−ab) = ab.

Wenn also Z und Q Ringe sein sollen, so muss man fur positive ganze, bzw. rationale Zahlena, b das Produkt der negativen Zahlen (−a), (−b) wie oben definieren, namlich: (−a)(−b) = ab.Dasselbe gilt fur die reellen Zahlen, die wir spater einfuhren.

2.1.4 In einem Ring R sind Potenzen mit Exponenten aus N definiert. Genauer, fur a ∈ R, n ∈N ist an definiert. (Die Kommutativitat der Multiplikation wird dazu nicht benotigt. Allerdingsbenotigt man die Assoziativitat bereits, wenn man die Gleichheit (aa)(aa) = ((aa)a)a wunscht.)Ich erinnere an die Definition a0 = 1, auch wenn a = 0 sein sollte.

Es gelten die grundlegenden Potenz-Regeln

am+n = aman sowie amn = (am)n . (2.1)

(Die Gultigkeit dieser Regeln ergibt sich genau so, wie wir es fur den Fall dass a eine naturlicheZahl ist oben gesehen haben. Zu ihrem Beweis benotigt man die Assoziativitat, aber nicht dieKommutativitat der Multiplikation.)

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2.1. GRUNDLEGENDE DEFINITIONEN 45

In einem Ring, dessen Multiplikation kommutativ ist, gilt zusatzlich die Regel

(ab)n = anbn (2.2)

Fur die meisten Ringe R kann man ab mit a, b ∈ R nicht vernunftig definieren. Wir werdenallerdings ab definieren, falls a und b reelle Zahlen sind und a > 0 ist. Dies wird im Kapitel 5ausgefuhrt.

Bemerkung 2.1.5 Die Definition an := a · · · a mit n Faktoren wurde n − 1 Multiplikationenzur Berechnung von an erfordern. Man kann dies aber abkurzen. Z.B. erfordert die linke Seitevon (((a2)2)2)2 = a16 nur 4 statt 15 Multiplikationen. Wenn man etwa a25 berechnen mochte,stellt man 25 im Binarsystem dar: 25 = 24 + 23 + 20 dar und rechnet

a25 = a24 · a23 · a20

= (((a2)2)2)2 · ((a2)2)2 · a

mit Hilfe von 6 Multiplikationen aus. (Warum benotigt man nicht 9 Multiplikationen?)

(Diese Berechnungsabkurzung beim Potenzieren entspricht dem schriftlichen Rechnen beimMultiplizieren, wobei der Exponent in Binarschreibweise gedacht ist. Sollte Dir diese Bemerkungschleierhaft erscheinen, uberschlage sie.)

Fur Anwendungen in der Codierung muss man Potenzen mit naturlichen Exponenten berech-nen, die als Dezimalzahlen mehrere hundert Stellen haben. Eine solche Berechnung ware ohnedie oben beschriebene Abkurzung schlechterdings nicht moglich. (Hat der Exponent z.B. 300Stellen im Dezimalsystem, so hat er etwa 900 Stellen im Binarsystem. Man braucht zur Be-rechnung der Potenz also etwa 900 Quadrierungen und durchschnittlich noch etwa 450 weitereMultiplikationen. Das sind nun wirklich wenige im Vergleich zu 10300.)

Du kannst mit Recht einwenden, dass man im Bereich der naturlichen Zahlen eine Potenz derForm ab, wo a ≥ 2 und b von Großenordnung 10300 ist, schon allein deshalb nicht berechnenkann, weil man die berechnete Zahl von mindestens 10100 Dezimalstellen schlechterdings nichtaufschreiben kann!

Die Erklarung ist: Man rechnet gar nicht in N, sondern in einem endlichen Ring. Und solchewirst Du bereits im Abschnitt 4 kennen lernen.

Definition 2.1.6 Ein kommutativer Ring ist ein Ring, in dem die Kommutativitat fur dieMultiplikation, d.h. ab = ba gilt.

2.1.7 In einem kommutativen Ring R gilt fur n ∈ N die Regel (ab)n = anbn, in einem nichtkom-mutativen Ring meist nicht! Beispiele findest Du im Ring der 2 × 2-Matrizen uber beliebigenRingen, die vom Nullring verschieden sind. Siehe Abschnitt 3.

Definition 2.1.8 Ein Schiefkorper ist ein (nicht notwendig kommutativer) Ring K, in dem1 6= 0 ist und fur alle Elemente a 6= 0 ein multiplikativ Inverses a−1 existiert. Dabei heißta−1 multiplikativ invers zu a, wenn a−1a = aa−1 = 1 ist. Spricht man von dem Inversen ohnegenauere Spezifikation, so ist das multiplikativ Inverse gemeint.

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46 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Wie fur das additiv Inverse sieht man auch, dass das multiplikativ Inverse eines Elementeseindeutig bestimmt ist.

Bemerkung 2.1.9 Seien a, b von 0 verschiedene Elemente eines Schiefkorpers. Ist ab 6= ba, soist auch (ab)−1 6= a−1b−1. Hingegen gilt (unter der Voraussetzung der Assoziativitat) immer(ab)−1 = b−1a−1. Zeige dies! (Wenn Du zuerst ein Hemd und dann daruber einen Pulloverangezogen hast und das ohne Verrenkungen ruckgangig machen willst, musst Du zuerst denPullover und dann das Hemd ausziehen!)

2.1.10 In einem Schiefkorper kann man von Elementen a 6= 0 Potenzen mit beliebigen (alsoauch negativen) ganzzahligen Exponenten bilden: Fur n ≥ 0 sei a−n := (a−1)n. Dabei versteheman zunachst unter a−1 das multiplikativ Inverse von a; als Potenz kann man es nachtraglichverstehen.

Auch fur Potenzen mit beliebigen ganzen Exponenten gelten o.a. Regeln am+n = aman undamn = (am)n. (Aus (ab)2 = a2b2 folgt ab = ba in jedem Schiefkorper. Zeige dies!)

Definition 2.1.11 Ein Korper ist ein Schiefkorper, in dem die Kommutativitat der Multipli-kation gilt.

Bemerkung: Dem allgemeinen Sprachgebrauch nach sollte ein Schiefkorper ein Korper spezieller Artsein. Dummerweise ist hier umgekehrt ein Korper ein Schiefkorper spezieller Art. Das liegt naturlichan der historischen Entwicklung, daran, dass man den Begriff des Korpers zuerst erfunden hat undspater gute Grunde fand, auch korperahnliche Gebilde zu betrachten, in denen die Multiplikation nichtkommutativ ist. Als Ausweg wurde z.B. vorgeschlagen, Schiefkorper als ‘Orper’ zu bezeichnen. Eineandere Moglichkeit ware der Name ‘Divisionsring’. (Im Englischen heißt ‘Korper’ – im hier definiertenSinn – ‘field’, ein ‘Schiefkorper’ ‘skew field’, ‘sfield’ oder ‘division ring’.) Diese sprachliche Kalamitattritt allerdings in der Mathematik immer wieder auf, und man hat sich daran gewohnt, z.B. untereiner Garbe eine Pragarbe spezieller Art zu verstehen, usw. Was Garben sind, brauchst Du jetzt nochnicht, vielleicht sogar nie, verstehen.

2.1.12 In einem Korper gilt wegen der Kommutativitat fur alle Elemente a, b und beliebigeganze Zahlen n die Regel (ab)n = anbn.

In einem Korper definieren wir ab

= ab−1. Du kannst und solltest die Regeln fur die Bruchrech-nung aus den Korpergesetzen ableiten. Soll also Q ein Korper werden, mussen wir Additionund Multiplikation so definieren, wie wir es getan haben – und wie Du es in der Schule gelernthast!

Ubrigens, wenn man den rationalen Zahlen ein Element ∞ hinzufugt, um dem Bruch 10

einenSinn zu geben, erhalt man keinen Korper. Die Struktur kompliziert sich nur.

2.2 Beispiele von Ringen und Korpern

Von der Schule her solltest Du in etwa den Korper R der reellen Zahlen kennen. Von dem wirdspater noch die Rede sein.

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2.2. BEISPIELE VON RINGEN UND KORPERN 47

Beispiel 2.2.1 Ringe zwischen Z und Q

1. Sind u, v ungerade ganze Zahlen, so ist bekanntlich auch uv ungerade. Sind ferner a, b ∈ Z,so gilt

a

u+b

v=av + bu

uv,

a

u· bv

=ab

uvDas bedeutet, dass die Bruche, deren Nenner ungerade sind, genauer: die mit ungeraden Nen-nern geschrieben werden konnen, einen (kommutativen) Ring bilden. In diesem Ring R hat 2kein multiplikativ Inverses, also ist er kein Korper und somit auch nicht gleich Q. Andererseitsenthalt er die Zahl 1/3. Der Ring R umfasst Z und liegt in Q.

2. Auch die rationalen Zahlen, deren Nenner eine Potenz von 2 ist bilden einen Ring S. (1 = 20

ist als Nenner zugelassen.)

Diese Ringe R und S verhalten sich unterschiedlich. In R besitzt 3 = 1 + 1 + 1 ein Inverses,aber 2 = 1 + 1 nicht. In S ist es gerade umgekehrt.

3. Allgemein sei Q eine Menge von Primzahlen. Betrachte die Menge A derjenigen rationalenZahlen, die sich mit einem Nenner schreiben lassen, der 1 oder ein Produkt von Primzahlen ausQ ist. (Jede Primzahl aus Q darf auch ein mehrfacher Primfaktor sein.) Dieses A ist ein Ring,der in Q liegt und Z umfasst. (Den Begriff ‘Menge’ als eine gewisse Gesamtheit mathematischerObjekte betrachten wir hier ganz naiv.)

Besteht Q aus allen von 2 verschiedenen Primzahlen, so erhalt man den Ring R aus 1., bestehtQ nur aus der Primzahl 2, erhalt man S.

Besteht Q aus allen Primzahlen, so erhalten wir Q, besteht Q aus gar keiner Primzahl, dannZ.

Bemerkung 2.2.2 Allgemein kann man, ausgehend von einem kommutativen Ring R, Bruchebetrachten. Haufig lasst sich auf diese Weise der Ring – wie beim Ubergang von Z zu Q – zueinem Korper erweitern. Dazu muss allerdings R nullteilerfrei sein. S.u.

Man kann wie in den o.a. Beispielen die zulassigen Nenner einschranken, um weitere Ringe zuerhalten.

Beispiel 2.2.3 Weiß man von zwei ganzen Zahlen lediglich, ob sie gerade oder ungerade sind,so weiß man dieses auch uber ihre Summe und ihr Produkt. Es gilt:

gerade+gerade = ungerade+ungerade = gerade, gerade+ungerade = ungeradegerade·gerade = gerade·ungerade = gerade, ungerade·ungerade = ungerade

Wir konnen also die Begriffe ‘gerade’ und ‘ungerade’ als die Elemente einer Menge (von 2Elementen) auffassen, in der man die Verknupfungen ‘+’ und ‘·’ hat. Wir setzen 0 =gerade,1 =ungerade. Denn offenbar ist gerade ein neutrales Element fur die Addition, ungerade einsolches fur die Multiplikation. Die Additions- und die Multiplikationstafel sehen wie folgt aus:

+ 0 10 0 11 1 0

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48 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

· 0 10 0 01 0 1

Bis auf die Rechnung 1 + 1 = 0 ist alles wie gewohnt. 1 ist sowohl das additiv, wie das multi-plikativ Inverse von sich selbst.

Man nennt diese Menge zusammen mit den Verknupfungen F2. Wir haben es mit einem (etwasdurftigen) Korper zu tun.

Die Elemente 0 und 1 von F2 sind nicht dieselben Gegenstande, wie die ganzen Zahlen 0und 1. (Vielleicht sollte man sie deshalb mit 0, 1 bezeichnen. Alternativ konnte man auch dasAdditionszeichen ‘+’ umbezeichnen.) Im Bereich der ganzen Zahlen gilt ja 1 + 1 6= 0.

Um zu zeigen, dass F2 wirklich ein Korper ist, muss man insbesondere die beiden Assoziativge-setze, sowie die Distributivitat zeigen. Will man diese Gesetze Fall fur Fall untersuchen, so hatman dreimal 23 Falle zu betrachten. Aber man kann sich ja darauf berufen, dass diese Gesetzefur N (und Z) gelten. Deshalb mussen sie doch auch fur den Bereich gerade, ungerade gelten,nicht wahr?

2.2.4 Wir konnen fur jede naturliche Zahl m > 1 etwas ahnliches tun, wie wir gerade furm = 2 getan haben. Wir konnen einen kommutativen Ring von m Elementen konstruieren,der ubrigens, falls m eine Primzahl ist, ein Korper ist. Wir werden dieser wichtigen Idee denAbschnitt 4 widmen.

2.2.5 Direktes Produkt: Nehmen wir zwei Ringe R,S und bilden wir ihr cartesisches Pro-dukt R× S, d.h. die Menge aller Paare (r, s) mit r ∈ R, s ∈ S. Fur solche Paare (r, s), (r′, s′)definieren wir

(r, s) + (r′, s′) := (r + r′, s+ s′) und (r, s)(r′, s′) := (rr′, ss′).

R× S mit diesen Verknupfungen wird das direkte Produkt von R mit S genannt. Offenbar istR×S wieder ein Ring, kommutativ, wenn R und S es sind. Was ergibt (1, 0)(0, 1)? Wir sehen,wenn in den Ringen R und S jeweils 0 6= 1 ist, gibt es in R × S immer von 0 verschiedeneElemente, deren Produkt 0 ist. Das direkte Produkt zweier Korper ist deshalb nie ein Korper.

2.2.6 Im Gegensatz zu dem letzten Beispiel gilt in Z und Q die sogenannte Nullteilerfreiheit.Damit ist folgende Regel gemeint:

ab = 0 =⇒ a = 0 oder b = 0.

(Uberlege, dass dies in jedem Schiefkorper gilt.)

Definition 2.2.7 In einem Ring R nennen wir a einen Links-Nullteiler, wenn es in R einb 6= 0 mit ab = 0 gibt. Analog wird ein Rechts-Nullteiler definiert. Bei einem kommutativenRing spricht man naturlich schlicht von Nullteilern.

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2.3. MATRIZEN 49

(Da immer a0 = 0 ist, teilt jedes Element eines Ringes die 0. Ein Nullteiler ist aber nachDefinition ein Element, welches die 0 auf nicht triviale Weise teilt.) Die 0 selbst zahlt man zuden Nullteilern, vorausgesetzt, der Ring ist nicht der Nullring. Es gibt Beispiele, wo a ein Links-,aber kein Rechts-Nullteiler ist, und umgekehrt. In unserem Buch kommen solche Beispiele nichtvor.

Definition 2.2.8 Ein kommutativer Ring heißt nullteilerfrei (auch integer oder ein Inte-gritatsring oder ein Integritatsbereich), wenn er nicht der Nullring ist und außer 0 keineNullteiler besitzt.

Bemerkung 2.2.9 Kurzungsregel: Sei c kein Rechts-Nullteiler und ac = bc, so ist a = b.

Beweis hierfur: Aus ac = bc folgt (a− b)c = ac− bc = 0 also a− b = 0, da c kein Nullteilerist. –

2.3 Matrizen

2.3.1 Matrizen (Singular: Matrix) sind sehr interessante nutzliche mathematische Ge-genstande. Ich beschranke mich in diesem Buch auf einen Spezialfall.

Sei R ein Ring. Wir betrachten sogenannte 2×2-Matrizen uber R, d.h. quadratische Schemata(a bc d

)mit a, b, c, d ∈ R

Die Gesamtheit dieser Matrizen sei mit M2(R) bezeichnet.

Das Paar (a, b) wird die erste Zeile, das Paar (c, d) die zweite Zeile obiger Matrix genannt. Das

(senkrecht geschriebene) Paar

(ac

)heißt die erste Spalte, das Paar

(bd

)die zweite Spalte

der Matrix.

Wir definieren die Addition zweier solcher Matrizen wie folgt:(a bc d

)+

(a′ b′

c′ d′

)=

(a+ a′ b+ b′

c+ c′ d+ d′

),

d.h. auf recht naheliegende Art. Die Addition erfullt offenbar alle Gesetze, welche die Additionbei Ringen erfullt. Bestimme das neutrale Element der Addition, sowie das additiv Inverse einerMatrix.

Ist λ ∈ R und A =

(a bc d

)∈M2(R)so setzen wir

λA =

(λa λbλc λd

)

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50 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Die Multiplikation zweier Matrizen ausM2(R) ist komplizierter definiert. Ich will sie schrittweiseeinfuhren. Zunachst sei fur ein als Zeile geschriebenes Paar (a1, a2) und fur ein als Spalte

geschriebenes Paar

(b1b2

)ein Produkt, wie folgt, definiert:

(a1, a2)

(b1b2

)= a1b1 + a2b2.

(Den ersten Faktor kann man als 1× 2-Matrix, den zweiten als 2× 1-Matrix und das Ergebnisals 1× 1-Matrix ansehen.)

A,B seien 2× 2-Matrizen. Die 1., bzw. 2. Zeile von A seien mit Z1, bzw. Z2 bezeichnet. Die 1.,bzw. 2. Spalte von B seien S1, bzw. S2. Dann ist

AB =

(Z1

Z2

)(S1, S2) :=

(Z1S1 Z1S2

Z2S1 Z2S2

)D.h. der Eintrag in der i-ten Zeile und j-ten Spalte der Ergebnismatrix ist das Produkt deri-ten Zeile von A mit der j-ten Spalte von B. (Oder so: Man multipliziere die Zeilen von A mitden Spalten von B, und setze die Ergebnisse an die entsprechenden Stellen einer 2×2-Matrix.)

Ausgeschrieben ergibt sich:(a bc d

)·(a′ b′

c′ d′

)=

(aa′ + bc′ ab′ + bd′

ca′ + dc′ cb′ + dd′

)Bemerkung 2.3.2 Spater – im Kapitel 6 – werden wir noch folgendes Produkt verwenden:Sei A eine 2 × 2-Matrix mit den Zeilen Z1 und Z2 und B eine 2 × 1-Matrix, d.h. eine Spalte.Dann sei

AB =

(Z1BZ2B

).

Das Ergebnis ist eine Spalte. Ausgeschrieben ergibt sich(a11 a12

a21 a22

)(b1b2

)=

(a11b1 + a12b2a21b1 + a22b2

)2.3.3 Gibt es im Bereich der 2 × 2-Matrizen fur die Multiplikation ein neutrales Element?Antwort:

E :=

(1 00 1

)ist ein solches.

Rechne das nach!

Die Assoziativitat der Multiplikation und die beiden Distributivgesetze lassen sich nachrechnen.Tu das! Die Menge M2(R) ist also ein Ring.

Angenommen, der Ausgangsring R sei kommutativ und nicht der Nullring. Ist dann auchM2(R)kommutativ? Berechne(

0 10 0

)·(

0 00 1

)und

(0 00 1

)·(

0 10 0

)

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2.3. MATRIZEN 51

Wir lernen: In M2(R) ist die Multiplikation nicht kommutativ; auch kann das Produkt zweiervon der Nullmatrix verschiedenen Matrizen

A,B 6= 0 :=

(0 00 0

)gleich 0 sein.

Wenn Du, wie ich, kein Genie bist, solltest Du die Rechnungen mit Matrizen zur Ubung un-bedingt nachvollziehen und vielleicht noch das eine oder andere Produkt konkreter Matrizenberechnen!

Beispiel 2.3.4 Berechne(1 10 1

)2

·(

1 01 1

)2

und

((1 10 1

)·(

1 01 1

))2

Die fur rationale (reelle, komplexe) Zahlen a, b gultige Regel anbn = (ab)n gilt nicht mehrallgemein, wenn a, b Matrizen sind! Das liegt an der fehlenden Kommutativitat.

Bemerkung 2.3.5 Allgemeiner, als wir es hier tun, betrachtet manm×n-Matrizen uber einemRing, d.h. solche mit m Zeilen und n Spalten. Die Summe zweier m × n-Matrizen bildet manwie oben. Das Produkt AB zweier Matrizen ist definiert, wenn die Zahl der Spalten von Agleich der Zahl der Zeilen von B ist. (Wie wurdest Du es definieren?) Das Ergebnis ist eineMatrix, die soviele Zeilen wie A und soviele Spalten wie B besitzt.

Somit kann man zwei n× n-Matrizen (mit demselben n) sowohl zueinander addieren wie mit-einander multiplizieren. Zu jedem n ∈ N1 bilden die n× n-Matrizen einen Ring.

In der Linearen Algebra spielen Matrizen eine Hauptrolle. Wenn Du Dich hier mit den2×2-Matrizen vertraut machst, wird Dir das beim spateren Umgang mit allgemeinen Matrizenwahrscheinlich sehr helfen.

2.3.6 Berechne (a b0 d

)·(a′ b′

0 d′

).

Man sieht, dass die Matrizen der Form (a b0 d

)einen Ring bilden, einen sogenannten Unterring von M2(R). Dasselbe gilt fur die Matrizender Form (

a 0c d

).

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52 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Die Matrizen der Form (1 b0 1

)bilden keinen Unterring, wenn 0 6= 1 in R gilt. (Warum?) Aber das Produkt zweier solcher istwieder von dieser Form und spiegelt die Summe in R wieder, nicht wahr? Wie ich das gemeinthabe, siehst Du sofort, wenn Du zwei Matrizen solcher Art multiplizierst.

2.3.7 Determinante: Wir setzen hier voraus, dass R kommutativ ist. Die Determinanteeiner 2× 2-Matrix ist dann folgendermaßen definiert:

det

(a bc d

):= ad− bc

Sie ist also ein Element aus R.

Versuche, Eigenschaften der Determinanten von Matrizen aufzuspuren. Gilt z.B. det(A+B) =det(A) + det(B) fur beliebige 2 × 2-Matrizen A,B? Finde ein Gegenbeispiel! Gilt det(AB) =det(A)·det(B)? Dies stimmt! Es zu beweisen erfordert keine Idee, nur eine sorgfaltige Rechnung.Bringe dazu beide Seiten auf eine Summe von vier Produkten von je vier Eintragen, die ‘mitVorzeichen versehen sind’. Was ist det(E), wenn E, wie oben das multiplikativ neutrale, alsoEinselement von M2(R) bezeichnet.

Vergleiche

det

(a bc d

)mit det

(a+ ce b+ dec d

)

Bemerkung 2.3.8 Auch fur n× n-Matrizen mit n > 2 uber einem kommutativen Ring kannman Determinanten definieren. Und es gilt det(AB) = det(A) det(B).

2.3.9 Weiterhin sei R kommutativ. Welche 2 × 2-Matrizen sind invertierbar? Wie kann manihr Inverses berechnen?

Sei A in M2(R) invertierbar, d.h. es gebe eine Matrix B ∈ M2(R) mit AB = E. Dann istdet(A) · det(B) = det(AB) = det(E) = 1. Also muss det(A) in R invertierbar sein.

Umgekehrt, sei det

(a bc d

)= ad− bc in R invertierbar. Man rechnet leicht nach, dass

(a bc d

)·(

d −b−c a

)=

(ad− bc 0

0 ad− bc

)= (ad− bc)E

ist, und dass bei Vertauschung der Faktoren dasselbe herauskommt. Deshalb ist(d

ad−bc−b

ad−bc−c

ad−bca

ad−bc

)

die zu

(a bc d

)inverse Matrix.

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2.3. MATRIZEN 53

2.3.10 Ist

A =

(a bc d

)mit det(A) = 0

so ist (a bc d

)·(

d −b−c a

)=

(ad− bc 0

0 ad− bc

)=

(0 00 0

).

Also ist A ein Links-Nullteiler und auch ein Rechtsnullteiler, da man in diesem Fall die beidenFaktoren vertauschen darf. Wenn R ein Korper ist, ist eine 2 × 2-Matrix entweder sowohl einLinks- wie ein Rechts-Nullteiler oder invertierbar. Frage: Gilt dies auch im Falle R = Z?

Antwort: Die Matrix

(2 00 1

)hat die Determinante 2, ist also uber Z nicht invertierbar.

Andererseits ist sie uber Q invertierbar, kann also in dem Unterring M2(Z) von M2(Q) keinNullteiler sein.

2.3.11 Berechne (a b−b a

)·(

a′ b′

−b′ a′

)und

(a bb a

)·(a′ b′

b′ a′

).

Man sieht, das sowohl die Matrizen der ersten Form, wie die der zweiten jeweils einen kommu-tativen Unterring von M2(R) bilden. (Die Kommutativitat von R ist vorausgesetzt.)

Wir interessieren uns hier nur fur den ersten Fall. Wir setzen voraus, dass R ein Korper ist. Esgilt

det

(a b−b a

)= a2 + b2

Im Korper Q (und auch im spater zu besprechenden Korper R der reellen Zahlen) gilt diefolgende Regel:

a2 + b2 = 0 ⇐⇒ a = b = 0 (∗)

Sei jetzt K ein Korper, in dem diese Regel gilt. Dann ist auch die Menge der Matrizen(a b−b a

)∈M2(K)

ein Korper. Ist K = R, so erhalt man den Korper C der komplexen Zahlen, den wir im Kapitel8 besprechen.

AUFGABEN

1. Berechne folgende Matrizenprodukte, ebenso die Produkte, wenn Du die Faktoren vertauschthast: (

a bc d

)(0 11 0

) (a bc d

)(1 e0 1

)

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54 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

2. a) Berechne (a+ b bb a

)(1 11 0

).

b) Bestimme mit Hilfe der Fibonacci-Folge die Werte der Potenzen (in M2(Z))(1 11 0

)n

, n ∈ N .

Berechne dabei (fur spatere Aufgaben) mindestens die ersten 3, besser noch die ersten 8 Po-tenzen konkret.

3. Zeige, dass die Menge K der folgenden 4 Matrizen aus M2(F2)

A :=

(0 11 1

), A2 =

(1 11 0

), A3 = E, und 0 =

(0 00 0

)(deren Eintrage aus dem ‘Minikorper’ F2 stammen) in Bezug auf die Addition und Multiplika-tion ein Korper ist. (Es gibt also einen Korper, der aus 4 Elementen besteht.) Versuche, mitmoglichst wenigen Rechnungen auszukommen.

4. Sei A eine Matrix von n Zeilen und n Spalten, mit folgenden Eigenschaften:(i) In jeder Zeile und jeder Spalte komme jede der Zahlen 1, . . . , n vor. (Dann kommt jede dieserZahlen auch nur einmal in jeder Zeile, bzw. Spalte vor. Warum?) (Dies ist ubrigens eine derBedingungen beim Sudoku.)(ii) A sei symmetrisch (bzgl. der ‘(Haupt)-Diagonale’), d.h. es sei aij = aji fur alle i, j.

a) Zeige: Wenn n ungerade ist, kommt auch in der Diagonale (a11, a22, . . . , ann) jede der Zahlen1, . . . , n genau einmal vor.

b) Zeige: Wenn n gerade (und > 0) ist, gilt dies nie, d.h. es kommt mindestens eine Zahl doppeltvor.

5. Seien a, b ∈ Z. Zeige: Im Bereich der 2×2-Matrizen uber Z gibt es genau dann eine invertierbareMatrix, deren erste Zeile (a, b) ist, wenn ggT(a, b) = 1 ist.

6. Erinnere Dich an den Paragrafen 2.3.9, insbesondere an die Regel(a bc d

)(d −b−c a

)= (ad− bc)E

Die Matrix

(d −b−c a

)heißt auch die zur Matrix A =

(a bc d

)komplementare Matrix. Sie

sei mit c(A) bezeichnet. Zeige: c(AB) = c(B)c(A). Folgere hieraus und aus c(A)A = Ac(A) =det(A)E, dass det(AB) = det(A) det(B) gilt.

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2.4. RESTKLASSEN 55

2.4 Restklassen

Es ist nicht notig, dass Du das Folgende jetzt sofort liest und verstehst. Solltest Du allerdingsMathematik studieren, wirst Du mit diesen Dingen konfrontiert werden.

2.4.1 Die Folge der naturlichen Zahlen

0, 1, 1 + 1, 1 + 1 + 1, 1 + 1 + 1 + 1, . . .

weist keine Wiederholung auf. Immer ist ja n + 1 > n. Aber nichts hindert uns daran, einenBereich zu betrachten, in dem man wieder bei 0 landet, wenn man zur Null m-mal die 1 addiert.Naturlich ist dies dann nicht mehr der Bereich der naturlichen Zahlen, sondern etwas Neues.Immerhin wirst Du sehen, dass man auf diese Weise einen Ring erhalt.

Du weißt, wie man n ∈ N durch m ∈ N1 mit Rest dividiert, also n = qm + r mit naturlichenZahlen q, r und 0 ≤ r ≤ m − 1 schreibt. Wir nennen in diesem Fall r den Rest, den n beiDivision durch m lasst.

Wenn Zahlen als Großen betrachtet, so wird man bei der Division mit Rest den ‘Quotienten’ qals das wichtigste ansehen. Denn es ist ja n

m= q + r

m, wo 0 ≤ r

m< 1 ist.

Hier wollen wir jedoch umgekehrt dem Rest r unsere Aufmerksamkeit zukehren. Beliebige ganzeZahlen n, also auch negative, konnen durch m > 0 mit Rest dividiert werden. In der Tat gibtes zu gegebenen n,m ∈ Z mit m > 0 ganze Zahlen q, r mit 0 ≤ r ≤ m− 1 mit n = qm+ r. Furm = 10 gilt z.B. −4 = (−1) · 10 + 6 und 34 = 3 · 10 + 4.

Bezeichnung: Ist m festgelegt, so bezeichnen wir den Rest, den eine ganze Zahl n bei Divisiondurch m lasst, mit ρ(n).

Beispiele 2.4.2 Erinnere Dich an den Korper F2, der aus den Elementen gerade und ungeradebesteht. Die geraden Zahlen sind diejenigen, die Bei Division durch 2 den Rest 0 lassen, wahrenddie ungeraden Zahlen diejenigen sind, die bei Division durch 2 den Rest 1 lassen.

Du hast gesehen, dass diese beiden Begriffe gerade und ungerade einen Ring bilden. Die Ver-knupfungen + und · entstehen durch die entsprechenden Verknupfungen der Reste bei Divisiondurch 2. Dabei ist zunachst 1 + 1 = 2, aber 2 lasst bei Division durch 2 den Rest 0.

Du weißt vielleicht auch folgendes: Wenn du von zwei im Dezimalsystem geschriebenen naturli-chen Zahlen nur die jeweils letzte Stelle kennst, so kennst Du auch die letzte Stelle ihrer Summe,bzw. die ihres Produktes. Nun ist die letzte Stelle einer im Dezimalsystem geschriebenen naturli-chen Zahl nichts anderes als der Rest, den diese Zahl bei Division durch 10 lasst. (Bei negativenganzen Zahlen ergibt sich der Rest bei Division durch 10 als 0, wenn die letzte Dezimalziffer eine0 ist, hingegen gleich 10−r, wenn die letzte Ziffer r ist. Der Rest soll ja im Bereich 0, 1, . . . , 9liegen.)

Du kannst somit im Bereich der zehn Ziffern 0, 1, . . . , 9 auch eine ‘Summe’ und ein ‘Produkt’definieren, indem Du von der in N gebildeten Summe, bzw. dem Produkt nur die letzte Zifferbetrachtest. In dem Sinne ist etwa 6+7 = 3, 6+4 = 0; 6 ·3 = 8, 2 ·5 = 4 ·5 = 6 ·5 = 0, 3 ·7 = 1usw. Wir werden bald sehen, dass Du auf diese Weise einen Ring aus 10 Elementen erhaltst,der allerdings kein Korper ist.

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56 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Bevor Du jetzt meinst, dies seien vollig uninteressante und fur einen normalen Menschen ganz irrele-vante Gedankenspielereien von weltfremden Mathematikern, lass Dir sagen, dass diese Art zu rechnenzusammen mit Kenntnissen uber Primzahlen uns zu den modernen Verschlusselungsmethoden gefuhrthaben, die ich im 1. Kapitel bereits angesprochen habe, auf die ich am Ende des Buches zuruckkommenwerde und die Du ubrigens nutzt, wenn Du Dein Konto mit Online-Banking verwaltest.

2.4.3 Seien m ∈ N1, d.h. eine ganze Zahl > 0, und n1, n2 ∈ Z. Fur i = 1, 2 dividieren wir ni

mit Rest durch m. Wir erhalten Darstellungen

n1 = q1m+ r1 und n2 = q2m+ r2 mit 0 ≤ ri ≤ m− 1

Daraus ergibt sich n1+n2 = (q1+q2)m+(r1+r2), sowie n1n2 = q1q2m2+q1r2m+q2r1m+r1r2 =

(q1q2m+ q1r2 + q2r1)m+ (r1r2). Hieraus erhaltst Du:

Satz 2.4.4 Der Rest, den n1 + n2 bei Division durch m lasst, ist derselbe, den r1 + r2 beiDivision durch m lasst. Ebenso ist der Rest, den n1n2 bei Division durch m lasst, derselbe, denr1r2 bei Division durch m lasst.

In Formeln: ρ(n1 + n2) = ρ(ρ(n1) + ρ(n2)) und ρ(n1n2) = ρ(ρ(n1)ρ(n2)).

Folgerung 2.4.5 Die ganzen Zahlen n1 und n′1 mogen bei Divison durch m denselben Restlassen; ferner mogen auch n2 und n′2 bei Division durch m denselben Rest lassen. Dann lassensowohl n1 + n2 und n′1 + n′2, als auch n1n2 und n′1n

′2 bei Division durch m denselben Rest.

Anders ausgedruckt: Wenn ρ(ni) = ρ(n′i)gilt, dann auch ρ(n1 +n2) = ρ(n′1 +n′2) und ρ(n1n2) =ρ(n′1n

′2).

Naturlich erhaltst Du hiermit: ρ(n) = ρ(n′)⇒ ρ(nk) = ρ(n′k) fur k ∈ N. Aber

Vorsicht: Aus ρ(k) = ρ(k′) folgt fast nie ρ(nk) = ρ(nk′). Zum Beispiel sei m = 10. Dann istρ(1) = ρ(11), aber ρ(21) = 2 und ρ(211) = ρ(2048) = 8.

Definition 2.4.6 Sei m ∈ N1 fest gewahlt. Fur ganze Zahlen j, k ∈ 0, 1, 2, . . . ,m − 1 (derMenge der naturlichen Zahlen, die kleiner als m sind) definieren wir eine neue Addition ⊕ undeine neue Multiplikation ⊗ wie folgt:

Addition: j ⊕ k sei der Rest, den j + k bei Division durch m lasst.

Multiplikation: j ⊗ k sei der Rest, den jk bei Division durch m lasst.

Symbolisch j ⊕ k = ρ(j + k), j ⊗ k := ρ(jk).

Die Menge 0, 1, 2, . . . ,m − 1 zusammen mit den beiden Verknupfungen ⊕,⊗ bezeichnen wirmit Zm.

Die Zeichen ⊕,⊗ benutzen wir nur vorlaufig!

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2.4. RESTKLASSEN 57

Theorem 2.4.7 Zm ist ein kommutativer Ring.

Beweis: Die Ring-Gesetze ubertragen sich vermittels ρ von Z auf Zm. Ich fuhre beispielshaftdie Beweise des Kommutativgesetzes und des Distributivitatsgesetzes aus:

j ⊕ k = ρ(j + k) = ρ(k + j) = k ⊕ j ,

i⊗ (j ⊕ k) = i⊗ ρ(j + k) = ρ(i(j + k)) = ρ(ij + ik) = ρ(ρ(ij)⊕ ρ(ik)) = (i⊗ j)⊕ (i⊗ k)Daruber hinaus ist klar, dass 0 das neutrale Element fur die Addition und 1 dasjenige fur dieMultiplikation in Zm ist. Letzteres gilt zumindest im Falle m > 1.

Falls m = 1 ist, erhalten wir den Nullring.

Beispiele 2.4.8 a) Sei m = 5. Wir stellen die Additions- und Multiplikationstafel von Z5 auf.

⊕ 0 1 2 3 40 0 1 2 3 41 1 2 3 4 02 2 3 4 0 13 3 4 0 1 24 4 0 1 2 3

⊗ 0 1 2 3 40 0 0 0 0 01 0 1 2 3 42 0 2 4 1 33 0 3 1 4 24 0 4 3 2 1

In der Tat ist z.B. 3⊕ 2 = ρ(5) = 0, 4⊕ 3 = ρ(7) = 2; 4⊗ 4 = ρ(16) = 1, 3⊗ 4 = ρ(12) = 2

In jeder Zeile der Multiplikationstafel außer der ersten steht eine 1. Erkenne daran, dass jedesElement 6= 0 ein multiplikativ Inverses hat, dass also ein Korper vorliegt!

b) Dasselbe machen wir im Falle m = 6.

⊕ 0 1 2 3 4 50 0 1 2 3 4 51 1 2 3 4 5 02 2 3 4 5 0 13 3 4 5 0 1 24 4 5 0 1 2 35 5 0 1 2 3 4

⊗ 0 1 2 3 4 50 0 0 0 0 0 01 0 1 2 3 4 52 0 2 4 0 2 43 0 3 0 3 0 34 0 4 2 0 4 25 0 5 4 3 2 1

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58 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Wahrend die Additionstabellen von Z5 und Z6 einander ziemlich ‘ahnlich’ sehen, siehst Du beiden Multiplikationstabellen große Unterschiede!

In der von Z6 findet sich nur in der zweiten und der letzten eine 1. Zudem findet man ofter dasProdukt 0, wo beide Faktoren 6= 0 sind: z.B. 2 ⊗ 3 = 0. Denn es ist 2 · 3 = 6 und 6 lasst beiDivision durch 6 den Rest 0. In dem Ring Zm gibt es Nullteiler.

Der Unterschied zwischen 5 und 6, der die Unterschiede in den Multiplikationstabellen nachsich zieht, liegt darin, dass 5 eine Primzahl ist, 6 aber nicht. Das werden wir unten allgemeinerfeststellen.

Eine andere Sichtweise.

Man kann die Ringe Zm auch auf andere Weise konstruieren. Wir fassen namlich die Zahlen,die bei Division durch m denselben Rest lassen, jeweils zu einer Menge zusammen, die wir alsElement einer Menge Z/(m) auffassen.

Definition 2.4.9 Seien r,m ∈ Z und m > 0. Die Restklasse von r modulo m ist die Menge

r +mZ := r +mk | k ∈ Z,

d.h. die Menge, die aus allen Zahlen der Form r+mk besteht, wo k ganz Z durchlauft (wahrendr und m festgehalten werden). Diese Menge wird auch mit (r mod m) bezeichnet.

Satz 2.4.10 a) Ist 0 ≤ r < m, so ist r + mZ die Menge aller ganzen Zahlen, die bei derDivision durch m den Rest r lassen.

b) Allgemeiner gilt fur beliebige r ∈ Z, dass r +mZ die Menge aller ganzen Zahlen ist, die beiDivision durch m den Rest ρ(r) lassen, wo ρ wie oben definiert ist.

Beweis: a) ist klar.

b) Nach Definition von ρ kann man r = ρ(r) + mu schreiben. Fur jedes k ∈ Z gilt dannr+mk = ρ(r)+mu+mk = ρ(r)+m(u+k). Also lasst jede Zahl r+mk ∈ r+mZ bei Divisiondurch m den Rest ρ(r). Und umgekehrt, wenn eine Zahl den Rest ρ(r) lasst, also s = ρ(r)+mvgilt, so ist s = r −mu+mv = r +m(v − u) ∈ r +mZ.

2.4.11 Es ist wichtig, dass Du folgendes beachtest: Restklassen r+mZ und s+mZ sind genaudann einander gleich, wenn sie aus denselben Zahlen bestehen, d.h. wenn jede Zahl der Formr + mk sich auch in der Form s + ml schreiben lasst und umgekehrt. Aus r + mZ = s + mZfolgt nicht allgemein, dass r = s sein musste! Ein Beispiel ist

31 + 10Z = 51 + 10Z

Betrachte den folgenden Satz auch im Lichte dieser Bemerkung!

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2.4. RESTKLASSEN 59

Satz 2.4.12 Sei m > 0 eine festgewahlte ganze Zahl und ρ(n) – wie oben – der Rest, den eineganze Zahl n bei Division durch m lasst. Fur ganze Zahlen r, s sind dann folgende Aussagenaquivalent:

(i) r − s ist durch m teilbar;

(ii) r ∈ s+mZ;

(iii) ρ(r) = ρ(s);

(iv) r +mZ = s+mZ.

Beweis: (i)⇒ (ii): Wegen m|r− s gibt es ein k ∈ Z mit r− s = mk. Also gilt r = s+mk ∈s+mZ.

(ii) ⇒ (iii): Da s + mZ aus denjenigen ganzen Zahlen besteht, die bei Division durch m denRest ρ(s) lassen, folgt aus (ii) die Gleichung ρ(r) = ρ(s).

(iii) ⇐⇒ (iv): r +mZ (bzw. s+mZ) besteht aus denjenigen ganzen Zahlen, die bei Divisiondurch m den Rest ρ(r) (bzw. ρ(s)) lassen. Die Gleichheit der Zahlen ρ(r) = ρ(s) ist alsoaquivalent zur Gleichheit der Mengen r +mZ = s+mZ.

(iii) ⇒ (i): Auf Grund der Definition von ρ kann man r = ρ(r) + mu und s = ρ(s) + mvschreiben. Aus der Gleichheit ρ(r) = ρ(s) ergibt sich dann r − s = mu−mv = m(u− v).

Definition 2.4.13 Zwei ganze Zahlen r, s heißen zueinander kongruent modulo m, wenndie aquivalenten Aussagen (i)–(iv) des letzten Satzes gelten. In diesem Falle schreibt manr ≡ s (mod m).

Erganzungen: Wir wollen die Kongruenz modulo m fur beliebiges m ∈ Z erklaren. Dies tunwir, indem wir sie durch die aquivalenten Aussagen (i) und (iv) definieren. Das bedeutet imEinzelnen:

a) Im Fall m = 1 (der oben nicht ausgeschlossen war) gilt r ≡ s (mod 1) fur alle ganzen Zahlenr und s.

b) Im Gegensatz dazu gilt r ≡ s (mod 0) nur dann, wenn r = s ist.

c) r ≡ s (mod m) gilt genau dann, wenn r ≡ s (mod − m) ist. Es bedeutet also keineEinschrankung der Allgemeinheit, wenn wir im Folgenden m ∈ N voraussetzen.

Bemerkungen 2.4.14 Sei m ∈ N. Du wirst ohne Probleme folgende Aussagen beweisenkonnen:

a) n ≡ n (mod m) fur jede ganze Zahl n.

b) n ≡ n′ (mod m)⇒ n′ ≡ n (mod m)

c) n ≡ n′ (mod m), n′ ≡ n′′ (mod m)⇒ n ≡ n′′ (mod m)

d) n ≡ ρ(n) (mod m)

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60 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Beispiele 2.4.15 a) Sei m = 2. Zwei Zahlen sind genau dann modulo 2 kongruent, wenn sieentweder beide gerade oder beide ungerade sind.

b) Sei m = 10. Zwei naturliche Zahlen sind modulo 10 genau dann kongruent, wenn sie dieselbeletzte Ziffer in ihrer Dezimalzahldarstellung haben, z.B. 4 ≡ 34 ≡ 1024 (mod 10). Bei dennegativen Zahlen musst Du aufpassen: −6 ≡ −336 ≡ 4 (mod 10), nicht wahr?

d) Sei m = 5. In dem folgenden (im Prinzip unendlich großen) Diagramm stehen die Zahlen,die kongruent modulo 5 sind, untereinander.

......

......

...−10 −9 −8 −7 −6−5 −4 −3 −2 −1

0 1 2 3 45 6 7 8 9

10 11 12 13 1415 16 17 18 19

......

......

...

Jede Spalte besteht also aus Zahlen die zueinander modulo 5 kongruent sind. Und zwei modulo5 kongruente Zahlen befinden sich in derselben Spalte. Die Spalten obigen Diagramms, alsMengen aufgefasst sind die Restklassen modulo 5.

Jede ganze Zahl kommt in dem Diagramm genau einmal vor, liegt also in einer, aber auch nureiner der Spalten, d.h. einer Restklasse modulo 5. Die mittlere Spalte ist z.B. die Restklassevon 7 modulo 5, aber auch die Restklasse von 2, auch die von -3, modulo 5.

Es gibt 5 Spalten.

Diese Dinge wollen wir allgemein einsehen.

Bemerkungen 2.4.16 Sei m ≥ 0 festgelegt.

a) Jede ganze Zahl liegt in einer Restklasse. Denn r = r + 0 ·m liegt in r +mZ.

b) Die Zahlen, die in einer Restklasse modulo m liegen, sind modulo m zueinander kongruent.

c) Jede ganze Zahl n liegt in einer, aber auch nur einer Restklasse modulo m, namlich – imFalle m > 0 – in derjenigen, in der auch ρ(n) liegt. Siehe Bemerkung e) fur den Fall m = 0.Insbesondere sind je zwei verschiedene Restklassen disjunkt, d.h. sie haben kein Elementgemeinsam.

d) Ist m > 0, so gibt es genau m Restklassen modulo m, namlich die folgenden

0 +mZ, 1 +mZ, 2 +mZ, . . . , (m− 1) +mZ

Ist namlich n ganz, so dividiere n durch m mit Rest: n = r+km, wo 0 ≤ r ≤ m−1 ist. Dann giltn ≡ r (mod m). Deshalb ist n+mZ = r+mZ. Somit ist jede Restklasse von der angegebenenArt. Seien nun r, s zwei ganze Zahlen mit 0 ≤ r ≤ s ≤ |m| − 1. Ist dann r +mZ = s+mZ, so

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2.4. RESTKLASSEN 61

muss s− r durch m teilbar sein. Das geht nur, wenn s− r = 0 oder s− r ≥ m ist. Da s und rkleiner als m sind, bleibt nur die Moglichkeit, dass r = s ist.

In dem nicht so interessanten Fall m = 1 gibt es eine einzige Restklasse modulo m, namlichganz Z.

e) Die Restklassen modulo 0 sind die aus je einer Zahl bestehenden Teilmengen von Z. Es gibtalso unendlich viele von diesen.

Weiterhin sei ein m ∈ N gewahlt, und wir wollen die Menge Z/(m) aller Restklassen modulom betrachten. Im Falle m > 0 besteht Z/(m) aus m Elementen. Um Z/(m) zu einem Ring zumachen, beweisen wir zunachst

Lemma 2.4.17 Seien r ≡ r′ (mod m) und s ≡ s′ (mod m). Dann sind auchr + s ≡ r′ + s′ (mod m) und rs ≡ r′s′ (mod m).

Beweis: Nach Voraussetzung gibt es u, v ∈ Z mit r′ = r+mu, s′ = s+mv. Dann ist r′+s′ =r+s+(u+v)m und r′s′ = (r+mu)(s+mv) = rs+mrv+msu+mumv = rs+m(rv+su+muv).D.h. die Differenzen (r′ + s′)− (r + s) und r′s′ − rs sind Vielfache von m.

Da die Aussage r+mZ = r′ +mZ (fur ganze r, r′) aquivalent zu r ≡ r′ (mod m) ist, kann mandas o.a. Lemma auch wie folgt aussprechen:

Folgerung 2.4.18 Es gelte r + mZ = r′ + mZ und s + mZ = s′ + mZ. Dann gilt auch(r + s) +mZ = (r′ + s′) +mZ, sowie (rs) +mZ = (r′s′) +mZ.

Definition 2.4.19 Seien r + mZ, s + mZ Restklassen modulo m. Dann definieren wir ihreSumme und ihr Produkt wie folgt:

(r +mZ) + (s+mZ) := (r + s) +mZ , (r +mZ) · (s+mZ) := (rs) +mZ

Dies ist eine richtige Definition. Denn wegen der o.a. Folgerung hangt das Ergebnis der Additionund der Multiplikation nur von den Restklassen r+mZ und s+mZ und nicht von den speziellenWahlen der r, s ab.

Wir sagen in diesem und analogen Fallen: Die Addition (r +mZ) + (s+mZ) = (r + s) +mZund die Multiplikation (r +mZ) · (s+mZ) := (rs) +mZ seien wohldefiniert.

Ein Beispiel, wo das nicht der Fall ist, ware der Versuch Potenzen, in denen Basis und ExponetRestklassen modulo desselben m sind, auf folgende Weise zu definieren:

(j +mZ)(k+mZ) := (jk) +mZ ???

Ein spezielles Beispiel kennst Du bereits. (S. nach 4.5). Es ist ja 1 + 10Z = 11 + 10Z, aber21 +10Z 6= 211 +10Z. Noch ein Beispiel: Es ist zwar 2+3Z = 5+3Z, aber (22)+3Z 6= (25)+3Z.Denn 22 ≡ 1 (mod 3), 25 ≡ 2 (mod3).

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62 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Bemerkung 2.4.20 Man kann die Summe und das Produkt zweier Restklassen C1, C2 auchfolgendermaßen definieren: Wahle c1 ∈ C1 und c2 ∈ C2. Dann sei C1 +C2 diejenige Restklasse,in der c1 + c2 liegt, und C1C2 diejenige Restklasse, in der c1c2 liegt.

2.4.21 Wir wollen jetzt einsehen, dass (fur m > 0) der zuerst definierte Ring Zm und Z/(m)im Wesentlichen dasselbe sind!

Dazu identifizieren wir Zm mit Z/(m) auf folgende Weise: Jedes r = 0, 1, . . . ,m−1 identifizierenwir mit der Restklasse r + mZ. (Das bedeute, dass umgekehrt die Restklasse r + mZ mitρ(r) identifiziert wird.) Addition und Multiplikation, die wir sowohl in Zm, als auch in Z/(m)definiert haben, stimmen dann uberein. Denn es gilt ja fur r, s ∈ Zm, d.h. r, s ∈ 0, 1, . . . ,m−1folgendes

(r +mZ) + (s+mZ) = (r + s) +mZ = ρ(r + s) +mZ = (r ⊕ s) +mZ

und dasselbe, wenn man ‘+’ durch ‘·’ und ‘⊕’ durch ‘⊗’ ersetzt.

Im folgenden will ich keinen Unterschied mehr zwischen den beiden Ringen Zm und Z/(m)machen. Ich verwende nur noch die Bezeichnung Z/(m). (Es gibt auch die BezeichnungenZ/mZ, sowie Z/m.) Man sagt Z modulo m oder ausfuhrlicher der Restklassenring von Zmodulo m.

Ich uberlasse Dir, wie Du den Ring Z/(m) verstehen willst. Personlich ziehe ich es vor, ihnals Ring von Restklassen aufzufassen. Die Auffassung als Ring der Zahlen 0, 1, . . . ,m − 1 mitangepassten Rechenarten ist sicher anfangs einfacher zu verstehen, ist aber moglicherweise etwaswillkurlich und starr.

Anschaulich sollte man sich die Elemente von Z/(m) ‘kreisformig angeordnet’ vorstellen. (Furm = 6 zum Beispiel.)

2 • • 1

3 • • 0

4 • • 5

Die Addition entspricht dann der Addition von Winkeln.

2.4.22 Reprasentanten. Erinnere Dich, dass Du mit 0 +mZ, 1 +mZ, 2 +mZ, . . . , (m −1) + mZ, bereits alle Restklassen modulo m erfasst hast. Das System der ganzen Zahlen(0, 1, 2, . . . ,m− 1) ist ein sogenanntes Reprasentantensystem modulo m. Wie Du oben ge-sehen hast, ist ein solches gut dafur, in Z/(m) konkret zu rechnen.

Definition 2.4.23 Sei m > 0. Ein Reprasentantensystem modulom ist ein System ganzerZahlen n1, . . . , nm, derart das in jeder Restklasse modulo m genau eine der Zahlen ni liegt.

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2.4. RESTKLASSEN 63

Beispiele 2.4.24 m aufeinander folgende Zahlen bilden immer ein Reprasentantensystem.

Folgende Reprasentantensyteme sind manchmal nutzlich:

a) Das System 1, 2, . . . ,m. (Beachte, dass die Restklasse von m das Nullelement von Z/(m) ist.

b) Falls m ungerade ist, das System (−m−12, . . . ,−1, 0, 1, . . . , m−1

2).

Fur m = 11 bekommst Du das Reprasentantensystem −5,−4,−3,−2,−1, 0, 1, 2, 3, 4, 5. Um dieMultiplikation in Z/(11) vollstandig zu beschreiben, genugt es, eine Tabelle fur die Produkteder Restklassen 0, 1, . . . , 5 anzugeben:

⊗ 0 1 2 3 4 50 0 0 0 0 0 01 0 1 2 3 4 52 0 2 4 -5 -3 -13 0 3 -5 -2 1 44 0 4 -3 1 5 -25 0 5 -1 4 -2 3

Wenn Du z.B. (−3)·2 ausrechnen willst, zieh das Gesetz fur die Multiplikation mit Vorzeichen inRingen heran, und Du erhaltst (−3)·2 = −(3·2) = −(−5) = 5. D.h., es ist (−3+11Z)(2+11Z) =5 + 11Z.

Du erkennst an dieser Tabelle auch, dass jedes Element ein multiplikativ Inverses hat. Denn injeder Zeile außer der obersten findet sich eine 1 oder eine −1. Z.B. ist 5 · 2 = −1. Daraus folgt5 · (−2) = 1. Mithin ist −2 ein multiplikativ Inverses von 5. Du siehst: Z/(13) ist ein Korper.

c) Fallsm gerade ist, die Systeme (−m2+1, . . . ,−1, 0, 1, . . . , m

2) und (−m

2, . . . ,−1, 0, 1, . . . , m

2−1).

Frage: Wann, d.h. fur welche m, besitzt der Ring Z/(m) Nullteiler? Die Antwort ist einfach:

Satz 2.4.25 Sei m > 1. Der Ring Z/(m) besitzt genau dann Nullteiler, wenn m zerlegbar, d.h.keine Primzahl ist.

Beweis: Sei m zerlegbar, m = k1k2, wo die (positiven) ki weder 1 noch m sind. Dann sinddie Restklassen (ki mod m) beide von 0 (der Restklasse (0 mod m)) verschieden, aber es gilt(k1 mod m)(k2 mod m) = (m mod m) = (0 mod m).

Sei m = p eine Primzahl, und es gelte (k1k2 mod p) = (0 modp). Dann ist p ein Teiler vonk1k2. Nach Euklids Lemma ist dann p ein Teiler von k1 oder von k2. Etwa sei p|k1. Dann ist(k1 mod p) die Nullrestklasse.

Wenn p eine Primzahl ist, ist Z/p wegen folgenden Satzes sogar ein Korper.

Satz 2.4.26 Sei R ein endlicher Ring. Ist c ∈ R kein Nullteiler, so ist c (multiplikativ) inver-tierbar, d.h. es gibt zu c ein multiplikativ Inverses.

Ein endlicher nullteilerfreier Ring ist ein Korper.

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64 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Beweis: Seien a1, . . . , an die endlich vielen untereinander verschiedenen Elemente von R.Dann sind die n Elemente ca1, ca2, . . . , can nach der Kurzungsregel untereinander verschieden.Sie machen also alle Elemente von R aus. Eines unter ihnen, etwa caj ist also gleich 1. Dasbedeutet aber, dass aj das Inverse von c ist.

Beispiele 2.4.27 a) Im Korper Z/13 ist 2 das multiplikativ Inverse von 7 und 3 das multipli-kativ Inverse von 9.

b) In dem Ring Z/26 ist 15 das multiplikativ Inverse von 7. Beachte hierzu, dass (a mod m) inZ/(m) genau dann multiplikativ invertierbar ist, wenn a zu m teilerfremd ist. Dies ergibt sichz.B. aus der nachsten Bemerkung.

c) Der unendliche Ring Z ist zwar nullteilerfrei, aber kein Korper.

Bemerkung 2.4.28 Du kannst das multiplikativ Inverse eines Elementes von Z/(m) durchzeitaufwandiges Probieren finden. Glucklicherweise kann man mit Hilfe des euklidischen Algo-rithmus dasselbe viel schneller berechnen. (Beachte dabei, dass Euklid unser Problem gar nichtkannte.)

Frage: Wie berechnet man das multiplikativ Inverse der Restklasse von a in Z/(m), wenn azu m teilerfremd ist?

Antwort: Mit Hilfe des euklidischen Algorithmus bestimmt man a′,m′ ∈ Z, fur dieaa′ +mm′ = 1 gilt. Dann ist die Restklasse von a′ modulo m multiplikativ invers zu der von a.

2.4.29 Wir kennen jetzt unendlich viele endliche Korper, da es unendlich viele Primzahlengibt. Es gibt weitere endliche Korper, namlich einen zu jeder Primzahlpotenz pn mit ganzempositiven n. Beachte aber, dass Z/(pn) fur n ≥ 2 Nullteiler 6= 0 hat, also nicht etwa der gesuchteKorper aus pn Elementen sein kann.

Bemerkung 2.4.30 Du kannst ja mal versuchen, ob Du Restklassen in der Menge Q derrationalen Zahlen bilden und auch mit ihnen rechnen kannst. Sei m eine positive ganze (oderauch rationale) Zahl. Betrache ’Restklassen’ a+mZ fur beliebige rationale Zahlen a. Du kannstzeigen, dass jede rationale Zahl in genau einer solchen Restklasse liegt.

Willst Du zwei solche Restklassen wie oben addieren, geht das gut. (Zeige das!) Willst Dusie multiplizieren, kommst Du in Schwierigkeiten. Seien etwa m = 1, a = 1/2, a′ = 3/2 undb = 1/2. Dann gilt a+ Z = a′ + Z aber ab+ Z 6= a′b+ Z, da 3/4− 1/4 nicht ganz ist.

Die Menge Q/mZ erfullt in Bezug auf die Addition die Axiome, die fur die Addition in einemRing gelten.

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2.4. RESTKLASSEN 65

AUFGABEN

1. Man kann den Korper Z/(3), wie Du oben gesehen hast, auch wie folgt beschreiben. Die Ele-mente seien mit −1, 0, 1 bezeichnet. Die Multiplikation ist so definiert als handle es sich um dieentsprechenden Elemente von Z. Fur die Addition gelte 1 + 1 = −1 , (−1) + (−1) = 1, unddie ubrigen sieben Summen seien wieder so definiert, als handle es sich um die entsprechendenElemente von Z.

2. a) Bestimme die Quadrate in dem Ring Z/(8).

b) Eine im Dezimalsystem geschriebene mindestens dreistellige naturliche Zahl, die als letztedrei Ziffern 2 Einsen und eine 0 in beliebiger Reihenfolge hat (...011, ...101, ...110), ist keineQuadratzahl. (Zeige dies etwa mit Hilfe von a).)

3. Sei M eine endliche Menge von n + 1 (verschiedenen) ganzen Zahlen und n ≥ 1. Zeige, dassmindestens eine der Differenzen von zwei verschiedenen Elementen von M durch n teilbar ist.

4. Es soll eine Fahne mit einem Muster folgender Art entworfen werden:

∗ ∗ ∗ ∗ ∗∗ ∗ ∗ ∗ ∗∗ ∗ ∗ ∗ ∗

∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ∗∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ∗∗ ∗ ∗ ∗∗ ∗ ∗ ∗

D.h. n Sterne sollen in zwei Quadrate von m1×m1 bzw. m2×m2 Sternen angeordnet werden,die sich in einem Quadrat von k × k Sternen uberlappen. Dabei soll zwar n, aber keine derdrei Zahlen m1,m2, k ein Vielfaches von 5 sein. (Darum sind m1 = 0,m2 = 0 und k = 0 auchausgeschlossen.) Ist das moglich?

5. a) Sei m ∈ N, m =k∑

i=0

ai10i mit ai ∈ Z. (Sind die ai aus der Menge der ’Ziffern’ 0, 1, 2, . . . , 9

gewahlt, so beschreibt dies die Dezimalzahldarstellung von m.) Zeige:

m ≡k∑

i=0

ai (mod 3) und m ≡k∑

i=0

ai (mod 9) und m ≡k∑

i=0

(−1)iai (mod 11).

Den jeweiligen Ausdruck auf der rechten Seite der Kongruenzen nennt man, wenn die ai dieZiffern der Dezimalzahldarstellung von m sind, in den ersten beiden Falle die Quersumme, imletzten Fall die alternierende Quersumme der Zahl m. Dieser Begriff ist kein wirklich mathe-matischer Begriff, insofern als er von der Schreibweise im Dezimalsystem abhangt.

b) Leite daraus die bekannten Kriterien fur die Teilbarkeit von in Dezimalschreibweise gegebe-nen Zahlen durch 3, 9 bzw. 11 ab.

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66 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

c) Schreibe die naturliche Zahl n im Dezimalsystem mit ungerade vielen Ziffern. Dabei darfdie erste Ziffer eine 0 sein. Bilde die Spiegelzahl n′ von n. (Die Spiegelzahl von z.B. 01234 ist43210.) Zeige: 99 teilt n− n′.

d) Gilt dies auch, wenn nmit gerade vielen Ziffern geschrieben ist? Gilt in diesem Fall zumindestnoch 9|n− n′ ?

e) Bei einer Unterhaltung bittet Dich Dein Gegenuber, Du mogest eine beliebige 5-stellige(naturliche) Zahl, die nicht kleiner als 10050 ist, im Dezimalsystem – vor ihm verborgen –notieren, und die Quersumme von dieser Zahl subtrahieren. Wenn Du ihm dann die letzten 4Ziffern dieser Differenz in beliebiger Reihenfolge angibst, so macht er sich anheischig, die erstezu nennen. Wie macht er das?

6. Von der Schule her ist Dir vielleicht die”Neunerprobe“ gelaufig. Eine ausgefuhrte Multiplikation

zweier (großerer) Zahlen kann man auf ihre Richtigkeit folgendermaßen testen: Der”Neunerrest“

(d.h. der Rest bei der Division durch 9) des Produktes muss gleich dem”Neunerrest“ des

Produktes der”Neunerreste“ der Faktoren sein. Wieso gilt das? Ist es moglich, dass eine falsche

Multiplikation diesen Test besteht?

7. Sei d ∈ N2. Entwickle fur d–adisch geschriebene Zahlen (d.h. wo die Grundzahl 10 fur dasDezimalsystem durch eine naturliche Zahl d ≥ 2 ersetzt ist) Kriterien fur die Teilbarkeit durch2 (bzw. 3). Die Art eines solchen Kriteriums sollte nur von der Restklasse (d mod 2) (bzw. (dmod 3)) abhangen.

8. Auf einem Blatt stehen alle naturlichen Zahlen von 1 bis 101 – jede genau einmal – geschrieben.Indem man willkurlich zwei von ihnen, genannt x und y, ausradiert und die Zahl x5+y hinzufugt,vermindert man die Anzahl der Zahlen um 1. (Jede Zahl wird so oft gezahlt, wie sie auf demPapier steht.) Indem man dieses (nicht vollig determinierte) Verfahren noch 99 mal wiederholt,bleibt schließlich eine Zahl ubrig. Kannst Du die letzte Ziffer dieser Zahl angeben, ohne mehrzu wissen, als oben angegeben ist?

Lose diese Aufgabe zunachst rein theoretisch. Dann mache Dir klar, das die praktischeAusfuhrung obiger Anweisung leicht an ihre Grenzen stoßt, da die Zahlen riesig werden.

9. Angenommen, Du gießt Deine Topfpflanzen jeden 2. (bzw. 3., bzw. 4., bzw. 5., bzw. 6.) Tagund beginnst damit an einem Sonntag. Gibt es einen Wochentag, an welchem Du nie gießt?

10. Kalendarisches: Nach dem – aus der Mode gekommenen –Julianischen Kalender ist genau dannein Schaltjahr, wenn die Jahreszahl durch 4 teilbar ist. Nach dem heute gultigen GregorianischenKalender ist dies in der Regel auch so, allerdings mit Ausnahme der Jahre, deren Jahreszahldurch 100, aber nicht durch 400 teilbar ist. letztere sind keine Schaltjahre.

a) Zeige: Fur den Julianischen (bzw. Gregorianischen) Kalender gilt (mit n,m ∈ N1):

n ≡ m(mod 28)(bzw. n ≡ m(mod 400)

=⇒ Die Jahre n und m beginnen

mit demselben Wochentag.

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2.4. RESTKLASSEN 67

b) Angenommen, der Julianische Kalender ware seit dem Jahre 1 unverandert in Kraft, so wareder Wochentag, mit dem das Jahr n beginnt, der Tag(

n+

[n− 1

4

]mod 7

),

wobei (1 mod 7) derjenige Wochentag ist, mit dem das Jahr 1 begann, (2 mod 7) der nachsteWochentag usw. ([ ] ist die Gaußklammer.)

Diese Formel kann man auf die Jahre 1901 bis 2100 anwenden. Dabei ist (1 mod 7) der Sonntag,da 1989 ≡ 1 (mod 28) ist und das Jahr 1989 mit einem Sonntag begann.Ubrigens ist

n+

[n− 1

4

]≡ 5q + r ≡ −2q + r (mod 7),

wennn = 4q + r mit r ∈ 1, 2, 3, 4

ist.

Uberzeuge Dich von der Richtigkeit aller Behauptungen.

c) Fur den Gregorianischen Kalender ergibt sich: Das Jahr n beginnt mit dem Wochentag(n+

[n− 1

4

]−[n− 1

100

]+

[n− 1

400

]mod 7

).

Dabei ist (1 mod 7) der Dienstag, da das Jahr 1991 mit einem Dienstag begann.Stimmt’s?

d) Zeige: Nach dem Julianischen Kalender fallt im langjahrigen Durchschnitt der 13. eines jedenMonats auf jeden Wochentag gleich oft.

e) Dies ist nicht so nach dem Gregorianischen Kalender. Nach [Forster], Aufgabe 1.5 fallt eram haufigsten auf den Freitag. Wer dies nachprufen mochte, sollte – um Arbeit zu sparen – dasJahr am 1. Marz beginnen lassen.

11. Bestimme die Inversen (bzgl. der Multiplikation) von (2 mod m) fur ungerade und von (3 modm) fur nicht durch 3 teilbare m.

12. a) Ist (1777 mod 1855) in dem Ring Z/(1855) multiplikativ invertierbar? Bestimme gegebe-nenfalls das Inverse!b) Welche Bedeutung haben die beiden in a) genannten Zahlen fur die Mathematikgeschichte?

13. Seien x, y ∈ Z. Zeige: Ist 3x+ 2y durch 17 teilbar, so auch 5x+ 9y.

14. Bestimme die drei letzten Ziffern von 19951995! + 1.

15. Welche Teilbarkeitsaussage kann man uber naturliche Zahlen der folgenden Art machen? Beiihrer Darstellung im Dezimalsystem kommen alle Ziffern von 1 bis 8 gleich oft vor. (Die Anzahlder 0-en und 9-en ist beliebig.)

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68 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

16. Bestimme samtliche Primzahlen p mit folgender Eigenschaft: In Z/(p) ist die Restklasse von7 zu der von 13 multiplikativ invers. Insbesondere sollst Du begrunden, dass die angegebenenPrimzahlen wirklich alle mit dieser Eigenschaft sind.

17. Betrachte in M2(Z/3) die Potenzen

An der Matrix A :=

(1 11 0

), n ∈ N .

a) Zeige An = An+8, und berechne dabei die Potenzen A0, . . . , A7.

b) Zeige dass die Matrizen A0, . . . , A7, 0 einen Korper bilden. Es gibt also einen Korper von 9Elementen.

Bemerkung: Betrachte die Matrix

(1 11 0

)in M2(Z/5). Genau genommen, ist diese eine

andere Matrix als die o.a. Matrix A, da ihre Eintrage einem anderen Ring angehoren. IhrePotenzen, zusammen mit der 0-Matrix bilden keinen Ring. Mit ein paar grundlegenden alge-braischen Tatsachen, die allerdings in diesem Buch nicht bewiesen werden, ist das leicht zuzeigen.

2.5 Geometrische Reihe, binomischer Lehrsatz

Ich habe mir sagen lassen, es gabe 3 binomische Lehrsatze:

1. binomischer Lehrsatz: (a+ b)2 = a2 + 2ab+ c2.

2. binomischer Lehrsatz: (a− b)2 = a2 − 2ab+ b2.

3. binomischer Lehrsatz: (a− b)(a+ b) = a2 − b2.

(Im Bereich der reellen (oder rationalen) Zahlen kann man diese Satze auch geometrisch beweisen. Tudas!)

Die obigen Bezeichnungen sind in meinen Augen irritierend.

Denn erstens ist der sog. 2. binomische Lehrsatz ja gar nichts anderes als der 1. Wenn mannamlich b′ = −b setzt und (a + b′)2 nach dem 1. binomischen Lehrsatz berechnet, erhalt man(a+ b′)2 = a2 + 2ab′ + b′2 = a2 + 2a(−b) + (−b)2 = a2 − 2ab+ b2.

Zweitens ist der binomische Lehrsatz viel allgemeiner, als die oben angegebene simpleFormel. Er gibt namlich allgemein eine Formel fur die n-te Potenz (a+ b)n an.

Drittens ist der sogenannte 3. binomische Lehrsatz eigentlich ein Spezialfall der geometrischenReihe.

Mit dieser fangen wir an.

Wir rechnen in einem kommutativen Ring R. In nicht kommutativen Ringen gelten die Formeln,die wir erhalten werden, meist nicht. Z.B. ist (a+ b)(a− b) = a2 + ba− ab− b2 und letzteres istnur dann gleich a2 − b2, wenn ab = ba gilt.

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2.5. GEOMETRISCHE REIHE, BINOMISCHER LEHRSATZ 69

2.5.1 Geometrische Reihe. Wir berechnen folgendes Produkt, wo der zweite Faktor einegeometrische Reihe ist:

(a− b)(anb0 + an−1b1 + · · ·+ a1bn−1 + a0bn) =

an+1 + anb1 + an−1b2 + · · · · · ·+ a1bn

− anb1 − an−1b2 − · · · · · · − a1bn − bn+1

= an+1 − bn+1

Ist a 6= b und der Ring R ein Korper, so folgt:

anb0 + an−1b1 + · · ·+ a1bn−1 + a0bn =an+1 − bn+1

a− b

Mit dem∑

-Zeichen geschrieben haben wir unter den jeweils erforderlichen Voraussetzungen:

(a− b)n∑

i=0

an−ibi = an+1 − bn+1, undn∑

i=0

an−ibi =an+1 − bn+1

a− b.

Speziell erhalt man fur a = 1, b = x:

(1− x)n∑

i=0

xi = 1− xn+1 undn∑

i=0

xi =1− xn+1

1− x.

(Die zweite Aussage gilt fur x 6= −1.)

Satz 2.5.2 Sei f(x) = anxn + an−1x

n−1 + · · · + a1x + a0 ein sogenanntes Polynom mit denKoeffizienten ai in einem kommutativen Ring R, welches ein α ∈ R als Nullstelle hat, so kannman es folgendermaßen schreiben:

f(x) = (x− α) · g(x) ,

wo g(x) ein weiteres Polynom uber R ist.

Der Faktor x− α heißt der zu α gehorige Linearfaktor.

Beweis: Nach Voraussetzung ist f(α) = anαn + · · ·+ a1α+ a0 = 0. Also gilt

(∗) f(x) = f(x)− f(α) = an(xn − αn) + an−1(xn−1 − αn−1) + · · ·+ a1(x− α) + 0

Nach der Formel fur die geometrische Reihe ist

xk − αk = (x− α)(xk−1 + xk−2α+ · · ·+ xαk−2 + αk−1) .

Aus jedem Summanden auf der rechten Seite der zweiten Identitat in (∗) lasst sich also derFaktor (x− α) herausziehen.

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70 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Bemerkung 2.5.3 Sei R ein Ring. Ein Polynom uber R ist ein ‘Ausdruck’ der Form

a0 + a1x+ a2x2 + · · ·+ anx

n mit ai ∈ R

Die ai heißen die Koeffizienten des Polynoms. Ein solcher Ausdruck kann als ‘Funktion’der Variablen x aufgefasst werden, wobei man fur x die Elemente von R oder auch einesErweiterungsringes von R ‘durchlauft’.

Folgerung 2.5.4 Sei f(x) ein vom Nullpolynom verschiedenes Polynom vom Grade n mitKoeffizienten in einem nullteilerfreien, kommutativen Ring (etwa einem Korper) R, so hat esin R hochstens n verschiedene Nullstellen.

Beweis: Sei α1 eine Nullstelle von f(x), so kann man f(x) = (x − α1)g(x) schreiben miteinem Polynom g(x) uber R vom Grad n−1. Hat nun g(x) eine Nullstelle α2, so kann man denzugehorigen Linearfaktor abspalten. Dies Verfahren kann man fortsetzen und erhalt schließlich

f(x) = (x− α1) · · · (x− αm)h(x)

wo h(x) ein Polynom uber R ist, das in R keine weiteren Nullstellen hat. Da R nullteilerfreiist, ist f(β) = 0 nur dann, wenn einer der Faktoren (β − αi), bzw. h(β) gleich 0 ist. Letztereskann nicht sein, wenn β ∈ R ist. Also ist die Anzahl der Nullstellen von f(x) hochstens gleichm und naturlich m ≤ n. (Es ist nicht ausgeschlossen, dass αi = αj fur verschiedene i, j ist.)

Beispiel 2.5.5 Der Ring R = Z×Z ist nicht nullteilerfrei. Das Polynom x2− x hat in diesemRing die vier Nullstellen (0, 0), (0, 1), (1, 0), (1, 1). Dies ist nur eins von vielen Beispielen.

2.5.6 Geometrische Reihen spielen in der Mathematik eine große Rolle, insbesondere da manunendlichen geometrischen Reihen oft einen Sinn zu geben vermag. Im Reellen hat die unend-liche Reihe

∞∑k=0

xn = 1 + x+ x2 + x3 + · · ·

immer dann einen sinnvollen Wert, namlich 11−x

, wenn −1 < x < 1 ist. Durch Vergleich mitdieser Reihe kann man sehen, dass auch viele andere unendliche Reihen einen sinnvollen Wertbesitzen.

2.5.7 Jetzt wenden wir uns der binomischen Formel zu. Unser Ziel ist es, moglichst gut zubeschreiben, was beim ‘Ausmultiplizieren’ von (a + b)n fur beliebige naturliche Zahlen n her-auskommt.

Wenn man in einem Ring R rechnet, der den Ring Z der ganzen Zahlen als Unterring besitzt,etwa in den Korpern Q oder R, dann ist naturlich ka fur k ∈ Z, a ∈ R definiert, weil ja dannauch k ∈ R ist. Diesen speziellen Fall wollen wir im Folgenden bevorzugt betrachten.

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2.5. GEOMETRISCHE REIHE, BINOMISCHER LEHRSATZ 71

Man kann aber auch fur eine ganze Zahl k und ein Element a aus einem beliebigen Ring R denAusdruck ka definieren.

Ist k > 0, so sei ka = a + · · · + a, wo die Anzahl der Summanden k sei. Ferner sei 0a = 0R, wo wirder Deutlichkeit halber mit 0R das Nullelement von R bezeichnen. Ist schließlich k < 0, etwa k = −n.Dann sei ka = (−n)a := −(na).

Es gelten folgende Gesetze:1a=a, wo 1 das Einselement von Z bezeichnet;(kl)a=k(la)k(ab)=(ka)b=a(kb)(k+l)a=ka+lak(a+b)=ka+kb.

2.5.8 Jetzt behandeln wir den eigentlichen binomischen Lehrsatz.

Um das Muster zu erkennen, nach welchem (a+b)n umgeformt wird, wollen wir die ersten Fallenacheinander behandeln:

(a+ b)2 = (a+ b)(a+ b) =

a2 + ab+ ab +b2

= a2 + 2ab+ b2.

(a+ b)3 = (a+ b)(a2 + 2ab+ b2) =

a3 + 2a2b + ab2

+ a2b + 2ab2 + b3

= a3 + 3a2b+ 3ab2 + b3 .

(a+ b)4 = (a+ b)(a3 + 3a2b+ 3ab2 + b3) =

a4 + 3a3b + 3a2b2 + ab3

+ a3b + 3a2b2 + 3ab3 + b4

= a4 + 4a3b+ 6a2b2 + 4ab3 + b4

(a+ b)5 = (a+ b)(a4 + 4a3b+ 6a2b2 + 4ab3 + b4) =

a5 + 4a4b + 6a3b2 + 4a2b3 + ab4

+ a4b + 4a3b2 + 6a2b3 + 4ab4 + b5

= a5 + 5a4b+ 10a3b2 + 10a2b3 + 5ab4 + b5

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72 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

2.5.9 Die n-te Potenz von a+ b lasst sich im Prinzip wie folgt schreiben:

(a+ b)n = an+?an−1b+?an−2b2 + · · ·+?a2bn−2+?abn−1 + bn ,

wo anstelle der Fragezeichen gewisse ganzzahlige Koeffizienten, die so genannten Binomial-koeffizienten, stehen. Wir stellen uns die Aufgabe, diese genauer zu bestimmen. Zunachsterkennen wir, dass die Koeffizienten fur die (n+1)-te Potenz sich aus denen der n-ten ergeben,indem man jeweils zwei benachbarte Koeffizienten fur die n-te Potenz addiert.

Genauer gilt: Der Koeffizient von an+1−kbk (in der Entwicklung von (a+ b)n+1) ist die Summeder Koeffizienten von an−kbk und von an−k+1bk−1 (in der Etwicklung von (a+ b)n).

Es ergibt sich folgendes Schema, das sogenannte Pascal’sche Dreieck:

11 1

1 2 11 3 3 1

1 4 6 4 11 5 10 10 5 1

. . . . . . . . . . . . .

An der Spitze dieses ‘Dreiecks’ (sozusagen in der 0-ten Zeile) steht der Koeffizient von a0b0

der ‘Entwicklung’ von (a + b)0. In der folgenden ‘ersten’ Zeile stehen die Koeffizienten von a,bzw. b in der Entwicklung von (a + b)1 In der n-ten Zeile stehen dann die Koeffizienten vonan, an−1b, an−2b2, . . . , bn der Entwicklung von (a+ b)n. Man darf man sich das Schema rechtsund links durch 0-en ausgefullt denken. Jede Zahl in diesem Schema, abgesehen von der 1 ander Spitze, ist dann die Summe der beiden unmittelbar schrag uber ihr stehenden Zahlen. ZurUbung solltest Du zumindest die nachsten beiden Zeilen des Pascalschen Dreiecks ausfullen.Es ist ubrigens gar nicht die schlechteste Idee, die Binomialkoeffizienten durch wiederholteAddition mit dem Pascalschen Dreieck zu berechnen, besonders dann, wenn Du nicht nur eineneinzelnen bestimmen willst. Wir werden im folgenden Abschnitt geschlossene Formeln fur siefinden. Diese sind aber auch nicht schnell auszurechnen.

2.5.10 Mit Hilfe der Fakultat kann man die Binomialkoeffizienten geschlossen hinschreiben.Das wollen wir jetzt tun. Zunachst definieren wir fur naturliche Zahlen n, k mit 0 ≤ k ≤ n:(

n

k

):=

n!

k!(n− k)!=n(n− 1) · · · (n− (k − 1))

k!

(Sowohl Zahler wie Nenner des letzten Bruches bestehen, ausgeschrieben, aus k Faktoren,wahrend Zahler und Nenner des ersten Bruches aus je n Faktoren bestehen. Das erste Gleich-heitszeichen mit dem Doppelpunkt davor ist eine Definitionsgleichung, das zweite ist eine mittels‘Kurzen’ leicht einzusehende Identitat.) Beachte(

n

0

)=

(n

n

)= 1 und

(n

k

)=

(n

n− k

).

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2.5. GEOMETRISCHE REIHE, BINOMISCHER LEHRSATZ 73

Lemma 2.5.11 Fur naturliche Zahlen k, n mit 0 ≤ k ≤ n− 1 gilt:(n

k

)+

(n

k + 1

)=

(n+ 1

k + 1

)

Der Beweis ist eine leichte Bruchrechnungsubung.

n!

k!(n− k)!+

n!

(k + 1)!(n− k − 1)!=

(k + 1)n! + (n− k)n!

(k + 1)!(n− k)!=

(n+ 1)!

(k + 1)!(n+ 1− (k + 1))!

Beachte: Da(10

)=(11

)= 1 ist, erkennt man sofort, dass

(nk

)gleich der Zahl ist, die an der

entsprechenden Stelle im Pascalschen Dreieck auftaucht, d.h. als k-te Zahl in der n-ten Zeile.Dabei haben wir das Zahlen jeweils mit 0 begonnen, weil es hier zweckmaßig ist.

Jedenfalls sind somit offenbar die(

nk

)die gesuchten Binomialkoeffizienten. Der Beweis folgenden

Theorems ist eigentlich nur eine Wiederholung.

Theorem 2.5.12

(a+ b)n =n∑

k=0

(n

k

)an−kbk =

an +

(n

1

)an−1b+

(n

2

)an−2b2 + · · ·+

(n

n− 2

)a2bn−2 +

(n

n− 1

)abn−1 + bn

D.h. wenn man (a+ b)n ausmultipliziert, ist(

nk

)der Koefizient von an−kbk.

Beweis: Induktion nach n, wobei der Fall n = 1 trivial ist, da(10

)=(11

)= 1 gilt.

Induktionsschritt: Wir nehmen an, obige Formel gelte fur ein n und mussen sie dann fur n+ 1zeigen.

(a+ b)n+1 = (a+ b)(a+ b)n =

an+1 +

(n

1

)anb1 +

(n

2

)an−1b2 + · · · · · · ·+

(n

n

)a1bn

+

(n

0

)anb1 +

(n

1

)an−1b2 + · · · · · · ·+

(n

n− 1

)a1bn + bn+1

= an+1 +

(n+ 1

1

)anb1 +

(n+ 1

2

)an−1b2 · · · · · · · · · ·+

(n+ 1

n

)a1bn + bn+1.

2.5.13 Die Bedeutung der Binomialkoeffizienten beschrankt sich nicht auf den binomischenLehrsatz.

Angenommen, Du mochtest als Lottospieler wissen, wieviele Moglichkeiten es gibt, aus denZahlen 1, 2, 3, . . . , 49 sechs Zahlen auszuwahlen.

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74 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

Nun fur die Wahl der ersten Zahl hast Du 49 Moglichkeiten. Fur die Wahl der zweiten Zahlbleiben noch 48 Moglichkeiten usw. Insgesamt hast Du 49 · 48 · 47 · 46 · 45 · 44 Moglichkeiten,nacheinander 6 Zahlen aus den 49 Zahlen zu wahlen, ohne dass sich eine wiederholt.

Dabei hast Du allerdings zwei Auswahlen von 6 Zahlen unterschieden, wenn die Reihenfol-ge der Auswahlen verschieden war. Z.B. hast Du die Wahl 7,14,21,28,35,42 von der Wahl14,7,21,28,35,42 unterschieden, d.h. beide gesondert gezahlt. In wieviel verschiedenen Reihen-folgen kann man die sechs Zahlen 7,14,21,28,35,42 auswahlen? Nun wir wissen bereits, dassman sechs Zahlen in 6! verschiedenen Reihenfolgen angeben kann. Wenn Du also nur wissenwillst, wieviele Moglichkeiten es gibt, aus 49 Zahlen sechs auszuwahlen, ohne deren Reihenfolgezu beachten, so erhaltst Du die Zahl

49 · 48 · 47 · 46 · 45 · 44

6!=

(49

6

)Rechne diese Zahl aus! (Kurze vor dem Multiplizieren!)

Allgemein besitzt eine Menge von n Elementen(

nk

)Teilmengen von k Elementen. (Das gilt auch

wenn man(

nk

)= n(n−1)···(n−k+1)

k!definiert und k > n ist. Denn dann taucht im Zahler der Faktor

0 auf.)

Auf dieser Grundlage gibt es eine weitere Moglichkeit, den Binomialsatz zu beweisen:

Man stelle sich (a+ b)n als Produkt von n Faktoren geschrieben vor:

(a+ b)(a+ b)(a+ b) · · · (a+ b)

Wenn man dieses Produkt ausmultipliziert, bedeutet dies, dass man alle moglichen Produktebildet, wo aus jedem Faktor einer der beiden Summanden ausgewahlt wird und anschließend

diese Produkte addiert werden. Offenbar gibt es

(n

k

)Moglichkeiten, aus k Faktoren den Sum-

manden b und aus den ubrigen n− k Faktoren den Summanden a auszuwahlen. Das Produkt

an−kbk tritt also

(n

k

)-mal auf.

Bemerkung 2.5.14 Die Binomialkoeffizienten, so wie wir sie bislang kennengelernt haben,sind naturliche Zahlen. Denn wenn man sie z.B. nacheinander in dem Pascalschen Dreieckdurch Addition gewinnt, muss man immer zwei naturliche Zahlen addieren.

Hieraus folgt, dass k! Teiler eines jeden Produktes von k aufeinander folgenden ganzen Zahlen

ist. Es ist ja

(n

k

)=n(n− 1) · · · (n− k + 1)

k!. Bedenke, dass es nicht genugt, zu zeigen, dass

jede der Zahlen 1, . . . , k eine der k Zahlen n, n− 1, . . . , n− k + 1 teilt.

Ist k > n, so tritt in dem Produkt n(n − 1) · · · (n − k + 1) der Faktor 0 auf, so dass diesesProdukt auch in diesem Fall durch k! teilbar ist.

Man betrachtet auch verallgemeinerte Binomialkoeffizienten

(a

k

), wo a nicht notwendig ganz

ist. Ein solcher braucht nicht ganz zu sein.

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2.5. GEOMETRISCHE REIHE, BINOMISCHER LEHRSATZ 75

2.5.15 Man kann die Binomialkoeffizienten benutzen, um elementare Aussagen uber Primzah-len zu beweisen. Das hat zwei Grunde:

Erstens kann man die Große der Binomialkoeffizienten gut abschatzen. Z.B. gilt:

(1 + 1)n =n∑

k=0

(n

k

)weshalb auch der großte unter den

(nk

), k = 0, 1, . . . , n (fur n ≥ 1)kleiner als 2n ist. Entspre-

chendes gilt fur die Summe einiger dieser Binomialkoeffizienten.

Zweitens kann man verhaltnismaßig starke Aussagen uber die Primfaktoren von(

nk

)beweisen.

Als Beispiel beweisen wir:

Satz 2.5.16 Fur jede naturliche Zahl n ≥ 2 gilt: Das Produkt der Primzahlen p ≤ n ist kleinerals 4n−1. Symbolisch: ∏

p≤n

p < 4n−1

Dabei ist p eine Variable fur Primzahlen. Und∏

wird als Produktzeichen analog zum Summen-zeichen

∑verwendet.

(Sicher ist dies eine ziemlich grobe Abschatzung. Bedenke aber, dass diese Abschatzung falschwird, wenn man die Primzahlen ≤ n etwa durch alle – oder auch nur alle ungeraden – positivenganzen Zahlen ≤ n ersetzt.)

Beweis: Zunachst zeige ich folgende

Behauptung:(2n+1

n

)≤ 4n.

Beweis hierfur: Da∑2n+1

k=0

(2n+1

k

)= 22n+1 ist, gilt(

2n+ 1

n

)+

(2n+ 1

n+ 1

)< 22n+1

Ferner ist(2n+1

n

)=(2n+1n+1

), also

2 ·(

2n+ 1

n

)< 22n+1,

woraus die Behauptung unmittelbar folgt. –

Zum Beweis des Satzes benutzen wir Induktion nach n und vergewissern uns zunachst, dass erfur n = 2 richtig ist.

Sei jetzt n ≥ 3; und wir nehmen die Gultigkeit des Satzes fur alle kleineren ganzen Zahlen(≥ 2) an.

1. Fall: n sei gerade. Dann ist n keine Primzahl (da 2 die einzige gerade Primzahl ist). In diesemFalle ist also ∏

p≤n

p =∏

p≤n−1

< 4n−2 < 4n−1.

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76 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

2. Fall: n sei ungerade, etwa n = 2m+ 1 (mit m ≥ 1). Dann ist nach Induktionsvoraussetzung∏p≤m+1

p < 4m

In der Primfaktorzerlegung von(2m+1

m

)= (m+1)(m+2)···(2m+1)

1·2···m tauchen alle Primzahlen p mitm+ 1 < p ≤ 2m+ 1 auf. Somit gilt

∏m+1<p≤2m+1

p ≤(

2m+ 1

m

)< 4m.

Insgesamt ist ∏p≤2m+1

p < 4m4m = 42m = 4(2m+1)−1

Bemerkung 2.5.17 Nicht beweisen will ich hier das sogenannte Bertrandsche Postulat. Eslautet:

Zu jedem n ∈ N1 gibt es eine Primzahl p mit n < p ≤ 2n.

Es lasst sich mit Hilfe von Binomialkoeffizienten elementar (d.h. ohne Hilfe komplexer Zahlenund deren Analysis) verhaltnismaßig einfach beweisen. (Obiger Satz wird dafur gebraucht.)Ich verweise Dich aufs Internet.

AUFGABEN

1. Seien x, y,m, n ∈ Z, m, n ≥ 1 und p eine Primzahl. a) Zeige: Ist x ≡ y mod pm, so ist xpn ≡ypn

mod pm+n.

b) Gilt die Behauptung auch fur m = 0?

c) Zeige, dass die Umkehrung nicht gilt.

2. Zeige: Wenn a, b > 0 sind und n ≥ 2 ganz ist, so ist n√an + bn < a+ b.

3. a) Wenn a, n ∈ N2 gilt und an + 1 eine Primzahl ist, so ist a gerade und n = 2m mit einemm ∈ N.

b) Wenn a, n ∈ N und an − 1 prim ist, so ist a = 2 und n prim.

(Hinweis: Geometrische Reihe.)

c) Es ist 82 + 1 keine Primzahl und auch 211 − 1 = 2047 = 23 · 89 keine solche. Warum stehtdieses nicht im Widerspruch zu a), bzw. b)?

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2.5. GEOMETRISCHE REIHE, BINOMISCHER LEHRSATZ 77

4. a) Im Bereich der naturlichen Zahlen sei c ein Teiler von ab und c < a sowie c < b. Zeige, dassdann ab/c keine Primzahl ist.

b) 11 ist eine Primzahl, 111 nicht (warum?). Zeige: Ist im Dezimalsystem eine n-stellige Zahl,deren samtliche Ziffern gleich 1 sind, eine Primzahl, so muss auch n eine Primzahl sein. DieUmkehrung ist leider falsch, wie das Beispiel 111 lehrt.

c) 101 ist eine Primzahl, 10101 nicht. Gibt es neben 101 uberhaupt Primzahlen, die im Dezi-malsystem abwechselnd die Ziffern 1 und 0 haben? (Tipp: Stelle 1010 . . . 101 als geometrischeReihe dar und benutze a).)

5. Bestimme (mit Hilfe der Formel fur die geometrische Reihe) einen Primfaktor von 2148 + 1.

Bemerkung: Der komplementare Faktor ist ebenfalls prim, wie A. Ferrier (von dem ich leidernichts weiß) ohne elektronische Rechner (allerdings mit einer mechanischen Rechenmaschine)um 1950 nachgewiesen hat. Damals war das ein Rekord!

6. a) Zeige: Fur jede naturliche Zahl n ist (1+√

2)n +(1−√

2)n eine gerade ganze Zahl. (Hinweis:Binomialsatz.)

b) Zeige:

(n+ 1

k + 1

)=

n∑m=k

(m

k

), (n ≥ k).

(Hinweis: Bei Induktion nach n kann man den Hilfsatz zum Beweis des Binomialsatzes benut-zen.)

7. Betrachte im Pascalschen Dreieck eine ‘Parallele zum linken Schenkel’ also die Folge(n

n

),

(n+ 1

n

),

(n+ 2

n

), . . . ,

(n+ k

n

), . . .

a) Uberlege, dass die ‘folgende Parallele’, also(n+ 1

n+ 1

),

(n+ 2

n+ 1

),

(n+ 3

n+ 1

), . . . ,

(n+ 1 + k

n+ 1

), . . .

die summatorische Folge der vorangehenden ist. Dabei soll die summatorische Folge derFolge

(ak)k∈N = (a0, a1, a2, . . .)

als die Folge

(a0, a0 + a1, a0 + a1 + a2, . . .) = (k∑

i=0

ai)k∈N

definiert sein. (Es ist gar nicht schwer, dies einzusehen.)

b) Uberlege Dir auch, dass

(n+ k

n

)ein Polynom n-ten Grades in k ist.

8. Seien r, s, n ∈ N. Zeige: Aus 0 ≤ r < s ≤ n/2 folgt

(n

r

)<

(n

s

).

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78 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

9. a) Zeige: Fur jedes n ∈ N gilt:n∑

i=0

(1/2)i < 2.

b) Folgere:n∑

i=m

(1

2

)i

<2

2m.

c) Zeige 2n < n! fur n ≥ 4. (Wenn man nicht mit Induktion argumentieren will, geht es so:24+k = 16 · 2 · · · 2 < 24 · (4 + 1) · · · (4 + k), wo links nach dem Faktor 16 = 24 ein Produkt vonk Faktoren 2 und rechts nach dem Faktor 24 das Produkt der k Zahlen 4 + 1, . . . , 4 + k steht.)

d) Zeige: Fur alle naturlichen Zahlen n ≥ 1 und k gilt:

(n

k

)1

nk≤ 1

k!.

e) Zeige: Unter denselben Voraussetzungen gilt:

(1 +

1

n

)n

≤n∑

k=0

1

k!< 3.

(Hinweis: d) fur die 1. und b), c) fur die 2. Ungleichung)

10. a) Zeige, dass mk(mk − 1) · · · (mk − k + 1) durch mk! teilbar ist. (m, k ∈ N.)

b) Folgere, dass (mn)! durch m!(n!)m teilbar ist. (Der zweite Ausdruck ist unsymmetrisch in nund m. Es ist (2 · 2)! durch 2!(2!)2 teilbar, aber nicht durch (2!)2(2!)2.)

11. Peter fragt seine Mutter, wie alt sie sei. Da sie ihr Alter aber nicht so locker verraten mag,antwortet sie: Wenn Du von der dritten Potenz des Alters Deines Vaters die dritte Potenzmeines Alters abziehst, erhaltst Du die Zahl 26551. Wie alt sind Peters Eltern? (Das Alter vonMutter und Vater wird als ganze Anzahl von Jahren angenommen.)

12. Seien n, a ∈ N, n ≥ 2, a ≥ 1. Zeige: Es gibt nur endlich viele Paare ganzer Zahlen (x, y), so dassxn− yn = a gilt. (Vielleicht fallt es Dir leichter, die starkere Behauptung zu zeigen, dass es nurendlich viele Paare ganzer Zahlen (x, y) mit 0 < xn − yn ≤ a gibt.)

13. a) Sei n ≥ 3 eine ganze Zahl. Zeige (n+1)n < nn+1. (Entwickle (n+1)n gemaß dem binomischenLehrsatz. Vergleiche die ersten n−1 Summanden und die Summe der letzten beiden Summandendieser Entwicklung jeweils mit nn. Fur den letzten Vergleich benotigst Du n ≥ 3. Was gilt furn = 2?)

b) Mit Hilfe von Wurzeln, die man oft erst im Bereich der reellen (und nicht innerhalb derrationalen) Zahlen ziehen kann, kann man aus a) folgern: Sind m,n ∈ N mit 3 ≤ m < n,so gilt nm < mn. (Welche Folgerung in Bezug auf die Losungen der Gleichung xy = yx imBereich der ganzen Zahlen kann man daraus ziehen?) Wenn man allgemeine Potenzen mitreellen Exponenten kennt, kann man auch fur reelle Zahlen a, b mit e ≤ a < b die Ungleichungba < ab zeigen. Siehe 7.6.4 . (Hier habe ich mit e die Eulersche Zahl bezeichnet, die im Beispiel5 von Abschnitt 3.1 behandelt wird.)

14. Seien a,m, n positive ganze Zahlen mit a ≥ 2. Sei m = qn + r eine Division mit Rest (in N),wo 0 ≤ r < n ist.

a) Zeige: Dann gibt es ein q′ ∈ N mit am − 1 = q′(an − 1) + ar − 1.

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2.5. GEOMETRISCHE REIHE, BINOMISCHER LEHRSATZ 79

b) Folgere: n|m ⇐⇒ an − 1|am − 1

c) Folgere: aggt(m,n) − 1 = ggt(am − 1 , an − 1).

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80 KAPITEL 2. NEUE RECHENBEREICHE

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Kapitel 3

Grenzwerte und reelle Zahlen

3.1 Unendliche Reihen

‘Unendliche Reihen’ sind nur eine andere Bezeichnung fur unendliche Summen. Auch wenn ichin diesem Abschnitt ein wenig unprazise bin, kannst Du, wie ich glaube, eine Menge lernen.

Beispiel 1:1

2+

1

4+

1

8+

1

16+ · · · = ?

Wir schreiben diese unendliche Summe auch wie folgt:∞∑

n=1

1

2n=

1

2+

1

4+

1

8+

1

16+ · · · = 2−1 + 2−2 + 2−3 + 2−4 + · · · =

∞∑k=1

2−k =?

Welche Meinung hast Du zu unendlichen Summen, insbesondere zu derangegebenen? Es ist Unsinn, solche zu betrachten. Ihr Studium magzwar fur Mathematiker ganz lustig sein, aber sicher nicht fur Physiker undInformatiker. Obiger Summe legt man sinnvoller Weise den Wert 1 zu.

Um der o.a. unendlichen Summe auf sinnvolle Weise einen Wert zu geben,benutze ich ein anschauliches Argument: Stelle Dir einen Glaszylinder vor,der 1 Liter fasst. Dieser wird zuerst halb gefullt, dann wird durch hinzu-gießen von einem viertel Liter vom freien Rest wieder die Halfte gefullt,und es bleibt 1/4 Liter frei. Dann bleibt nach Hinzufugen von 1/8 l wieder1/8 l frei. So geht es weiter: im n-ten Schritt fugt man 2−n l hinzu, undder Literzylinder ist bis auf 2−n l gefullt. Der einzig sinnvolle Wert fur o.a.unendliche Reihe (Summe) ist

∞∑k=1

2−k =1

2+

1

4+

1

8+

1

16+ · · ·+ 1

2k+ · · · = 1

(Rechts hast Du Platz zum zeichnen.)

81

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82 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

Was haben wir gemacht? Wir haben nacheinander die endlichen Partialsummen

1∑k=1

1

2k= 1− 1

2,

2∑k=1

1

2k= 1− 1

22,

3∑k=1

1

2k= 1− 1

23, . . .

betrachtet und uns uberlegt, wogegen die Folge dieser Partialsummen geht, d.h. welchenGrenzwert sie hat.

Beispiel 2: a)1

1 · 2+

1

2 · 3+

1

3 · 4+

1

4 · 5+ · · ·+ 1

n(n+ 1)+ · · · =

∞∑k=1

1

k(k + 1)= ?

Ich will die einzelnen Summanden umformen.

Es gilt1

n− 1

n+ 1=

(n+ 1)− nn(n+ 1)

=1

n(n+ 1), z.B.

1

2− 1

3=

1

6. (Solltest Du je Probleme mit

der Bruchrechnung gehabt haben, so sind diese jetzt doch uberwunden, nicht wahr?)

Obige unendliche Reihe kann man also auch so schreiben:

∞∑k=1

1

k(k + 1)=

(1

1− 1

2

)+

(1

2− 1

3

)+

(1

3− 1

4

)+

(1

4− 1

5

)+ · · ·

Du siehst: Wenn man die ersten n Glieder der Reihe (in ihrer zweiten Gestalt) addiert, so hebtsich nach Entfernen der Klammern viel weg und man erhalt als Summe der ersten n Glieder

die Zahl 1− 1

n+ 1. (Sehr anschaulich bezeichnet man eine solche Summe als Teleskopsum-

me; sie ist wie ein Teleskop zusammenschiebbar.) Wieder ist der einzig sinnvolle Wert unsererunendlichen Reihe

∞∑k=1

1

k(k + 1)=

1

1 · 2+

1

2 · 3+

1

3 · 4+

1

4 · 5+ · · ·+ 1

n(n+ 1)+ · · · = 1

b) Fur spater notieren wir: Lasst man die ersten N Summanden dieser Reihe weg, so erhaltman auf dieselbe Weise

∞∑k=N+1

1

k(k + 1)=

1

(N + 1)(N + 2)+

1

(N + 2)(N + 3)+

1

(N + 3)(N + 4)+ · · · = 1

N + 1

Prufe das nach.

Beispiel 3:1

1+

1

2+

1

3+

1

4+

1

5+ · · ·+ 1

n+ · · · =

∞∑n=1

1

n= ? (

”Harmonische Reihe“)

Was glaubst Du? Da die Glieder dieser Reihe gegen 0 gehen, erhalt man, wie bei denobigen Reihen einen endlichen Wert. Obwohl die Glieder dieser Reihe gegen 0 gehen, hatsie keinen endlichen Wert. Das ist bis heute unbekannt.

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3.1. UNENDLICHE REIHEN 83

Wir fassen die Glieder dieser Reihe wie folgt zusammen:

1

2+

(1

3+

1

4

)+

(1

5+

1

6+

1

7+

1

8

)+

(1

9+ · · ·+ 1

16

)+

(1

17+ · · ·+ 1

32

)+ · · ·

Nun ist1

3+

1

4≥ 1

4+

1

4= 2 · 1

4=

1

2,

1

5+ · · ·+ 1

8≥ 1

8+ · · ·+ 1

8= 4 · 1

8=

1

21

9+ · · ·+ 1

16≥ 8 · 1

16=

1

2, usw.

Deshalb gilt

1

1+

1

2+

1

3+

1

4+

1

5+ · · · ≥ 1 +

1

2+

1

2+

1

2+ · · ·

Also bleibt als einzig sinnvoller Wert der harmonischen Reihe:

∞∑n=1

1

n=

1

1+

1

2+

1

3+

1

4+

1

5+ · · · =∞ = unendlich.

(Wir betrachten ∞ nicht als (reelle) Zahl, weil man mit ∞ schlecht rechnen kann. Aber esspricht nichts dagegen, ∞ als Wert einer unendlichen Reihe, als ‘uneigentlichen Grenzwert’zuzulassen.)

In den Beispielen 4 und 6 werden wir die harmonische Reihe auf zweierlei Weise modifizierenund endliche Werte erhalten.

Beispiel 4: Wir quadrieren die Summanden der harmonischen Reihe:

∞∑n=1

1

n2= 1 +

1

22+

1

32+

1

42+

1

52+ · · ·+ 1

n2+ · · · = ?

Es gilt (fur n ≥ 1) die Beziehung1

(n+ 1)2<

1

n(n+ 1), also

1

22<

1

1 · 2,

1

32<

1

2 · 3usw. Durch

Vergleich mit Beispiel 2 erhalt man hieraus, vorausgesetzt unsere Reihe hat einen vernunftigenWert,

1 +1

22+

1

32+

1

42+

1

52+ · · · < 1 + 1 = 2

Wenn man die reellen Zahlen axiomatisch einfuhrt, kann man als eines der Axiome z.B. folgendesnehmen:

Jede unendliche Summe positiver Summanden, deren Partialsummen nach oben beschranktsind, hat einen (endlichen) reellen Wert.

In der Tat ist der Wert o.a. unendlicher Summeπ2

6. Dies ist allerdings keineswegs einfach zu

sehen. Wenn Du Gluck hast, horst Du einen Beweis dafur am Ende des 1. Semesters in derVorlesung

”Analysis 1“. Jedenfalls findest Du einen Beweis im Buch O. Forster: Analysis 1.

Frage: Was ist π?

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84 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

Der sechzehnte (kleingeschriebene) Buchstabe des griechischen Alphabets. Ungefahrgleich 3,14159. Das Verhaltnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser. Das Verhaltnis der Flache eines Kreises zum Quadrat uber seinem Radius. Das Verhalt-nis der Oberflache einer Kugel zum Quadrat uber ihrem Durchmesser. Drei viertel desVerhaltnisses des Volumens einer Kugel zum Volumen des Wurfels uber ihrem Radius. (Inden letzten vier Antworten ist die euklidische Geometrie zugrunde gelegt.)

Antwort: Alle gegebenen Antworten sind richtig. (Dabei muss man vielleicht eine feinsinnigeZusatzbemerkung machen, was die erste Antwort von den andern unterscheidet.)

Frage: Warum schreibt man π und nicht 3,14159?

π schreibt sich kurzer als 3,14159. π = 3,14159 ist nicht exakt richtig. π lasst sichnicht als endlicher Dezimalbruch, ja uberhaupt nicht als Bruch mit ganzzahligem Zahler undNenner schreiben. D.h. π ist irrational.

Antwort: Die erste Antwort ist naturlich nicht falsch, die zweite ist aber besser, und die drittehat die großte mathematische Substanz! Dazu gibt es in 7.7 eine Aufgabe. Hier werden wir nurbeweisen, dass der Wert der folgenden Reihe irrational ist.

Beispiel 5: 1 +1

1+

1

1 · 2+

1

1 · 2 · 3+ · · · =

∞∑k=0

1

k!

(Erinnere Dich an die Definition 0! := 1, n! := 1 · 2 · · ·n fur ganze n > 0.) Wenn wir, fur jedes

n, den Summanden1

1 · 2 · · ·n · (n+ 1)mit dem Summanden

1

n(n+ 1)der Reihe aus Beispiel

2 vergleichen, sehen wir dass unsere Summe – wenn uberhaupt – einen Wert < 3 hat. Wie imBeispiel 4. hat diese Reihe im Bereich der reellen Zahlen Wert. Dieser wird in der Regel mit ebezeichnet. Es gilt also 2 < e < 3. Angenahert ist e = 2, 718281828 . . ..

Was meinst Du? e hat die Periode 1828, ist also rational. Da man immer nurendlich viele Dezimalstellen von e berechnen kann, ist dies nicht zu entscheiden. Eskonnte trotzdem einen Beweis fur eine der beiden Behauptungen geben: e ist rational bzw. eist irrational.

Die Ziffernfolge 1828 wiederholt sich nicht ein drittes Mal. Mit Hilfe von Beispiel 2 kann manvielmehr zeigen:

Satz: e ist keine rationale, sondern eine irrationale Zahl, d.h. kein Bruch mit ganzem Zahlerund Nenner.

Beweis: Indirekt! Ware e eine rationale Zahl mit dem Nenner N ≥ 2, etwa e = mN

(mitnaturlichen Zahlen m,N), so ware nicht nur Ne, sondern erst recht N ! · e = 1 · 2 · · ·N · m

Neine

ganze Zahl. Wir zeigen, dass dies fur keine naturliche Zahl N moglich ist.

Multiplizieren wir die ersten N + 1 Summanden von e mit N ! = 1 · 2 · · ·N , so erhalten wirlauter ganze Zahlen. Fur den Rest r := N !

∑∞n=N+1 1/n! genugt es also 0 < r < 1 zu zeigen.

Denn N !e ist ja dann die Summe von r und einer ganzen Zahl, also nicht ganz, da r nicht ganzist.

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3.1. UNENDLICHE REIHEN 85

Offenbar gilt

r =1

N + 1+

1

(N + 1)(N + 2)+

1

(N + 1)(N + 2)(N + 3)+ · · ·

Vergleichen wir diese Reihe, anfangend mit dem 2. Summanden, mit Beispiel 2 b), so erhaltenwir

r =1

N + 1+

1

(N + 1)(N + 2)+

1

(N + 1)(N + 2)(N + 3)+

1

(N + 1)(N + 2)(N + 3)(N + 4)+· · · <

1

(N + 1)+

1

(N + 1)(N + 2)+

1

(N + 2)(N + 3)+

1

(N + 3)(N + 4)+ · · · = 1

N + 1+

1

N + 1< 1

da N ≥ 2 ist. Also ist N ! · e fur keine naturliche Zahl N ganz und deshalb e irrational.

Beispiel 6: Wir versehen die”Halfte“ der Summanden der harmonischen Reihe mit dem Minus-

Zeichen, d.h. wir bilden die sogenannte alternierende harmonische Reihe:

1− 1

2+

1

3− 1

4+

1

5−+ · · ·+ (−1)n+1

n+ · · · =

∞∑k=1

(−1)k+1

k= ?.

Wenn wir die Teilsummen s1 = 1, s2 = 1− 1

2, s3 = 1− 1

2+

1

3, s4 = 1− 1

2+

1

3− 1

4usw. auf

der Zahlengeraden betrachten, so sehen wir sie hin- und herhupfen; dabei werden die Sprungeimmer kleiner und ihre Lange geht gegen 0. Es ist also plausibel, dass die Teilsummen gegeneinen Grenzwert gehen, den Wert der unendlichen Reihe. (‘Leibnizsches Konvergenzkriterium’)Dieser Wert liegt offenbar zwischen 1/2 und 1. Er ist gleich ln 2, dem naturlichen Logarithmusvon 2, wie man in den meisten Vorlesungen

”Analysis 1“ lernt.

Frage: Darf man in einer unendlichen Reihe die Reihenfolge der Summanden beliebig vertau-schen, ohne dass sich an ihrer Konvergenz oder ihrem Wert etwas andert?

Ja. Nicht immer.

Beispiel 7: Wir schreiben die Summanden der alternierenden harmonischen Reihe in folgen-der Reihenfolge:

1− 1

2− 1

4+

1

3− 1

6− 1

8+ · · · =

∞∑k=0

(1

2k + 1− 1

2(2k + 1)− 1

2(2k + 2)

).

(Auf je einen positiven Summanden folgen je zwei negative. Innerhalb der Folge der positiven,sowie innerhalb der Folge der negativen Summanden bleibt die Reihenfolge bestehen.) Dabeibedeutet das Gleichheitszeichen dass die Werte der beiden Reihen gleich sind, nicht aber dieReihen als solche. Wenn Du genauer weißt, wie der Wert einer Reihe definiert ist, kannst Duleicht das Folgende zeigen: Ist eine Reihe konvergent, d.h. hat sie einen endlichen Wert, so darfman beliebige endliche Teile aufeinander folgender Glieder der Reihe zu je einem Summandenzusammenfassen, ohne dass sich an ihrem Wert etwas andert.

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86 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

Behauptung: Der Wert der o.a. Reihe ist genau halb so groß wie der der ursprunglichenalternierenden harmonischen Reihe, der ja nicht 0 ist. Denn es gilt:(

1

2k + 1− 1

2(2k + 1)

)− 1

2(2k + 2)=

1

2

(1

2k + 1− 1

2k + 2

).

Wenn wir jetzt diese Glieder fur beginnend mit k = 0 der Reihe nach aufsummieren, dieKlammern weglassen und den gemeinsamen Faktor 1

2herausziehen, erhalten wir

1

2

(1− 1

2+

1

3− 1

4+

1

5− · · ·

),

das heißt die alternierende harmonische Reihe, mit 12

multipliziert.

Beispiel 8: Jetzt ordnen wir die alternierende harmonische Reihe wie folgt um:

1− 1

2+

1

3− 1

4+

1

5− 1

6− 1

8+

1

7− 1

10− 1

12− 1

14− 1

16+

1

9− 1

18− · · · − 1

32+

1

11− 1

34− · · ·

Beginnend mit 1/3 nimmt man immer abwechselnd einen positiven und 2n negative Summandenauf. Genauer: nach dem positiven Summanden 1/3 nimmt man 20 negative Summanden; nachdem nachsten positiven Summanden 1/5 nimmt man die nachsten 21 negativen Summanden,usw.

Da −1

6− 1

8≤ −1

4, − 1

10− · · · − 1

16≤ −1

4, usw. ist, gilt fur einen moglichen Wert w der o.a.

umgeordneten alternierenden harmonischen Reihe w ≤ 1− 1

2+

1

3− 1

4+

1

5− 1

4+

1

7− 1

4+

1

9−

1

4+

1

11−+ · · ·. Mit

−1

4+

1

5= − 1

4 · 5= − 1

20ist − 1

4+

1

n≤ − 1

20fur n ≥ 5 .

Also gilt

w ≤ 1− 1

2+

1

3− 1

20− 1

20− 1

20− · · · = −∞ .

Uberlege Dir, dass hinter den letzten beiden Beispielen ein ‘Geheimnis des Unendlichen’ steckt.

Wenn man aus einem ‘Fass’ mit den Zahlen 1, 2, 3, . . . , 1 000 000 zu Anfang sehr viele geraden und nur wenige ungerade n herausnimmt und schließlich das ganze Fass leeren will, so mussman irgendwann zum Ausgleich sehr viele ungerade Zahlen herausnehmen. Sind etwa unter denersten 500 000 herausgenommene Zahlen 499 000 gerade Zahlen, so mussen notwendigerweiseunter den letzten 500 000 herausgenommenen Zahlen auch 499 000 ungerade Zahlen sein.

Das ist ganz anders, wenn das Fass mit unendlich vielen, etwa allen naturlichen Zahlen gefulltist. Dann kann man fur jedes m die ersten 10m herausgenommenen Zahlen so wahlen, dasssich unter ihnen nur m ungerade, aber 10m − m gerade n finden, und fischt trotzdem auchjedes ungerade n irgendwann aus dem Fass.

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3.1. UNENDLICHE REIHEN 87

Zusatzbemerkungen

Zu Beispiel 1: Wie Du weißt, gilt fur q 6= 1 die Formel∑n

k=0 qk = 1+q+q2+· · ·+qn =

1− qn+1

1− q,

also fur die unendliche Reihe∑∞

k=0 qk = 1 + q + q2 + · · · + qn + · · · = 1

1− q, vorausgesetzt, es

ist −1 < q < 1. S.u. Wahlt man q = 1/2, so erhalt man die Reihe aus Beispiel 1 mit einemzusatzlichen Summanden 1.

Zu den Beispielen 3 und 4: Die Quadratzahlen bilden eine Teilmenge der Menge allerpositiven ganzen Zahlen. Wir haben gesehen, dass die Summe der Kehrwerte aller naturlichenZahlen unendlich, dagegen die der Kehrwerte aller Quadratzahlen endlich ist. Man kann sichfur jede Teilmenge der naturlichen Zahlen fragen, ob die Summe ihrer Kehrwerte endlich oderunendlich ist. Man weiß, dass die Summe der Kehrwerte aller Primzahlen unendlich ist. Dasist nicht trivial, aber auch nicht allzu schwer zu zeigen. Siehe Chapter 1 in dem hubschenBuch

”Proofs from THE BOOK“ von M. Aigner und G.M. Ziegler (Springer Verlag). Dass die

Summe der Kehrwerte der Primzahlen unendlich, die der Quadratzahlen aber endlich ist, kannman so interpretieren, dass die Primzahlen dichter im Bereich der naturlichen Zahlen liegen alsdie Quadratzahlen. (Das heißt nicht, dass man aus dieser Erkenntnis gleich folgern kann, dasszwischen je zwei verschiedenen Quadratzahlen 6= 0 mindestens eine Primzahl liegt. Das glaubtzwar jeder, kann aber dummerweise noch keiner beweisen.)

Zu Beispiel 6: Die sogenannte Taylorentwicklung der Funktion ln(1 + x) ist ln(1 + x) =x

1− x2

2+x3

3− + · · ·. Diese Gleichung gilt fur alle x mit −1 < x ≤ 1, und man erhalt unsere

Behauptung, indem man x = 1 setzt.

Unvollstandige Begrundung: Die Funktion ln(1 + x) ist die Stammfunktion von1

1 + x.

(D.h. die Ableitung der Funktion ln(1 + x) ist die Funktion1

1 + x. (Diese Begriffe kennst Du

vielleicht schon. Sie werden auch weiter unten in diesem Buch behandelt.) Letztere Funktionkann man, wie in der Bemerkung zu Beispiel 1 angegeben, als unendliche Reihe schreiben:setze q = −x. Die sogenannte Taylorentwicklung von ln(1 + x) erhalt man durch ‘gliedweiseIntegration’. Das alles funktioniert zunachst jedoch nur fur −1 < x < 1. Fur x = 1 brauchtman ein zusatzliches Argument, den ‘Abelschen Grenzwertsatz’.

Zu Beispiel 7: Durch geeignete Umordnung kann die alternierende harmonische Reihe je-de vorgegebene reelle Zahl als Wert annehmen. Wer mathematisch geschickt ist, mag selbstversuchen, dies zu zeigen.

Ein Beispiel, das unsere Vorfahren irritiert hat: Die unendliche Reihe∑∞

n=0(−1)n = 1−1+1−1+· · · hat keinen vernunftigen Wert. Man kann allerdings ihre Summanden so klammern,dass einmal der Wert 0, ein andermal der Wert 1 herauskommt. (1−1)+(1−1)+(1−1)+ · · ·,bzw 1 + (−1 + 1) + (−1 + 1) + (−1 + 1) + · · ·.

Dieses Beispiel mag in Dir den Wunsch nach einer prazisen Definition fur den Wert einer unen-dichen Reihe wecken. Versuchen wir es so: Wir betrachten die sogenannten Partialsummen

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88 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

einer unendlichen Reihe∞∑

n=0

an

Das sind die Summen

s0 := a0, s1 := a0 + a1, s2 := a0 + a1 + a2, . . . , sk :=k∑

n=0

an, . . .

Und den Wert der Reihe∑∞

n=0 an definiert man als ‘Grenzwert’ dieser Folge der Partialsummen,so es denn einen gibt. Grenzwerte von Folgen definieren wir spater.

Partialsummen der Reihe∑∞

n=0(−1)n sind

1, 0, 1, 0, 1, 0, . . .

Diese bilden eine Folge, die keinen Grenzwert hat. Z.B. liegt nur die Halfte der Folgengliederbeliebig nahe bei 0.

Diese Beispiel lehrt uns, dass die Assoziativitat bei unendlichen Summen nicht allgemeinrichtig ist!

3.2 Grenzwerte und reelle Zahlen

3.2.1 Du kennst den Korper Q der rationalen Zahlen und weißt auch, wie man seine Elementeals Punkte auf der Zahlengerade auffassen kann – nachdem man die Punkte 0 und 1 festgelegthat. Der Korper Q besitzt außer seiner arithmetischen (oder algebraischen) Struktur, d.h. denRechenarten, noch eine Anordnungsstruktur. Diese wird durch die Relation ‘≤’ gegeben. Wennman, wie ublich die Zahlengerade waagerecht zeichnet und dabei den Punkt 1 rechts von der 0legt, so bedeutet a ≤ b, dass der Punkt a links von b liegt oder mit ihm ubereinstimmt.

Haben zwei Bruche den gleichen positiven Nenner n, so gilt naturlich

m1

n≤ m2

n⇐⇒ m1 ≤ m2 .

Im Allgemeinen macht man durch Erweitern der Bruchem1

n1

,m2

n1

die Nenner gleich und hat

dann die Bruchem1n2

n1n2

undm2n1

n1n2

zu vergleichen. Es ergibt sich die Regel: Sind n1, n2 > 0 so

istm1

n1

≤ m2

n2

⇐⇒ m1n2 ≤ m2n1

Die Relation ‘≤’ hat folgende Eigenschaften:

a ≤ a (Reflexivitat)a ≤ b, b ≤ c⇒ a ≤ c (Transitivitat)

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3.2. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN 89

a ≤ b, b ≤ a⇒ a = b (Antisymmetrie)fur je zwei Zahlen a, b gilt a ≤ b oder b ≤ a (Totalitat)a ≤ b⇒ a+ c ≤ b+ c0 ≤ c, a ≤ b⇒ ac ≤ bc (Monotonie der Addition und der Multiplikation)

Definition 3.2.2 Ein angeordneter Korper, ist ein Korper mit einer Relation ‘≤’, derart,dass obige Eigenschaften erfullt sind. Die Elemente a ∈ K, die ≥ 0 sind, nennt man nichtne-gativ. Die von 0 verschiedenen nichtnegativen Elemente von K heißen positiv.

Welche Elemente wurdest Du nichtpositiv, bzw. negativ nennen?(Ich muss gestehen, dass die Worter

”nichtnegativ“ und

”nichtpositiv“ nicht nicht die großte

sprachliche Eleganz ausstrahlen; sie sind aber ublich.)

Die Relation ‘<’ ist durch ‘a < b ⇐⇒ a ≤ b, a 6= b definiert. Was a ≥ b und a > b dannbedeuten sollen, ist Dir sicher klar.

Bemerkungen 3.2.3 Sei K ein angeordneter Korper. Die folgenden Regeln gelten in K.

a) Die Monotonieregel der Addition lasst sich auch folgendermaßen ausdrucken:a < b⇒ a+ c < b+ cDenn wenn a ≤ b und a 6= b gilt, ist a+ c ≤ b+ c und a+ c 6= b+ c, nicht wahr?

b) Aus 0 ≤ a, 0 ≤ b folgt 0 ≤ a+ b und 0 ≤ ab.

c) Gilt a ≤ b, so folgt a+ (−a− b) ≤ b+ (−a− b) also −b ≤ −a. Insbesondere gelten:

a ≤ 0 ⇐⇒ −a ≥ 0; sowie a ≥ 0 ⇐⇒ −a ≤ 0.

d) a2 ≥ 0 gilt fur jedes a ∈ K. Ist namlich a ≥ 0, so folgt a2 ≥ a · 0 = 0. Ist hingegen a ≤ 0, soist −a ≥ 0, also a2 = (−a)2 ≥ 0.Insbesondere ist 1 = 12 ≥ 0. Da aber 1 6= 0, folgt 1 > 0.

e) Ist a > 0, so ist auch a−1 > 0. Ware namlich a−1 < 0, so ware −a−1 > 0, also −1 =−(aa−1) = a(−a−1) > 0, im Widerspruch zu c) und d).Entsprechend kannst Du a < 0 =⇒ a−1 < 0 beweisen.

f) Aus 0 < a ≤ b folgt a−1 ≥ b−1. Dies ergibt sich, wenn man die Ungleichung a ≤ b mit dempositiven Element a−1b−1 multipliziert.Entsprechend folgt aus a ≤ b < 0, dass a−1 ≥ b−1 ist.

Sind also a, b beide positiv, oder beide negativ, so kehren sich durch das multiplikative Inver-tieren die Großenverhaltnisse um. Ist allerdings a < 0 < b, so ist auch a−1 < 0 < b−1.

g) Es ist a ≤ b ⇐⇒ 0 ≤ b − a. Deshalb kennt man eine Anordnung eines Korpers bereitsdann, wenn man weiß, welche Elemente nichtnegativ (oder auch positiv) sind.

Satz 3.2.4 Der Korper Q besitzt außer der uns bereits bekannten Anordnungen keine weiteren.

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90 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

Beweis: Wir wissen, dass auf jeden Fall 1 positiv ist. Dann sind aber auch 1 + 1, 1 + 1 + 1,und so weiter positiv. Jede naturliche Zahl ist somit ≥ 0. Ist n 6= 0 eine naturliche Zahl, so ist

auch n−1 positiv, dann ist aber auch jeder Bruchm

n= m ·n−1 (in dem naturlich n 6= 0 ist) von

naturlichen Zahlen nichtnegativ, also genau diejenigen Elemente, die auch bei der bekanntenAnordnung von Q nichtnegativ sind.

3.2.5 Sei K weiterhin ein angeordneter Korper. Dann ist in ihm 1 > 0, folglich sind alleendlichen Summen (aber nicht die leere Summe) von 1 mit sich selbst positiv. Daraus folgt,dass eine Gleichung zwischen solchen Summen a := 1 + 1 + · · · + 1 = b := 1 + 1 + · · · + 1 nurdann gelten kann, wenn auf beiden Seiten gleichviele Summanden stehen. (Beachte, dass dieseAussage in einem endlichen Korper falsch ist!) Denn wenn etwa rechts mehr Summanden alslinks stunden, gabe es eine nichtleere Summe c von 1 mit sich selbst, so dass b = a + c undb = a ware.

Dies bedeutet, dass man die Menge N mit Menge der 1-Summen (einschließlich der leerenSumme, die als 0 verstanden wird) eines beliebigen angeordneten Korpers identifizieren kann,und zwar so, dass Addition, Multiplikation und die Relation ‘≤’ dabei nicht verandert werden.

Dann kann man auch Z mit der Menge der Elemente aus K, die 1-Summen oder deren additivInverse sind, identifizieren, so dass die Rechenoperationen und die Ordnungsrelation dabeiberucksichtigt wird. Da K ein Korper ist, kann man jeden Bruch m

nmit dem Korperelement

mn−1 identifizieren.

Man darf also annehmen, dass Q als Teilkorper in einem jeden angeordneten Korpern liegt.

Zur axiomatischen Definition der reellen Zahlen benotigen wir unter anderem ein Axiom, dasfur den Korper Q erfullt ist:

Definition 3.2.6 Ein archimedisch angordneter Korper K ist ein angeordneter Korper,derart dass zu Elementen a, b ∈ K mit a, b > 0 ein n ∈ N mit na ≥ b existiert. (Nach Annahmeliegt ja Q, also auch N in dem Korper. Man kann allerdings auch ohne diese Annahme nadefinieren, namlich als n-fache Summe von a zu sich selbst.)

Bemerkung 3.2.7 Q ist ein archimedisch angeordneter Korper. Sind namlich m1,m2, n1, n3

naturliche Zahlen 6= 0, so ist offenbar

(m2n1)m1

n1

≥ m2

n2

Satz 3.2.8 Sei K ein angeordneter Korper. Folgende Aussagen sind aquivalent:(i) K ist archimedisch angeordnet.(ii) Jedes positive a ∈ K liegt zwischen zwei positiven rationalen Zahlen.

Beweis: Sei K archimedisch angeordnet, so gibt es eine naturliche Zahl n mit n · 1 ≥ a. Alsoist a ≤ n mit der rationalen (sogar naturlichen) Zahl n.

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3.2. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN 91

Ferner gibt es eine naturliche Zahl n′ mit 1a≤ n′, also a ≥ 1

n′.

Umgekehrt erfulle ein angeordneter Korper K obige Aussage und seien a, b ∈ K positiv. Danngibt es naturliche Zahlen m1, n1,m2, n2 mit

a ≥ m1

n1

und b ≤ m2

n2

, also m2n1a ≥ b .

3.2.9 Die ganzen Zahlen liegen auf der Zahlengerade voneinander isoliert. Anders die ratio-nalen Zahlen. Zwischen ihnen siehst Du auf den ersten Blick keine Lucken. Zwischen je zweiverschiedenen rationalen Zahlen liegen noch unendlich viele weitere. Man konnte vermuten,die rationalen Zahlen fullten die Zahlengerade aus!?

ABER

betrachte die Funktion x2 − 5 auf dem Bereich der rationalen Zahlen ≥ 0. Wenn Du sie, d.h.ihren Graph zeichnest, erhaltst Du eine schone Kurve, welche die x-Achse zwischen 2 und 3zu schneiden scheint.

Gibt es eine rationale Zahl x, fur die x2 − 5 = 0 ist? Du weißt, dass die Antwort ‘nein’ lautet.Der Schnittpunkt der Kurve mit der x-Achse ist also kein rationaler Punkt.

Und das ist naturlich nicht die einzige Ausnahme. Wir wissen z.B. auch, dass die unendlicheReihe

∑∞n=0

1n!

im Bereich der rationalen Zahlen keinen (Grenz-)Wert hat, obwohl die Folgeihrer Partialsummen monoton wachst und nach oben beschrankt ist. Und so weiter, und sofort.

Gewisse Lucken scheinen irgendwie doch zwischen den rationalen Zahlen zu existieren, mogensie auch ‘unendlich kleine Lucken’ sein.

Spater wirst Du sogar zu der etwas paradoxen Erkenntnis kommen, dass es in einem gewissenSinne mehr Lucken zwischen den rationalen Zahlen als rationale Zahlen gibt.

Ganz offenbar hat der Korper Q der rationalen Zahlen seine Defizite. Ich will einen großerenangeordneten Korper R, den Korper der reellen Zahlen axiomatisch einfuhren und spaterauch ein wenig dazu sagen, wie man ihn konstruieren kann.

Einfach, aber hochst nutzlich ist der Begriff des Absolutbetrags. Sei K ein angeordneterKorper. Der Abstand zweier seiner Elemente a und b ist a− b oder b− a je nachdem, welcheDifferenz nicht negativ ist. Mit Hilfe des sogenannten Absolutbetrages kann man den Abstandeinfach in der Form |a− b| schreiben.

Definition 3.2.10 Sei a ein Element eines geordneten Korpers, so definieren wir den Abso-lutbetrag (kurz Betrag) |a| von a als die großere der beiden Zahlen a,−a. (Fur a = 0 meineich damit naturlich |0| = 0.)

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92 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

Eigenschaften: |a| ≥ 0. |a| = 0 ⇐⇒ a = 0, |a+ b| ≤ |a|+ |b|. |ab| = |a| · |b|.

Sei ε > 0, dann bedeutet |a−b| < ε dasselbe wie a−ε < b < a+ε (und naturlich auch dasselbewie b− ε < a < b+ ε).

3.2.11 Ich will im Folgenden klaren, was man unter einem Grenzwert einer (unendlichen)Folge (an) = (an)n = (an)n∈N = (a0, a1, a2, . . .) verstehen soll.

Vielleicht hast Du ja schon ein gewisses Gefuhl dafur, dass etwa die Folge ( 1n+1

) den Grenzwert0 bzw. die Folge n

n+1den Grenzwert 1 hat.

Man muss sich fragen, ob notwendiger Weise der Begriff”Grenzwert“ ein vager Begriff ist,

ob man etwa von jedem Mathematiker verlangen muss, dass ihm intuitiv klar ist, dass diegenannten Folgen die genannten Grenzwerte haben – oder ob man dies prazise fassen kann.

Nun, die folgende Definition ist prazise; aber Du musst Dir schon ordentlich Muhe geben, siezu verstehen.

Definitionen 3.2.12 Sei (an)n∈N eine Folge in einem angeordneten Korper K und a ein Ele-ment dessselben.

a) Man sagt: Die Folge (an)n∈N habe den Grenzwert oder Limes a, oder auch konvergiertgegen a, wenn es zu jedem (noch so kleinen) Element ε > 0 von K ein N ∈ N gibt, so dass|an − a| < ε fur alle n ≥ N gilt. Mit lim

n→∞an oder limn→∞ an wird der Limes bezeichnet, wenn

es ihn gibt.

b) Die Folge heißt – unspezifiziert – konvergent, oder man sagt, sie konvergiert, wenn esein a ∈ K gibt, gegen welches sie konvergiert.

c) Eine Folge heißt divergent, wenn sie nicht konvergent ist.

Beachte: Eine Folge, die in einem vernunftigen Sinn den Grenzwert ∞ oder auch −∞ hat,nennen wir nicht konvergent, sondern divergent!

Um o.a. Definition a) etwas anders zu formulieren, definieren wir zunachst den Begriffε-Umgebung einer Zahl a.

Definition 3.2.13 Sei ε > 0 ein Element eines angeordneter Korpers K. Die ε-Umgebung vona besteht aus den Elementen b ∈ K mit |b− a| < ε.

Obige Definition des Grenzwertes besagt dann:limn→∞ an = a bedeutet: Jede ε-Umgebung (mit ε > 0) von a (und sei ε noch so klein) enthalt,bis auf endlich viele n, alle an.

Bemerkung 3.2.14 Wenn eine Folge in einem angeordneten Korper uberhaupt einen Grenz-wert hat, so hat sie nur einen einzigen.

Denn waren etwa verschiedene a, a′ Grenzwerte einer Folge (an)n, so ware ε := |a− a′|/2 > 0.Aber die ε-Umgebungen von a und a′ haben kein Element gemeinsam. Es ist also nicht moglich,dass sowohl in der ε-Umgebung von a als auch in der von a′ alle an bis auf endlich viele n liegen.

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3.2. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN 93

Beispiele 3.2.15 Jetzt wollen wir uns Beispiele fur Konvergenz, aber auch fur Nichtkonvergenzuberlegen und beschranken uns dabei auf archimedisch angeordnete Korper!

a) Die Folge (1/n), n ≥ 1, also die Folge (1, 12, 1

3, . . .) konvergiert in einem archimedisch ange-

ordneten Korper gegen 0, ebenso die Folge (2−n), n ≥ 0, d.h. die Folge (1, 12, 1

4, 1

8, . . .).

Sei namlich ε ≥ k/m mit ganzen k,m > 0. Dann ist 1m≤ ε. Ist nun N = m+1, so ist 1

n< 1

m≤ ε

fur alle n ≥ N .

Jedes Glied der Folge (2−n)n ist auch ein Glied der Folge ( 1n)n≥1. Die Folge (2−n)n ist eine

sogenannte Teilfolge der Folge (n−1). (Es ist sogar 2−n ≤ n−1.) Deshalb trifft die Definitionder Konvergenz gegen 0 auch auf sie zu.

b) Die Folge ((−2)−n), n ≥ 0, also die Folge (+1,−12,+1

4,−1

8, . . .) konvergiert ebenfalls gegen

0. Es kommt ja nur auf den Abstand der Folgenglieder zu 0 an. Allgemeiner gilt: Wann immereine Folge (an)n gegen 0 konvergiert, so gilt dies auch fur die Folge ((−1)nan)n. Allgemeinergilt: lim an = lim |an|; und wenn einer der Limites existiert, dann auh der andere.

c) Sei in einem archimedisch angeordneten Korper |q| < 1. Dann gilt limn→∞ qn = 0.

Sei namlich ε > 0 und setze |q|−1 = 1 + a mit a > 0. Dann ist nach der BernoullischenUngleichung |q|n ≥ 1+na. Wegen der Archimedizitat gibt es dann ein N , derart dass na > ε−1

fur alle n ≥ N gilt. Fur diese n ist dann auch |q|−n > ε−1, also |q|n < ε.

d) Betrachte die Folge ((−1)n + 2−n), n ∈ N. Sie nahert sich sozusagen den Zahlen −1 und 1.(Genauer nahert sich die ‘Halfte’ der Folgenglieder der 1, die andere ‘Halfte’ der −1.) Diese sindkeine Grenzwerte im Sinne obiger Definition, sondern sogenannte Haufungspunkte. Obwohlder Begriff ‘Haufungspunkt’ nicht unwichtig ist, will ich in diesem Buch auf seine Definitionverzichten.

f) Die Folge (n(−1)n), n ≥ 1 verhalt sich nicht viel anders. Sie hat außer dem ‘Haufungspunkt’

0 noch den ‘uneigentlichen Haufungspunkt’ ∞. Auch diese Reihe ist nicht konvergent, d.h. hatkeinen Grenzwert.

g) Betrachte die Folge (an)n∈N, wo an folgendermaßen definiert sei:

an :=

(n+ 2)−1 fur gerade nn−1 fur ungerade n

d.h. die Folge (12, 1, 1

4, 1

3, 1

6, 1

5, . . .). Diese Folge nahert sich der 0 wie die Echternacher Springpro-

zession. D.h. in jedem 2. Schritt weicht sie wieder etwas zuruck. Trotzdem konvergiert sie gegen0 im Sinne unserer Definition. (Beweis?) Nach meiner Meinung ware es auch sehr engherzig,wollte man eine solche Folge nicht als eine Folge mit dem Grenzwert 0 ansehen.

h) Die Folge (1+ 1n) hat zwar die Eigenschaft, dass ihre Glieder immer kleiner werden, trotzdem

geht sie nicht gegen 0, sondern gegen 1,

i) Schließlich hat eine ‘konstante’ Folge, in der alle Glieder gleich ein und demselben Elementa sind, also eine Folge der Form (a, a, a, . . .) den Grenzwert a.

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94 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

Frage: Ist folgende Aussage aquivalent dazu, dass eine Folge (an) den Grenzwert 0 hat?

”Vom Vorzeichen abgesehen ist jedes Folgenglied kleiner als das vorangehende.“

Ja Nein

Beachte die Beispiele g) und h)! Diesen Vorschlag, Konvergenz (gegen 0) so zu definieren habeich tatsachlich irgendwo gelesen.

3.2.16 Korper der reellen Zahlen. Der Korper der reellen Zahlen hat vor dem Korperder rationalen Zahlen den Vorzug, dass in ihm die Folgen, ‘die eigentlich konvergieren sollten’,auch wirklich konvergieren.

Die Folgen, ‘die eigentlich konvergieren sollten’, sind die sogenannten ‘Cauchy-Folgen’. Wahrenddie Glieder einer konvergenten Folge ‘schließlich beliebig nahe bei ihrem Limes’ liegen, liegendie Glieder einer Cauchy-Folge ‘schließlich beliebig nahe beieinander’. Genauer

Definition 3.2.17 Eine Folge (an)n∈N heißt eine Cauchy-Folge, wenn es zu jedem ε > 0 einN ∈ N gibt, so dass |an − am| < ε fur alle n,m ≥ N gilt.

Wie Du weiter unten sehen wirst, ist jede konvergente Folge in einem (archimedisch) angeord-neten Korper eine Cauchy-Folge.

Beispiele 3.2.18 a) Die unendliche Reihe∑∞

n=01n!

hat die Partialsummen

s0 =1

0!= 1, s1 =

1

0!+

1

1!= 2, s2 =

1

0!+

1

1!+

1

2!= 2,5 , . . . , sk =

k∑n=0

1

n!, . . .

Man erhalt fur 1 ≤ k < l leicht die Abschatzung (Ungleichung) (vgl. Abschnitt 3.1, Beispiel 2b))

sl − sk =1

(k + 1)!+ · · ·+ 1

l!≤ 1

(k + 1)(k + 2)+ · · ·+ 1

(n− 1)n<

1

k + 1

Mithin ist die Reihe∑∞

n=01n!

, aufgefasst als Folge ihrer Partialsummen, eine Cauchy-Folge.

b) Die harmonische Reihe, als Folge ihrer Partialsummen aufgefasst, ist keine Cauchy-Folge.Zeige dazu: Da

∑∞n=1

1n

schließlich jede Schranke uberschreitet, so muss auch∑∞

n=k1n, wo man

die ersten k − 1 Glieder weggelassen hat, dies tun.

c) Die Folgen (an) mit an = n, bzw. an = (−1)n sind keine Cauchy-Folgen.

d) Sei m,α1α2α3 . . . ein unendlicher Dezimalbruch mit m ∈ N, αi ∈ 0, 1, . . . , 9. (Hier sind mitm die ‘Vorkommazahl’ und mit α1, α2, α3, . . . die Stellen nach dem Komma bezeichnet worden.)Wir interpretieren ihn als Folge der abbrechenden Dezimalbruche a0 = m, a1 = m,α1, a2 =m,α1α2, . . .. Sei k ≤ n. Dann ist an − ak ≤ 10−k. also die genannte Folge eine Cauchy-Folge.

e) Ist (an)n∈N eine in Q konvergente Folge rationaler Zahlen, so ist sie eine Cauchy-Folge. Seinamlich a ihr Limes und ε > 0 rational. Dann gibt es ein N ∈ N mit |an − a| < ε/2 fur allen > N . Fur m,n > N gilt dann |an− am| = |an− a+ a− am| ≤ |an− a|+ |a− am| < ε/2+ ε/2.

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3.2. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN 95

3.2.19 Man kann nun den Korper der reellen Zahlen axiomatisch einfuhren, d.h. als ar-chimedisch angeordneten Korper definieren, in dem jede Cauchy-Folge konvergiert.

Man kann nachweisen, dass es ‘im Wesentlichen’ nur einen solchen Korper gibt. D.h., sindR,R′ zwei solche Korper, so gibt es eine Beziehung a↔ a′ zwischen den Elementen a ∈ R unda′ ∈ R′, so dass diese Beziehung jedem a ∈ R genau ein a′ ∈ R′ zuordnet und umgekehrt, unddass a+ b↔ a′ + b′, ab↔ a′b′, sowie a ≤ b ⇐⇒ a′ ≤ b′ aus a↔ a′, b↔ b′ folgt.

3.2.20 Nun ist es aber keineswegs klar, dass es so einen Korper der reellen Zahlen wirklichgibt.

Ein anschauliches Argument ware, dass sich eine Cauchy-Folge auf der Zahlengeraden ja ‘au-genscheinlich zu einem Punkt zusammenzieht’.

Moglicherweise wirst Du ein solches ‘anschauliches’ Argument doch mit sehr skeptischen Augenbetrachten.

Es gibt mehrere Moglichkeiten, den Korper der reellen Zahlen zu konstruieren. Eine mochte ichhier vorstellen.

Sie besitzt eine gewisse Analogie zur Konstruktion der rationalen Zahlen. Da man eine ganzeZahl nur selten durch eine andere ganze Zahl im Bereich der ganzen Zahlen dividieren kann,

druckt man das virtuelle Ergebnis der Division von m durch n einfach alsm

n, d.h als das

Zahlenpaar (m,n) aus. Dabei muss man allerdingsm

nund

m′

n′als zueinander gleich betrachten,

wenn die virtuellen Divisionsergebnisse m : n und m′ : n′ sinnvollerweise als gleich anzusehensind, d.h. wenn sie als ‘Verhaltnisse’ gleich sind, d.h. wenn mn′ = m′n ist.

So kann man auch bei der Konstruktion von R vorgehen. Cauchy-Folgen rationaler Zahlenkonvergieren nur selten im Bereich der rationalen Zahlen. Deshalb wird man die reellen Zahleneinfach als Cauchy-Folgen rationaler Zahlen ansehen. Dabei stellen zwei Cauchy-Folgen (an)n∈Nund (bn)n∈N rationaler Zahlen genau dann dieselbe reelle Zahl dar, wenn diese beiden Folgengegen denselben virtuellen Grenzwert konvergieren, d.h. wenn die Folge der Differenzen (an −bn)n∈N eine Nullfolge ist, d.h. gegen 0 konvergiert.

3.2.21 Dann ist naturlich noch eine Menge zu tun. Um die Addition zu definieren, musst Duetwa zeigen: Wenn (an) und (a′n) sich nur um eine Nullfolge unterscheiden, so tun dies auch(an + bn) und (a′n + bn). Entsprechendes ist fur die Multiplikation zu tun, und da auch etwasschwieriger. Ist (an) eine Cauchy-, aber keine Nullfolge, so muss man zeigen, dass an = 0 nurfur endlich viele n gilt, damit man ein multiplikativ Inverses bilden kann. Die Anordnung aufR ist zu definieren. Und schließlich muss man zeigen, dass R archimedisch angeordnet ist unddass reelle Cauchy-Folgen konvergieren.

3.2.22 Die Dir vertrauteste Darstellung der reellen Zahlen ist vermutlich die durch (unendli-che) Dezimalbruche. Ein Dezimalbruch kann als Cauchy-Folge aufgefasst werden, siehe Beispiel3.2.18 d). Umgekehrt kann man jede reelle Zahl als Dezimalbruch schreiben. Vgl. [Forster].

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96 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

Reelle Zahlen als Dezimalbruche zu schreiben, hat den Vorteil dass eine reelle Zahl meist aufnur eine Weise als Dezimalbruch geschrieben werden kann. (Beachte jedoch, dass z.B. 1,3 =1,29 = 1,299999 . . . ist.) Vor allem aber sind sie wohlvertraut.

Das Rechnen mit unendlichen Dezimalbruchen hat allerdings so seine Tucken. Aber das Rechnenmit abbrechenden Dezimalbruchen, welche die allgemeinen Dezimalbruche approximieren, istunproblematisch.

3.2.23 Wie willst Du also mit reellen Zahlen umgehen? Hier mein Vorschlag: Anschaulich fassesie als die Punkte auf der Zahlengeraden auf. Rechne mit ihnen approximativ mit abbrechendenDezimalbruchen. Fur theoretische Uberlegungen verwende ihre o.a. axiomatische Beschreibung:R ist ein archimedisch angeordneter Korper, in dem jede Cauchy-Folge konvergiert.

3.2.24 Man kann den Korper R auf mehrere andere Weisen kennzeichnen. Z.B.

(i) R ist ein archimedisch angeordneter Korper, in dem jede monoton wachsende Folge, die nachoben beschrankt ist, konvergiert.

(ii) R ist ein archimedisch angeordneter Korper, in dem es zu jeder nichtleeren nach obenbeschrankten Menge M ein sogenanntes Supremum (s.u.) gibt.

(Ubrigens kann man in beiden Definitionen das Wort ‘archimedisch’ weglassen. Die Archime-dizitat ist eine Folge der jeweils angegebenen anderen Eigenschaft.)

Definitionen 3.2.25 a) Ein Supremum einer Menge reeller Zahlen ist eine reelle Zahl s mitx ≤ s fur alle x ∈M derart, dass in M eine Folge (an) mit limn→∞ an = s existiert. b) Sei Meine Menge reeller Zahlen. Ein Infimum von M ist eine reelle Zahl s, derart, dass s ≤ x furalle x ∈M gilt und in M eine Folge (xn)n∈N mit limn→∞ xn = s existiert.

3.2.26 Seien (an)n und (bn)n konvergente Folgen. Was gilt dann fur die Folgen(an + bn)n, (anbn)n und (an/bn)n? Es ist so, wie man es sich besser nicht denken kann.

Satz 3.2.27 Seien die Folgen (an)n, (bn)n konvergent mit den Grenzwerten a, bzw. b. Danngilt:

a) Auch die Folge (an + bn)n konvergiert und es ist limn→∞(an + bn) = a+ b.

b) Auch die Folge (anbn)n konvergiert und es ist limn→∞ anbn = ab.

c) Ist b = limn→∞ bn 6= 0, dann kann bn = 0 nur fur endlich viele n gelten. Ferner istlimn→∞(an/bn) = a/b, wenn in der Folge der (an/bn) die endlich vielen Glieder, wo bn = 0ist, weggelassen sind.

Beweis: a) ist fast trivial, wenn man |an + bn − (a + b)| ≤ |an − a| + |bn − b| (Dreiecks-ungleichung!) beachtet. Man will ja zeigen, dass es zu gegebenem ε > 0 ein N gibt so dass|an + bn − (a + b)| < ε fur n ≥ N gilt. Man darf voraussetzen, dass es zu ε/2 (!) ein N ′ gibt

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3.2. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN 97

mit |an − a| < ε/2 fur n ≥ N ′ und es ebenso ein N ′′ gibt mit |bn − b| < ε/2 fur n ≥ N ′′. Dasgesuchte N ist dann die großere der Zahlen N ′, N ′′ (d.h. N = MaxN ′, N ′′.) (Wenn N ′ = N ′′

sein sollte, ist naturlich N = N ′ = N ′′ gemeint.)

b) Fur die zweite Behauptung benotigt man, dass eine konvergente Folge beschrankt ist, d.h.ganz zwischen festen Schranken bleibt: Es gibt ein c mit |an| ≤ c fur alle n. (Warum ist dasso?) Somit ist |anbn − ab| = |anbn − anb + anb − ab| ≤ |an||bn − b| + |an − a||b|, wo letztererAusdruck beliebig klein fur große n wird, da |an| ≤ c ist. Ein hubscher kleiner Trick!

c) Daan

bn= an ·

1

bn, genugt es die Folge

(1

bn

)n

zu betrachten, um dann b) anzuwenden. Setze

c := |b|/2. Da bis auf endlich viele n alle bn in dem Intervall ]b − c, b + c[ liegen, kann bn ≤ cnur fur endlich viele n gelten. (Du darfst ja ε = c verlangen.) Wenn wir die Folgenglieder mit|bn| ≤ c weglassen, konvergiert der Rest der Folge immer noch gegen b. Fur die restlichen n giltdann ∣∣∣∣ 1

bn− 1

b

∣∣∣∣ =|b− bn||bbn|

<|b− bn||bc|

Sei jetzt ε > 0 beliebig. Ist nun N so groß, dass |bn − b| < ε|bc| fur alle n > N gilt, so ist∣∣∣∣ 1

bn− 1

b

∣∣∣∣ < ε .

3.2.28 Anwendung: Wir betrachten die unendliche geometrische Reihe

∞∑n=0

qn = 1 + q + q2 + q3 + · · ·

Wir wissen bereits, dass fur endliche geometrische Reihen mit q 6= 1 folgendes gilt:

k∑n=0

qn = 1 + q + q2 + q3 + · · ·+ qk =1− qk+1

1− q.

Die unendliche geometrische Reihe konvergiert also genau dann, wenn die Folge

(1− qk+1

1− q

)k∈N

konvergiert.

Nun ist limk→∞ qk = 0 (also auch limk→∞ qk+1 = 0, nicht wahr?), wenn |q| < 1 ist. Nach obigemSatz folgt

∞∑n=0

qn =1

1− qfur |q| < 1.

Fur |q| ≥ 1 erkennt man leicht, dass die Reihe divergiert.

Das Konvergenzverhalten der geometrischen Reihe findet haufige Anwendung.

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98 KAPITEL 3. GRENZWERTE UND REELLE ZAHLEN

3.2.29 Absolute Konvergenz. Die alternierende harmonische Reihe∑∞

n=1(−1)n+1

nkonver-

giert bekanntlich. Aber, wenn man in ihr jedes Glied durch seinen Absolutbetrag ersetzt, erhaltman die divergente harmonische Reihe.

Definition 3.2.30 Eine unendliche Reihe∑∞

k=0 ak heißt absolut konvergent, wenn die Rei-he∑∞

k=0 |ak| konvergiert.

Satz 3.2.31 Im Bereich der reellen Zahle ist jede absolut konvergente Reihe auch konvergent.

Beweis: Wir zeigen mit Hilfe der Dreiecksungleichung, dass die zu einer absolut konvergentenReihe

∑∞k=0 ak gehorende Folge eine Cauchy-Folge ist. Setze sn :=

∑nk=0 ak und tn :=

∑nk=0 |ak|.

Wir haben zu zeigen, dass zu jedem ε > 0 ein N ∈ N existiert, fur das |sm − sn| < ε gilt, fallsm,n ≥ N ist. Wir haben

|sm − sn| = |m∑

k=n+1

ak| ≤∞∑

k=n+1

|ak| = |tm − tn|

Da nach Voraussetzung die Folge der tn konvergiert, gibt es ein N ∈ N mit |tm − tn| < ε fallsm,n ≥ N ist. Unter derselben Voraussetzung ist auch |sm − sn| < ε.

Die Umkehrung dieses Satzes ist, wie oben gesehen, falsch. Man kann auch den Wert von∑∞k=0 ak aus dem von

∑∞k=0 |ak| nicht durch eine allgemeine Methode berechnen.

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Kapitel 4

Vom primitiven Urgrund modernerMathematik

4.1 Mengen

Die in diesem Kapitel angesprochenen Begriffe sind zwar schrecklich abstrakt, aber im Grundeeinfach zu verstehen. Versuche zu erkennen, wie simpel, ja geradezu primitiv diese Dinge sind.Die Mengensprache ist eine einfache, aber wichtige und grundlegende Sprache der modernenMathematik.

Solltest Du einst Mathematik, Physik oder Informatik studieren, wirst Du mit Mengen undAbbildungen taglich umgehen mussen.

Achtung: So einfach die folgenden Dinge sind, so pedantisch musst Du sie und ihre Bezeich-nungen allerdings behandeln. Zum Beispiel bezeichnet 0, 2 die Menge der beiden Zahlen 0und 2, wahrend mit [0, 2] die Menge aller (unendlich vielen) reellen Zahlen zwischen 0 und 2einschließlich 0 und 2 bezeichnet wird. S.u.

4.1.1 Eine Menge M wird dadurch konstituiert, dass man auf widerspruchsfreie Weise angibt,welche Dinge zu ihr gehoren sollen, d.h. fur welche x das Symbol x ∈M gelten soll, d.h. welcheDinge Elemente der Menge sind.

Gilt dies fur nur endlich viele Dinge, d.h ist die Menge M endlich, so kann man sie prinzipielldurch Angabe aller ihrer Elemente beschreiben, die man gemeinhin in geschweifte Klammernsetzt, wobei es auf die Reihenfolge nicht ankommt, und auch nicht darauf, ob man (zufallig)eines ihrer Elemente mehrfach angibt:

3, 7, 2, 7, 1, 7 = 3, 7, 2, 3, 7, 1, 2 = 3, 7, 2, 1 = 1, 2, 3, 7

Bezeichnung: Die Anzahl der Elemente einer endlichen Menge M wird mit #M bezeichnet.Haufig findet man stattdessen auch die Bezeichnung |M |. Man nennt #M auch die Kardinal-zahl von M .

99

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100 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Unendliche Mengen, d.h. solche mit unendlich vielen Elementen, muss man anders beschrei-ben. Wir wollen z.B. die Mengen N,Z,Q,R als wohlbeschrieben ansehen und aus ihnen weitereMengen gewinnen, z.B. die Menge der geraden ganzen Zahlen, die man wie folgt (auf zweierleiArt) schreiben kann:

n∣∣∣ n ∈ Z, 2|n = n ∈ Z

∣∣∣ 2|n

Die zweite Bezeichnung ist nur eine Abkurzung der ersten. (Den ersten senkrechten Strich habeich hier so groß geschrieben, um ihn von dem Strich zu unterscheiden, der angibt, dass 2 ein

Teiler von n ist.) Ebenso ist n ∈ Z∣∣∣ 2 - n die Menge der ungeraden Zahlen. (Statt des

senkrechten Striches∣∣∣ schreiben manche auch

”;“ oder

”:“ .)

Wichtige Mengen reeller Zahlen sind die Intervalle. Seien a, b ∈ R mit a < b, so schreibt man:

[a, b] := x ∈ R | a ≤ x ≤ b , ]a, b[ := x ∈ R | a < x < b ,

]a, b] := x ∈ R | a < x ≤ b , [a, b[ := x ∈ R | a ≤ x < b

Also ist [a, b] die Menge aller reellen Zahlen zwischen a und b einschließlich a und b. Und]a, b[ besteht aus allen reellen Zahlen zwischen a und b, wobei aber a und b ausgeschlossensind. Bei den Intervallen ]a, b] und [a, b[ ist jeweils ein Endpunkt eingeschlossen, der andereausgeschlossen.

Bei festem a, b unterscheiden sich je zwei von diesen Mengen in hochstens 2 Elementen. Frage:Darf man sie deshalb miteinander verwechseln?

Ohne Probleme, denn es kann ja wohl nichts ausmachen, ob man einen oder beide ‘End-punkte’ eines Intervalls zu diesem rechnet oder nicht. Man moge bitte bedenken, dass alle o.a.Intervalle die gleiche Lange b− a haben. Außerdem kann man sie zeichnerisch (als Strecken aufder Zahlengeraden) nicht wirklich voneinander unterscheiden. Keinesfalls, denn das Intervall ]a, b[ hat z.B. in Bezug auf Konvergenz vollig andere Ei-genschaften als das Intervall [a, b]. (Betrachte, fur b > a + 1, z.B. die Folge (a + 1/n)n =(a+ 1, a+ 1/2, a+ 1/3, . . .).)

Neben den oben genannten beschrankten Intervallen betrachten wir auch unendliche großeIntervalle

[a,∞[ := x ∈ R | a ≤ x , ]a,∞[:= x ∈ R | a < x

]−∞, b] := x ∈ R | x ≤ b , ]−∞, b[:= x ∈ R | x < b

N.B. Es ist R+ = [0,∞[ ,R∗+ = ]0,∞[. Alle solche Mengen bezeichnen wir als Intervalle.

(Beachte, dass wir nur Intervalle positiver oder unendlicher Lange betrachten, also weder [a, a] =a, noch ]a, a[ als Intervall bezeichnen. Somit sind alle Intervalle unendliche Mengen! D.h. siehaben unendlich viele Elemente.)

Beachte: Intervalle der Form [a,∞] usw., die nicht ganz in R liegen, werden in diesem Buchnicht betrachtet.

Man zieht auch die Menge in Betracht, die gar keine Elemente besitzt, die sogenannte leereMenge, die mit ∅ bezeichnet wird. Z.B. ist x ∈ R | a < x < a = ∅.

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4.1. MENGEN 101

Was meinst Du dazu? Es ist wirklich formaler Quatsch, ∅ zu betrachten. Man kann leicht Mengen M definieren, von denen es nicht von vorneherein klar ist, ob sieleer sind. Es kann also ungewollt passieren, dass M = ∅ ist. Deshalb hat es nicht viel Sinn, ∅von der Betrachtung auszuschließen.

4.1.2 Seien M,N Mengen. Man nennt M eine Teilmenge von N (und manchmal N eineObermenge von M) und schreibt M ⊂ N oder N ⊃M , wenn jedes Element von M auch einsolches von N ist:

M ⊂ N ⇐⇒[x ∈M =⇒ x ∈ N

]Die eckigen Klammern

[,]

sind hier logische Klammern! Die Aussage M ⊂ N kann man auch

so ausdrucken:”Fur alle x gilt [x ∈M =⇒ x ∈ N ].

Dabei schließen wir die Gleichheit nicht aus. Es gilt mit dieser Definition also M ⊂M . (Manchebenutzen deshalb statt ‘M ⊂ N ’ lieber die Bezeichnung ‘M ⊆ N ’.)

Zum Beispiel gelten

1, 3, 7 ⊂ 1, 2, 3, 7 , n ∈ Z∣∣∣ 6|n ⊂ n ∈ Z

∣∣∣ 3|n , [a, b[⊂ [a, b]

4.1.3 Der Durchschnitt M1 ∩M2 zweier Mengen M1 und M2 ist die Menge aller Elemente,die sowohl Elemente von M1, als auch solche von M2 sind:

M1 ∩M2 = x | x ∈M1 und x ∈M2

Beispiele: 1, 7, 3, 8, 4, 9 ∩ 3, 7, 2, 7, 1, 7 = 1, 3, 7 , n ∈ Z∣∣∣ 2|n ∩ n ∈ Z

∣∣∣ 3|n

= n ∈ Z∣∣∣ 6|n , ]0, 3[ ∩ Z = 1, 2.

Man beachte dass das Wort ‘Durchschnitt’ hier in einem ganz anderen Sinne gebraucht wirdals in dem Satz

”Der Durchschnitt der Schokoladenpreise in diesem Supermarkt ist 79 Cent“.

Der Durchschnitt von Mengen bedeutet nicht ein arithmetisches Mittel.

Die Vereinigung M1∪M2 zweier Mengen M1 und M2 ist die Menge aller derjenigen Elemente,die in M1 oder M2 liegen, d.h. die ein Element mindestens einer der beiden Mengen sind.

M1 ∪M2 := x | x ∈M1 oder x ∈M2

Beispiele 1, 7, 3, 8, 4, 9 ∪ 3, 7, 2, 7, 1, 7 = 1, 2, 3, 4, 7, 8, 9, [0, 2] ∪ [2, 3] = [0, 3],[0, 3[ ∪ [2, 4[= [0, 4[, ]−∞, 0[ ∪ ]0,∞[= R∗.

Man mag geneigt sein zu sagen, die Elemente von M1∪M2 seien die Elemente von M1 und vonM2. Du solltest Dir aber daruber im Klaren sein, dass bei dieser Sprechweise nicht gemeint ist:M1 ∪M2 besteht aus den Elementen x, fur die x ∈ M1 und x ∈ M2 gilt. Letztere Menge waregerade der Durchschnitt M1 ∩M2.

Man muss unterscheiden, ob das Wort ‘und’ Aussagen oder Gegenstande verbindet.

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102 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

(Die ursprunglichen Bezeichnungen ‘Durchschnitt’ und ‘Vereinigung’ wurden spater mit ‘intersection’und ‘union’ ins Englische und Franzosische ubersetzt. Es gibt keinen Grund, sie auch im Deutschenso zu nennen.)

Offenbar gelten folgende Aussagen:

M1 ⊂M1 ∪M2, M2 ⊂M1 ∪M2, M1 ∩M2 ⊂M1, M1 ∩M2 ⊂M2

Man kann auch den Durchschnitt und die Vereinigung von mehr als zwei Mengen bilden, jasogar von unendlich vielen Mengen.

Beispiele: a) 2Z ∩ 3Z ∩ 5Z = 30Z. Dabei habe ich mit mZ die Menge mk | k ∈ Z =n ∈ Z | es gibt ein k mit n = mk, also die Menge der durch m teilbaren ganzen Zahlenbezeichnet.

b) Die Menge 2Z∪3Z∪5Z, also die Menge der ganzen Zahlen, die durch 2 oder 3 oder 5 teilbarsind, lasst sich nicht in der Form mZ schreiben.

c) Mit P bezeichne ich die Menge der Primzahlen. Der unendliche Durchschnitt 2Z∩3Z∩5Z∩. . .,der auch mit

⋂p∈P

pZ bezeichnet wird, besteht nur aus der 0, da jede von 0 verschiedene ganze

Zahl durch nur endlich viele Primzahlen teilbar ist.

4.1.4 Man betrachtet auch die Mengendifferenz, auch DifferenzmengeM−N (auch M \Ngeschrieben):

M −N := x ∈M | x /∈ N = x | x ∈M und x /∈ N

Beispiele: a) 1, 3, 4, 7, 8, 9−1, 2, 3, 5, 7 = 4, 8, 9 oder Z−n ∈ Z∣∣∣ 2 - n = n ∈ Z

∣∣∣ 2|noder R− 0 = R∗.

b) Die unendliche Vereinigung 2Z ∪ 3Z ∪ 5Z ∪ . . ., die auch mit⋃p∈P

pZ bezeichnet wird, ist die

Mengendifferenz Z− 1,−1.

Die – selten gebrauchte – symmetrische Differenz zweier Mengen M1,M2 ist(M1 ∪M2)− (M1 ∩M2) = (M1 −M2) ∪ (M2 −M1). Beweise diese Gleichheit.

4.1.5 Logische Symbole. Die Absatze 4.1.5 bis 4.1.8 musst Du nicht unbedingt lesen. Siebilden auch keine Einfuhrung in die (formale) Logik. Sie fugen sich in etwa in den abstraktenRahmen der Mengenlehre ein und sollen Dir nutzen, wenn sie in Deinem spateren Studiumgelegentlich von Dozenten oder Kommilitonen verwendet werden. Und solltest Du einmal eineVorlesung zur Logik besuchen, dann weißt Du schon ein wenig uber die benutzten Symbole.

Zwei Aussagen A,B kann man logisch verknupfen durch die”Junktoren“ ‘und’ und ‘oder’.

Diese werden manchmal abgekurzt: ∧ heißt ‘und’, ∨ heißt ‘oder’. Dabei bedeutet ∨ keinausschließendes ‘oder’.

A ∨B ist genau dann wahr, wenn mindestens eine der Aussagen A,B wahr ist.

A ∧B ist genau dann wahr, wenn beide Aussagen wahr sind.

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4.1. MENGEN 103

Obige Definitionen von Durchschnitt und Vereinigung schreiben sich mit diesen Symbolen so:

M ∪N = a | a ∈M ∨ a ∈ N, M ∩N = a | a ∈M ∧ a ∈ N

Beachte: (A ∧ B) ∨ C bedeutet etwas anderes als A ∧ (B ∨ C). Manche Unklarheiten in nichtformalisierten Texten entstehen dadurch, dass man solcherlei nicht leicht unterschiedlich aus-drucken kann. In verbalen Satzen haben die Klammern – so man sie uberhaupt verwendet –eine andere Bedeutung als in mathematischen und logischen Formeln.

Die beiden folgenden Ausdrucke sind aquivalent: (A ∧B) ∨ C und (A ∨ C) ∧ (B ∨ C).

Selbiges gilt fur A ∧ (B ∨ C) und (A ∧B) ∨ (A ∧ C).

Fur Mengen bedeutet dies:

L ∩ (M ∪N) = (L ∩M) ∪ (L ∩N) , L ∪ (M ∩N) = (L ∪M) ∩ (L ∪N) .

D.h. es gelten bezuglich ∪ und ∩ Distributivitatsgesetze. Und zwar eines, wo sich der Durch-schnitt wie das Produkt und die Vereingung wie die Summe in einem Ring verhalt, und eineswo es gerade umgekehrt ist. (In einem Ring, der nicht der Nullring ist, gilt neben dem bekann-ten Distributivgesetz kein solches, wo die Rollen von ’+’ und ’·’ vertauscht sind. Dann musstenamlich 1 + (1 · 0) = (1 + 1) · (1 + 0), also 1 = 1 + 1 sein. Aus der Existenz additiv Inverserfolgte dann ein Widerspruch. Fur jede Menge M gilt hingegen M = M ∪M = M ∩M .)

Die Menge aller Teilmengen einer Menge M kann man als Rechenbereich mit den beiden Verknupfun-gen ∩,∪ betrachten. In diesem Rechenbereich gibt es neutrale Elemente, namlich M bezuglich ∩ und∅ bezuglich ∪. Inverse Elemente gibt es aber nicht, es sei denn, es ist M = ∅.

4.1.6 Ferner kann man die Aussage A verneinen durch ‘nicht A’ , das man auch ¬A schreibt.Genau dann ist ¬A richtig, wenn A falsch ist.

In der sogenannten klassischen Logik, die ich in diesem Buch (wie die allermeisten Mathema-tiker) benutze, ist ¬(¬A) mit A aquivalent. Dabei geht man davon aus, dass eine – sinnvolle –Aussage auch uber unendlich viele Objekte entweder wahr oder falsch ist:

”Tertium non datur“,

d.h.”ein drittes gibt es nicht“.

(In der sogenannten intuitionistischen Logik akzeptiert man das nicht unbedingt. Moglicher-weise konnte sich ja weder die Wahrheit noch die Falschheit einer Aussage beweisen lassen.Auch in der intuitionistischen Logik folgt ¬(¬A) aus A. Wenn man hingegen ¬(¬A), d.h. dassA nicht falsch ist, voraussetzt, aber nicht davon ausgeht, dass A entweder falsch oder richtigist, wie wollte man dann erkennen, dass A richtig ist?)

(Im Sprachgebrauch wird manchmal die doppelte Verneinung zur Betonung einer Verneinungbenutzt. Das ist, wie gesagt ein Sprachgebrauch, der sich als solcher nicht vor der Logik recht-fertigen muss. Das heißt aber nicht, dass manchmal die Verneinung der Verneinung einer –nichtleeren – Aussage dasselbe wie die Verneinung dieser Aussage bedeuten konnte.)

Die Aussage ¬(A ∧B) ist aquivalent zu (¬A) ∨ (¬B).

Und ¬(A ∨B) ist aquivalent zu (¬A) ∧ (¬B).

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104 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Bemerkung: Die Aussage(1) ‘A =⇒ B’ bedeutet (in der klassischen Logik) nichts anderes als(2) ‘(¬A) ∨B’.

Denn wenn B richtig ist, so sind beide Aussagen (1) und (2) richtig, unabhangig davon, obA richtig oder falsch ist. Ist aber B falsch und A richtig, so sind (1) und (2) beide falsch. Isthingegen B falsch und A falsch, so sind wieder (1) und (2) beide richtig. D.h. aber: In allenFallen, wo eine der beiden Aussagen (1) oder (2) richtig ist, ist es auch die andere.

Und A ⇐⇒ B bedeutet naturlich (A =⇒ B) ∧ (B =⇒ A).

4.1.7 Außer den Junktoren braucht man in der formalisierten Logik noch die sogenanntenQuantoren:

”fur alle“ und

”es gibt“, welch letzteres nichts anderes bedeutet als

”fur minde-

stens ein“. Man braucht dazu Aussagen uber eine”Variable“, etwa x. Man schreibt A(x), was

bedeuten soll: A gilt fur x. Ein Beispiel ist die Aussage x ∈ R =⇒ 2x = x+ x.

Die abkurzenden Bezeichnungen sind:∧

xA(x) in der Bedeutung:”fur alle x gilt A“ (Allquan-

tor).

und:∨

xA(x) in der Bedeutung:”fur (mindestens) ein x gilt A“ (Existenzquantor).

Mathematiker benutzen haufiger die Abkurzungen ∀ statt∧

und ∃ statt∨

.Vorsicht: ∀ bedeutet – trotz ahnlichen Aussehens – gerade nicht dasselbe wie

∨!

Zwei Allquantoren darf man miteinander vertauschen; dasselbe gilt fur zwei Existenzquantoren.

Frage: Darf man einen All- mit einem Existenzquantor vertauschen?.

Ja Nein

Denke an die Definition der Konvergenz und in welcher Weise man sie nicht andern darf!

In den naturlichen Sprachen werden Allquantoren haufig versteckt. Z.B. gilt folgender Satz:

”Seien x, y (beliebige) reelle Zahlen. Dann gilt xy = yx.“ Damit ist gemeint:∧

x

∧y

((x ∈ R ∧ y ∈ R) =⇒ xy = yx

)Oder, wenn man sagt

”fur eine reelle Zahl x gilt 2x = x + x“, so meint man meist:

”fur alle

reellen Zahlen x gilt 2x = x + x“. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, den Existenzquantormit

”es gibt“ zu verbalisieren. Statt

”Fur eine reelle Zahl x gilt xx = x2“ sollte man sagen

”es

gibt eine reelle Zahl x mit xx = x2“. (Dies ist eine richtige Aussage, nicht wahr??)

Beachte: Die Aussage”Es gibt ein x, fur das A(x) gilt“ schließt nicht aus, dass es mehrere

solche x gibt. Z.B. ist xx = x2 fur x = 1 und fur x = 2 richtig.

Beispiele 4.1.8 a) Die Aussagen∧

x(x ∈ N =⇒ xx = x2) und∧

x(x ∈ N =⇒ xx 6= x2) sindbeide falsch.

b) Hingegen sind die Aussagen∨

x(x ∈ N ∧ xx = x2) und∨

x(x ∈ N ∧ xx 6= x2) beide richtig.

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4.1. MENGEN 105

c) Fur alle Mengen M,N gilt

M ⊂ N ⇐⇒∧x

(x ∈M =⇒ x ∈ N)

4.1.9 Seien X, Y Mengen. Unter dem cartesischen Produkt X × Y (genannt nach Des-cartes, der in latinisierter Form Cartesius genannt wurde) versteht man die Menge aller Paare(x, y) mit x ∈ X, y ∈ Y . Zum Beispiel kann man die euklidische Ebene bekanntlich als Mengealler Paare (x, y) reeller Zahlen auffassen. Also

”ist“ sie R× R.

Ebenso kann man das cartesische Produkt von 3 oder mehr Mengen bilden. R× R× R ist dieMenge aller Tripel (x1, x2, x3) reeller Zahlen. Statt R × R schreibt man auch R2 und stattR × R × R. Entsprechend ist R4 usw. und Rn zu verstehen. Die Elemente (x1, x2, . . . , xn) desRn heißen n-tupel reeller Zahlen. Ebenso gut kann man von n-tupeln ganzer Zahlen, d.h. vonElementen des Zn, usw.

Ein n-tupel ist ein formales Nacheinandersetzen (Nacheinanderschreiben) von Elementen. Zwein-tupel (x1, . . . , xn), (y1, . . . , yn) sind genau dann einander gleich, wenn x1 = y1, . . . , xn = yn

gilt. Die Tripel (d.h. 3-tupel) (1, 1, 2), (1, 2, 2), (1, 2, 1), (2, 1, 1) sind also alle unterein-ander verschieden, wahrend die Mengen 1, 1, 2, 1, 2, 2, 1, 2, 1, 2, 1, 1 untereinandergleich sind. Es ist also ein großer Unterschied zwischen dem Begriff einer endlichen Mengex1, x2, . . . , xn und dem eines n-tupels (x1, x2, . . . , xn) !

Ist K ein beliebiger Korper, so definiert man auf dem Kn eine Addition wie folgt:

(a1, a2, . . . , an) + (b1, b2, . . . , bn) := (a1 + b1 , a2 + b2, . . . , an + bn) (4.1)

Alle Axiome der Addition in einem Korper (oder Ring) sind fur diese Addition erfullt. Definiertman noch eine Multiplikation durch

(a1, a2, . . . , an) · (b1, b2, . . . , bn) := (a1b1, a2b2, . . . , anbn)

so wird der Kn zu einem Ring, der aber fur n > 1 kein Korper ist. (Warum nicht?)

Wichtiger ist die Multiplikation eines Elementes von K mit einem solchen von Kn:

a · (b1, . . . , bn) := (ab1, . . . , abn) (4.2)

fur a, b1, . . . , bn ∈ K. Es ist Kn zusammen mit der Addition (4.1) und der Multiplikation (4.2)ein sog. Vektorraum.

AUFGABEN

1. Prinzip der Inklusion-Exklusion a) Seien A,B endliche Mengen aus a, bzw. b Elementen.Ferner sei d die Zahl der Elemente von A ∩B. Wieviele Elemente besitzt A ∪B?

b) Seien A1, A2, A3 endliche Mengen aus a1, a2, a3 Elementen. Fur i 6= j sei aij =#(Ai ∩Aj), ferner a123 = #(A1 ∩A2 ∩A3). Zeige #(A1 ∪A2 ∪A3) = a1 + a2 + a3− a12− a13−a23 + a123.

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106 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

c) (Dieser Aufgabenteil ist einigermaßen aufwendig. Du solltest keinenfalls seinetwegen dieLekture des Buches hier abbrechen! Lass ihn lieber weg, und bearbeite ihn spater oder uber-haupt nicht. Oder ersetze ihn durch Teil b) mit 4 statt 3 Mengen.) Seien A1, . . . , An endlicheMengen. Fur jedes nichtleere I ⊂ 1, . . . , n sei aI := #

⋂i∈I Ai. Dann gilt

#(A1 ∪ . . . ∪ An) =∑

∅6=I⊂1,...,n

(−1)#I+1aI .

Setzt man a∅ = #(A1 ∪ . . . ∪ An), so kann man die behauptete Gleichung auch wie folgtschreiben: ∑

I⊂1,...,n

(−1)#IaI = 0 .

2. Seien A,B Teilmengen von N. Betrachte die beiden Mengen

X = A ∩B, Y = N− (A ∪B).

Zeige durch Beispiele, dass, je nach Wahl von A,B jeder der folgenden 4 Falle eintreten kann:

a),b) X, Y sind beide endlich bzw. beide unendlich; c) X ist endlich, Y unendlich. d) X istunendlich, Y endlich.

3. Betrachte fur ganze n ≥ 1 die Menge V := (Z/2)n = Fn2 . In ihr gibt es ja die Addition

(a1, . . . , an) + (b1, . . . , bn) := (a1 + b1, . . . , an + bn)

Diese ist assoziativ und kommutativ, und ein neutrales Element (bzgl. der Addition) ist(0, . . . , 0). Ferner gilt fur jedes a = (a1, . . . , an) die Regel a+ a = 0 := (0, . . . , 0), da 1 + 1 = 0in Fs gilt.

Zeige, dass fur n ≥ 2 die Summe aller Elemente von V gleich (0, . . . , 0) ist. (Die Summe dieserElemente fur n = 1 ist das 1-tupel (1).)

4.2 Abbildungen

4.2.1 Ohne den Begriff ‘Abbildung’ geht in der modernen Mathematik gar nichts. Zu einerAbbildung gehoren eine Startmenge (Definitionsbereich) X und eine Zielmenge Y . Eine Ab-bildung f : X → Y , d.h. von X nach Y besteht nun darin, dass jedem Element x ∈ X genauein (d.h. ein, aber auch nur ein) Element f(x) ∈ Y zugeordnet wird. Wird durch f auch nureinem einzigen Element x ∈ X kein oder mehr als ein Element aus Y zugeordnet, so ist f keineAbbildung von X nach Y .

Damit soll nicht gesagt sein, dass es keinen Sinn hat, auch andere ‘Korrespondenzen’ zu be-trachten, wo etwa jeder positiven reellen Zahl ihre beiden Quadratwurzeln ‘zugeordnet werden’.

Definition: Die Teilmenge (x, y) ∈ X × Y | y = f(x) von X × Y wird der Graph von fgenannt und meist mit Γ(f) bezeichnet.

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4.2. ABBILDUNGEN 107

Wenn Du Skrupel hast, obige Erklarung”Jedem Element aus X wird genau ein Element aus Y

zugeordnet“ als richtige Definition anzuerkennen, kannst Du eine Abbildung als ihren Graphenbetrachten, d.h. als eine Teilmenge Γ(f) ⊂ X×Y definieren, die folgende Eigenschaft besitzt: Zujedem x ∈ X gibt es genau ein – also mindestens und hochstens ein – y ∈ Y mit (x, y) ∈ Γ(f).Naturlich hat f(x) = y dieselbe Bedeutung wie (x, y) ∈ Γ(f).

Sind X und Y Teilmengen von R, so ist der Graph jeder Abbildung f : X → Y eine Teilmengevon R2, die Du, wie gewohnt, manchmal (teilweise) zeichnen kannst.

1

1

2

2

3

3

4

4

Frage: Ist f : R→ R, f(x) := 1/x eine Abbildung?

Ja. Warum sollte sie keine sein? Nein; denn dem Element 0 wird kein Element zuge-ordnet.

Frage: Ist f : R− 0 → R, f(x) := 1/x eine Abbildung?

Ja Nein

Man kann durch geschickte Wahl der Startmenge (oder auch der Zielmenge) oft eine Abbildungdefinieren, wo eine solche in strengem Sinn vorher noch nicht bestand.

Frage: Ist folgendes eine Abbildung?

f : R→ R definiert durch f(x) = 1 fur x ∈ Q, f(x) = 0 sonst.

Ja Nein

Diese Abbildung ist zwar nirgendwo stetig, jedoch fur den Mathematiker prazise definiert.Aber kann man – fur einen beschrankten Teilbereich der Startmenge R – den Graphen dieserFunktion zeichnen? Bedenke, dass ein gezeichneter Punkt, also ein Punkt, den man sehen kann,kein echter Punkt ist, sondern eine positive Ausdehnung hat.

(Der Begriff der Stetigkeit wird weiter unten genau definiert. Ich hoffe allerdings, dass Du einGefuhl dafur hast.)

Ferner ist zuzugeben, dass es bei einer gemessenen physikalischen Große keinen Sinn hat, zufragen, ob sie rational oder irrational ist. Beachte dazu folgendes: Sogar wenn Du die ersten101010

Dezimalstellen einer reellen Zahl x0 kennst, weißt Du nicht, welchen Wert die genannte

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108 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Funktion bei x0 auch nur angenahert hat! Andererseits scheint es auch nicht sinnvoll, sich alleinauf die stetigen Funktionen zu beschranken. Auch in der Physik betrachtet man manchmalunstetige Funktionen.

Ein weiteres Beispiel ist:

g : R→ R, g(x) = x2 fur x ≥ 0, g(x) = −x2 fur x < 0

Diese Abbildung ist stetig, sogar differenzierbar, aber nicht 2-mal differenzierbar, jedenfallsnicht in 0. (Letzteres heißt, dass die Ableitung g′ von g in 0 nicht differenzierbar ist. Prufe dasnach! Wenn Du erst lernen willst, was eine differenzierbare Funktion und ihre Ableitung ist, sokannst Du das weiter unten im Kapitel 7 dieses Buches tun.)

Bezeichnung: Wir benutzen gerne folgende Bezeichnung, um diese Funktion g und ahnlichezu beschreiben:

g : R→ R, g(x) =

x2 fur x ≥ 0−x2 sonst

Bei endlichen Mengen kann man konkret angeben, wohin jedes einzelne Element abgebildetwird, z.B.

α : 1, 2, 3 → 1, 2, 3, 1 7→ 2, 2 7→ 2, 3 7→ 3

β : 1, 2, 3 → 1, 2, 3, 1 7→ 2, 2 7→ 3, 3 7→ 1

Ich benutze das Zeichen A → B, um von einer Abbildung der Menge A in die Menge B zureden, hingegen das Zeichen a 7→ b um anzugeben, dass bei dieser Abbildung dem Element adas Element b zugeordnet wird, anders gesagt: das Element a auf das Element b abgebildetwird.

Definitionen 4.2.2 Sei f : X → Y eine Abbildung.

a) X heißt die Startmenge (kurz: der Start) und Y die Zielmenge (kurz: das Ziel) von f .(In manchen Situationen, insbesondere in diesem Kapitel, ist man sehr streng und unterschei-det zwischen Abbildungen, die nur bis auf die Start- oder die Zielmenge ubereinstimmen, z.B.zwischen den Abbildungen f : R→ R, x 7→ x2 und g : R→ R+, x 7→ x2.)

b) Die Bildmenge (auch das Bild), von f , die manchmal mit im(f) (von lateinisch imago),manchmal mit f(X) bezeichnet wird, ist die Menge f(x) | x ∈ X =y ∈ Y | es existiert ein x ∈ X mit f(x) = y = y |

∨x∈X f(x) = y. Die Bildmenge ist eine

Teilmenge der Zielmenge, stimmt aber nicht immer mit dieser uberein!.

c) f heißt injektiv, wenn verschiedene Elemente von X auch verschiedene Bilder haben, d.h.wenn aus f(x) = f(x′) immer x = x′ folgt. (Dass aus x = x′ immer f(x) = f(x′) folgt, istaufgrund des Begriffes einer Abbildung klar, und hat deshalb uberhaupt nichts mit ‘injektiv’ zutun!)

d) f heißt surjektiv, wenn jedes Element y ∈ Y das Bild (mindestens) eines x ∈ X ist, d.h.wenn f(X) = Y , also die Bildmenge gleich der Zielmenge ist.

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4.2. ABBILDUNGEN 109

e) f heißt bijektiv, wenn f sowohl injektiv wie surjektiv ist.

f) Sind f : X → Y, g : Y → Z Abbildungen, so definiert man ihre Verkettung (auchHintereinanderausfuhrung) gf : X → Z durch (gf)(x) := g(f(x)).

Achtung; Die alteren Bezeichnungen”eineindeutig“ anstelle von

”injektiv“, sowie

”Abbildung

auf“ anstelle von”surjektive Abbildung“ werden in diesem Buch nicht verwendet.

Beispiele 4.2.3 a) Die oben am Ende von 4.1.1 angegebene Abbildung α ist weder injektiv,noch surjektiv; β hingegen ist bijektiv.

b) Durch x 7→ x2 konnen, je nach Wahl von Start und Ziel, Abbildungen mit verschiedenen dero.a. Eigenschaften definiert werden:

1) R→ R, weder surjektiv noch injektiv,

2) R→ R+, surjektiv aber nicht injektiv,

3) R+ → R, injektiv aber nicht surjektiv,

4) R+ → R+, sowohl surjektiv wie injektiv, also bijektiv.

c) Die Abbildung Z→ N, n 7→ |n| ist surjektiv, aber nicht injektiv. Gibt es auch eine bijektiveAbbildung Z→ N?

Eine Antwort findest Du unten, am Ende von 4.2.4.

d) Beispiele fur Verkettungen kennst Du sicher. Z.B. ist dir Funktion h(x) :=√

1 + x2 dieVerkettung der Funktionen f : R → R, f(x) := 1 + x2 und g : R → R, g(y) :=

√y. D.h. fur

diese Funktionen gilt h = gf .

Was meinst Du zu meinen Ausfuhrungen?

Diese Begriffshuberei ist doch vollig uninteressant. Ich werde mich in meinem Studium aufdie Gebiete beschranken, die ohne solchen formalen Quatsch auskommen. Die obigen Begriffe sind zwar einfach, aber doch geeignet, die Situation zu klaren. Du kannstihnen in keinem Gebiet der modernen Mathematik entgehen.

Was meine ich? Ich habe sehr viel Verstandnis dafur, wenn Du die erste Antwort angekreuzthast. Es braucht wirklich viel Erfahrung mit moderner Mathematik, um zu erkennen, dass diezweite Antwort doch die bessere ist.

4.2.4 Sei f : X → Y eine bijektive Abbildung. Dann gibt es zu jedem y ∈ Y genau ein (d.h. eineindeutig bestimmtes) x ∈ X mit f(x) = y. (Die Existenz dieses x folgt aus der Surjektivitat,seine Eindeutigkeit aus der Injektivitat von f .)

Dieses x wird mit f−1(y) bezeichnet. Macht man obiges fur alle y ∈ Y , so erhalt man eineAbbildung f−1 : Y → X. Man nennt f−1 auch die Umkehrabbildung oder Umkehrfunktionvon f . Sie ist nur dann definiert, wenn f bijektiv ist. Naturlich ist auch f−1 bijektiv, wenn esuberhaupt definiert ist.

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110 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Achtung: Die Abbildung

x 7→ 1

f(x)

hat nichts, aber auch gar nichts mit f−1, wie wir es definiert haben, zu tun! (Ich kann naturlichnicht dafur garantieren, dass nicht in dem einen oder anderen Buch oder einer Vorlesung dieAbbildung x 7→ 1/f(x) doch mit f−1 bezeichnet wird. Da muss Du einfach aufpassen! JederAutor hat – leider oder zum Gluck? – das Recht auf seine eigenen Definitionen.)

Beispiele: a) Ist f : R → R durch f(x) := ax + b mit a, b ∈ R, a 6= 0 definiert, so wirdf−1 : R → R gegeben durch f−1(y) = a−1y − a−1b. Die Graphen von f und von f−1 sindGeraden. Hingegen ist 1/f(x) = (ax+ b)−1. Hier ist der Graph eher krumm!

b) Ist f : R∗+ → R∗

+ gegeben durch f(x) = 1/x2, so wird f−1 durch f−1(y) = 1/√y gegeben.

Hingegen ist 1/f(x) = x2.

c) Die Abbildung f : N→ Z, definiert durch

f(n) =

n/2 fur gerade n

−(n+ 1)/2 fur ungerade n

ist bijektiv und hat die Umkehrabbildung f−1 : Z→ N, definiert durch

f−1(m) =

2m fur m ≥ 0

−2m− 1 fur m < 0

4.2.5 Ist f : X → Y eine bijektive Abbildung, so gilt f f−1 = idY und f−1f = idX .

Sind umgekehrt f : X → Y und g : Y → X Abbildungen mit gf = idX und f g = idY , sosind f, g bijektiv, und es ist g = f−1 und f = g−1.

Lemma 4.2.6 SeienW

α−→ Xβ−→ Y .

Abbildungen. Dann gilt: Wenn α, β injektiv (bzw. surjektiv, bzw. bijektiv sind, so ist auch βαinjektiv (bzw. surjektiv, bzw. bijektiv).

Lemma 4.2.7 SeiW

α−→ Xβ−→ Y

γ−→ Z

eine Folge von Abbildungen. Dann gilt γ(βα) = (γβ)α.

Beweis: Fur w ∈ W gilt

(γ(βα))(w) = γ((βα)(w)) = γ(β(α(w)))

und((γβ)α)(w) = (γβ)(α(w)) = γ(β(α(w)))

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4.2. ABBILDUNGEN 111

Mit anderen Worten: Sowohl γ(βα) als auch (γβ)α ist die Abbildung, die entsteht, indemman zuerst α, dann β und schließlich γ ausfuhrt.

Beachte, dass αβ in obiger Situation meistens nicht definiert ist. (Sie ist im Falle W = Ydefiniert, allerdings eine Abbildung X → X, wahrend βα – im Falle W = Y – die Menge W insich abbildet. Die Frage, ob αβ = βα ist, kann also nur gestellt werden, wenn W = X = Y ist.Betrachte hierzu die Menge X := 1, 2 und α, β : X → X, definiert durch α(x) := 1, β(x) = 2fur jeweils alle x ∈ X: Bestimme βα und αβ.

Sei Y := 1, 2, 3. Finde bijektive α, β : Y → Y mit αβ 6= βα.

(Siehe 8.1.7, wenn Du die Aufgabe nicht selber losen magst.)

4.2.8 Sei f : X → Y eine beliebige Abbildung – die weder injektiv noch surjektiv sein muss.Dann definiert man manchmal fur Teilmengen V ⊂ Y die folgende Menge:

f−1(V ) := x ∈ X | f(x) ∈ V , die Urbildmenge von V

Vorsicht:Trotz gleicher Bezeichnung bedeutet f−1 hier nicht die Umkehrabbildung von f ,welche ja nur dann definiert ist, wenn f bijektiv ist. f−1(V ) ist eine Teilmenge von X. Auchwenn V nur aus einem Element besteht, gilt dies nicht unbedingt fur f−1(V ).

Ist V ∩ im(f) = ∅, so ist f−1(V ) = ∅, und umgekehrt.

Man kann f−1(V ) im Allgemeinen nicht als f−1(V ) := f−1(y) | y ∈ V definieren. Das gehtnur, wenn f bijektiv ist.

Ist U ⊂ X eine Teilmenge, so wird definiert:

f(U) := f(x) | x ∈ U.

Beispiele: a) Ist f : R → R definiert durch f(x) = x2, so ist f−1(2) = −√

2,√

2 undf−1(−2) = ∅.

b) Fur dieselbe Funktion gilt f(R) = f(]−∞, 0]) = [0,∞[.

Bemerkung: Manchmal schreibt man f−1(y) := f−1(y). Hier musst Du besonders aufpas-sen!

4.2.9 Machtigkeit. Wenn zwei endliche Mengen gleichviele Elemente haben, so gibt eseine bijektive Abbildung zwischen ihnen – und umgekehrt. In diesem Fall nennt man siegleichmachtig. Wir verallgemeinern dies auf beliebige (endliche oder unendliche) Mengen.

Definition 4.2.10 Mengen M,N heißen gleichmachtig, symbolisch M ∼= N , wenn es einebijektive Abbildung f : M → N gibt.

Ist immer M ∼= M? Gilt immer: Aus M ∼= N folgt N ∼= M ? Gilt immer: Aus L ∼= M, M ∼= Nfolgt L ∼= N ? Na klar!

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112 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

4.2.11 Frage: Ist jede unendliche Teilmenge M von N gleichmachtig zu N. d.h. gibt es indiesem Fall eine bijektive Abbildung N→M?

Klar! Ich glaube es schon, mochte aber uber einen Beweis doch nachdenken.

Betrachte z.B. die Menge P aller Primzahlen. Dann kann man doch eine bijektive Abbildungf : N→ P dadurch angeben, dass man die Primzahlen der Reihe nach abzahlt, also

f(0) = 2, f(1) = 3, f(2) = 5, f(3) = 7, f(4) = 11, f(5) = 13 usw.

Noch viel einfacher ist es es, die Menge N1 der naturlichen Zahlen ≥ 1 als gleichmachtig zu Nzu erkennenn, namlich mittels f : N→ N1, f(n) = n+ 1. Ferner haben wir oben gesehen, dassN zu Z gleichmachtig ist.

Wie mit P kann man es naturlich mit jeder unendlichen Teilmenge von N machen. Nur darf mandabei folgendes bedenken: Fur komplizierter definierte Teilmengen X von N mag es – anders alsfur die Menge P – prinzipiell schwierig sein, jeweils nach einem bereits gefundenen x0 ∈ X dasnachstgroßere x ∈ X effektiv nach einem konkreten Rezept zu bestimmen. Jedenfalls gibt eskein allgemeingultiges Verfahren, diese Aufgabe fur jede Teilmenge X von N zu losen. Insofernist die Aussage, dass jede unendliche Teilmenge von N gleichmachtig zu N ist, eine ziemlichtheoretische Aussage. Wohlgemerkt, es mag zwar sehr zeitaufwendig sein, die kleinste Primzahlzu bestimmen, die großer als 101010

ist, aber man weiß prinzipiell, wie man es machen muss.

Definition 4.2.12 Eine Menge heißt abzahlbar, wenn sie endlich oder zu N gleichmachtigist.

Gemaß der obigen Bemerkung ist jede Teilmenge einer abzahlbaren Menge abzahlbar. Deshalbergibt sich die

Folgerung 4.2.13 Eine Menge M ist genau dann abzahlbar, wenn es eine injektive AbbildungM → N gibt.

Diese Aussage konnte man naturlich auch als Definition der Abzahlbarkeit nehmen.

Definition 4.2.14 Eine Nullfolge naturlicher Zahlen ist eine Folge (ai)i∈N, fur die ai ∈ Nfur alle i ∈ N und ai = 0 fur fast alle, d.h. alle i ∈ N bis auf endlich viele Ausnahmen gilt.

Z.B. ist die Folge (3, 7, 6, 0, 1, 0, 0, 0, . . .), wo alle Folgenglieder nach dem funften Glied gleich 0sind, eine Nullfolge naturlicher Zahlen. Die Folge, deren samtliche Glieder gleich 1 sind, ist eshingegen nicht. Auch nicht die Folge, in der fur jedes n das n!-te Glied 1 ist und alle anderenGlieder Null sind.

Eine Folge naturlicher Zahlen, die entsprechend der Grenzwertdefinition in R gegen 0 konver-giert, ist auch im Sinne der eben getroffenen Definition eine Nullfolge naturlicher Zahlen undumgekehrt. (Beweis?)

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4.2. ABBILDUNGEN 113

Satz 4.2.15 Es gibt eine bijektive Abbildung der Menge N aller Nullfolgen naturlicher Zahlennach N1. Mithin ist N gleichmachtig zu N1, also zu N. Die Menge N ist abzahlbar.

Beweis: Dies haben wir bereits in Satz 1.3.5 gesehen. Eine bijektive Abbildung f : N → N1

wird durchf(a1, a2, a3, . . .) := pa1

1 · pa22 · pa3

3 · · ·

wobei p1, p2, p3 . . . die Primzahlen in ihrer naturlichen Reihenfolge und das rechtsstehende Pro-dukt als das Produkt der endlich (!) vielen Faktoren, die ungleich 1 sind, definiert ist. (Hierhabe ich mit dem Index 1 statt 0 begonnen, da es bei der Folge der Primzahlen ublich ist.)

Die Surjektivitat ergibt sich aus der Existenz der Primfaktorzerlegung, die Injektivitat ausderen Eindeutigkeit.

Den obigen Satz wirst Du kaum fur spektakular halten, weil er so abstrakt ist. Aber aus ihmergibt sich

Folgerung 4.2.16 Die Menge Q der rationalen Zahlen ist abzahlbar.

Beweis: Erinnere Dich, dass es genugt, eine injektive Abbildung Q → N anzugeben. Jederationale Zahl 6= 0 lasst sich eindeutig in gekurzter Form a = ±m

nschreiben. Wir definieren

f : Q → N durch f(a) = (0,m, n, 0, 0, 0, . . .), wenn a = mn

(in gekurzter Form) ist, undf(a) = (1,m, n, 0, 0, 0, . . .), wenn a = −m

nist, und schließlich f(0) = (0, 0, 1, 0, 0, 0, . . .).

Man kann also die rationalen Zahlen nacheinander aufschreiben und erreicht dabei jede, wennman nur lange genug schreibt. Im nachsten Abschnitt will ich einen etwas anderen Beweisangeben, der moglicher Weise etwas anschaulicher ist.

AUFGABEN

1. SeienM

f→ Ng→ P

Abbildungen.

a) Zeige: Ist gf injektiv, so ist f injektiv.

b) Zeige: Ist gf surjektiv, so ist g surjektiv.

c) Gib ein Beispiel, wo gf bijektiv, aber weder f surjektiv, noch g injektiv ist. Gib auch einsolches Beispiel, wo zusatzlich M = N = P = N ist.

2. Sei f : M → N eine Abbildung. Zeige:

a) Ist f surjektiv, so gibt es eine Abbildung g : N → M mit f g = idN . Jedes solche g istinjektiv. Aber es ist gf 6= idM , wenn f nicht auch injektiv ist.

Hierzu wird allerdings das sogenannte Auswahlaxiom benutzt (dessen Gultigkeit wir anneh-men): Ist Mi | i ∈ I eine Menge von nichtleeren Mengen – mit einer sogenannten Indexmenge

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114 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

I – so gibt es eine Abbildung ϕ : I →⋃

i∈I Mi mit ϕ(i) ∈Mi. D.h. man kann ‘mit einem Schlag’aus allen Mengen Mi je ein Element ϕ(i) auswahlen.

b) Ist f injektiv und M 6= ∅, so gibt es eine Abbildung g : N →M mit gf = idM . Aber es istf g 6= idN , wenn f nicht auch surjektiv ist.

3. Definiere analog zu den Nullfolgen naturlicher Zahlen auch Nullfolgen ganzer Zahlen, und zeige,wie man auf naheliegende Weise die Menge der Nullfolgen ganzer Zahlen bijektiv auf die MengeQ∗ der von 0 verschiedenen rationalen Zahlen abbilden kann.

4. Seien M,N endliche Mengen von m, bzw. n Elementen.

a) Wieviele Abbildungen von M nach N gibt es?

b) Wieviele injektive Abbildungen von M nach N gibt es?

c) Wieviele bijektive Abbildungen gibt es.

d) Viel schwerer als b) ist die Frage zu beantworten, wieviele surjektive Abbildungen vonM nach N es gibt. Aber Du darfst Dich an ihr versuchen. Du kannst dabei das Prinzip derInklusion-Exklusion benutzen.

4.3 Stetige Funktionen

4.3.1 Funktionen sind nichts anderes als Abbildungen, wobei man den Begriff ‘Funktion’ tra-ditioneller Weise in der Regel fur Abbildungen gebraucht, deren Zielmenge ein Korper, meistder Korper der reellen oder derjenige der komplexen Zahlen, ist.

Auch wenn die formale Definition einer Funktion als Abbildung gewissermaßen statisch ist,so wird eine solche in der Analysis (d.h. dem Gebiet der Mathematik, dem die Differenzial-und Integralrechnungin angehort) in dynamischer Weise betrachtet: Die Variable x variiert,wachst z.B., und damit variiert die von x abhangige Funktion f(x). Von dieser dynamischenAuffassung ausgehend, versteht man am besten, warum man uberhaupt die Ableitung einerFunktion betrachtet. Denn diese misst ja, wie stark f(x) im Verhaltnis zu x nahe bei einemPunkt variiert.

Der Graph einer Funktion f : D → R, wo D ⊂ R ein Definitionsbereich ist, ist ja eineTeilmenge vonD×R, namlich die Menge aller Paare (x, f(x)), wo x die Menge D durchlauft. Dader Graph somit eine Teilmenge der ‘Ebene’ R2 ist, kann man versuchen, ihn zu zeichnen. Einesolche Zeichnung gibt haufig ein gutes Bild einer Funktion, wobei man einschrankend bemerkenmuss, dass erstens die Dicke des Bleistiftstriches die Prazision dieses Bildes beeintrachtigt,zweitens man immer nur einen beschrankten Teil des Graphen zeichnen kann.

Beispiele 4.3.2 a) Wir betrachten folgende Funktion f(x) = x3 − 5x2 + 6x + 1, d.h. dieAbbildung f : R→ R, definiert durch f(x) = x3− 5x2 +6x+1. Funktionen dieser Art hast Dusicher auf der Schule kennengelernt. Ihr Graph, genauer ein Teil ihres Graphen, sieht so aus:

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4.3. STETIGE FUNKTIONEN 115

1

1

2

2

3

3

4

4

b) Eine Funktion mit dem Graphen

10–1–2–3 2

12

ist Dir vielleicht weniger vertraut. Wir wollen sie ‘zak’ nennen, wobei man sie wie folgt definierenkann:

zak(x) ist der Abstand von x zur nachstgelegenen ganzen Zahl (oder zu den nachstgelegenen

beiden ganzen Zahlen), also gleich Min|x− n|∣∣∣ n ∈ Z. (Es kann sein, dass es zwei nachstge-

legene ganze Zahlen gibt, z.B. falls x = 1/2 ist. Dann sind aber die beiden Abstande zu diesenganzen Zahlen gleich.)

c) Kaum wirst Du in der Schule jene seltsame Funktion kennengelernt haben, die bei jederrationalen Zahl den Wert 1 und bei jeder irrationalen Zahl den Wert 0 annimmt. Diese Funktionist nirgendwo stetig, und ihren Graphem kann man auch nicht wirklich zeichnen.

Bemerkung 4.3.3 Es gibt viele interessante Funktionen, die im Gegensatz zu den oben ange-gebenen Funktionen, nicht fur alle x ∈ R definiert sind, z.B. die Funktion f(x) = 1/x oder derTangens. Die Definitionsbereiche der letztgenannten Funktionen sind Vereinigungen von Inter-vallen. Wenn wir eine Funktion in der Nahe eines Punktes betrachten, etwa in einem Punktdifferenzieren wollen, reicht es, diese Funktion, eingeschrankt auf ein Intervall zu betrachten.

4.3.4 Wir wollen hier stetige Funktionen betrachten. Die beiden Beispiele unter a) und unterb) sind stetig. Beachte dass der Graph einer stetigen Funktion durchaus ‘Ecken’ haben darf.Auch die Funktion f(x) = 1/x ist uberall dort stetig, wo sie definiert ist. Allerdings wurdejeder Versuch, sie auch in 0 (als Funktion nach R) zu definieren zu einer Unstetigkeit in diesemPunkt fuhren. Anschaulich wird die Stetigkeit einer Funktion, die auf einem Intervall definiertist, haufig dadurch beschrieben, dass man ihren Graphen, ohne abzusetzen, zeichnen kann.

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116 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Definition 4.3.5 a) Sei I ein Intervall. Eine Funktion f : I → R heißt stetig in dem Punkta ∈ I, wenn fur jede Folge (xn) in I mit limn→∞ xn = a gilt, dass auch die Folge (f(xn)) derFunktionswerte in den xn gegen f(a) konvergiert.(Hierzu mache ich eine spitzfindige Bemerkung: Es genugt, zu fordern, dass unter o.a. Vorausset-zung die Folge (f(xn)) uberhaupt konvergiert. Denn die Folge (x0, a, x1, a, x2, a, . . .) konvergiertnaturlich auch gegen a. Wenn die Bildfolge (f(x0), f(a), f(x1), f(a), f(x2), f(a), . . .) uberhauptkonvergiert, kann aber ihr Limes nur gleich f(a) sein. Dann ist aber auch der Limes der Folge(f(xn)) gleich f(a).)

b) f heißt stetig auf ganz I, wenn f stetig in jedem a ∈ I ist.

Fur f : I → R, a ∈ I gilt: f ist genau dann stetig in a, wenn zu jedem ε > 0 ein δ > 0 existiert,derart dass aus x ∈ I, |x− a| < δ die Aussage |f(x)− f(a)| < ε folgt.

4.3.6 Der so genannte Zwischenwertsatz besagt: Sei f : [a, b]→ R eine stetige Funktion, sonimmt f in dem Intervall [a, b] jeden reellen Wert zwischen f(a) und f(b) an. (Damit ist nichtausgeschlossen, dass moglicherweise auch noch weitere Werte angenommen werden. Betrachteetwa f(x) = x2 zwischen −1 und +2 .)

Diesen Satz wollen wir ohne Beweis als richtig ansehen. Damit er gilt, muss man allerdings diereellen Zahlen richtig definieren! Du weißt ja bereits folgendes: Die Funktion f(x) = x2 nimmtauf der Menge der rationalen Zahlen zwar die Werte 1 und 4 an, aber nicht den Wert 2.

Definitionen 4.3.7 a) Eine Funktion f : I → R heißt streng monoton wachsend (bzw.fallend), wenn aus x, x′ ∈ I, x < x′ die Beziehung f(x) < f(x′) (bzw. f(x) > f(x′) folgt. Sieheißt streng monoton, wenn sie streng monoton wachsend oder streng monoton fallend ist.

b) Eine Funktion f : I → R heißt (schwach) monoton wachsend (bzw. fallend), wenn ausx, x′ ∈ I, x < x′ die Beziehung f(x) ≤ f(x′) (bzw. f(x)gef(x′) folgt. Analog zu a) ist definiert,wann f (schwach) monoton ist.

Eine streng monotone Funktion ist sicher injektiv.

Folgerung 4.3.8 Sei f : [a, b]→ R stetig und streng monoton wachsend (bzw. fallend), fernerf(a) = c, f(b) = d, dann ist [c, d] (bzw. [d, c]) gleich dem Bild f([a, b]). Das heißt, f ist alsAbbildung [a, b]→ [c, d] (bzw. [a, b]→ [d, c]) bijektiv.

Beweis: Wir beschranken uns auf den Fall, dass f streng monoton wachsend ist. Der anderFall wird analog erledigt. Ist a ≤ x ≤ b, so folgt c = f(a) ≤ f(x) ≤ f(b) = d. Somit giltf([a, b]) ⊂ [c, d]. Ist nun y ∈ [c, d], so wird der Wert y nach dem Zwischenwertsatz angenommen.Insgesamt siehst Du, dass f [a, b] = [c, d] ist.

Da f als streng monotone Funktion zusatzlich injektiv ist, ist f als Abbildung [a, b] → [c, d]bijektiv.

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4.4. WURZELN 117

4.3.9 Unter den obigen Voraussetzungen ist auch die Umkehrabbildung f−1 : [c, d] → [a, b](bzw. f−1 : [d, c]→ [a, b]) stetig. Das ist allerdings nicht so unmittelbar zu zeigen.

In dieser Hinsicht musst Du aber vorsichtig sein, wenn der Definitionsbereich von f kein Intervallist. Betrachte z.B. die Abbildung

f : [0, 1[ ∪ [2, 3]→ [0, 2], mit f(x) :=

x fur x < 1

x− 1 fur x ≥ 2

Sie ist bijektiv und streng monoton wachsend. Aber die Umkehrabbildung ist nicht stetig!

4.4 Wurzeln

4.4.1 Betrachte fur reelle x ≥ 0 die n-te Potenz xnauf dem Definitionsbereich (der Startmenge)R+. Sie wachst dort streng monoton von 0 bis ∞.

Sei n ≥ 2 ganz. Wir wissen, dass es keine rationale Zahl r mit rn = 2 gibt. Ein Gewinn derEinfuhrung der reellen Zahlen liegt nun darin, dass es sehr wohl eine, und auch nur eine, reelleZahl r > 0 mit dieser Eigenschaft gibt. Diese bezeichnet man mit n

√2. (Ist n gerade, so ist

auch (− n√

2)n = 2.) Allgemeiner gilt: Zu jeder nichtnegativen reellen Zahl y gibt es genau einenichtnegative reelle Zahl x mit xn = y. Dieses x wird mit n

√y bezeichnet und die n-te Wurzel

aus y genannt. (Eine reelle Zahl heißt nicht negativ, wenn sie positiv oder gleich 0 ist.)

4.4.2 Die Wurzel√a ist also eine Losung der Gleichung x2 = a, wenn a ≥ 0 ist. −

√a ist

eine weitere Losung dieser Gleichung, die nur im Fall a = 0 mit√a ubereinstimmt. Noch mehr

Losungen kann es nicht geben. Denn es ist x2−a = (x−√a)(x+

√a) und jedes Produkt reeller

Zahlen ist nur dann 0, wenn einer der Faktoren es ist.

Mit Hilfe von Quadratwurzeln kann man auch allgemeine quadratische Gleichungen losen,wie Du sicher weißt. Ich habe mir sagen lassen, die Gleichung

x2 + px+ q = 0 habe die Losungen − p

2±√p2

4− q

falls p2

4− q ≥ 0 ist. (Andernfalls hat sie keine Losung in R.) Eigentlich kann ich mir nicht

vorstellen, dass Du damit zufrieden bist, diese Formel zu kennen, ohne zu wissen, wie man siebeweist. Versuche Dich zu erinnern, denke an die quadratische Erganzung.

AUFGABEN

1. Zeige: a) Seien a, b positive reelle Zahlen. Dann ist√ab ≤ a+b

2. Wenn a 6= b ist, gilt sogar√

ab < a+b2

.

b) Fur jedes a in einem angeordneten Korper gilt a2 ≥ 0. In R ist demgemaß a ≥ 0 genau dann,wenn es ein b ∈ R mit b2 = a gibt.

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118 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

c) In Q gilt die zweite Ausage von b) nicht. Hier gilt nur die schwachere Aussage: a ≥ 0 ⇐⇒es gibt ein n ∈ N und a1, . . . , an ∈ Q mit

∑nk=1 a

2k = b. (Beachte dazu: Jede rationale Zahl lasst

sich als Bruch schreiben, dessen Nenner eine (ganze) Quadratzahl ist.)

Bemerkung: Nicht so einfach ist folgender Satz von [Euler, Lagrange] zu beweisen: Jedenichtnegative rationale Zahl ist die Summe von 4 Quadraten rationaler Zahlen (und umgekehrt).

Euler hat diesen Satz bewiesen. Spater hat Lagrange sogar gezeigt, dass jede naturlicheZahl eine Summe vierer ganzer Quadratzahlen ist. Uberlege, dass Eulers Satz aus dem vonLagrange folgt.

2. In R gelte 0 < a < b. Definiere Folgen (an), (bn) durch a0 = a, b0 = b und an+1 =2anbna+ b

, bn+1 =

an + bn2

. Zeige limn→∞ an = limn→∞ bn =√ab.

Solltest Du nicht darauf vertrauen, dass es Quadratwurzeln aus positiven reellen Zahlen wirklichgibt, darfst Du deren Existenz mit Hilfe dieser Aufgabe beweisen!

3. Hinweis, wie man manche Aufgaben nicht angehen sollte:

a) Betrachte die Frage: Was ist der großte Primfaktor der Zahl 86400? Kannst Du diese Frageschneller beantworten, wenn Du weißt, dass diese Zahl die Anzahl der Sekunden eines Tagesist?

Wenn man den großten Primfaktor oder auch die Primfaktorzerlegung von 60 · 60 · 24 = 86400finden will, so ist es einfacher von der Zerlegung 60 · 60 · 24 auszugehen, als erst das Produkt86400 auszurechnen und dieses dann zu zerlegen! Das ist doch klar!

b) Welche reellen Nullstellen hat das Polynom x8 − 25x6 − (42x3 − 216)(x− 5)(x+ 5)?

x8 − 25x6 − (42x3 − 216)(x − 5)(x + 5) = x6(x2 − 25) − (42x3 − 216)(x − 5)(x + 5) = x6(x −5)(x+ 5)− (42x3 − 216)(x− 5)(x+ 5) = (x6 − 42x3 + 216)(x− 5)(x+ 5).

Die Nullstellen des Polynoms sind also 5, − 5, sowie die des Polynoms x6 − 42x3 + 216. DieNullstellen des letzteren sind die x ∈ R, fur die y = x3 eine Nullstelle des quadratischenPolynoms y2 − 42y + 216 ist. Dessen Nullstellen errechnen sich nach der bekannten Formel zu21±

√225 also 36 und 6. Samtliche reellen Nullstellen des ursprunglichen Polynoms sind somit

5,−5, 3√

36, 3√

6.

Wenn eine (naturliche) Zahl oder eine Funktion als Produkt gegeben ist, ist es dann immerzielfuhrend, dieses Produkt zunachst (reflexartig) ‘auszurechnen’, um erst dann gewisse Aufgabenanzugehen?

4. Zeige dass die Menge a+ b√

2 | a, b ∈ Q ein Teilkorper von R ist. Damit ist gemeint, dass siein Bezug auf die in R gegebenen Rechenarten ein Korper ist. Du musst also zeigen, dass 0 und 1in ihr liegen, dass mit zweien ihrer Elemente auch ihre Summe und ihr Produkt zu ihr gehoren.Schließlich mussen noch zu jedem ihrer Elemente 6= 0 das additiv und das multiplikativ Inversezu ihr gehoren. (Nur fur das multiplikativ Inverse ist eine kleine Idee notig.) Die Korpergesetze(etwa das Distributivgesetz) werden von R ‘geerbt’.

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4.5. CAUCHY- UND CANTOR-DIAGONALEN 119

4.5 Cauchy- und Cantor-Diagonalen

4.5.1 Unter der Menge N×N versteht man ja die Menge aller Paare (n,m) naturlicher Zahlen.

Wahrend man sich N als fortlaufende Folge vorstellen kann:

0 1 2 3 4 5 . . .

kann man sich die Gesamtheit der Paare naturlicher Zahlen als unendliches ‘quadratisches’Schema vorstellen:

(0, 0) (0, 1) (0, 2) (0, 3) (0, 4) (0, 5) · · ·(1, 0) (1, 1) (1, 2) (1, 3) (1, 4) (1, 5) · · ·(2, 0) (2, 1) (2, 2) (2, 3) (2, 4) (2, 5) · · ·(3, 0) (3, 1) (3, 2) (3, 3) (3, 4) (3, 5) · · ·(4, 0) (4, 1) (4, 2) (4, 3) (4, 4) (4, 5) · · ·(5, 0) (5, 1) (5, 2) (5, 3) (5, 4) (5, 5) · · ·

......

......

......

. . .

Frage: Kann man die Elemente von N × N auch in einer Folge darstellen? Kann man sienacheinander ‘hinschreiben’, und zwar so, dass jedes Paar auch ‘irgendwann mal drankommt’?In der Sprache der Abbildungen wurde dies bedeuten: Gibt es eine bijektive Abbildung N →N× N?

Im Prinzip haben wir das bereits positiv beantwortet. Hier gebe ich eine andere Moglichkeitan, die im folgenden Bild angedeutet sei

(0, 0) (0, 1) (0, 2) (0, 3) (0, 4) (0, 5) · · ·

(1, 0) (1, 1) (1, 2) (1, 3) (1, 4) (1, 5) · · ·

(2, 0) (2, 1) (2, 2) (2, 3) (2, 4) (2, 5) · · ·

(3, 0) (3, 1) (3, 2) (3, 3) (3, 4) (3, 5) · · ·

(4, 0) (4, 1) (4, 2) (4, 3) (4, 4) (4, 5) · · ·

(5, 0) (5, 1) (5, 2) (5, 3) (5, 4) (5, 5) · · ·... ... ... ... ... . . .

Die Pfeile deuten an, wie man nacheinander die Paare zu durchlaufen hat.

Man beginnt mit (0, 0), dann durchlauft man die erste sogenannte Cauchy-Diagonale:(1, 0), (0, 1), dann die zweite Cauchy-Diagonale: (2, 0), (1, 1), (0, 2), dann die dritte Cauchy-Diagonale (3, 0), (2, 1), (1, 2), (03), dann die vierte: (4, 0), (3, 1), (2, 2), (1, 3), (0, 4), und so fort.

Auf diese Weise erkennst Du, dass die Menge aller Paare naturlicher Zahlen abzahlbar ist.

In der n-ten Cauchy-Diagonale stehen die n + 1 Paare naturlicher Zahlen (i, j) mit i + j = n.Vergleiche das mit den Exponentenpaaren in der Formel, die gemaß dem Binomialsatz aus(a+ b)n berechnet wird.

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120 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

4.5.2 Der Name ‘Cauchy-Diagonale’ ruhrt daher, dass Cauchy sie benutzt hat, um das soge-nannte Cauchy-Produkt von unendlichen Reihen zu definieren.

Gegeben seien zwei unendliche Reihen∑∞

n=0 an und∑∞

n=0 bn. Samtliche Produkte von je einemGlied der ersten Reihe mit je einem Glied der zweiten kann man in ein unendliches ‘quadrati-sches’ Schema schreiben.

a0b0 a0b1 a0b2 a0b3 a0b4 a0b5 · · ·a1b0 a1b1 a1b2 a1b3 a1b4 a1b5 · · ·a2b0 a2b1 a2b2 a2b3 a2b4 a2b5 · · ·a3b0 a3b1 a3b2 a3b3 a3b4 a3b5 · · ·a4b0 a4b1 a4b2 a4b3 a4b4 a4b5 · · ·a5b0 a5b1 a5b2 a5b3 a5b4 a5b5 · · ·

......

......

......

. . .

Irgendwie sollte eine geeignete Summierung uber alle Eintrage dieses Schemas gegen das Pro-dukt der Werte der beiden Ausgangsreihen konvergieren.

Das Cauchy-Produkt der beiden Reihen ist definiert, als

∞∑n=0

(n∑

k=0

akbn−k)

D.h. es ist eine unendliche Reihe, deren Glieder die Summen uber die Cauchy-Diagonalen obigenDiagramms sind. Beachte, dass die Summe

∑nk=0 akbn−k fur jedes n eine endliche ist, namlich

die Summe uber die n-te Cauchy-Diagonale, in der n+ 1 Eintrage stehen.

Wenn die beiden Ausgangsreihen konvergieren, und zwar gegen a, bzw. b, so hofft man doch,ihr Cauchy-Produkt solle gegen ab konvergieren. Ganz allgemein, d.h. fur konvergente, abernicht absolut konvergente Reihen gilt das leider nicht ! Falls aber eine der Reihen

∑∞n=0 an oder∑∞

n=0 bn absolut konvergiert, gilt diese Aussage. Leider ist der Beweis dieser Tatsache nicht soeinfach, weshalb ich hier darauf verzichte.

Bemerkung 4.5.3 Gibt es eine Reihenfolge, in der man die aibj summieren kann, so dassimmer der Grenzwert ab herauskommt?

Erinnere dich an den Satz 3.2.27. Da der (Grenz-)Wert der Reihe∑∞

i=0 ai als limn→∞∑n

i=0 ai

definiert ist, erhalt man aus dem genannten Satz die Formel

ab = limn→∞

(n∑

i=0

ai)(n∑

j=0

bj)

Das Produkt (∑n

i=0 ai)(∑n

j=0 bj) ist aber die Summe uber alle Eintrage folgenden endlichen

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4.5. CAUCHY- UND CANTOR-DIAGONALEN 121

quadratischen Schemas:

a0b0 a0b1 a0b2 a0b3 a0b4 a0b5 · · · a0bna1b0 a1b1 a1b2 a1b3 a1b4 a1b5 · · · a1bna2b0 a2b1 a2b2 a2b3 a2b4 a2b5 · · · a2bna3b0 a3b1 a3b2 a3b3 a3b4 a3b5 · · · a3bna4b0 a4b1 a4b2 a4b3 a4b4 a4b5 · · · a4bna5b0 a5b1 a5b2 a5b3 a5b4 a5b5 · · · a5bn

......

......

......

. . ....

anb0 anb1 anb2 anb3 anb4 anb5 · · · anbn

Beim Schritt von n auf n+ 1, kommen immer die 2n+ 3 Summanden entlang eines ‘Hakens’der Form

a0bn+1

a1bn+1

a2bn+1

a3bn+1

a4bn+1

a5bn+1...

an+1b0 an+1b1 an+1b2 an+1b3 an+1b4 an+1b5 · · · an+1bn+1

hinzu. Wenn man entlang der angegebenen Haken und nicht entlang der Cauchy-Diagonalenaddiert, erhalt man immer das richtige Ergebnis.

Wir haben also folgende Verfahren, die Einzelprodukte zu summieren:

1. Entlang der Cauchy-Diagonalen: Das ist elegant, fuhrt aber nicht immer zum richtigen Er-gebnis.

2. Entlang der oben beschriebenen Haken: Das fuhrt zwar immer zum richtigen Ergebnis, istaber holprig.

Im Falle, dass die Ausgangsreihen absolut konvergieren, wirst Du wohl das elegantere Cauchy-Produkt bilden.

(Ubrigens kann man N×N naturlich auch entlang der ‘Haken’ anstelle der Cauchy-Diagonalenabzahlen!)

Beispiel 4.5.4 Seien x, y reelle Zahlen. Die unendlichen Reihen

exp(x) :=∞∑

k=0

xn

n!, exp(y) :=

∞∑k=0

yn

n!

konvergieren absolut fur alle reellen x, y. Mit Hilfe des binomischen Lehrsatzes kannst Du zeigen,dass das Cauchy-Produkt der Reihen exp(x), exp(y) mit der Reihe

∞∑k=0

(x+ y)n

n!

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122 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

ubereinstimmt. (Fuhre das aus!) Mit anderen Worten: Es gilt das Additionstheorem

exp(x+ y) = exp(x) exp(y)

Beachte, dass ich zwei große Lucken gelassen haben: Die absolute Konvergenz der Exponen-tialreihe und der oben angegebene Satz uber die ’richtige’ Konvergenz des Cauchy-Produktesabsolut konvergenter Reihen waren noch zu zeigen!

Im nachsten Kapitel werde ich das Additionstheorem beweisen.

4.5.5 Die nichtnegativen rationalen Zahlen sind ja formal gesehen nichts anderes als Paarenaturlicher Zahlen, wobei man viele Paare weglassen kann: Der Nenner darf ja nicht 0 sein,und es genugt die gekurzten Bruche zu betrachten. Wir bekommen das folgende unendlichequadratische Schema:

0 1 2 3 · · ·12

32

52

72· · ·

13

23

43

53· · ·

14

34

54

74· · ·

......

......

. . .

In der n-ten Zeile stehen die gekurzten Bruche mit dem Nenner n, aufsteigender Große nachgeordnet. Indem man dieses Schema entlang der Cauchy-Diagonalen abzahlt, bekommt maneine bijektive Abbildung N→ Q+.

Indem Du nach jeder Zeile des obigen Schemas noch eine neue Zeile hinzufugst, in der die Gliedermit einem Minus-Zeichen versehen sind, kannst Du einsehen, dass auch ganz Q abzahlbar ist.Wir halten fest:

Satz 4.5.6 Die Menge Q der rationalen Zahlen ist abzahlbar.

Indem Du schließlich noch bemerkst, dass es gar nichts ausmacht, ob in einem Schema, ahnlichdem, womit wir unseren Abschnitt begonnen haben, etliche Zeilen oder Spalten nach endlichvielen Eintragen aufhoren, kannst Du die Gultigkeit des folgenden Satzes einsehen.

Satz 4.5.7 Die Vereinigung abzahlbar vieler abzahlbarer Mengen ist abzahlbar.

(Dies schließt naturlich endliche Vereinigungen abzahlbarer Mengen, sowie abzahlbare Vereini-gungen endlicher Mengen ein.) Folgende Satze sind unmittelbare Folgerungen:

Satz 4.5.8 Sind M1,M2 abzahlbare Mengen, so ist auch M1 ×M2 eine solche.

Satz 4.5.9 Sind M1,M2, . . . ,Mn endlich viele abzahlbare Mengen, so ist auchM1 ×M2 × · · · ×Mn eine solche.

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4.5. CAUCHY- UND CANTOR-DIAGONALEN 123

Vielleicht uberrascht es Dich jetzt der folgende

Satz 4.5.10 Die Menge R der reellen Zahlen ist uberabzahlbar, d.h. nicht abzahlbar.

Beweis: Ware sie abzahlbar, so ware es auch ihre Teilmenge [0, 1[ der x mit 0 ≤ x < 1.Wir nehmen an, es gabe eine solche Abzahlung f : N1 → [0, 1[. Denke Dir die x ∈ [0, 1[ alsDezimalbruche ‘abgezahlt untereinander geschrieben’. Dann erhaltst Du folgendes Schema:

f(1) = 0, a11a12a13a14 . . .f(2) = 0, a21a22a23a24 . . .f(3) = 0, a31a32a33a34 . . .f(4) = 0, a41a42a43a44 . . .· · · · · · · · · · · ·

Hier sind die Indizes Doppelindizes: also a23 bedeutet a2,3, gesprochen ‘a zwei drei’ und nicht‘a dreiundzwanzig’. (Es ist allgemein ublich, hier das Komma wegzulassen, wenn es nicht zuZweideutigkeiten fuhrt.) In der n-ten Zeile steht die n-te Zahl als Dezimalzahl. D.h. die aij sindDezimalziffern, und zwar ist aij die j-te Nachkommastelle der i-ten Zahl.

9er-Perioden seien verboten, damit jede reelle Zahl aus [0, 1[ nur einmal vorkommt.

Nun sehen wir uns die”Diagonale“ a11, a22, a33, . . . in diesem Schema an und bilden den Dezi-

malbruch c = 0,b1b2b3b4 . . . nach folgender Vorschrift: es sei bi = 5, wenn aii 6= 5 ist, aber bi = 6,wenn aii = 5 ist. Dann gilt c ∈ [0, 1[, aber c ist verschieden von allen Zahlen des Schemas. Dennc unterscheidet sich in der i-ten Nachkommastelle von f(i), ist aber eindeutig als Dezimalbruchdarstellbar, da die Ziffer 0 sowenig vorkommt wie die Ziffer 9. Eine Abzahlung der o.a. reellenZahlen kann es also nicht geben.

Das hier verwendete Verfahren heißt Cantorsches Diagonalverfahren, da Cantor es er-funden hat, um die Uberabzahlbarkeit von R zu zeigen.

Ich will nicht verschweigen, dass es von philosophischer Seite gewisse Vorbehalte gegen unserenunkritischen Umgang mit der Menge ‘aller’ reeller Zahlen gibt. Mit einem endlichen Alphabetkann man nur abzahlbar viele reelle Zahlen beschreiben. (Z.B. kann man

√5 als ‘diejenige

positive reelle Zahl, deren Quadrat 5 ist’ beschreiben. Die Zahl e lasst sich als ‘∑∞

n=0 1/n!’beschreiben.) Wenn ich also nach Cantor zu allen abzahlbar vielen ‘beschreibbaren’ reellenZahlen eine neue konstruiere, so muss ich mir bewusst sein, dies auf einer ‘hoheren’ Sprachstufezu tun, einer Stufe, auf der ich zur Konstruktion die Menge der bisher bereits bekannten reellenZahlen benutze. Sonst hatte ich ja einen Widerspruch: ‘Zu allen beschreibbaren reellen Zahlengibt es noch eine weitere beschreibbare reelle Zahl.’

Im Prinzip retten sich die Mathematiker hier in eine axiomatische Mengenlehre, deren Axiomemoglicherweise etwas willkurlich sind. Die meisten Mathematiker nehmen diese Problematikkaum zur Kenntnis. So darfst Du es getrost auch halten. Ehrlich!

Mit dem Cantorschen Diagonalverfahren kannst Du folgende beide Satze beweisen:

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124 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Satz 4.5.11 Seien M1,M2,M3, . . . unendlich viele Mengen, deren jede mindestens 2 Elementebesitzt, so ist das unendliche Produkt M1 ×M2 ×M3 × · · ·, das aus allen Folgen (mi)i∈N mitmi ∈Mi besteht, uberabzahlbar.

Definition 4.5.12 Eine 0-1-Folge ist eine Folge (an)n∈N, wo jedes Folgenglied 0 oder 1 ist.Dabei will ich meist unter 0 und 1 die bekannten ganzen Zahlen verstehen, gelegentlich aberauch die Restklassen von 0 bzw. 1 in F2 = Z/(2).

Satz 4.5.13 Die Menge aller 0-1-Folgen ist uberabzahlbar.

Wir konnen aus unseren Betrachtungen noch einen weiteren Schluss ziehen, namlich den, dasses viele (genauer: uberabzahlbar viele) sogenannte transzendente reelle Zahlen gibt.

Definition 4.5.14 Eine reelle (auch komplexe) Zahl heißt algebraisch, wenn sie eine Null-stelle eines vom Nullpolynom verschiedenen Polynoms mit rationalen Koeffizienten ist. (Da dieNullstellen eines Polynoms dieselben bleiben, wenn man dieses Polynom mit einer von 0 ver-schiedenen Konstanten multipliziert, genugt es, entweder Polynome mit ganzen Koeffizientenzu betrachten, oder solche, deren hochster Koeffizient gleich 1 ist.)

Eine reelle (oder komplexe) Zahl heißt transzendent, wenn sie nicht algebraisch ist.

Satz 4.5.15 Es gibt nur abzahlbar viele algebraische und uberabzahlbar viele transzendente re-elle (komplexe) Zahlen.

Beweis: Es genugt zu zeigen, dass die Menge der (reellen) algebraischen Zahlen abzahlbarist. Ware dann namlich auch die Menge der reellen transzendenten Zahlen abzahlbar, so wareR die Vereinigung zweier abzahlbarer Mengen, also selbst abzahlbar.

Zeige selber, dass es zu jedem moglichen Grad n nur abzahlbar viele Polynome vom Grad ngibt, deren Koeffizienten rational sind. (Man kann ja jedem Element aus Qn+1 in bijektiverWeise ein solches Polynom zuordnen.)

Folgere: Es gibt nur abzahlbar viele Polynome mit rationalen (ganzen) Koeffizienten.

Mit Hilfe der Tatsache, dass (abgesehen vom Nullpolynom) jedes Polynom in R (auch in C)nur endlich viele Nullstellen hat, folgere, dass es (in R, bzw. C) insgesamt nur abzahlbar vieleNullstellen von beliebigen Polynomen mit rationalen Koeffizienten gibt.

Bemerkung 4.5.16 Die Aussage ist insofern sehr theoretisch, als es außerst muhsam undwenig erhellend ist, mit ihrer Hilfe ein konkretes Beispiel einer transzendenten Zahl anzugeben.(Man musste eine konkrete Abzahlung der algebraischen Zahlen angeben und fur jedes n die n-teNachkommastelle der n-ten Zahl bestimmen. Das Cantorsche Diagonalverfahren liefert danneine transzendente Zahl als unendlichen Dezimalbruch. Beachte, dass dies im Prinzip moglichist!) Wir wissen heute, dass z.B. e und π transzendent sind. Beweise hierfur sind alles andere alseinfach. Vor Cantor kannte man nur die sogenannten Liouvilleschen Transzendenten,z.B.

∑∞n=1 2−n!. Auf diese will ich an dieser Stelle eingehen, obwohl sie mit Mengentheorie nicht

viel zu tun haben.

Ich beginne mit einem Hilfssatz:

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4.5. CAUCHY- UND CANTOR-DIAGONALEN 125

Lemma 4.5.17 Sei g : R → R ein Polynom. Ist I ⊂ R ein Intervall endlicher Lange, so istdie Menge g(I) beschrankt. D.h. es gibt ein s ∈ R mit |g(x)| ≤ s fur alle x ∈ I.

Allgemeiner gilt dies, falls g auf R lediglich stetig ist. Das wirst Du auf der Uni lernen.

Beweis: Die Behauptung gilt offenbar fur jede konstante Funktion und fur die Funktion derForm f(x) = x. Gilt sie fur Funktionen f1, f2, so gilt sie auch fur die Funktionen f1f2 undf1 + f2. Denn aus |fi(x)| ≤ si fur x ∈ I folgt |f1(x)f2(x)| = |f1(x)| · |f2(x) ≤ s1s2, sowie|f1(x) + f2(x)| ≤ |f1(x)|+ |f2(x)| ≤ s1 + s2 fur alle x ∈ I.

Jedes Polynom lasst sich durch Summen und Produkte von konstanten Funktionen und derFunktion f(x) = x aufbauen.

Satz 4.5.18 Sei α eine reelle Nullstelle eines Polynoms vom Grade n > 0 mit rationalenKoeffizienten. Dann gibt es ein reelles c > 0, so dass fur jede von α verschiedene rationale Zahlp

qmit p, q ∈ Z, q > 0 folgende Ungleichung gilt:

∣∣∣∣α− p

q

∣∣∣∣ ≥ c

qn.

(Hier sind p, q keine Bezeichnungen speziell fur Primzahlen, sondern fur beliebige ganze Zah-len.) Der Satz besagt in etwa folgendes: Will man eine algebraische Zahl durch rationale Zahlenapproximieren, so wird die Gute der Approximation mit wachsendem Nenner nur in ‘beschei-denem Maße’ besser. Er gilt auch fur Polynome vom Grad 1 und besagt dann, dass man einerationale Zahl α durch von α verschiedene rationale Zahlen gar nicht so gut approximierenkann.

Beweis: Sei α Nullstelle von f(x) = anxn + · · ·+ a0 mit ak ∈ Z. (Dies kann man annehmen,

nachdem man mit dem Hauptnenner der Koeffizienten multipliziert hat.) Wir wissen aus (2.5.2),dass man f(x) = (x − α)g(x) schreiben kann, wo g(x) ein Polynom mit reellen Koeffizientenist.

Wahle c1 > 0 so, dass in dem Intervall I = [α− c1, α + c1] keine von α verschiedene Nullstellevon f(x) liegt. Dies ist moglich, da f(x) = 0 nur fur endlich viele x gilt. (2.5.4) Nach obigemLemma gibt es ein c2 > 0 mit der Eigenschaft: ‘Es ist |g(x)| < c2, wenn immer |x−α| ≤ c1 ist.’

Setze c := Minc1,1

c2 und nimm an, es ware

∣∣∣∣α− p

q

∣∣∣∣ < c

qn(mit p, q ∈ Z, q > 0 und

p

q6= α.)

Zunachst folgt aus dieser Annahme

∣∣∣∣pq − α∣∣∣∣ < c ≤ c1 und deshalb – nach Wahl von c2 –∣∣∣∣g(pq

)∣∣∣∣ ≤ c2. Aus c ≤ 1/c2 ergibt sich

∣∣∣∣f (pq)∣∣∣∣ =

∣∣∣∣pq − α∣∣∣∣ · ∣∣∣∣g(pq

)∣∣∣∣ < c

qn· c2 ≤

1

qn.

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126 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Somit gilt qn ·∣∣∣∣f (pq

)∣∣∣∣ < 1. Da f(x) ganze Koeffizienten hat, ist die linke Seite dieser Unglei-

chung eine naturliche Zahl. Deshalb ist f

(p

q

)= 0. Das ist ein Widerspruch zu

p

q6= α und

p

q∈ I, einem Intervall, in dem außer α keine Nullstelle von f liegt.

Folgerung 4.5.19 Die Zahl α :=∑∞

k=0 2−k! ist transzendent.

Es ist klar, dass die Reihe konvergiert. Dies ist das angekundigte Beispiel einer LiouvilleschenTranszendenten.

Beweis: Die Partialsumme sm :=∑m

k=0 2−k! ist gleich einem Bruch mit dem Nenner 2m!,

etwa gleichpm

2m!mit einer naturlichen Zahl pm. (2m! ist der Hauptnenner.)

Die (positive) Differenz α− sm ist nur sehr wenig großer als 2−(m+1)!. Genauer gilt

α− sm = α−m∑

k=0

2−k! =∞∑

k=m+1

2k! < 2−(m+1)!

∞∑j=0

2j =2

2−(m+1)!.

Nimm an, α ware Nullstelle eines Polynoms vom Grade n mit rationalen Koeffizienten. Nachobigem Satz gabe es ein c > 0 mit

α− pm

2m!≥ c

2n·m!fur alle m ∈ N.

Andererseits haben wir

2

2(m+1)!> α− pm

2m!, folglich

2

2(m+1)!>

c

2n·m!

Es folgte(2m!)m+1

(2m!)n<

2

c

Die linke Seite geht mit m (bei konstanten n, c) gegen unendlich. Widerspruch!

Der Beweis funktioniert fur jede Reihe∑∞

n=0 a−n! mit einer ganzen Zahl a ≥ 2, insbesondere

fur a = 10, wo man sich die Dezimalbruchdarstellung gut vorstellen kann.

AUFGABEN

1. a) Betrachte die Menge A derjenigen 0-1-Folgen, welche die Eigenschaft haben, dass nie eineNull auf eine Null folgt. Ist A abzahlbar oder uberabzahlbar?

b) Betrachte die Menge B aller 0-1-Folgen mit der Eigenschaft, dass nie eine Eins auf eine Nullfolgt. Ist B abzahlbar oder uberabzahlbar?

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4.6. EIN ALLGEMEINER SATZ UBER DIE VERGLEICHBARKEIT VON MENGEN 127

2. Zeige, dasss es eine (naheliegende) bijektive Abbildung von der Menge E aller 0-1-Folgen zurPotenzmenge von N, (d.h. der Menge aller Teilmengen von N) gibt.

Folgere, dass die Potenzmenge von N uberabzahlbar ist.

3. Zeige, dass die Menge aller endlichen Teilmengen von N abzahlbar ist.

4. Zeige, dass die Menge aller Null-Eins-Folgen, die von einer gewissen Stelle an periodisch sind,abzahlbar ist. (Was meine ich wohl mit der Aussage ‘von einer gewissen Stelle an periodisch’?)

5. Wie hangen die beiden letzten Aufgaben zusammen? Genugt es, eine von ihnen zu losen, damitdie Losung der anderen auf der Hand liegt?

6. Es gibt eine Abbildung E → [0, 1], die jeder Folge aus E den entsprechenden Binarbruchzuordnet, z.B. (0, 1, 1, 0, 1, 1, 1, 0, 0, . . .) 7→ 0, 011011100 . . .. Links trennen die Kommata dieeinzelnen Folgenglieder, rechts trennt das Komma den ganzen Anteil der binar geschriebenenZahl von dem gebrochenen Anteil.

Ist diese Abbildung injektiv, surjektiv?

7. Wir betrachten Ternarbruche (d.h. solche, wo die Grundzahl die 3 ist) der Form 0, a1a2a3 . . .,wo die ai nur die Ziffern 0 oder 2 sind. Lassen sich 0, 1

3, 2

3, 1 durch einen solchen (unendlichen)

Ternarbruch darstellen? Wie steht es mit Zahlen aus ]13, 2

3[? Und wie mit solchen aus ]1

9, 2

9[, bzw.

solchen aus ]79, 8

9[? Kannst Du das fortsetzen?

Die Menge C der reellen Zahlen, die man als Ternarbruche der genannten Art schreiben kann,heißt das Cantorsche Diskontinuum.

Beachte, dass die Darstellung der Zahlen aus dem Cantorschen Diskontinuum alsTernarbruche der genannten Art eindeutig ist!

Gib eine bijktive Abbildung C → E an. Welche Art Abbildung (injektiv, surjektiv) C → [0, 1]erhalt man daraus?

8. Zeige fur das Cantorsche Diskontinuum C: Es gibt eine leicht zu beschreibende bijektiveAbbildung C ×C → C. Aus jedem Paar von Folgen kann man auf kanonische Weise eine einzigeFolge machen.

9. Gib eine naheliegende surjektive Abbildung C → [0, 1] an.

4.6 Ein allgemeiner Satz uber die Vergleichbarkeit von

Mengen

Es mag sein, dass Dir die folgenden Ausfuhrungen nicht besonders gefallen, zu abstrakt oder zuschwer vorkommen. Du kannst sie ohne Schaden ubergehen. Vielleicht hast Du ja spater mehrSpaß an ihnen.

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128 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Bemerkung 4.6.1 Seien M,N Mengen. Dann gibt es eine zu M gleichmachtige Menge M ′

und eine zu N gleichmachtige Menge N ′, derart das M ′ ∩N ′ = ∅ ist.

Man kann namlich jedes Element m ∈ M durch das Paar (m, 0) ersetzen, also M ′ :=(m, 0) | m ∈M und entsprechend N ′ := (n, 1) | n ∈ N definieren.

Beachte, dass keiner garantieren kann, dass bereits M ′ ∩N = ∅ ist. Hingegen sind (m, 0) und(n, 1) auf jeden Fall verschiedene Paare, ganz egal wie m und n aussehen.

4.6.2 Unendliche Mengen M haben die Eigenschaft, dass es Abbildungen f : M → M gibt,die zwar injektiv, aber nicht surjektiv sind. Dies kann man – so man will – als Definition furdie Unendlichkeit einer Menge nehmen. (Schon Galilei hatte bemerkt, dass die AbbildungN→ N, x 7→ x2 von dieser Art ist.)

Sei ferner eine bijektive Abbildung g : N →M gegeben, so ist die Abbildung f g : N →M nurinjektiv, aber nicht surjektiv. Analog gibt es in diesem Fall auch eine injektive, nicht surjektiveAbbildung M → N , namlich welche?

Wenn es also eine injektive, nicht surjektive Abbildung unendlicher Mengen ϕ : M → N gibt,darfst Du dies nicht in dem Sinne interpretieren, als hatte M echt weniger Elemente als N .

Es gilt vielmehr folgender

Satz 4.6.3 (Cantor, Bernstein) Gibt es injektive Abbildungen g : M → N undh : N →M , so gibt es auch eine bijektive Abbildung

f : M → N .

Beweis: Wir durfen nach Bemerkung 4.6.1 annehmen, M ∩N = ∅.

Ist m ∈M , so gibt es genau ein n ∈ N mit g(m) = n und hochstens ein n′ ∈ N mit h(n′) = m,letzteres, da h injektiv ist. Das Analoge gilt fur alle n ∈ N .

Wir betrachten ‘Stammlinien‘, d.h. ‘maximale Ketten’

· · · 7→ n−1 7→ m0 7→ n0 7→ m1 7→ n1 7→ · · ·

wobei die Abbildungen abwechselnd g, bzw. h sind. Die Eigenschaft ‘maximal’ soll bedeutet,dass wir die Kette nur abbrechen, falls es nicht anders geht. Nach rechts bricht eine solcheStammlinie nie ab, da jedes m ∈M ein Bild unter g und jedes n ∈ N ein Bild unter h hat.

Auch nach links kann eine solche Stammlinie unendlich lang sein, sie kann aber auch mit einemElement m ∈M anfangen, wenn namlich dieses m nicht im Bild von h liegt, oder sie kann miteinem n ∈ N anfangen, wenn dieses n nicht im Bild von g liegt.

Jedes x ∈M ∪N liegt in einer Stammlinie. Wenn x in mehreren Stammlinien liegt, so stimmendiese bis auf eine mogliche Indexverschiebung uberein. In diesem Falle betrachten wir sie alsgleich! Jedes Element aus M ∪N liegt dann in genau einer Stammlinie.

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4.6. EIN ALLGEMEINER SATZ UBER DIE VERGLEICHBARKEIT VON MENGEN 129

Hier eine Skizze der verschiedenen Arten von Stammlinien.

· · · 7→ n−1 7→ m0 7→ n0 7→ m1 7→ · · ·m′

0 7→ n′0 7→ m′1 7→ n′1 7→ m′

2 7→ · · ·n′′0 7→ m′′

1 7→ n′′1 7→ m′′2 7→ n′′2 7→ · · ·

(Ein x ∈M∪N kann in einer Stammlinie mehrfach vorkommen. Dann ist diese Stammlinie nachbeiden Seiten unendlich lang und das Vorkommen von x, sowie eines jeden anderen Elementsin dieser Stammlinie, periodisch.)

Jetzt definieren wir F : M → N wie folgt:

F (m) := g(m), wenn m in einer Stammlinie liegt, die entweder links keinen Anfang hat oderlinks mit einem Element aus M anfangt.

Liegt aber m in einer Stammlinie, die links mit einem Element von N anfangt, so sei F (m) daseindeutig bestimmte Urbild von m unter h (d.h. dasjenige n ∈ N , das h(n) = m erfullt).

Innerhalb jeder Stammlinie bildet F die Menge der Elemente von M , die in dieser Stammlinieliegen, bijektiv auf die Menge der Elemente von N in dieser Stammlinie ab.

Da jedes Element von M in einer und nur einer Stammlinie liegt, ist F eine Abbildung von Mnach N .

Da jedes Element von N in einer Stammlinie liegt, ist F surjektiv. Da aber jedes Element vonN nur in einer Stammlinie liegt ist F auch injektiv.

Folgerung 4.6.4 Je zwei beschrankte Intervalle sind gleichmachtig.

Beweis: Seien a, b, c, d reelle Zahlen mit a < b und c < d. Sei I eines der Intervalle[a, b], [a, b[, ]a, b], ]a, b[ und J eines der Intervalle [c, d], [c, d[, ]c, d], ]c, d[. Dann findet man leichteine Abbildung f : R→ R der Form f(x) = px+ q mit geeigneten p, q ∈ R, die I injektiv in Jabbilden. Etc.

Bemerkungen 4.6.5 Es gibt allerdings keine stetige bijektive Abbildung [0, 1] → [0, 1[, nocheine solche [0, 1[→]0, 1[, noch eine solche [0, 1] →]0, 1[. Ebensowenig gibt es bijektive stetigeAbbildungen in jeweils umgekehrter Richtung. Ich verzichte auf einen Beweis, da wir den Begriffder Stetigkeit zu wenig studiert haben.

Beachte, dass die Abbildungen tan : ] − π/2, π/2[→ R und tan : [0, π/2[→ R+ bijektiv undstetig sind. Ihre Umkehrabbildungen sind ebenfalls stetig. Auch hier appelliere ich an DeineAnschauung und verzichte auf einen strengen Beweis.

Frage: Welche ‘einfachere’ Funktion als der Tangens bildet das beschrankte Intervall ]0, 1]bijektiv auf das unbeschrankte Intervall [1,∞[ ab?

Antwort: x 7→ 1/x. Diese Funktion kehrt allerdings die Anordnung um.

Mit Hilfe der Folgerung sieht man auch, dass es eine bijektive Abbildung R∗+ → R gibt. Konkre-

ter weiß man aber, dass der Logarithmus (zu einer beliebigen Basis 6= 1) eine stetige bijektiveAbbildung R∗

+ → R ist, und dass eine Exponentialfunktion (zu einer beliebigen Basis 6= 1)seine stetige bijektive Abbildung in umgekehrter Richtung ist.

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130 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Beispiele 4.6.6 a) Die Menge C0 aller 0-1-Folgen ist gleichmachtig zu R.

Beachte dabei, dass die Abbildung, die jeder 0-1-Folge (a0, a1, a2, . . .) den Binarbruch0, a0a1a2 . . . zuordnet nicht injektiv ist, da z.B. die Binarbruche 0,01 und 0,1 dieselbe reelleZahl darstellen.

Also ordne etwa der 0-1-Folge (a0, a1, a2, . . .) den Ternarbruch (oder, wenn es Dir lieber ist, denDezimalbruch oder . . . ) 0, a0a1a2 . . . zu. Diese Abbildung ist sicher injektiv.

Umgekehrt wird durch x 7→ 12

+ π−1 arctanx eine bijektive Abbildung R →]0, 1[ definiert.Schreibe dann jede Zahl aus ]0, 1[ als Binarbruch, wo z.B. solche, die auf lauter Einsen enden,verboten sind. Ordne jedem Binarbruch, der dieser Einschrankung unterliegt, die Folge seinerNachkommastellen zu. Insgesamt erhaltst Du eine injektive Abbildung R→ C0.

Der Satz von Cantor und Bernstein ergibt dann die Behauptung.

b) C0 und C20 := C0 × C0 sind gleichmachtig. Dasselbe gilt dann naturlich auch fur R und R2.

Denn die AbbildungC0 → C2

0 , (an)n∈N 7→ ((a2n)n∈N, (a2n+1)n∈N)

ist offensichtlich bijektiv.

Beachte: Da man reelle Zahlen nicht immer eindeutig als Dezimalbruche (auch nicht alsBinabruche oder . . . ) darstellen kann, muss man fur einen direkten Beweis der Gleichmachtig-keit etwa von [0, 1[ und [0, 1[×[0, 1[ eine gewisse Vorsicht walten lassen. Wenn man z.B. derals Dezimalbruch geschriebenen rellen Zahl 0,1109 das Paar (0,1999 . . . , 0,100 . . .) zuordnete,und das Entsprechende mit der Zahl 0, 120 machte, bekame man dasselbe Paar reeller Zahlenals Bild. Die Abbildung ware nicht injektiv, da 0,1109 6= 0,120 ist.

Wie kann man sich da helfen, wenn man nicht den Cantor-Bernstein-‘Hammer’ verwenden will?

Nun, man verbiete zunachst (etwa) die Neunerperiode. Um ein Paar reeller Zahlen als Bild einesDezimalbruches (< 1) zu bekommen, verteilt man nicht die Dezimalstellen abwechselnd auf diebeiden Komponenten des Paares, sondern zerlegt zunachst die Folge der Nachkommastellen inmoglichst kurze Packchen, deren Endziffer nicht die 9 ist, z.B.

0, 29987690999743915 . . . = 0, 2|998|7|6|90|9997|4|3|91|5| . . .

und verteilt nun diese ‘Packchen’ abwechselnd auf zwei Dezimalbruche. Als Bild obiger Zahlerhalt man das Paar

(0, 2 7 90 4 91 . . . , 0, 998 6 9997 3 5 . . .) .

Entsprechend bildet man die Umkehrabbildung. (Wieder einmal siehst Du, dass es oft mehrereBeweise fur ein und denselben Satz geben kann, deren jeder seine Verdienste haben kann.)

c) Du kannst nun leicht folgern, dass auch R und Rn fur ganze n > 0 gleichmachtig sind.

d) Betrachte jetzt die Menge RN, womit ich das cartesische Produkt von abzahlbar vielenFaktoren R meine, also die Menge aller Folgen reeller Zahlen, die ich auch als Menge allerAbbildungen N → R auffassen kann. Naturlich ist sie gleichmachtig zur Menge CN

0 . Konnte essein, dass auch diese Menge gleichmachtig zu R ist? Die Antwort ist: Ja.

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4.6. EIN ALLGEMEINER SATZ UBER DIE VERGLEICHBARKEIT VON MENGEN 131

Dies zu beweisen, hilft uns das Cauchy’sche Diagonal-Verfahren. Denn eine Folge von Elementenaus C0 ist ja nichts anderes als eine Doppelfolge:

a00 a01 a02 a03 a04 a05 · · ·a10 a11 a12 a13 a14 a15 · · ·a20 a21 a22 a23 a24 a25 · · ·a30 a31 a32 a33 a34 a35 · · ·a40 a41 a42 a43 a44 a45 · · ·a50 a51 a52 a53 a54 a55 · · ·...

......

......

.... . .

mit aij ∈ 0, 1. Jede Zeile ist eine 0-1-Folge und die Folge der Zeilen eine Folge von Elementenaus C0. Durch das Cauchy’sche Diagonalverfahren macht man aus jedem solchen Schema (jederDoppelfolge) eine 0-1-Folge und erhalt damit eine Abbildung CN

0 → C0. Dass es eine Umkehr-abbildung gibt, siehst Du sicher leicht ein: Mache aus der 0-1-Folge (bn)n∈N die Doppelfolge(aij)ij∈N×N durch a00 := b0, a10 := b1, a01 := b2, a20 := b3, a11 := b4, a02 := b5, a30 := b6, usw.

e) Umgekehrt ist die Menge NR, womit ich die Menge aller Abbildungen R → N meine,nicht mehr zu R gleichmachtig, da nicht einmal die Menge 0, 1R es ist. Denn letztere istgleichmachtig zur Menge aller Teilmengen von R. Wie?

f) Die Menge S aller stetigen Abbildungen f : R → R ist gleichmachtig zu R. Den jede solcheAbbildung ist schon durch ihre ‘Einschrankung’ auf Q festgelegt. Mit der Einschrankung vonf auf meine ich die Abbildung f|Q : Q→ R, definiert durch f|Q(x) = f(x) fur alle x ∈ Q, d.h.im Grunde die Abbildung f selbst, allerdings nur fur rationale Argumente betrachtet. Und RQ

ist sicher gleichmachtig zu RN. Es gibt also injektive Abbildungen S → R und R→ S (namlichwelche?).

Bemerkung 4.6.7 Eine scheinbar naheliegende Frage ist, ob es eine Teilmenge M von Rgibt, die zwar nicht abzahlbar, aber auch nicht gleichmachtig zu R ist. Cantor selbst hatsich mit diesem sogenannten Kontinuumproblem vergeblich herumgeschlagen. Godel hatgezeigt, dass man eine genugend reichhaltige ‘mathematische Welt’ konstruieren kann, in derdiese Frage negativ zu beantworten ist. D.h. in dieser Welt ist jede Teilmenge von R entwederabzahlbar oder zu R gleichmachtig.

Es liegt nahe, diese Frage zu untersuchen, nachdem man die Mengenlehre axiomatisiert hat. Dasgenannte Godelsche Ergebnis benutzt eine solche Axiomatisierung und fugt ihr sozusagen einweiteres ‘Axiom’ hinzu, das die Moglichkeit, Mengen zu konstituieren soweit einschrankt, dasses eine solche seltsame Teilmenge von R nicht gibt. Aber dies Einschrankung ist so schwach,dass kein Satz der Mathematik, der bis dato bewiesen war, seine Gultigkeit verloren hatte.

Jahrzehnte spater hat Cohen gezeigt, dass die klassischen Axiomensysteme der Mengenlehre(ohne die Godelsche Einschrankung) das Kontinuumproblem nicht zu entscheiden vermogen.Er konnte im Rahmen der klassischen Axiomatik der Mengenlehre die Existenz solcher mathe-matischer Welten erzwingen, in der es Teilmengen von R gibt, die weder abzahlbar noch zu Rgleichmachtig sind.

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132 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Es gibt heute Mengentheoretiker, die meinen, ‘vernunftige Axiome’ angeben zu konnen, diees gestatten, das Kontinuumproblem zu losen. Meiner Meinung nach gehoren manche ihrerArgumente dafur, dass man gewisse Axiome fur ganz besonders einsichtig halten sollte, eherder Theologie als der Mathematik an. (Delahaye in Spektrum der Wissenschaft Marz 2009)Das bedeutet naturlich nicht, dass ich es fur unserios hielte, die Auswirkung ‘neuer’ Axiomeder Mengenlehre auf das Kontinuumproblem zu studieren.

Ich glaube, dass das Kontinuumproblem ein Scheinproblem ist, geboren aus der etwas schwam-migen Definition von R, etwa als Menge ‘aller’ Cauchyfolgen modulo Nullfolgen. Bei dieserDefinition bleibt letztlich offen, welche sprachlichen Mittel zur Konstruktion von Cauchyfolgenman verwenden darf. Wenn man einfach sagt:

”alle“, verstrickt man sich in Widerspruche.

Man kann genugend viel Mathematik machen, ohne das Kontinuumproblem gelost zu haben.Dasselbe gilt auch, wenn man die Godelsche Einschrankung akzeptiert. Diese Einschrankungbraucht man nicht als Glaubenssatz anzunehmen. Man kann sie ganz einfach als Beschrankungdesjenigen Mathematischen Kosmos betrachten, den man (gerade) untersuchen will.

4.7 Aquivalenzrelationen und Aquivalenzklassen

Bereits in dem 2. Kapitel hast Du die Ringe Z/(m) kennengelernt, deren Elemente man als Teil-mengen von Z auffassen kann. Diese Teilmengen sind eng verknupft mit der Kongruenzrelationmodulo m.

Ahnlich ist es mit der Einfuhrung der rationalen Zahlen. Diese sind – formal gesehen – Paare

ganzer Zahlen (m,n) mit n 6= 0. Zwei Bruchem

n,m′

n′nennt man genau dann einander gleich,

wenn mn′ = m′n gilt. Man kann die rationale Zahlm

nauch als Menge aller Zahlenpaare

(m′, n′ mit mn′ = m′n auffassen. (Manchmal unterscheidet man zwischen einem Bruch mn

als Zahlenpaar und der rationalen Zahl, die durch jeden Bruch m′

n′gegeben ist, der m′n =

mn′ erfullt. Ich muss gestehen, diese feinsinnige Unterscheidung am Anfang des Buches nichtgemacht zu haben.)

Auch bei der Einfuhrung der reellen Zahlen durch Cauchy-Folgen betrachtet man zunachstden RingR aller Cauchyfolgen und darin die Menge N aller Nullfolgen. Cauchyfolgen (an), (bn)heißen zueinander aquivalent, wenn ihre Differenz (an)n− (bn)n := (an− bn)n eine Nullfolge ist.Man schreibt hierfur auch (an)n ≡ (bn)n (mod N ). Die reellen Zahlen enstehen dann, indemman aquivalente Cauchyfolgen als gleich betrachtet.

Wir wollen dieses Prinzip spater noch mehrfach verwenden. Deshalb soll es in diesem Abschnittganz allgemein betrachtet werden.

4.7.1 Eine Relation ∼ auf einer Menge M kommt gewissen Paaren (a, b) von Elementen ausM zu. Beispiele sind ≤, >, |, ≡ (mod m) auf Z. Formal kannst Du eine Relation alsTeilmenge von M ×M auffassen: (a, b) ∈M ×M | a ∼ b.

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4.7. AQUIVALENZRELATIONEN UND AQUIVALENZKLASSEN 133

Definition 4.7.2 Sei M eine Menge. Eine Aquivalenzrelation auf M ist eine Relation ∼mit folgenden Eigenschaften:

a ∼ a fur alle a (Reflexivitat)a ∼ b⇒ b ∼ a (Symmetrie)a ∼ b, b ∼ c⇒ a ∼ c (Transitivitat).

Beispiele 4.7.3 Beispiele sind die Gleichheit, sowie die Kongruenz modulo einem festgewahl-ten m. Ist f : M → N eine Abbildung, so ist die Relation a ∼ b auf M , definiert durchf(a) = f(b) ebenfalls eine Aquivalenzrelation. Die Relation ‘<’ zum Beispiel ist keine Aquiva-lenzrelation.

Definition 4.7.4 Sei ∼ eine Aquivalenzrelation auf einer Menge M . Eine Aquivalenzklassebezuglich ∼ ist eine nichtleere Teilmenge C von M , mit folgenden Eigenschaften:

(i) Fur beliebige a, b ∈ C gilt a ∼ b.(ii) Gilt c ∼ a fur ein c ∈M und ein a ∈ C, so ist auch c ∈ C.

Beispiel 4.7.5 Die Aquivalenzklassen bezuglich der Aquivalenzrelation ≡ (mod m) sind dieRestklassen r + Zm.

Seien namlich a, b ∈ r + Zm, etwa a = r + a′m, b = r + b′m, so ist a− b = (a′ − b′)m durch mteilbar. D.h. a ≡ b (mod m).

Sei ferner c = r + c′m ∈ r + Zm und a ∈ Z, sowie a ≡ c (mod m). So ist a− c = a− r − c′mein Vielfaches von m, etwa gleich dm, so ist a = r + c′m+ dm = r + (c′ + d)m ∈ r + Zm.

Fur das Beispiel a ∼ b ⇐⇒ f(a) = f(b) aus (4.7.3) sind die Aquivalenzklassen die Urbild-mengen f−1(y) aller y ∈ im(f).

Bemerkungen 4.7.6 Sei im Folgenden ∼ eine Aquivalenzrelation auf einer Menge M .

a) Seien C,D Aquivalenzklassen mit C ∩D 6= ∅. Dann ist C = D.

Denn sei b ∈ C ∩D. Fur a ∈ C gilt a ∼ b gemaß Eigenschaft (i) der Definition 4.7.4. Gemaß(ii) folgt daraus a ∈ D. Somit gilt C ⊂ D. Und D ⊂ C folgt aus Symmetriegrunden.

b) Jedes Element a ∈ M liegt genau in einer Aquivalenzklasse bezuglich ∼. Mit anderenWorten: M ist die Vereinigung aller Aquivalenzklassen bezuglich ∼. Und zwei verschiedeneAquivalenzklassen bezuglich ∼ sind disjunkt, d.h. ihr Durchschnitt ist leer.

Die letzte Aussage haben wir unter a) gezeigt.

Sei jetzt a ∈M . Ich behaupte: Die Menge Ca := x ∈M | x ∼ a ist eine Aquivalenzklasse.

Wegen der Reflexivitat gilt a ∈ Ca.

Sind x, y ∈ Ca, d.h. x ∼ a, y ∼ a, so sieht man mit Hilfe der Symmetrie und Transitivitat,dass x ∼ y gilt.

x ∼ a, y ∼ a⇒ x ∼ a, a ∼ y ⇒ x ∼ y

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134 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Gilt nun x ∼ b fur x ∈ M, b ∈ Ca, so folgt wegen b ∼ a aus der Tansitivitat, dass x ∼ a, alsox ∈ Ca gilt.

c) Aus Obigem ergibt sich: Ca = Cb ⇐⇒ a ∼ b

Definition 4.7.7 Die Menge der Aquivalenzklassen in M bezuglich der Aquivalenzrelation ∼wird auch mit M/∼ bezeichnet.

Bemerkung 4.7.8 Wir haben die naheliegende kanonische Abbildung κ : M → M/ ∼,die jedem a ∈ M die Aquivalenzklasse Ca, d.h. diejenige Aquivalenzklasse, deren Element aist, zuordnet. Die Abbildung κ ist surjektiv. (Beachte, dass Aquivalenzklassen per definitionemnicht leer sind.)

4.7.9 Du kannst die Menge M/∼ auch auf andere Weise verstehen: M/∼ ist die Menge M ,allerdings mit einer anderen Gleichheit, namlich der Relation ∼.

Zum praktischen Umgang mit M/∼ ist haufig folgende Definition nutzlich.

Definition 4.7.10 Ein Reprasentantensystem bezuglich ∼ ist eine Menge, die aus jederAquivalenzklasse bzgl. ∼ genau ein Element besitzt.

Beispiele 4.7.11 a) Sei m > 0 eine naturliche Zahl. Dann ist die (endliche) Menge0, 1, . . . ,m − 1 ein Reprasentantensystem bezuglich der Kongruenz modulo m. Die giltnaturlich auch fur jede Menge von m aufeinander folgenden ganzen Zahlen, etwa der Men-ge

−(m− 1)/2, . . . ,−1, 0, 1, . . . , (m− 1)/2

wenn m ungerade ist. Auch die Menge 2, 3, . . . ,m+ 1 ist ein Reprasentantensystem, welchesaber wohl von geringem Nutzen ist.

b) Ist M die Menge aller Paare (m,n) ganzer Zahlen mit n 6= 0 und die Relation ∼ definiertdurch

(m,n) ∼ (m′, n′) :⇐⇒ mn′ = m′n

so bilden die teilerfremden Paare (m,n) mit n > 0 ein Reprasentantensystem.

c) Auf der Menge der Geraden in der sogenannten euklidischen Ebene ist die Relation ‘gparallel zu h’ eine Aquivalenzrelation. Ein Reprasentantensystem der zugehorigen Aquivalenz-klassen besteht aus den Geraden, die durch einen festgewahlten Punkt gehen.

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4.8. BEINAHE EINE PARADOXIE 135

4.8 Beinahe eine Paradoxie

4.8.1 Ein Text ist eine Zahl. Denn man kann ja jeden Buchstaben, jede Ziffer, jedes Satzzei-chen, die Leerstelle zwischen Wortern eingeschlossen, durch eine zweistellige Dezimalzahl co-dieren. Der ganze Text wird dann durch die Zahl beschrieben, deren Dezimaldarstellung durchdie Aneinanderreihung der den Buchstaben und anderen Zeichen entsprechenden zweistelligenCodes entsteht.

Das gilt naturlich auch fur mathematische Texte. Jeder der (wie ich) das Schreibsystem TEXkennt, weiß, wie man Formeln durch eine (sozusagen eindimensionale) Abfolge von Zeichen dar-stellen kann, auch wenn sie – wie etwa Bruche, Potenzen, Binomialkoeffizienten oder Matrizen– traditionell ‘zweidimensional’ geschrieben werden.

Naturlich kann man statt des Dezimalsystems das Binarsystem verwenden, wo man naturlichfur zur Codierung der Buchstaben mehr als 2 Stellen benotigt.

(Ich habe einst den Ausdruck Godelisierung fur dieses Verfahren gelesen.)

Umgekehrt entspricht allerdings nicht jeder naturlichen Zahl, die im Dezimalsystem gerade vieleStellen hat, ein sinnvoller Text.

Aber zwei verschiedenen Texten entsprechen verschiedene Zahlen.

4.8.2 Wir betrachten Abbildungen N→ X, sogenannte zahlentheoretische Funktionen, woX eine beliebige Menge ist. In den meisten Fallen ist X ein Korper etwa X = R. Wir betrachtenhier speziell den Fall X = N. Naturlich kann man jede solche zahlentheoretische Funktion auchals Folge (f(0), f(1), f(2), . . .) = (f(n))n∈N auffassen – und umgekehrt. Du weißt bereits, dasses uberabzahlbar viele solche Folgen gibt, wenn X aus mindestens 2 Elementen besteht, wasfur X = N sicher der Fall ist.

Ein Beispiel einer solchen Funktion ist: f(n) sei per Definitionem der kleinste Primfaktor vonn2 + 2.

Die Werte dieser Funktion kann man im Prinzip berechnen, da man etwa durch Probieren furjedes n den kleinsten Primfaktor von n2 + 2 aufzuspuren vermag – mag dies auch unheimlichlange dauern. Es gibt eine ‘Methode’, ein ‘Rezept’, den Wert f(n) fur jedes n zu bestimmen.

Dasselbe gilt fur die Funktion f mit f(0) = 1 und f(n) = pn, wo pn fur n ≥ 1 die n-te Primzahlbezeichnet.

In beiden genannten Fallen kann man die Funktion zwar nicht durch eine Formel beschreiben,aber eben doch konkret angeben, wie man zu jedem gegebenen n den Wert f(n) bestimmt.

Es wird uns in diesem Abschied gelingen, eine Funktion zu finden, deren Werte man so nichtbestimmen kann.

Definition 4.8.3 Eine Funktion f : N → N heißt berechenbar, wenn es eine Methode gibt,die es erlaubt, zu jedem n ∈ N den Wert f(n) zu bestimmen.

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136 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

Diese Definition erscheint Dir womoglich etwas vage. In der Tat gibt man sich in der Logik großeMuhe, sie zu prazisieren. Ich glaube allerdings, dass Du prinzipiell verstehen wirst, worum esgeht.

Satz 4.8.4 Die Menge der berechenbaren Funktionen N→ N ist abzahlbar. Es gibt also Funk-tionen N→ N, die nicht berechenbar sind, sogar uberabzahlbar viele.

Beweis: Zu jeder berechenbaren Funktion gibt es ein Rezept zur Bestimmung der Funk-tionswerte. Dieses Rezept ist ein endlicher Text. Zu verschiedenen berechenbaren Funktionengehoren naturlich verschiedene Rezepte. Nicht wahr? (Es mogen zwar zwei Kuchen, die nachdemselben Rezept gebacken sind, verschieden schmecken. Aber zwei Zahlen, die man nachdemselben Rezept bestimmt hat, sind sicher gleich.)

Nach dem Beginn dieses Abschnittes entspricht jedem Text eine naturliche Zahl. Die Mengealler moglichen Texte, erst recht die Menge aller Rezepte zur Bestimmung der Funktionswertevon Funktionen N→ N ist also gleichmachtig zu einer Teilmenge von N und deshalb abzahlbar.

4.8.5 Seien f0, f1, f2, . . . die berechenbaren Funktionen. (Auch die fn sind Texte, die ich alsnaturliche Zahlen auffassen kann.) Betrachte die Funktion ϕ : N→ N, definiert durch ϕ(n) :=fn(n) + 1. Dann gilt ϕ(n) 6= fn(n) fur jedes n ∈ N. Dann muss aber ϕ 6= fn sein, weil beideFunktionen verschiedene Werte bei n haben.

Die Funktion ϕ gehort also nicht zu den berechenbaren Funktionen f0, f1, f2, . . .. Das scheintparadox. Denn wenn man fn(n) berechnen kann, dann doch wohl auch fn(n) + 1.

Gibt es einen Widerspruch in der Mathematik???

Die Auflosung dieses scheinbaren Widerspruchs ist die Folgende:

Die Funktion ϕ, die jeder naturlichen Zahl n die Funktion fn zuordnet, kann nichtberechenbar sein! Denn ϕ ist die Verkettung dieser Zuordnung mit der Abbildung,die jedem fn die Zahl fn(n) + 1 zuordnet. Und letztere Abbildung ist sicher bere-chenbar, da man fn(n) und damit auch fn(n) + 1 berechnen kann.

Satz 4.8.6 Die folgende Funktion ψ : N → N ist nicht berechenbar: Wenn die Zahl m einemText entspricht, der ein Rezept zur Berechnung einer berechenbaren Funktion N→ N darstellt,so sei ψ(m) = 1; in allen anderen Fallen sei ψ(m) = 0.

Beweis: Wenn ψ berechenbar ware, konnte man die Zuordnung n 7→ fn folgendermaßenherstellen.

Zunachst wird f0 bestimmt. Teste die Zahlen 0, 1, 2, . . . nacheinander mit der – nach Annahmeberechenbaren – Funktion ψ. Finde damit das kleinste m0 mit ψ(m0) = 1. Dieses m0 beschreibteine berechenbare Funktion; diese sei f0

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4.8. BEINAHE EINE PARADOXIE 137

Seien f0, f1, . . . , fn−1 bereits bestimmt und mn−1 die zu fn−1 gehorige Zahl. Berechne dannψ(mn−1 +1), ψ(mn−1 +2, . . . bis Du auf die kleinste naturliche Zahl mn > mn−1 mit ψ(mn) = 1triffst. Dieses mn beschreibt also eine berechenbare Funktion fn.

Zusammen ergibt sich eine berechenbare Methode, jedem n ∈ N eine berchenbare Funktion fn

zuzuordnen. Man erreicht auf diese Weise auch alle berechenbaren Funktionen. Denn zu jedergehort ja eine naturliche Zahl m.

Da dies aber, wie oben gezeigt, nicht moglich ist, kann ψ nicht berechenbar sein.

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138 KAPITEL 4. VOM PRIMITIVEN URGRUND MODERNER MATHEMATIK

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Kapitel 5

Was bedeutet π√

2?

Sehr interessant und fur Anwendungen wichtig ist die Potenzrechnung besonders dann,wenn man nicht nur ganzzahlige Exponenten betrachtet.

In diesem kurzen Kapitel definieren wir Potenzen ax, wenn a eine positive und x eine beliebigereelle Zahl ist. Zunachst betrachten wir den Fall, wo x rational ist. (Dabei wird sich nebenbeiergeben, dass ab irrational sein kann, auch wenn a und b beide rational sind.)

Danach definieren wir ex fur beliebige reelle x, wobei e die aus dem 1. Abschnitt des 3. Kapitelsbekannte Eulersche Zahl ist. Die Funktion ex wird wie die Zahl e durch eine Reihe definiert.

Um zu sehen, dass fur rationale x die beiden Definitionen von ex zum selben Ergebnis fuhren,benotigen wir das Cauchyprodukt von Reihen, welches wir im letzten Kapitel betrachtet ha-ben. Wir definieren dann (fur positive a) allgemein ax := ex ln a, wobei ln den naturlichenLogarithmus bezeichnet, der durch eln a = a definiert ist.

5.1 Potenzen mit rationalen Exponenten

Beispiel: Man weiß etwa: Bei einer speziellen Bakterienkultur verdoppelt sich die Anzahl derBakterien alle 24 Stunden. Frage: Wieviele Bakterien hat man nach 8 Stunden?

Antwort: Nach 8 Stunden moge die Anzahl das x-fache der Ausgangszahl sein. Dann habeich nach 16 Stunden das x-fache des x-fachen der Ausgangszahl, also das x · x-fache der Aus-gangszahl und schließlich nach 24 Stunden das x · x · x-fache der Ausgangszahl. Es gilt alsox3 = 2. Somit habe ich nach 8 Stunden das 3

√2-fache der Ausgangszahl. Andererseits, da nach

n Tagen, die Anzahl der Bakterien das 2n- fache der Ausgangszahl betragt, liegt es nahe, dieZahl der Bakterien nach einem drittel Tag als das 21/3-fache der Ausgangszahl zu betrachten,also

213 =

3√

2 zu definieren.

(Naturlich ist die Anzahl n der zu Anfang vorhandenen Bakterien so groß, dass Du den Unter-schied von 3

√2 · n zur nachsten ganzen Zahl als unerheblich betrachten darfst.)

139

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140 KAPITEL 5. WAS BEDEUTET π√

2?

5.1.1 Ist a ein Element eines Ringes, so kennst Du bereits Potenzen der Form an, wo n ∈ Nist. Falls a ein von 0 verschiedenes Korperelement ist, so ist an sogar fur beliebige ganze Zahlenn sinnvoll und eindeutig definiert.

Du kennst auch folgende Regeln:

(∗) am+n = am · an, (∗∗) amn = (am)n

Auf Grund der Kommutativitat ab = ba hat man als dritte Regel

(∗ ∗ ∗) (ab)n = anbn

5.1.2 Wie will man am/n definieren, wenn m,n ∈ Z, n > 0 ist? Wenn die Regel (∗∗) fur n ∈ Zweiter gelten soll, muss x := am/n die Gleichung xn = am erfullen. Nun kann im Allgemeinendie Gleichung xn = b mehrere Losungen oder auch gar keine Losung haben.

Im Korper R der reellen Zahlen gibt es fur gerade n und negative b keine Losung. Hingegengibt es 2 reelle Losungen, wenn n gerade und b > 0 ist. Wenn n ungerade ist, gibt es immergenau eine Losung. (Im Korper Q der rationalen Zahlen gibt es auch fur ein positives b eherselten Losungen! Spater wirst Du sehen, dass die Gleichung xn = b im Bereich der komplexenZahlen immer Losungen hat, und zwar fur b 6= 0, sogar n Losungen. )

In der Menge R+ der reellen Zahlen ≥ 0 gibt es glucklicherweise zu jedem ganzen n > 0 undjedem b genau ein c mit cn = b. Dieses c wird mit n

√b bezeichnet. (Wie gewohnt definiert man√

b = 2√b.) Fur a ∈ R∗

+, der Menge der reellen Zahle > 0, ist also am/n ∈ R∗ eindeutig definiert,namlich am/n := n

√am. D.h. wenn man a > 0 voraussetzt und am/n > 0 fordert, hat man keine

Probleme. Es darf sogar m < 0 sein!

Du solltest Dir uberlegen, dass fur a, b ∈ R∗+ die Regeln (∗), (∗∗), (∗ ∗ ∗) auch fur gebrochene

Exponenten aus Q gelten.

Nochmal: Sei a > 0. Dann ist fur alle rationalen x die x-te Potenz von a, also ax durch dieVorgabe ax > 0 eindeutig definiert.

Was soll man nun unter ax verstehen, wenn x reell, aber nicht mehr rational ist? Ein Praktikerwird sagen: Sei x genugend genau durch die rationale Zahl (etwa den abbrechenden Dezimal-bruch) r approximiert. Dann approximiert auch ar genugend genau die Potenz ax. (Das stimmtzwar, sollte aber eigentlich bewiesen worden sein.)

Als Theoretiker mochte ich gerne ax fur beliebige reelle, nicht nur fur rationale Zahlen x prazisedefinieren. Dazu wahle ich einen Umweg.

Warum macht man in der Mathematik – hier und in vielen anderen Fallen – gerne einenUmweg? Die Antwort ist dieselbe wie im taglichen Leben. Es ist ja gar nicht so selten, dassman auf einem Umweg schneller zum Ziel kommt als auf dem kurzesten Weg. Der direkte Wegkann durch enge verkehrsreiche Straßen fuhren, ein Umweg uber die Autobahn. Oder, auf demgeraden Weg mag ein Sumpf liegen, den man durch einen Umweg vermeiden kann. Usw.

Der direkte Weg, ax fur beliebige reelle x zu definieren, ware der Folgende: Jede reelle Zahllasst sich ja beliebig durch rationale Zahlen approximieren. D.h. zu jedem x ∈ R gibt es eine

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5.2. DIE EXPONENTIALFUNKTION 141

Folge (yn) mit yn ∈ Q, so dass x = limn→∞ yn ist. Dann kann man definieren: ax := limn→∞ ayn .Damit das funktioniert, bleibt allerdings folgendes zu zeigen:

1. Die Folge (ayn) ist konvergent.2. Wenn man (yn) durch eine andere gegen x konvergente Folge ersetzt, kommt man zumgleichen Ergebnis.

5.1.3 Jetzt stelle ich Dir die indirekte Methode zur Einfuhrung allgemeiner Potenzen vor. Imnachsten Abschnitt wird sie dann genauer ausgefuhrt.

Zunachst definiert man auf R eine Funktion ‘exp’ durch exp(x) :=∞∑

n=0

xn

n!. Mit Hilfe des

Cauchy-Produktes und des Binomialsatzes zeigt man das Additionstheorem exp(x + y) =exp(x) exp(y). Nun setzt man e := exp(1), und zeigt mit Hilfe des Additionstheorems, dassexp(x) = ex fur alle rationalen x gilt. (Noch mal: exp(x) ist durch eine Reihe, ex als Wurzelaus einer Potenz mit ganzem Exponenten definiert.)

Dann definiert man ex := (x) fur alle reellen (spater sogar fur alle komplexen) x. Da exp auf Rstetig ist, und zwei stetige Funktionen auf R, die auf Q ubereinstimmen, schon gleich sind, istdiese Definition zwingend, wenn man die Stetigkeit der Funktion f(x) = ex haben mochte.

Um ax fur allgemeine a > 0 zu definieren, machen wir dann noch folgende Betrachtungen.

Es gilt ex > 0 fur alle reellen x. Die Funktion f(x) = ex ist stetig und streng monoton wachsend.Letzteres heißt

”x > y =⇒ ex > ey“. Die Funktion ex wachst uber alle Grenzen. Andererseits

ist 0 ihre untere Grenze, d.h. zu jedem (noch so kleinen) r > 0 gibt es ein x mit ex < r. Ausall dem folgt mit Hilfe des Zwischenwertsatzes:

Zu jedem reellen x > 0 gibt es genau ein y mit ey = x. Dieses y nennt man den (naturlichen)Logarithmus von x.

Er wird in diesem Buch mit lnx bezeichnet. Die Abbildung ln : R∗+ → R ist die Umkehrabbil-

dung von exp : R→ R∗+, d.h. es ist exp(ln(y)) = y, ln(exp(x)) = x fur alle x ∈ R, y ∈ R∗

+.Ferner gilt ln(xy) = ln(x) + ln(y), was aus exp(x+ y) = exp(x) exp(y) folgt.

Nachdem all dieses bedacht und getan ist, definiert man ax fur positive a und beliebige reellex durch

ax := ex ln a .

Dann hangt auch ax stetig von x ab und stimmt fur rationale x mit der ublichen Definitionuberein. Weiterhin gilt, wie man leicht rechnet:

ax+y = axay, (ax)y = axy, (ab)x = axbx .

5.2 Die Exponentialfunktion

Definition 5.2.1 Die unendliche Reihe∞∑

k=0

xn

n!= 1 +

x

1+

x2

1 · 2+

x3

1 · 2 · 3+ · · · .

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142 KAPITEL 5. WAS BEDEUTET π√

2?

heißt die Exponentialreihe.

Satz 5.2.2 Die Eponentialreihe konvergiert fur alle reellen x.

Beweis: Da es genugt, die absolute Konvergenz zu zeigen, konnen wir x ≥ 0 voraussetzen.Sei N ganz mit N > Max2, x+ 1. Es genugt, die Konvergenz der Reihe

R =∞∑

n=N

xn

n!= xN

∞∑n=N

xn−N

n!

(wo die ersten N Glieder weggelassen sind) zu zeigen. Dazu reicht es, die Konvergenz von

∞∑n=N

xn−N

n!

zu beweisen. Ein allgemeines Glied der letzgenannten Reihe lasst sich fur n ≥ N + 2 wie folgtals Produkt dreier Faktoren schreiben:

1

n(n− 1)· xn−N

(n− 2) · · ·N(N − 1)· 1

(N − 2)!

Der mittlere Faktor ist nicht großer als 1, da die (n−2)−(N−2) = n−N Faktoren seines Nennersnach Wahl von N samtlich ≥ x sind. Ebenso ist der dritte Faktor ≤ 1. Die Partialsummen derbekanntermaßen konvergenten Reihe

∞∑n=N

1

n(n− 1)

sind also großer oder gleich denen der Reihe R/xN . Also ist R konvergent und damit auch dieExponentialreihe.

Definition 5.2.3 Fur jedes x ∈ R definieren wir die Funktion

exp(x) :=∞∑

k=0

xn

n!

d.h. als Wert der Exponentialreihe. Die so definierte Funktion exp : R → R heißt die Expo-nentialfunktion.

Die grundlegende Aussage uber die Eponentialfunktion ist das Additionstheorem:

Theorem 5.2.4 exp(x+ y) = exp(x) · exp(y)

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5.2. DIE EXPONENTIALFUNKTION 143

Der folgende Beweis ist etwas tuftelig, da wir zeigen mussen, dass in unserem Spezialfall dasCauchyprodukt der Exponentialreihen gegen das Produkt ihrer Werte konvergiert. Und das istja leider nicht selbstverstandlich. Beweis: Wir betrachten die beiden Reihen

∞∑i=0

xi

i!und

∞∑j=0

yj

j!

Wenn man jedes Glied der ersten mit jedem Glied der zweiten Reihe multipliziert, kann man dieProdukte in einem unendlichen quadratischen Schema anordnen, wie es in (4.5.2) beschriebenist.

a0b0 a0b1 a0b2 a0b3 a0b4 a0b5 · · ·a1b0 a1b1 a1b2 a1b3 a1b4 a1b5 · · ·a2b0 a2b1 a2b2 a2b3 a2b4 a2b5 · · ·a3b0 a3b1 a3b2 a3b3 a3b4 a3b5 · · ·a4b0 a4b1 a4b2 a4b3 a4b4 a4b5 · · ·a5b0 a5b1 a5b2 a5b3 a5b4 a5b5 · · ·

......

......

......

. . .

wobei ai = xi/i!, bj = yj/j! gesetzt ist.

Die Funktion en(x) sei als die n-te Partialsumme der Exponentialreihe definiert:

en(x) :=n∑

k=0

xk

k!

Dann gilt (∗) exp(x) = limn→∞ en(x), also auch exp(x) · exp(y) = limn→∞ en(x)en(y)

Da(

nj

)= n!/((n − j)!j!) ist, konnen wir die Summe dn(x, y) uber die n-te Cauchy-Diagonale

wie folgt berechnen:

dn(x, y) :=n∑

j=0

xn−jyj

(n− j)!j!=

1

n!

n∑j=0

(n

j

)xn−jyj =

(x+ y)n

n!

Das bedeutet: Wenn wir die (unendliche) Summe uber die Cauchy-Diagonalen dn(x, y) berech-nen, erhalten wir

∞∑n=0

dn(x, y) =∞∑

n=0

(x+ y)n

n!= exp(x+ y) .

Wenn wir also gezeigt haben, dass

limn→∞

en(x)en(y) =∞∑

n=0

dn(x, y)

gilt, dann haben wir das Theorem bewiesen!

Dafur wollen wir zunachst x, y ≥ 0 annehmen. Dann sind alle Eintrage in unserem Schema ≥ 0und Du erkennst

en(x)en(y) ≤2n∑

k=0

dk(x, y) ≤ e2n(x)e2n(y) ≤ exp(x) exp(y) .

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144 KAPITEL 5. WAS BEDEUTET π√

2?

(Wenn Du magst, kannst Du Dir dies mit folgendem Bild veranschaulichen, wo die verschiedenenKreissymbole •, ⊗ und fur die Eintrage aibj = (xi/i!)(yj/j!) mit i, j ≤ 2n stehen. Dabeibetrachte ich den Fall n = 3 in der Hoffnung, der allgemeine Fall moge Dir dann klar sein.

0 n 2n• • • • ⊗ ⊗ ⊗

• • • • ⊗ ⊗ • • • • ⊗ • • • • ⊗ ⊗ ⊗ ⊗ ⊗ ⊗

Wenn wir die Eintrage, die mit • bezeichnet sind, addieren, erhalten wir en(x)en(y). Addierenwir die Eintrage, die mit ⊗ bezeichnet sind, hinzu, so erhalten wir

∑2nk=0 dk(x, y). Die Summe

aller Eintrage summiert ergibt e2n(x)e2n(y).)

Da sowohl die Folge (en(x)en(y))n als auch die Folge (e2n(x)e2n(y))n gegen exp(x) exp(y)konvergiert, muss die Folge der Teilsummen (

∑nk=0 dk(x, y))n∈N gegen denselben Grenzwert

exp(x) exp(y) konvergieren, und wir haben das Theorem fur nichtnegative x, y gezeigt.

Jetzt behandeln wir den allgemeinen Fall. Zunachst bemerke ich noch, dass fur x, y ≥ 0 sichaus obigem folgendes ergibt

limn→∞

(e2n(x) · e2n(y)−

2n∑k=0

dk(x, y)

)= 0

Fur beliebige x, y ∈ R ist die Differenz e2n(x) · e2n(y) −∑2n

k=0 dk(x, y) gleich der Summe derTerme

xiyj

i!j!mit i+ j > 2n, i ≤ 2n, j ≤ 2n

(d.h. der in obigem Bild mit bezeichneten Terme) und deshalb nach der Dreiecksungleichungder Betrag dieser Summe kleiner oder gleich der Summe

|x|i|y|j

i!j!mit denselben Bedingungen an i, j

Das lasst sich auch folgendermaßen ausdrucken∣∣∣∣∣en(x)en(y)−2n∑

k=0

dk(x, y)

∣∣∣∣∣ ≤ en(|x|)en(|y|)−2n∑

k=0

dk(|x|, |y|)

Da die rechte Seite mit wachsendem n gegen 0 geht, gilt dies erst recht fur die linke Seite. Unddamit ist der Satz bewiesen.

Die Stetigkeit der Exponentialfunktion beweisen wir mit Hilfe des Additionstheorems.

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5.2. DIE EXPONENTIALFUNKTION 145

Lemma 5.2.5 a) Fur |x| < 1 gilt | exp(x)− 1− x| ≤ x2.

b) Die Exponentialfunktion ist in x0 = 0 stetig.

Beweis:

a) | exp(x)− 1− x| =∣∣∣∣x2

2!+x3

3!+x4

4!+ · · ·

∣∣∣∣ ≤ |x|22!+|x|3

3!+|x|4

4!+ · · ·

= x2

(1

2!+|x|3!

+|x|2

4!+ · · ·

)≤ x2

(1

2!+

1

3!+

1

4!+ · · ·

)≤ x2(e− 2) ≤ x2 .

Die letzte Ungleichung folgt aus e < 3.

b) Wir mussen zeigen, dass limx→0 exp(x) = 1 ist. Nach a) und der Dreiecksungleichung ist| exp(x) − 1| = | exp(x) − 1 − x + x| ≤ | exp(x) − 1 − x| + |x| ≤ |x| + x2. Deshalb gilt 0 ≤limx→0 | exp(x)− 1| ≤ limx→0(|x|+ x2) = 0.

Teil a) werden wir noch anwenden, wenn wir die Ableitung der Exponentialfunktion berechnenwollen.

Erinnere Dich, dass der Wert exp(1) der Exponentialfunktion bei 1 mit e bezeichnet wird.Trivialerweise ist exp(0) = 1.

Folgerung 5.2.6 Die Exponentialfunktion ist uberall stetig.

Beweis: Fur jedes x ∈ R haben wir limx′→x exp(x′) = exp(x) zu zeigen. Dabei genugt esnaturlich, dies fur |x′− x| < 1 zu tun (d.h. nur Folgen (x′n) mit |x′n− x| < 1 zu betrachten). Esgilt hierfur nach Teil b) obigen Lemmas

limx′→x| exp(x′)− exp(x)| = | exp(x)| · lim

x′→x| exp(x′ − x)− 1| = 0 .

Folgerung 5.2.7 a) Fur naturliche Zahlen a gilt exp(a) = ea.b) Selbiges stimmt auch noch, wenn a ∈ Z, also moglicherweise negativ ist.c) Selbiges gilt auch fur beliebige a ∈ Q.d) exp(a) > 0 fur alle x ∈ R. Genauer gilt exp(a) > 1 fur a > 0 und 0 < exp(a) < 1 fur a < 0e) exp ist streng monoton wachsend. D.h. a < b⇒ exp(a) < exp(b).

Beweis: a) exp(1+1+· · ·+1) = e·e · · · e. Wenn Du es fur notig haltst, verwende vollstandigeInduktion.

b) exp(−a) exp(a) = exp(0) = 1. Fur jede naturliche Zahl n ist also exp(−n) = 1/en.

c) exp(m/n)n = exp(n · (m/n)) = exp(m). D.h. exp(m/n) = n√em.

d) Sei a > 0. Es ist exp(a) = 1 +∑∞

n=1 an/n! und fur n ≥ 1 ist an/n! ≥ 0. In diesem Fall ist

exp(a) > 1.Sei a < 0. Dann ist exp(a) = exp(−a)−1. Es folgt die Behauptung.

e) exp(b) = exp(a+ (b− a)) = exp(b− a) exp(a). Da b− a > 0 ist, gilt exp(b− a) > 1. Darausfolgt die Behauptung.

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146 KAPITEL 5. WAS BEDEUTET π√

2?

Lemma 5.2.8 Seien I ein Intervall und f, g : I → R stetige Funktionen. Wenn die Ein-schrankungen von f und g auf I ∩Q ubereinstimmen, so stimmen f und g auf ganz I uberein.

Die reellen Zahlen sind ja so definiert, dass jede solche ein Limes einer Folge rationaler Zahlenist. (Gehort die reelle Zahl x zu einem Intervall I, kann auch eine Folge rationaler Zahlen,die gegen x konvergiert in diesem Intervall gewahlt werden.) Wegen der Stetigkeit folgt dieBehauptung.

Aus Punkt c) obiger Folgerung und dem Lemma ergibt sich, dass die folgende Definition sinnvollist.

Definition 5.2.9 Sei x ∈ R beliebig. Dann definieren wir ex := exp(x).

Naturlich wollen wir ax fur moglichst allgemeine a definieren. Und das wird auch bald geschehen.Allerdings ist die Bedingung a > 0 unumganglich, wenn wir im Bereich der reellen Zahlenbleiben wollen.

5.2.10 Da die Abbildung exp : R → R streng monoton steigend ist, ist sie injektiv. Was istdas Bild dieser Abbildung? Wir wissen schon, dass exp(x) fur jedes reelle x positiv ist. Fernerwird exp(x) mit wachsendem x beliebig groß. Denn nach der Bernoulli’schen Ungleichung istexp(n) = en ≥ 1+n(e−1) fur naturliche n. Entsprechend geht exp(x) (von oben) gegen 0, wennx gegen −∞ geht. Es ist ja e−x = 1/ex. Sei jetzt y eine beliebige positive reelle Zahl. Dann gibtes ein reelles x0 mit ex0 ≤ y und ein reelles x1 mit ex1 ≥ y. Auf Grund des Zwischenwertsatzesgibt es also ein x ∈ [x0, x1] mit ex = y. Also ist das Bild von exp die Menge aller positiven reellenZahlen, d.h. R∗

+. Somit ist exp als Abbildung R→ R∗+ bijektiv. Und wir konnen definieren:

Definitionen 5.2.11 a) Der naturliche Logarithmus ist die Umkehrabbildung der Expo-nentialfunktion, d.h. diejenige Abbildung ln : R∗

+ → R mit ln exp = idR und exp ln = idR∗+.Man kann auch sagen, der naturliche Logarithmus von x(>=) ist dasjenige (eindeutig bestimm-te) y, fur welches ey = x ist.

b) Seien a, x ∈ R und a > 0, so sei ax := ex ln a definiert.

Nach Definition a) ist ja eln a = a, also ex ln a = ax zunachst fur x ∈ N, dann fur x ∈ Z undschließlich fur x ∈ Q. Dies rechtfertigt die Definition b).

Theorem 5.2.12 Seien a, b > 0 und x, y ∈ R. Dann gilt:

a) ax+y = ax · ay, b) axy = (ax)y, c) (ab)x = ax · bx

Beweise diese Regeln selbst. Nicht einmal im Traum darfst Du in diesen Regeln Plusmit Mal verwechseln! Beachte auch, dass abc

, welches nach Definition gleich a(bc) ist, meistvon (ab)c = abc verschieden ist.

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5.2. DIE EXPONENTIALFUNKTION 147

Bemerkung 5.2.13 Der naturliche Logarithmus wird haufig auch mit ‘log’ bezeichnet, ganzbesonders in Buchern zur Zahlentheorie.

Definition 5.2.14 Seien a, x > 0. Der Logarithmus zur Basis a von x ist diejenige reelle Zahly fur die ay = x ist. Er wird mit loga(x) bezeichnet.

Bemerkungen 5.2.15 a) Beachte, dass damit lnx = loge(x) ist.

b) Fur a > 0 ist

loga(x) =lnx

ln a.

Denn nach Definition gilt

aln xln a = eln(a) ln x

ln a = eln x = x .

c) Fur a, b > 0 folgt aus b) unmittelbar

loga(x)

logb(x)=

ln b

ln a.

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148 KAPITEL 5. WAS BEDEUTET π√

2?

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Kapitel 6

Geometrie

6.1 Vorbemerkungen

Ohne Zweifel haben fur die meisten Menschen die geometrischen Begriffe, wie Punkt, Ge-rade, Dreieck usw. eine anschauliche Bedeutung. Und seit mindestens zweieinhalb tausendJahren geht man damit auch mathematisch um. D.h. man beweist geometrische Aussagen, etwadass die Winkelsumme in jedem Dreieck 180 sei, indem man diese Aussage auf eine anschau-lich naheliegende (vielleicht sogar selbstverstandliche?) Aussage uber die Große der Winkelzuruckfuhrt, in denen eine Gerade zwei parallele Geraden schneidet.

g

g’

α

α’

Hier ist g parallel zu g′ genau dann, wenn α = α′ gilt.

Dabei heißen zwei Geraden in einer Ebene genau dann zueinander parallel, wenn sie entwederubereinstimmen oder keinen Punkt gemeinsam haben. Zwei Geraden im Raum heißen zuein-ander parallel, wenn sie in einer gemeinsamen Ebene liegen und in dieser parallel sind. DieAussage, die unter der obigen Zeichnung steht, ist mehr oder weniger das beruhmte (oderberuchtigte) Parallelenaxiom Euklids, welches von allen seinen Axiomen und Postulatenam wenigsten selbstverstandlich erscheint.

Aus diesem Axiom folgt, dass die Winkelsumme im Dreieck 180 betragt:

149

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150 KAPITEL 6. GEOMETRIE

β

β’

α

α’ γ

Wahle g′ parallel zu g. Dann ist α = α′ und β = β′. Daraus ergibt sich α+ γ + β = 180

6.1.1 In der euklidischen Geometrie gibt es neben dem Begriff der Kongruenz von Dreiecken(und anderen Figuren) auch den Begriff der Ahnlichkeit. Z.B. sind in der folgenden Zeichnungdie Dreiecke A′B′C ′ und AB′′C ′′ zueinander kongruent, sowie beide ahnlich zu dem DreieckABC. (Die Langen der Seiten A′B′ und AB′′ sind zueinander gleich. Die Seiten B′′C ′′ und BCsind zueinander parallel. Ferner sind die Langenverhaltnisse der Seiten AB zu A′B′, BC zuB′C ′ und CA zu C ′A′ einander gleich.

A’ B’

C’

α β

γ

A B’’ B

C’’

C

α β β

γ

γ

Die Ahnlichkeit zweier Dreiecke kann man auf zweierlei aquivalente Weisen definieren: Einer-seits durch die Gleichheit der Langenverhaltnisse der Seiten, andererseits durch die Gleichheitentsprechender Winkel.

1) a : a′ = b : b′ = c : c′ oder aquivalent dazu a : b = a′ : b′, a : c = a′ : c′

2) α = α′, β = β′ , weswegen naturlich auch γ = γ′ ist.

Fur Vierecke stimmt dies nicht mehr. Meist sind zwei Rechtecke trotz der Gleichheit entspre-chender Winkel einander nicht ahnlich. Entsprechendes gilt fur zwei Rauten, d.h. Viereckenmit 4 gleichlangen Seiten. Hier sind die Verhaltnisse entsprechender Seitenlange gleich, aberdie entsprechenden Winkel meist nicht. Ein Quadrat ist sowohl ein Rechteck wie eine Raute,aber zu den meisten Rechtecken und Rauten nicht ahnlich.

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6.1. VORBEMERKUNGEN 151

Die Ahnlichkeit zweier n-Ecke kann man dadurch definieren, dass man sowohl die Gleichheitder Winkel, als auch die der Verhaltnisse entsprechender Seitenlangen fordert.

6.1.2 Seien zwei Kreise K1, K2 mit den Radien r1 bzw r2 und ein Winkel α gegeben. (Dabei seiα zwischen 0 und 180 gewahlt.) Aus beiden Kreisen schneide einen Sektor heraus der zu dem(gemeinsamen) Winkel α gehort. Dann verhalten sich die Langen l1 und l2 der ausgeschnittenenTeile der Kreislinien zueinander wie r1 zu r2.

αγ1

ℓ1

αγ2

ℓ2

(Versehentlich sind in der Zeichnung die Radien r1, r2 mit γ1, γ2 bezeichnet worden.) Dies kannman sich, wie folgt, anschaulich klar machen. Zerlege den Winkel α in n Teilwinkel: α =α1 + · · ·αn. Daraus ergeben sich den beiden Kreislinienstucken einbeschriebene Streckenzugewie in folgendem Bild:

α1

α2

α3

α4

γ1 γ2

M1 M2T10T20

T21

T22

T23

T24

T11

T12

T13

T14

α1

α2

α3

α4

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152 KAPITEL 6. GEOMETRIE

Dann sind je zwei Dreiecke, deren Ecken der Mittelpunkt des jeweiligen Kreises und analoge be-nachbarte Eckpunkte des approximierenden Streckenzuges sind, einander ahnlich. (Das DreieckM1T1iT1,i+1 ist ahnlich zum Dreieck M2T2iT2,i+1.)

Die Langen der Streckenzuge verhalten sich deshalb wie r1 zu r2.

Die Lange einer Kurve kann man gut als Limes der Langen einbeschriebener Streckenzugedefinieren, wenn man die Langen der einzelnen Strecken gegen 0 gehen lasst. Es ergibt sich dieobige Behauptung.

6.1.3 Bemerkung zur Winkelmessung. Vorlaufig betrachten wir Winkel zwischen Strah-len (d.h. Halbgeraden) mit dem gleichen Anfangspunkt mit Werten im Intervall [0, 180]. DieWahl des Grades , derart der rechte Winkel ein solcher von 90 ist, ist naturlich willkurlich,hat aber den Vorteil, dass ein Innenwinkel eines regelmaßigen n-ecks (genau) dann ganzzahligin Bezug auf den Grad ist, wenn n einer der vielen Teiler von 360 = 23 · 32 · 5 ist.

Mehr und mehr werden wir Winkel auch in ‘Radiant’ angeben, d.h. als Bogenlange des (klei-neren) Teiles der Einheitskreislinie um den gemeinsamen Anfangspunktes der beiden Strahlen,den dieselben ausschneiden. Per definitionem ist der Einheitskreis der Kreis, dessen Radiusgleich einer Langeneinheit ist. Wegen Absatz 6.1.2 ist dieses Winkelmaß unabhangig von derWahl der Langeneinheit.

1

α

Winkel als Lange eines Kreisbogens

6.1.4 Gauss war sich, wie einige seiner Zeitgenossen, daruber im Klaren, dass man auch eineGeometrie entwickeln kann, in der Euklids Parallelenaxiom ungultig ist. Wenn man Licht-strahlen (im Vakuum) als gerade ansieht, ist die Geometrie – wie die Physiker heute wissen– nicht euklidisch. Manche Philosophen erheben gegenuber dieser Sicht der meisten heutigenPhysiker den Einwand, dass man, bevor man uberhaupt messen kann, wissen muss, was die-ses Messen bedeutet. (Wie kann man z.B. definieren, dass zwei Punkte auf einem Planetenin einer entfernten Galaxie einen Abstand von 1 km haben?) Dies scheint sehr schwierig zusein, wenn man nicht von der euklidischen Geometrie ausgeht, die zudem fur alle Menschen dieanschaulichste ist.

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6.2. KOORDINATEN 153

Mathematikerinnen und Mathematiker mochten sich in der Regel aus solcherlei Diskussionenheraushalten. Sie legen durch Axiome fest, von welcher Geometrie sie gerade sprechen. Ich willin diesem Buch nur von der aus dem Schulunterricht bekannten euklidischen Geometriehandeln, in der Euklids Parallelenaxiom gilt.

In diesem Buch ist zu wenig Platz fur eine strenge moderne Einfuhrung in die Geometrie, seisie axiomatisch [Hilbert] oder nicht [Lorenzen].

Mein eigentliches Anliegen ist weniger, Dir die klassische Geometrie – wie sie schon zum großenTeil in Euklids beruhmten

”Elementen“ steht – nahezubringen, sondern insbesondere ihren

Zusammenhang mit der Linearen Algebra, dem Skalarprodukt und den Kreisfunktionen (Si-nus, Cosinus) zu erklaren. Drei klassisch-geometrische Satze uber Dreiecke, die erst nach 1700gefunden wurden, will ich Dir aber nicht vorenthalten.

6.2 Koordinaten

6.2.1 Eine Gerade kann man als Zahlengerade auffassen, d.h. mit der Menge der reellen Zahlenidentifizieren. Dies ist naturlich auf viele verschiedene Weise moglich. Aber sobald man einenPunkt als Nullpunkt und einen anderen als Einspunkt festglegt hat, ist diese Identifizierungeindeutig. (Naturlich verlangt man dabei, dass z.B. die Punkte 1 und 2 denselben Abstandhaben, wie die Punkte 0 und 1 und dass der Punkt 1 zwischen den Punkten 0 und 2 liegt, usw.,usw. – alles wie Du es gewohnt bist. Es gibt ja auch sogenannte logarithmische Skalen, wo mansich die positiven Zahlen so auf einer Geraden vorstellt, dass die Abstande von 1 und 2, von2 und 4, von 4 und 8, sowie von 1

2und 1 usw. alle einander gleich sind. Diese lassen wir hier

außer Betracht.)

0 1 2

2

3–1–2–3

–π

Eine Gerade in der (einer) Ebene oder im Raum, die ich auf solche Weise mit der R identifizierthabe, will ich eine Zahlengerade nennen.

6.2.2 So wie man eine Gerade mit R identifizieren kann, kann man eine Ebene mit R2, derMenge aller Paare reeller Zahlen, identifizieren. Wie Du sicher weißt, muss man dazu ein Ko-ordinatensystem in die Ebene legen. Dieses besteht aus zwei Zahlengeraden, die genau einengemeinsamen Punkt haben, der auf beiden Zahlengeraden der Nullpunkt ist.

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154 KAPITEL 6. GEOMETRIE

(3,0)(1,0)(–1,0)

(0,1)

(3,3)

(0,–3)

(–2,0)

(0,1)

O(0,–1)

(1,0) (2,0)

(2,1)

Im ersten Bild habe ich die Koordinatenachsen senkrecht (orthogonal) zueinander und zu-dem die beiden Einspunkte auf den Koordinatenachsen so gewahlt, dass ihre Abstande vomgemeinsamen Nullpunkt, dem (Koordinaten)-Ursprung gleichgroß sind. Ein solches Koordi-natensystem wird auch ein orthonormales Koordinatensystem genannt. Dabei wird meistnoch verlangt, dass die Abstande der Einspunkte vom Ursprung gleich einer gegebenen Ein-heitslange sind.

Eine allgemeinere Art eines Koordinatensystems wird im zweite Bild angedeutet. In der Regelverwende ich orthonormale Koordinatensysteme.

6.2.3 Man kann so weiter machen und den Raum mit dem R3 identifizieren, indem man einKoordinatensystem mit drei Achsen wahlt, die sich in einem gemeinsamen Punkt schneiden,aber nicht in einer gemeinsamen Ebene liegen.

In diesem Buch will ich mich auf die Geometrie der Ebene konzentrieren.

Neben der Geometrie im Raum und der in der Ebene gibt es auch eine etwas magere Geometriein der Geraden. Eine Zahlengerade ist sozusagen eine Gerade mit einem Koordinatensystem,bestehend aus einer Koordinatenachse. Jeder Punkt hat dort eine einzige Koordinate.

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6.3. GEOMETRISCHE UND ALGEBRAISCHE VEKTOREN 155

6.3 Geometrische und algebraische Vektoren

Definitionen 6.3.1 a) Ein Pfeil ist eine gerichtete Strecke in (der Geraden,) der Ebeneoder im Raum. Eine gerichtete Strecke ist eine Strecke, deren Endpunkte man nicht als gleich-berechtigt ansieht, sondern einen als Anfangspunkt, den anderer als Endpunkt bezeichnet.Wenn man will, kann man einen Pfeil als Paar dieser Punkte definieren. Pfeile der Lange 0,also Punktepaare der Form (a, a) wollen wir nicht ausschließen!

b) Pfeile (a, b), (a′, b′) heißen zueinander parallel verschoben, wenn entweder (a, b) = (a′, b′) istodersowohl 1. die Gerade durch a, b zur Geraden durch a′, b′ parallel ist und die Strecke von a nachb gleichlang der von a′ nach b′ ist,als auch 2. dasselbe fur die Paare (a, a′) und (b, b′) gilt. (Achtung: Ich habe hier mit a, b, . . .Punkte und nicht Zahlen bezeichnet.)

Beispiele:

a

b

a’

b’

oder

a b a’ b’

Die Punkte a, b, b′, a′ bilden also ein Parallelogramm, das allerdings auch ausgeartet sein, d.h.ganz in einer Geraden liegen kann. (Bei Pfeilen innerhalb einer Geraden ist es immer ausgeartet!)Nur im nichtausgearteten Fall kann man in 1. und 2. auf die Gleichheit der Langen verzichten.(Insbesondere sind ie Pfeile der Lange 0, also Punktepaare der Form (a, a) zueinander parallelverschoben!) Die o.a. Bedingung 2. kann man auch wie folgt verstehen: ‘(a, b) und (a′, b′) gehenin die gleiche Richtung’.

c) So wie man zwei Bruchem

n,m′

n′einander gleich nennt, wenn mn′ = m′n gilt, so nennt man

zwei Pfeile (a, b), (a′, b′) den gleichen Vektor, wenn sie zueinander parallelverschoben sind.

d) Ein Vektor ist also eine Aquivalenzklasse von Pfeilen bezuglich der Aquivalenzrelation ‘par-allelverschoben’.

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156 KAPITEL 6. GEOMETRIE

6.3.2 a) Sei ein Ursprungspunkt O in der Ebene oder im Raum festgelegt.Jeder Pfeil in der Ebene ist parallelverschoben zu genau einem solchen, dessen AnfangspunktO ist. (Du darfst Dir bei dem Buchstaben O die Null denken, aber auch den ersten Buchstabendes lateinischen Wortes ’origo’, auf deutsch ’Ursprung’.)

b) Die Menge der Pfeile von O aus bilden ein Reprasentantensystem fur die Menge der Vektoren,d.h. der Aquivalenzklassen von Pfeilen. Die Menge aller geometrischen Vektoren steht alsoin bijektiver Beziehung zu der Menge der Pfeile von O aus, d.h.mit Anfangspunkt O. Somitwollen wir je nach Nutzlichkeit unter einem (geometrischen) Vektor mal eine Aquivalenzklassevon Pfeilen bezuglich der Relation

”parallelverschoben“, mal einen Pfeil von O aus verstehen.

Letztere Moglichkeit setzt allerdings voraus, dass vorher ein Ursprungspunkt O festgelegt ist.

c) Wenn man einen Ursprungspunkt O festgelegt hat, entsprechen den Pfeilen von O aus, alsoden geometrischen Vektoren, in bijektiver Weise die Punkte (der Geraden), der Ebene (bzw.des Raumes). Es entspricht namlich jedem Punkt a der Pfeil (O, a) und jedem Pfeil (O, a)der Punkt a. Allerdings heißt das nicht, dass Punkte und Vektoren im Grunde dasselbe sind.Es hat ja keinen geometrischen Sinn, zwei Punkte zu addieren oder einen Punkt mit einerreellen Zahl zu multiplizieren, wahrend das fur Vektoren sinnvoll ist. Siehe unten! Vor Allem istdie Entsprechung von Punkten und Vektoren davon abhangig, welchen Ursprungspunkt mangewahlt hat.

6.3.3 Algebraische Vektoren. Bereits oben, nach der Einfuhrung des cartesischen Pro-duktes, haben wir von der Menge Rn der n-tupel reeeller Zahlen gesprochen, also von1-tupel (a1)2-tupel (Paar) (a1, a2)3-tupel (Tripel) (a1, a2, a3)4-tupel (Quadrupel) (a1, a2, a3, a4)...allgemein n-tupel (a1, . . . , an) mit ai ∈ R.

Nichts hindert uns allerdings daran, die ai als Elemente eines beliebigen gemeinsamen Korperszu wahlen. (Hier ist der Name ‘Korper’ im algebraischen Sinne gemeint, also als Rechenbereich.)Sie noch allgemeiner als Elemente eines beliebigen Ringes zu wahlen, ist auch nutzlich. Abersoweit will ich in diesem Buch nicht gehen.

Wenn man die Gerade, die Ebene, den Raum mit einem Koordinatensystem versehen hat wirdjeder Punkt der Geraden, der Ebene, des Raumes durch ein Element des Rn mit n = 1, bzw.n = 2, bzw. n = 3 beschrieben. Da jeder Punkt nach Wahl eines Koordinatensystems (bereitsnach Wahl des Ursprungs) einem Vektor entspricht, entspricht auch jeder Vektor einem Elementaus Rn (n = 1, 2, 3).

Man hat also (nach Wahl eines Koordinatensystems) im 1-, bzw. 2-, bzw. 3-dimensionalenRaum (=Gerade, bzw. Ebene, bzw. Raum) folgende bijektive Beziehungen:

Punkte ↔ Vektoren ↔ n-tupel (n = 1, 2, 3)

Man bezeichnet deshalb auch n-tupel reeller Zahlen als Vektoren. Dasselbe gilt fur die Elementeeines Kn, wo K ein beliebiger Korper ist. Ich mochte in diesen Fallen von algebraischenVektoren reden.

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6.3. GEOMETRISCHE UND ALGEBRAISCHE VEKTOREN 157

6.3.4 Geometrische Vektoren kann man addieren. Seien v, w Vektoren und v durch die gerich-tete Strecke (a, b) reprasentiert. Dann kann man w durch eine gerichtete Strecke reprasentieren,deren Anfangspunkt b ist. Sei also w durch (b, c) gegeben. Dann definiert man v +w durch diegerichtete Strecke (a, c). Will man die entsprechende Summe im Bereich der Pfeile mit An-fangspunkt O definieren, muss man in der Regel ein Parallelogramm konstruieren. (Denke andas ‘Parallelogramm der Krafte’.)

v+ww

v

Man kann auch einen geometrischen Vektor v mit einer reellen Zahl λ multiplizieren, indem manihn entsprechend verlangert oder schrumpft, und, falls λ < 0 ist, noch die Richtung

”umkehrt“.

Eine geometrische Konstruktion ergibt sich fur v 6= 0 wie folgt: Reprasentiere v durch die ge-richtete Strecke (O, b). Wahle eine Zahlengerade Z so, dass ihr Nullpunkt mit O zusammenfallt,der Punkt b, der ja nach Voraussetzung nicht mit O zusammenfallt aber nicht auf ihr liegt.Ziehe die Gerade durch 1 und b und die Parallele zu dieser durch den Punkt λ auf der Zahlen-geraden. Diese Parallele schneidet die Gerade durch 0 und b in einem Punkt c, Der Vektor λvwird dann durch den Pfeil (0, c) gegeben. (Denke an den Strahlensatz.) Ist b = O, d.h. v derNullvektor, so ist auch λv der Nullvektor.

b

λ∙(O,b) = (O,c)

c

O

6.3.5 Orthogonalprojektion. Sei in der Ebene (bzw. im Raum) R eine Zahlengerade Ggegeben. Dann kann man die Ebene (bzw. den Raum), aufgefasst als Menge ihrer (seiner)Punkte, auf die Gerade G orthogonal projizieren.

p(a)O

a

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158 KAPITEL 6. GEOMETRIE

Die Orthogonalprojektion auf G ist also eine Abbildung p : R → G, wo R die Ebene(bzw. den Raum) bezeichnet. Und zwar ist p(a) der eindeutig bestimmte Punkt auf G, dessenVerbindungsgerade mit a auf G senkrecht steht. (Fur a ∈ G gilt p(a) = a.)

Fur Pfeile und Vektoren in der Ebene (bzw. im Raum) gelten folgende beiden Satze:

Satz 6.3.6 Seien a, b, a′, b ∈ R so dass (a, b) parallel verschoben zu (a′, b′) ist, so ist p(b) −p(a) = p(b′)− p(a′).

p(a)O

a

p(b)

bv

p(a’)

a’

p(b’)

b’v

Dieser Satz bedeutet, dass durch die Abbildung p auch eine Abbildung p′ : V → W definiertist! Dabei bezeichnet V die Menge der Vektoren in der Ebene (bzw. im Raum) sowie W dieMenge der Vektoren in der Geraden G. Mit den genannten Bezeichnungen haben wir

Satz 6.3.7 Seien λ ∈ R, v, v′ ∈ V . Dann ist p′(v + v′) = p′(v) + p′(v′) und p′(λv) = λp′(v).

p’(λv)

p’(v)

vv w

λv

p’(v+w)

p’(v) p’(w)

Definitionen 6.3.8 Sei K ein Korper, n ≥ 1 eine naturliche Zahl.

a) Man kann je zwei Elemente aus Kn addieren:

(a1, . . . , an) + (b1, . . . , bn) := (a1 + b1, . . . , an + bn)

(Die i-te Komponente der Summe ist gleich der Summe der i-ten Komponenten der Summan-den, und zwar fur jedes ganze i mit 1 ≤ i ≤ n.)

b) Ist λ ∈ K, so definiert man

λ(a1, . . . , an) := (λa1, . . . , λan) .

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6.3. GEOMETRISCHE UND ALGEBRAISCHE VEKTOREN 159

6.3.9 Wir legen (fur n = 1, 2, 3 in den n-dimensionalen Raum R ein orthonormales Koordi-natensystem und betrachten einen geometrischen Vektor als Pfeil von O aus und nennen dieKoordinaten seines Endpunktes die Koordinaten des Vektors. Die Koordinaten eines Vektorssind nun einfach die Projektionen seines Endpunktes auf die Koordinatenachsen. Deshalb folgtaus Satz 6.3.7 die Erkenntnis, dass die bijektive Beziehung zwischen den geometrischen Vekto-ren von R und den algebraischen Vektoren aus dem R1, R2, bzw. R3 mit der Addition und auchmit der Multiplikation mit Skalaren vertraglich ist. D.h. Wenn (fur n = 1, 2, 3) den Vektorenv, w die n-tupel (a1, . . . , an), bzw. (b1, . . . , bn) entsprechen, so entspricht dem geometrischenVektor v + w das n-tupel (a1 + b1, . . . , an + bn) und dem geometrischen Vektor λv das n-tupel(λa1, . . . , λan).

Satz 6.3.10 Seien v, v1, v2, v3 entweder geometrische Vektoren in der Ebene (dem Raum) oderElemente eines Kn (mit einem Korper K); seien ferner λ, µ ∈ K. (Im Falle geometrischerVektoren sei K = R.) Dann gilt

a) v1 + v2 = v2 + v1,

b) (v1 + v2) + v3 = v1 + (v2 + v3)

c) es gibt genau einen geometrischen Vektor, bzw. ein n-tupel o mit v + o = v; Bezeichnungen:neutrales Element, Nullvektor

d) zu jedem v gibt es genau ein −v mit (−v)+ v = o. Man nennt −v das additiv Inverse vonv.

e) 1v = v

f) (λµ)v = λ(µv)

g) (λ+ µ)v = λv + µv

h) λ(v1 + v2) = λv1 + λv2

Beweis: Der Fall algebraischer Vektoren ist nahezu trivial! Der Fall geometrischer Vektorenergibt sich hieraus mit Hilfe des Abschnittes 6.3.9.

Noch einmal: Du solltest Dir daruber im Klaren sein, dass geometrische Vektoren in der Ebene(im Raum) und Elemente des R2 (bzw. R3) doch nicht so ganz dasselbe sind. Man muss zunachstKoordinatensystem festlegen, bevor man die oben angegebene bijektive Beziehung angebenkann.

Definition 6.3.11 Sei K ein Korper (im algebraischen Sinn). Ein K-Vektorraum ist eineMenge V zusammen mit zwei Verknupfungen, einer Addition ‘+’ innerhalb V und einer Mul-tiplikation ‘(λ, v) 7→ λv’, wo λ ∈ K, v ∈ V und λv ∈ V ist, derart dass die im Satz 6.3.10genannten Rechenregeln a) bis h) gelten. (Zu λ ∈ K, v, w ∈ V sind v + w ∈ V und λv ∈ Vdefiniert.)

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160 KAPITEL 6. GEOMETRIE

Beispiele 6.3.12 a) Beispiele von R-Vektorraumen sind die Mengen der geometrischen Vek-toren in der Geraden, in der Ebene, im Raum.

b) Jeder Kn ist, wie oben beschrieben, ein K-Vektorraum.

c) Es gibt K-Vektorraume, die echt von allen Kn verschieden, d.h. zu keinem Kn isomorf sind.(Den Begriff

”isomorf“ wirst Du bald kennenlernen.) Zum Beispiel bilden die (unendlichen)

Folgen von Elementen aus K einen Vektorraum, der in gewissem Sinne zu groß ist, um miteinem Kn verglichen zu werden.

d) Den Korper R kann man als Q-Vektorraum auffassen, indem man von allen in R moglichenMultiplikationen nur diejenigen betrachtet, wo der erste Faktor aus Q ist. Auch dieser Vektor-raum ist zu keinem Qn mit n ∈ N isomorf. Wir wissen ja, dass Qn (fur n ∈ N) im Gegensatzzu R abzahlbar ist.

e) Sind K,L Korper mit K ⊂ L, und sind die Verknupfungen in K dieselben wie in L, d.h.Einschrankungen der letzteren, so nennt man K einen Teilkorper (auch Unterkorper) vonL und L einen Erweiterungskorper (auch Oberkorper) von K.

Immer wenn L ein Erweiterungskorper vonK ist, kann man L auch alsK-Vektorraum auffassen.Ist L ein endlicher Korper (d.h. ein solcher, der nur endlich viele Elemente hat), so kann manfolgendes zeigen:

Es gibt eine Primzahl p und einen Unterkorper K von L, der isomorf zu Z/(p) ist. Da Lein Erweiterungskorper von K ist, ist L als K-Vektorraum isomorf zu Kn mit einer positivenganzen Zahl n, hat also pn Elemente. Ferner gibt es zu jeder Primzahlpotenz pn, wo n ≥ 1 ganzist, einen Korper aus pn Elementen.

Es gibt also keinen Korper von 6 oder 10 Elementen; aber es gibt solche von 2, 3, 4, 5, 7, 8 oder9 Elementen, usw. Ich will hierauf nicht weiter eingehen.

Bemerkung 6.3.13 Das neutrale Element der Addition in einem Vektorraum wird haufig mit0 anstelle von o bezeichnet, d.h. demselben Symbol, welches das neutrale Element der Additionin einem Korper bezeichnet. Insbesondere bezeichnet 0 in Kn das n-tupel (0, . . . , 0). Genaugenommen ist das eine missbrauchliche Bezeichnung. Gewohne Dich daran, aufzupassen, vonwelcher 0 die Rede ist.

Ubrigens ist die 0 in einem Vektorraum, ebenso wie in einem Ring immer das einzige Element x,welches die Gleichung x+x = x erfullt. Das liegt an der Existenz additiv Inverser. (Du erinnerstDich sicher, dass die 1 in einem Korper nicht das einzige Element x ist, welches x ·x = x erfullt.Die 0 tut’s ja auch. In einem Ring kann es noch mehr solche Elemente geben. Wenn etwa Kein Korper ist, so ist K × K bezuglich der komponentenweisen Addition und Multiplikationein Ring, in dem jedes der vier Elemente (0, 0), (1, 0), (0, 1) und (1, 1) die Gleichung x · x = xerfullt.)

Definition 6.3.14 Sei V ein K-Vektorraum. Ein Teil(vektor)raum (auch Untervektor-raum von V ist eine Teilmenge U von V , die bezuglich derselben Verknupfungen, die in Vgelten, wieder ein Vektorraum ist.

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6.3. GEOMETRISCHE UND ALGEBRAISCHE VEKTOREN 161

Dazu genugt naturlich, dass U gegenuber den Verknupfungen von V abgeschlossen ist. Unddafur reicht das Folgende:

(1) o ∈ U, (2) u, v ∈ U ⇒ u+ v ∈ U, (3)u ∈ U, λ ∈ K ⇒ λu ∈ U

Da (−1)u = −u ist folgt namlich ‘u ∈ U ⇒ −u ∈ U ’ aus (3).

Beispiele 6.3.15 a) Wir wollen die Teilraume des Vektorraums V der Ebene E bestimmen.Diese wollen wir auch geometrisch verstehen. Deshalb versehen wir die Ebene mit einem Ur-sprungspunkt O und reprasentieren die Vektoren durch Pfeile mit dem Anfang O und be-schreiben sie letztendlich durch den Endpunkt dieser Pfeile. Insbesondere entspricht dabei derNullvektor dem Punkt O.

Naturlich sind 0 und V Teilraume von V . Das sind die trivialen Falle.

Sei v ∈ V −0 gegeben durch den Pfeil (O, a) mit a 6= O, entspreche also dem Punkt a. Dannist λv gegeben durch durch den Pfeil λ(O, a), dessen Endpunkt auf der Geraden durch O, aliegt.

Die Menge Rv := λv | λ ∈ R ein Teilraum von V und die den Vektoren aus Rv entsprechendenPunkte sind alle Punkte auf der Geraden durch O, a. Die auf diese Weise erhaltenen Teilraumesind also die Geraden durch O.

Ferner muss jeder jeder Teilraum, der v enthalt, den Teilraum Rv umfassen.

Jetzt wollen wir sehen, dass es außer den genannten keine weiteren Teilvektorraume von V gibt.Sei U ein beliebiger Teilraum. Gibt es keinen von 0 verschiedenen Vektor in U , so ist U = 0.Ansonsten sei v ∈ U − 0. Dann ist Rv ⊂ U . Angenommen U 6= Rv, dann gibt es ein w ∈ Umit w 6= λv fur alle λ ∈ R. Dann umfasst U die Vereinigung zweier verschiedener Geraden(nachdem wir Vektoren mit Punkten identifiziert haben). Geometrisch siehst Du dann leicht,dass jeder Vektor von der Ebene sich in der Form λv + µw mit λ, µ ∈ R schreiben lasst, alsozu U gehort. Dabei durfen λ, µ auch negativ sein.

b) Der Vektorraum des Raumes hat genau die folgenden Teilraume. Nachdem man ihn durchFestlegung eines Ursprungs O mit dem Raum identifiziert hat, ergeben sich folgende Teilraume:0 = O, die Geraden durch O, die Ebenen durch O, der ganze Raum.

6.3.16 Es sind vor allem zwei Grunde, weshalb ich mich bemuht habe, die Teilraume (Unter-vektorraume) eines K2 zu bestimmen:

1. Du sollst erkennen, dass Teilraume keineswegs ‘wilde’ Teilmengen sind, sondern (z. B. furK = R, n = 2 oder n = 3) einfachen geometrischen Gegenstanden entsprechen: Punkt, Gerade,Ebene.

2. Du sollst erst gar nicht auf die leider haufig geglaubte Idee kommen, es gabe außer den tri-vialen Teilraumen des K2 nur noch die beiden folgenden: (a, 0) | a ∈ K und (0, b) | b ∈ K.Wir haben ja gesehen, dass der R2 unendlich viele Teilraume hat, da es in der Eben unendlichviele Geraden durch einen Punkt gibt. Sogar der F2

2 hat außer den beiden trivialen noch 3(und nicht nur 2) weitere Teilraume, namlich: (0, 0), (1, 0), (0, 0), (1, 1), (0, 0), (0, 1)

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162 KAPITEL 6. GEOMETRIE

AUFGABE

Betrachte Z2 als Teilmenge des Vektorraums R2, der mit der Ebene identifiziert sei. Fur welchePunkte aus Z2 liegt auf ihrer Verbindungsstrecke mit dem Ursprung (0, 0) außer den Endpunk-ten kein weiterer Punkt aus Z2?

6.4 Das Skalarprodukt

Wir wollen wollen zu je zwei Vektoren v, w im Vektorraum V der Ebene (oder auch des Raum-es) eine reelle Zahl als ihr sogenanntes Skalarprodukt 〈v, w〉 definieren, das sowohl von denLangen der beiden Vektoren v und w, als auch von dem Winkel, den sie einschließen, abhangt.(Der Name Skalarprodukt kommt daher, dass das Ergebnis des Skalarproduktes ein Skalar, d.h.eine reelle Zahl, und kein Vektor ist. Reelle Zahlen stellt man sich auf einer ‘Skala’ vor.)

6.4.1 Wir legen in der Ebene (oder dem Raum) eine Einheitslange (d.h. eine Langeneinheit)fest. Jede Strecke hat dann eine reelle Zahl als Lange, die man in diesem Langenmaß ausdruckenkann. Das gilt dann naturlich auch fur gerichtete Strecken. (Man vergesse einfach die Richtung.)Bei Parallelverschiebungandert sich die Lange nicht. Also besitzt dann jeder Vektor v in derEbene (Raum, Gerade) eine Lange, die ich mit |v| bezeichnen will.

Auf jeder Zahlengerade, die wir betrachten, sei dann naturlich der Abstand zwischen den Punk-ten 0 und 1 gleich 1.

Definition 6.4.2 Fur einen Winkel α ∈ [0, π] definieren wir seinen Cosinus cosα wie folgt:

0 1cos α

α

–1

Diese Definition ist insofern vorlaufig, als wir spater cos x fur beliebige x ∈ R definieren werden.Fur den Cosinus werden sich dabei keine Probleme ergeben. (Traditionell schreibt man cosαstatt cos(α).)

Bemerkungen 6.4.3 a) Es gilt cos 0 = 1, cos 90 = cos(π/2) = 0, cos 180 = cos π = −1 .

b) Aus 0 ≤ α < β ≤ π folgt 1 ≥ cosα > cos β ≥ −1. Insbesondere ist die Abbildungcos : [0, π]→ [−1, 1] injektiv. Wegen des Zwischenwertsatzes ist sie auch bijektiv.

c) cosα = − cos(π − α).

d) Der Funktionsgraf sieht, wie folgt, aus:

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6.4. DAS SKALARPRODUKT 163

π/3 π/2 2π/3 π

–1

0

1

Definition 6.4.4 Mit obigen Bezeichnungen sei definiert:

Sind v, w beide vom Nullvektor verschieden, kann man von dem Winkel α sprechen, den v undw einschließen. Dann sei ihr Skalarprodukt 〈v, w〉 definiert durch

〈v, w〉 := |v| · |w| · cosα .

Ist v = 0 oder w = 0, so gelte dieselbe Formel mit einem beliebigen α ∈ [0, π]. In diesem Fallergibt sich 〈v, w〉 = 0 unabhangig von dem gewahlten α.

6.4.5 Eigenschaften. a) 〈v, w〉 = 〈w, v〉.

b) 〈v, v〉 = |v|2.

c) 〈v, w〉 = 0 ⇐⇒ v⊥w. Dabei schreiben wir v⊥w, wenn v senkrecht auf w steht, oder einerbeiden Vektoren gleich 0 ist.

d) 〈v, λw〉 = λ〈v, w〉.

Dies ist zunachst klar fur λ ≥ 0. Ist λ < 0 und α der von v, w eingeschlossene Winkel, so istπ − α der von v, λw eingeschlossene Winkel. Die Aussage folgt dann, da cos(π − α) = − cosαist.

Eine weitere Eigenschaft des Skalarproduktes ist die Folgende:

Satz 6.4.6 Seien v, w, w′ Vektoren in der Ebene (oder im Raum). Dann gilt

〈v, w + w′〉 = 〈v, w〉+ 〈v, w′〉 .

Beweis: Da im Falle v = 0 die Behauptung trivial ist, sei im Folgenden v 6= 0.

Betrachte die Vektoren als Pfeile mit einem gemeinsamen Anfangspunkt O. Lege eine Zah-lengerade G so durch den Pfeil v, dass O = 0 und der Endpunkt von v gleich der Zahl |v|,also insbesondere positiv ist. Sei p : V → G die Orthogonalprojektion. (V ist der Vektorraumder Ebene, bzw. des Raumes.) Fur einen Vektor w, der mit v den Winkel α einschließt, giltdann: p(w) wird durch den Pfeil (0, |w| cosα) gegeben, d.h. der Vektor p(w) entspricht alsPunkt auf der Zahlengerade G der Zahl |w| cosα, dem Produkt der letzten beiden Faktoren in|v| · |w| · cosα = 〈v, w, 〉.

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164 KAPITEL 6. GEOMETRIE

w

α

v |v| |w|·cos α

Da p die Eigenschaft p(w + w′) = p(w) + p(w′) hat, folgt die Behauptung des Satzes.

6.4.7 Satz des Pythagoras. Wir wahlen in der Ebene eine Basis b1, b2 mit |b1| = |b2| = 1und b1⊥b2, d.h. eine Orthonormalbasis. Im Raum wahlen wir eine Basis b1, b2, b3 mit |bi| = 1und b1⊥b2⊥b3⊥b1. Dann gilt

〈bi, bj〉 = δij :=

1 fur i = j0 fur i 6= j

also〈λ1b1 + λ2b2, µ1b1 + µ2b2〉 = λ1µ1 + λ2µ2

(bzw. im Raum

〈λ1b1 + λ2b2 + λ3b3, µ1b1 + µ2b2 + µ3b3〉 = λ1µ1 + λ2µ2 + λ3µ3.)

Es folgt der Satz des Pythagoras:

Theorem 6.4.8 |λb1 + µb2|2 = λ2 + µ2.

Ist dies wirklich der Satz des Pythagoras? Mache Dir das klar!

Im 3-dimensionalen erhalt man: |λb1+µb2+νb3|2 = λ2+µ2+ν2. Das Quadrat uber der Diagonaleeines Quaders ist die Summe der Quadrate uber den Kanten, die von einem gemeinasamenEckpunkt aus gehen.

Beachte, dass wir das Skalarprodukt der Vektoren λ1b1+λ2b2+λ3b3 und µ1b1+µ2b2+µ3b3 nichtetwa als λ1µ1 + λ2µ2 + λ3µ3 definiert haben, sondern diese Identitat aus einer geometrischenDefinition des Skalarproduktes gefolgert haben!

AUFGABE

Beweise nachfolgenden Satz von Euklid als Korollar zum Satz des Pythagoras.Sei ABC ein rechtwinkliges Dreieck mit dem rechten Winkel bei C und D der Fußpunkt derC-Hohe, d.h. des Lotes von C auf AB. Da α und β spitz sind, liegt P zwischen A und B. Seis := l(AP ), t := l(BP ), h := l(CP ). Dann gilt st = h2, sc = b2 und tc = a2.

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6.5. LINEARE ABBILDUNGEN 165

6.5 Lineare Abbildungen

Definition 6.5.1 Seien W,W ′ Vektorraume uber einem Korper K. Eine Abbildung f : W →W heißt linear, wenn folgende beiden Bedingungen erfullt sind:(i) f(v + w) = f(v) + f(w) und (ii) f(λw) = λf(w) fur v, w ∈ W1, λ ∈ K.

Du kannst diese Bedingungen auch zu (iii) f(λv + µw) = λf(v) + µf(w) zusammenfassen.

Bemerkungen 6.5.2 a) Ist f : W → W ′ linear und 0 der Nullvektor in W , sowie 0′ derjenigevon W ′, so gilt f(0) = 0′.Denn es ist 0 = 0 + 0, folglich f(0) = f(0 + 0) = f(0) + f(0). Wenn man in der Gleichungf(0) = f(0) + f(0) auf beiden Seiten −f(0) addiert, erhalt man 0′ = f(0). (Zu diesem Beweiswurde nur die Eigenschaft (i) einer linearen Abbildung benutzt.)

b) Wenn f linear ist, gilt f(−v) = −f(v). Denn f(v) + f(−v) = f(v− v) = f(0) = 0′, und ausf(v) + f(−v) = 0′ folgt f(−v) = f(v).

c) Seien f : W → W ′ und g : W ′ → W ′′ lineare Abbildungen von Vektorraumen. Dann ist auchihre Verkettung gf linear.

Wenn Dir das nicht klar ist, musst Du es nachrechnen.

d) Sei f : W → W ′ eine bijektive lineare Abbildung. Dann ist auch die Umkehrabbildungf−1 : W ′ → W linear. Seien namlich v′, w′ ∈ W ′ und v, w ∈ W die eindeutig bestimmtenElemente von W mit f(v) = v′, f(w) = w′, d.h.

(∗) f−1(v′) = v, f−1(w′) = w.

Da f linear ist, gilt f(λv + µw) = λf(v) + µf(w) = λv′ + µw′. Nach Definition von f−1 undwegen (∗) ist also f−1(λv′ + µw′) = λv + µw = λf−1(v′) + µf−1(w′).

Definitionen 6.5.3 a) Eine bijektive lineare Abbildung zwischen Vektorraumen f : W → W ′

heißt ein Isomorfismus.

b) Vektorraume W,W ′ heißen zueinander isomorf und man schreibt W ∼= W ′, wenn es einenIsomorfismus f : W → W ′ gibt.

Da nach obigen Bemerkungen mit f auch f−1 ein Isomorfismus ist, ist die Isomorfie (d.h. dieEigenschaft, isomorf zu sein) ein symmetrischer Begriff, d.h. W ∼= W ′ ⇐⇒ W ′ ∼= W .

Da auch die Verkettung bijektiver Abbildungen wieder bijektiv ist und die Verkettung linearerAbbldungen wieder linear ist, gilt auch die Implikation W ∼= W ′, W ′ ∼= W ′′ =⇒ W ∼= W ′′.

6.5.4 Versieh fur n = 1, 2, 3 den n-dimensionalen Raum R mit einem Koordinaatensystem.Betrachte den Vektorraum V dieses Raumes. Vermoge des gewahlten Koordinatensystems wirdjedes v ∈ V durch ein n-tupel reeller Zahlen beschrieben. Den Inhalt des Abschnittes 6.3.9kann man auch so ausdrucken: Die Abbildung V → Rn, die jedem geometrischen Vektor in Rdas zugehorige n-tupel zuordnet, ist linear! Insbesondere ist die Abbildung V → R, die jedemVektor seine erste, bzw. zweite, bzw. dritte Koordinate zuordnet, linear.

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166 KAPITEL 6. GEOMETRIE

6.5.5 Lineare Abbildungen und Matrizen. Sei V der Vektorraum der Ebene und seieine Basis (e1, e2) desselben ausgewahlt. Wie gerade gesehen, entspricht dann jeder Vektor vonV einem (reellen) Zahlenpaar, namlich dem Vektor λ1e1 + λ2e2 das Zahlenpaar (λ1, λ2) (dieKoordinaten).

Aus Grunden der Notation wollen wir dieses Zahlenpaar als ‘Spalte’ schreiben:(λ1

λ2

)Ich werde die Vektor-Zahlenpaar-Entsprechung wie folgt schreiben

λ1e1 + λ2e2 ↔(λ1

λ2

)Sei jetzt f : V → V eine lineare Abbildung mit

f(e1) = a11e1 + a21e2 ↔(a11

a21

),

f(e2) = a12e1 + a22e2 ↔(a12

a22

),

Da f durch die Bilder f(e1), f(e2) bereits bestimmt ist, wird f auch durch die Matrix(a11 a12

a21 a22

)

bestimmt, deren Spalten die den Vektoren f(e1), f(e2) entsprechende Zahlenpaare sind.

Welches Bild (unter f) hat der durch das Zahlenpaar(λ1

λ2

)gegebene Vektor? Durch welches Zahlenpaar wird das Bild dieses Vektors beschrieben?

Fur die zu f(e1), f(e2) gehorigen Zahlenpaare gilt

f(e1)↔(a11

a21

), f(e2)↔

(a12

a22

)Nun, rechnen wir los:

f(λ1e1 + λ2e2) = λ1f(e1) + λ2f(e2)←→

λ1

(a11

a21

)+ λ2

(a12

a22

)=

(a11λ1 + a12λ2

a21λ1 + a22λ2

)=

(a11 a12

a21 a22

)(λ1

λ2

)

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6.6. KREISFUNKTIONEN 167

Bemerkung 6.5.6 SeiK ein beliebiger Korper. Wenn die Elemente desK2 als Spalten

(λ1

λ2

)geschrieben werden, gilt fur lineare Abbildungen f : K2 → K2 dasselbe. Sie werden in der obenangegebenen Art durch 2× 2 Matrizen beschrieben.

Satz 6.5.7 Seien f, g : K2 → K2 lineare Abbildungen. Und es werde

f durch die Matrix

(a11 a12

a21 a22

)und g durch die Matrix

(b11 b12b21 b22

)beschrieben, so

wird gf durch die Matrix

(b11 b12b21 b22

)(a11 a12

a21 a22

)beschrieben.

Spatestens an dieser Stelle, sollte Dir klar werden, wie wichtig die Multiplikation von Matrizenist. Und wenn Du sie bislang etwas stiefmutterlich behandelt hast, dann . . .

Den Beweis dieses Satzes mochte ich gerne Dir uberlassen. Er erfordert keine Idee, abersorgfaltiges Rechnen.

6.6 Kreisfunktionen

Wir versehen die (euklidische) Ebene nach Wahl einer Langeneineit mit einem orthonormalenKoordinatensystem, so dass die Punkte (1, 0) und (0, 1) eine Langeneinheit vom Ursprung(Nullpunkt) entfernt sind. Der Kreis um (0, 0) vom Radius 1 geht dann durch die Punkte(1, 0), (0, 1), (−1, 0), (0,−1). Wir denken uns einen Punkt, der abhangig von der Zeit t ∈ Rden Kreis mit der (gleichbleibenden) (Absolut-)Geschwindigkeit 1 in der im Bild angedeutetenRichtung durchlauft und sich zum Zeitpunkt 0 beim Punkt (1, 0) befindet.

t

(cos t, sin t)

(cos t, 0) (1, 0)

(0, –1)

(–1, 0)

(0, 1)

(0, sin t)

Definition 6.6.1 Die Koordinaten des Punktes zum Zeitpunkt t werden mit cos t und sin tbezeichnet. D.h., wenn γ : R→ R2 den Weg unseres Punktes beschreibt, ist γ(t) = (cos t, sin t).

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168 KAPITEL 6. GEOMETRIE

Wohlgemerkt, wir nehmen diese Beschreibung als Definition von sin t, dem Sinus von t, undcos t, dem Cosinus von t. Selbstverstandlich ist dann der Einheitskreis der parametrisierte Weg(cos t, sin t), wie er in dem Kapitel 7 Abschnitt 4 definiert werden wird. Aber die Definitiongeht von der Geometrie, nicht von der Analysis aus. Naturlich ist die Zeit nicht auf die Werte0 ≤ t ≤ 2π beschrankt! (Wie oben bezeichnen wir mit π die Lange der halben Einheitskreislinie.)

6.6.2 Offensichtlich haben die beiden Funktionen cos und sin die Periode 2π. D.h. es ist cos(x+2π) = cosx und sin(x+2π) = sin x. Bachte, dass innerhalb einer Periode etwa auf dem Intervall[0, 2π[ bis auf die Werte ±1 jeder Wert vom Sinus, wie auch vom Cosinus zweimal angenommenwird.

Wir haben folgende speziellen Funktionswerte:

t −π −π/2 0 π/2 π 3π/2cos t −1 0 1 0 −1 0sin t 0 −1 0 1 0 −1

Hieraus erkennt man auch, dass die Funktionen sin und cos keine kleinere Periode als 2π haben.D.h. gilt sin t = sin(t+a) fur alle t ∈ R, so ist a ein ganzzahliges Vielfaches von 2π; und dasselbestimmt auch fur den Cosinus.

Bemerkung 6.6.3 Beachte bitte, dass wir oben in Definition 6.4.2 Winkel zwischen zwei Halb-geraden und damit zwischen zwei (von 0 verschiedenen) geometrischen Vektoren unabhangigvon deren Reihenfolge betrachtet haben. Hier wird hingegen ein Winkel als Lange eines ge-richteten Weges auf dem Einheitskreis betrachtet, der als negativ betrachtet wird, wenn er imUhrzeigersinn durchlaufen wird. Da cos(−α) = cosα ist, betrifft dieser Unterschied lediglichden Sinus.

6.6.4 Wichtige lineare Abbildungen sind Drehungen um den Ursprung:

Wenn (e1, e2) eine Basis des Vektorraums V der Ebene ist und die lineare Abbildung fα : V → Vso definiert ist, dass sie die Vektoren e1, e2 um denselben Winkel (in dieselbe Richtung) α umO dreht, tut sie das offenbar mit jedem Vektor.

αα

α

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6.6. KREISFUNKTIONEN 169

Wir wahlen ein Einheitslangenmaß und setzen jetzt voraus, dass (e1, e2) bezuglich dieserLangeneinheit eine orthonormale Basis ist. Dann gilt fur die oben beschriebene Drehung f

fα(e1) = cos(α) · e1 + sin(α) · e2 und fα(e1) = − sin(α) · e1 + cos(α) · e2

Aufgefasst als Spalten – bzgl. der Basis (e1, e2) – gilt also fur fα(e1), fα(e2):

fα(e1) =

(cosαsinα

), und fα(e2) =

(− sinαcosα

).

Das bedeutet, dass fα bezuglich der Basis (e1, e2) durch die Matrix(cosα − sinαsinα cosα

)beschrieben wird.

Diese Erkenntnis ermoglicht es, ganz einfach Formeln fur sin(α+β) und cos(α+β) anzugeben.

Satz 6.6.5 Es gelten die Formeln:

cos(α+ β) = cosα · cos β − sinα · sin β, sin(α+ β) = sinα · cos β + cosα · sin β .

Beweis: Die Drehung um α+ β kann man auch dadurch erreichen, indem man zunachst umβ, danach um α dreht. D.h. fα+β = fαfβ. Fur Matrizen bedeutet dies(

cos(α+ β) − sin(α+ β)sin(α+ β) cos(α+ β)

)=

(cosα − sinαsinα cosα

)(cos β − sin βsin β cos β

)=

(cosα cos β − sinα sin β − sinα cos β − cosα sin βsinα cos β + cosα sin β cosα cos β − sinα sin β

)Ein Vergleich der Eintrage beweist den Satz.

Folgerung 6.6.6 a) sin 2α = 2 sinα cosα, cos 2α = cos2 α−sin2 α = 1−2 sin2 α = 2 cos2 α−1

b) sin(α+ β) sin(α− β) = sin2 α− sin2 β

Hier ist sin 2α = sin(2α), sin2 α = (sinα)2 usw.

Beweis: Nur b) ist zu zeigen.

b) sin(α + β) sin(α − β) = (sinα cos β + cosα sin β)(sinα cos β − cosα sin β) = sin2 α cos2 β −cos2 α sin2 β = sin2 α(1− sin2 β)− (1− sin2 α) sin2 β = sin2 α− sin2 β.

Satz 6.6.7 Sinussatz. In einem Dreieck mit den Seitenlangen a, b, c, den Winkel(große)nα, β, γ, (wo wie gewohnt a und α einander gegenuber liegen usw.) und dem Umkreisradiusr gilt

a

sinα=

b

sin β=

c

sin γ= 2r

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170 KAPITEL 6. GEOMETRIE

Beachte, dass fur einen Dreieckswinkel ϕ, der ja 0 < ϕ < π erfullt, der Wert sinϕ positiv ist.Deshalb sind die obigen Nenner nicht Null.

Beweis: Es ist b sinα = hc = a sin β

b

c

hc

A B

C

a

α β

γ

Das beweist auf einfache Weise die ersten beiden Gleichheiten.

Die dritte sieht man mit Hilfe des Satzes uber die Winkel im Kreis (??).

γ

γγr

A B

C

Hieraus folgen naturlich auch die ersten beiden Gleichheiten.

Satz 6.6.8 Cosinussatz. In einem Dreieck gilt (mit den ublichen Bezeichnungen)

a2 + b2 − 2ab cos γ = c2

Beweis: (Wir verwenden die schulmaßigen Bezeichnungen: A,B,C seinen die Eckpunkteeines Dreiecks, a die Seite, die A gegenuber liegt, und auch ihre Lange, usw., ferner α, β, γ dieInnenwinkel und deren Großen, wobei α der Winkel bei A ist usw.)

Betrachte die Vektoren ~CB, ~CA, bzw. ~AB die durch die Pfeile (C,B), (C,A), bzw. (A,B)

gegeben werden; sie haben die Langen a, b,bzw. c. Es ist ~AB = ~CB − ~CA.

Dann rechne c2 = | ~AB|2 = 〈 ~CB − ~CA, ~CB − ~CA〉 = a2 + b2 − 2ab cos γ.

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6.7. DER SATZ VON MORLEY 171

AUFGABE

Betrachte die Erde als perfekte Kugel mit dem Radius 6366 km. (Diese Lange, die man sichverhaltnismaßig leicht merken kann, ist kleiner als der Radius des Aquators und großer als derhalbe Abstand der Pole. Die Erde ist nicht wirklich eine Kugel, auch wenn man von kleinenUnregelmaßigkeiten, wie dem Himalaja absieht.) Denke Dir eine Eisenbahnlinie von 10 km (20km) Lange, die vollkommen gerade ist, also auch nicht der Erdkrummung folgt (d.h. im Innernder idealen Erdkugel verlauft, so dass man einen Graben oder gar einen Tunnel fur die Bahnanlegen muss.) Sie soll an einem Punkt der Erdoberfache beginnen und an einem solchen enden.Wie tief verlauft sie an der tiefsten Stelle unter der Erdoberfache.

6.7 Der Satz von Morley

A

A’

C’

B’

B

C

ααα

βββ

γ γ γ

Satz 6.7.1 Bringt man die jeweils benachbarten Drittellinien der Winkel eines beliebigen Drei-ecks zum Schnitt, so bilden die drei erhaltenen Schnittpunkte ein gleichseitiges Dreieck.

Beweis: Gilt die Behauptung des Satzes fur ein Dreieck, so gilt sie auch fur alle ahnlichenDreiecke. Kann man also zu je drei (positiven) Winkeln, deren Summe π ist, ein Dreieck mitdiesen Winkeln konstruieren, dessen Morley-Dreieck gleichseitig ist, so ist der Satz richtig.

Seien α, β, γ drei positive Winkel mit 3α+3β+3γ = π. Wir haben ein Dreieck mit den Winkeln3α, 3β, 3γ zu konstruieren, dessen Morley-Dreieck gleichseitig ist.

Zur Abkurzung setzen wir ϕ+ := ϕ + π3

fur jeden Winkel ϕ. Dann sind z.B. α, β+, γ+ die dreiWinkel eines Dreiecks, d.h. ihre Summe ist π.

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172 KAPITEL 6. GEOMETRIE

A

A’

C’

B’

B

C

α+

α+

β+

β+

γ+ γ+

Sei A′B′C ′ ein gleichseitiges Dreieck der Seitenlange 1. (Dies bedeutet eine Langeneinheit, dieman naturlich willkurlich wahlen darf. Nur musst Du sie innerhalb des Beweises beibehalten.)Uber den drei Seiten dieses Dreiecks konstruieren wir Dreiecke AB′C ′, BC ′A′ und CA′B′, derartdass A und A′ (bzw. B und B′, bzw. C und C ′) auf verschiedenen Seiten der Geraden durchB′, C ′ (bzw. C ′, A′, bzw. A′, B′) liegen, mit den in der Zeichnung angegebenen Winkeln. (Bittebeachte genau, welche Winkel wo angegeben sind! Z.B. hat der Winkel des Dreiecks AC ′B′ beiC ′ die Große β+ und der bei B′ desselben Dreiecks die Große γ+ – und nicht etwa umgekehrt!)

Wir behaupten: A′B′C ′ ist das Morley-Dreieck des Dreiecks ABC. Dazu genugt es zu zeigen,dass z.B. ∠C ′AB = α ist. Denn fur die weiteren Winkel ∠CAB′ usw. gilt aus Analogiegrundendas entsprechende.

Wir betrachten das Dreieck ABC ′. Bezeichne ∠C ′AB mit α, und ∠C ′BA mit β. Ferner sei udie Lange der Strecke AC ′ und v die der Strecke BC ′.

A

A’

C’

B’

B

C

α+β+

γ+ γ+

αα’

ββ’

u v

Der Winkel ∠AC ′B berechnet sich zu 2π− π/3− β+−α+ = π− β −α = γ + 2π/3, folglich istα+ β + γ + 2π/3 = α+ β + γ + 2π/3, also α+ β = α+ β.

Dann rechnen wir durch Anwendung des Sinus-Satzes auf drei Dreiecke

sinα

sin β=v

u=

sin γ+/ sin β

sin γ+/ sinα=

sinα

sin β

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6.8. EULERGERADE UND FEUERBACHKREIS 173

Wir bemerken: Die vier Winkel α, α, β, β liegen alle in dem Intervall ]0, π/3]. Denn es ist α, β <α+ β + γ = π/3, und α, β < α+ β = α+ β < α+ β + γ = π/3. Auf diesem Intervall, sogar auf[0, π/2], ist die Sinusfunktion streng monoton wachsend und positiv.

Aus den beiden bisher bewiesenen Gleichungen

sinα

sin β=

sinα

sin βund α+ β = α+ β

konnen wir deshalb ableiten, dass α = α (und β = β) ist.

Denn ware etwa α > α, so wurde die erste Gleichung β > β, die zweite hingegen β < βimplizieren. Analoges gilt im Falle α < α.

6.8 Eulergerade und Feuerbachkreis

Sei ABC ein Dreieck. Das Mittendreieck dieses Dreiecks ist das Dreieck A′B′C ′, wo A′ derMittelpunkt der Seite BC und B′ derjenige von CA und C ′ derjenige von AB ist.

A

A’

C’

B’

B

C

Bemerkungen 6.8.1 Mit obigen Bezeichnungen gilt:

a) A′B′ (bzw. B′C ′, bzw. C ′A′) ist parallel zu AB (bzw. BC, bzw. CA) und halb so lang.

b) Die seitenhalbierenden Geraden von ABC sind dieselben wie die von A′B′C ′, wobei dieSeitenhalbierende durch A von ABC auch durch A′ geht, usw. Insbesondere haben ABC undA′B′C ′ denselben Schwerpunkt S.Dies folgt wie a) aus dem Strahlensatz und seiner Umkehrung.

c) Die Mittelsenkrechte von AB ist die Hohengerade von A′B′C ′ durch C ′, usw. Also ist derHohenschnittpunkt von A′B′C ′ der Umkreismittelpunkt U von ABC.

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174 KAPITEL 6. GEOMETRIE

d) Das Dreieck A′B′C ′ entsteht aus dem Dreieck ABC durch Drehung um S um 180o undHalbierung aller Abstande von S. Es handelt sich also hier um eine Ahnlichkeitsabbildung, d.h.eine Abbildung der Ebene auf sich, die ein Dreieck immer in ein ahnliches Dreieck abbildet.Wenn man also den Hohenschnittpunkt H von ABC am Punkt S spiegelt und einen Punkt Kerhalt, so ist der Hohenschnittpunkt H ′ von A′B′C ′ der Mittelpunkt der Strecke SK. D.h H ′

liegt auf der Geraden HS auf der anderen Seite von S und ist von S halbsoweit entfernt wieH. Nach c) gilt aber H ′ = U .

A

A’

H’=U

H

S=S’

C’

B’

B

C

Es folgt also

Satz 6.8.2 (Euler) In einem Dreieck ABC liegen Hohenschnittpunkt H, Schwerpunkt S undUmkreismittelpunkt U in dieser Reihenfolge auf einer Geraden. Fur die Streckenlangen giltl(HS) : l(SU) = 2 : 1. (Ist das Dreieck gleichseitig, fallen diese drei Punkte zusammen. DieAussage des Satzes ist dann leer. Uberlege Dir: Wenn in einem Dreieck der Umkreismittelpunktmit dem Schwerpunkt zusammenfallt, ist das Dreieck gleichseitig.)

Definition 6.8.3 Die Gerade, auf welcher Hohenschnittpunkt, Schwerpunkt und Umkreismit-telpunkt eines nicht gleichseitigen Dreiecks liegen, heißt seine Eulergerade.

Bemerkungen 6.8.4 a) Ist ABC gleichschenklig (aber nicht gleichseitig), so ist die Symme-trieachse die Eulergerade.

b) Ist ABC rechtwinklig mit γ = 90o, so ist die Seitenhalbierende s durch C die Eulergerade.Denn der Hohenschnittpunkt ist der Punkt C und der Schwerpunkt liegt auf s.

c) Sei ABC rechtwinklig, aber nicht gleichschenklig, so fallen die Eulergerade, d.h. die Seiten-halbierende s durch C und die Winkelhalbierende w durch C nicht zusammen, da letztere dieSeite AB im Verhaltnis b/a 6= 1/1 teilt. Da aber der Inkreismittelpunkt nicht der SchnittpunktC von w und s sein kann, liegt zumindest in diesem Fall der Inkreismittelpunkt nicht auf derEulergeraden.

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6.8. EULERGERADE UND FEUERBACHKREIS 175

Bemerkungen 6.8.5 Mit den obigen Bezeichnungen gilt:

a) Sei U ′ der Umkreismittelpunkt von A′B′C ′. Dann liegt U ′ auf der Geraden US, der Eul-ergeraden, auf der U gegenuberliegenden Seite von S und ist halbsoweit von S entfernt wieU . Gemaß der ‘beruhmten’ Identitat 1

3+ 1

6= 1

2ist er also der Mittelpunkt der Strecke UH.

Durch U geht die Mittelsenkrechte von AB, d.h. die Senkrechte auf AB durch C ′. Durch Hgeht die dazu parallele Hohe von ABC durch C. Der Kreis um U ′ durch A′ geht also auchdurch den Fußpunkt der Hohe durch C. Dieser Kreis, der Feuerbachkreis geht also durch dieSeitenmittelpunkte und die Hohenfußpunkte von ABC.

A

H

Eulergerade

Feuerbach-Kreis

A’

U’

U=H’

C’

B’

B

C

b) Nun bringen wir die Gerade C ′U ′ mit der Hohengeraden von ABC durch C zum Schnitt, dervon dem Fußpunkt der Hohe verschieden ist. Der Schnittpunkt heißeD. Die Dreiecke U ′UC ′ undU ′HD sind kongruent. Denn die Strecken U ′U und U ′H sind gleichlang, die Winkel bei U ′ sindgleichgroß, ebenso die bei H bzw. U . Folglich gilt l(A′U) = l(DH). Da wir schon wissen, das dieStrecke C ′U halb so groß ist wie CH – sie korrespondieren bei der Mittendreieck-Korrespondenz– ist D der Mittelpunkt von CH. Ferner folgt aus obiger Kongruenz l(U ′D) = l(U ′C ′). Somitgeht der Feuerbachkreis durch die Mittelpunkte der Strecken CH, AH und BH. (Mit l(DE)wurde die Lange der Strecke CD bezeichnet.)

c) Ohne Beweis zitiere ich: Der Feuerbachkreis beruhrt den Inkreis und die Ankreise.

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176 KAPITEL 6. GEOMETRIE

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Kapitel 7

Differenzial- und Integralrechnung

7.1 Differenzieren

Wie im Kapitel uber die Geometrie verzichte ich auch hier bewusst auf die großtmoglichePrazision. Ich mochte namlich nicht, dass Du Dich in einem unubersichtlichen Wust kleintei-liger Beweise verfangst, sondern zunachst einmal die großen Linien kennenlernst. Im Studiumwirst Du dann, hoffentlich mit Genuss, erkennen, dass man alles auch ohne Appellation an dieAnschauung (die ja moglicherweise nicht fur alle dieselbe ist) rein logisch beweisen kann.

Hier werde ich es z.B. als anschaulich klar ansehen, dass eine Funktion, die auf einem Intervalldie (konstante) Ableitung 0 hat, dort konstant ist. Ebenso werde ich nicht beweisen, dass eineFunktion, deren Ableitung auf einem Intervall I positiv ist, dort auch streng monoton wachsendist, d.h. dass aus x, y ∈ I und x < y die Ungleichung f(x) < f(y) folgt. So werde ich auch denZwischenwertsatz als anschaulich klar ansehen. Dieser besagt ja, dass eine auf einem IntervallI stetige Funktion f zwischen zwei Punkten x1, x2 ∈ I alle Werte zwischen f(x1) und f(x2)annimmt. Solltest Du mein Vorgehen als unbefriedigend empfinden, so kannst Du die exaktenBeweise im Buch von Forster (z.B.) nachlesen oder sie selber finden.

Wahrscheinlich wirst Du bereits wissen, was das Differenzieren bzw. die Ableitung einer Funk-tion bedeuten. Wegen der Wichtigkeit dieser Begriffe wollen wir sie hier ausfuhrlich besprechen.

7.1.1 Die einfachsten Funktionen sind die Polynome vom Grad ≤ 1, auch lineare Funktionengenannt, also solche von der Art

f : R→ R, f(x) = ax+ b,

wo a, b feste reelle Zahlen sind. (Zu ihnen gehoren auch die konstanten Funktionen, wo a = 0ist.)

Oben haben wir lineare Abbildungen von Vektorraumen definiert. Wenn man R als R-Vektorraum betrachtet, so ist die Abbildung x 7→ ax + b nur dann linear als Abbildung vonVektorraumen, wenn b = 0 ist. Hier wollen wir aber unter einer linearen Funktion allgemeinein Polynom vom Grad ≤ 1 auffassen.

177

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178 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Wenn x0, x1 verschiedene reelle Zahlen sind, gilt fur ein solches f immer

f(x1)− f(x0)

x1 − x0

= a, d.h. fur h 6= 0 istf(x0 + h)− f(x0)

h= a .

0 1

1

2x0 x1

x1–x0

f(x1)–f(x0)2

3

3

4 65

f(x) = — x + 112

Der Graph einer solchen Funktion ist eine Gerade. Aber nicht alle Geraden in der ‘(x, y)’-Ebenesind Graphen solcher Funktionen. Namlich, fur beliebiges c ∈ R ist die Gerade, die durch dieGleichung x = c gegeben wird, nicht der Graph einer Funktion (von x)! (Warum?)

Man nennt den Koeffizienten a der Funktion f(x) = ax+ b die Steigung dieser Funktion. Istx0 ∈ R und betrachten wir die Werte an der Stelle x0 und x0 +h, so ist f(x0 +h) = f(x0)+ah.D.h. wachst der ‘x-Wert’ um h, so wachst der Funktionswert um ah. Die Steigung ist also einMaß fur das Wachstum. (Beachte, dass a bzw. h selbstverstandlich auch negativ sein durfen,das Wort ‘wachsen’ hier also auch ‘kleiner werden’ bedeuten kann.)

Angenommen, ein Auto fahrt entlang einer (geraden) Straße, in der Weise, dass es sich imZeitpunkt t bei ‘Kilometer’ at + b befindet. Dann hat a die Bedeutung der Geschwindigkeitdieses Autos, die in diesem Fall konstant ist.

Differenzieren bedeutet, auch einer komplizierteren Funktion in einem beliebigen Punkt ihresGraphen eine Steigung zuzuordnen.

Diese lokale Steigung in x0 einer Funktion f , die wir die Ableitung von f in x nennen, sollfolgendes leisten:

1.) Sie soll die Steigung der vernunftig definierten Tangente (die ja eine Gerade ist) an denFunktionsgraphen im Punkte (x0, f(x0)) sein.

2.) Sie soll bestmoglich eine angenaherte Berechnung von f(x) in der Nahe von x0 durch einelineare Funktion erlauben.

3.) Sie soll die Momentangeschwindigkeit angeben, mit der sich ein Punkt (auf einer Geraden)bewegt, wenn der Ort des Punktes im Zeitpunkt t durch f(t) gegeben wird.

Die Ableitung einer Funktion f im Punkte x0 ist also ein Maß dafur, wie und wie stark dieFunktion f im Punkt x0 variiert. Das hort sich zunachst etwas verruckt an, da die Funktion ja

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7.1. DIFFERENZIEREN 179

im Punkte x0 den Wert f(x0) hat. Was soll da variieren? Aber man kann ja fur x ‘in der Nahevon x0’ die Veranderung f(x)− f(x0) zur Differenz x− x0 ins Verhaltnis setzen, d.h. den sog.Differenzenquotienten

f(x)− f(x0)

x− x0

betrachten und dann beobachten, welchem Wert (wenn es denn einen solchen gibt) sich dieserQuotient nahert, wenn x gegen x0 geht.

1

1

2

2

3

3

4

4f(x) = x 3 – 5x 2 + 6x + 1

Beispiel 7.1.2 Wir betrachten als Beispiel die Funktion f(x) = x3− 5x2 + 6x+ 1 und werdendiese in der Nahe des Punktes x0 = 3 genauer betrachten. (Du darfst naturlich dasselbe furdie einfachere Funktion f(x) = x3 machen, wodurch das Ganze sicher ubersichtlicher wird.)Gleichzeitig wollen wir die physikalische Bedeutung der Ableitung als Momentangeschwindigkeitder Funktion des Ortes in Abhangigkeit von der Zeit begreiflich machen. Wir denken uns einenkleinen (am besten punktformigen) Wagen auf einer geraden Straße (der Breite 0, wenn manwill) der zum Zeitpunkt 0 sich bei bei Meter 1 befindet und zum Zeitpunkt x sec bei Meterx3−5x2 +6x+1. Ihr oben gezeichneter Graph macht diesen Zusammenhang deutlich. Beachte,dass das Auto zwischendurch auch mal zuruckfahrt.

Wir fragen: Wie groß ist die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen den Zeitpunkten 3 sec und5 sec? Nun f(3) = 1, f(5) = 31. Deshalb fahrt das Auto zwischen diesen beiden Zeitpunkteninsgesamt 30 m, d.h. die Durchschnittsgeschwindigkeit ist 15 m/sec.

Wieviel betragt sie zwischen den Zeitpunkten 3 sec und 4 sec? Nun, es ist f(3) = 1, f(4) =9. Also fahrt das Auto zwischen den Zeitpunkten 3 sec und 4 sec insgesamt 8 m. und dieDurchschnittsgeschwindigkeit ist 8 m/sec.

Wie groß ist sie zwischen den Zeitpunkten 3 sec und 3,5 sec? Nun es ist f(3) = 1, f(3,5) = 3,625,also die Durchschnittsgeschwindigkeit 5,25(= 2,625/0,5) m/sec.

Wie groß ist sie zwischen den Zeitpunkten 3 sec und 3,1 sec? Nun es ist f(3) = 1, f(3,1) = 1,341,also die Durchschnittsgeschwindigkeit 3,41 m/sec (= 0,341/0,1) m/sec.

Wie groß ist sie zwischen den Zeitpunkten 3 sec und 3,01 sec? Nun es ist f(3) = 1, f(3,01) =1,030401, also die Durchschnittsgeschwindigkeit 3,0401(= 0,030401/0,01) m/sec.

Wie groß ist sie zwischen den Zeitpunkten 2,99 sec und 3 sec? Nun es ist f(2,99) =1− 0,029601, f(3) = 1, also die Durchschnittsgeschwindigkeit 2,9601 m/sec.

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180 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Kann man von der Augenblicksgeschwindigkeit im Zeitpunkt 3 sec sprechen?

Als Praktiker wurde man doch sagen: Ja, etwa 3 m/sec. Und das ist auch sinnvoll und fur diePraxis meist hinreichend.

Wir Theoretiker sehen es im Prinzip ganz ahnlich. Der Praktiker berechnet ja den folgendenDifferenzenquotienten

f(x0 + h)− f(x0)

h(mit x0 = 3 im obigen Beispiel)

fur (positive oder negative) Zahlen h, die so richtig nahe bei 0 liegen, aber von 0 verschiedensind. (0/0 zu berechnen, fallt auch dem Praktiker schwer! Ich kann mir nicht vorstellen, dassDu dies in jedem Fall gleich 1 setzen wurdest, nachdem du unser obiges Beispiel studiert hast.)

Der Theoretiker wird nun ‘einfach’ die Augenblicksgeschwindigkeit im Zeitpunkt x0 durch

limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h

definieren, wobei zu beachten ist, das der Differenzenquotient fur h = 0 nicht definiert ist,also zur Berechnung nur Nullfolgen (hn)n betrachtet werden, deren Glieder samtlich 6= 0 sind.(Andererseits steht nirgendwo geschrieben, dass hn > 0 sein muss!)

Und da die Theoretiker auch ein paar knackige Regeln entwickeln werden, solche Grenzwertezu berechnen, konnen sie damit auch dem Praktiker hochst hilfreich sein.

Allein den entsprechenden Limes fur unsere spezielle Funktion f in dem Punkte x0 = 3 auszu-rechnen, scheint mir schon einfacher als die oben gemachten approximativen Berechnungen:

limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h= lim

h→0

(3 + h)3 − 5(3 + h)2 + 6(3 + h)− 33 + 5 · 32 − 6 · 3h

= limh→0

(27 + 27h+ 9h2 + h3)− (45 + 30h+ 5h2) + (18 + 6h)− 27 + 45− 18

h

= limh→0

(27 + 9h+ h2 − 30 + h+ 6) = 3.

Wie gesagt, es geht noch einfacher, und nicht nur fur einzelne Punkte x0. Du weißt das sicheraus dem Schulunterricht, und hier wird es auch bald behandelt.

Definition 7.1.3 Sei D ein Intervall, x0 ∈ D und f : D → R eine Funktion. Wir definierendie Ableitung oder Differenzialquotienten f ′(x0) von f in x0 durch

f ′(x0) := limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h= lim

x→x0

f(x)− f(x0)

x− x0

wobei die beiden Limiten offenbar dieselben sind. (Naturlich muss dieser Limes nicht in jedemFall existieren!)

Ferner heißt f in x0 differenzierbar, wenn o.a. Limes existiert, genauer als reelle Zahl exi-stiert. Die Limiten ±∞ wollen wir vorsichtshalber nicht als Ableitung zulassen!

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7.1. DIFFERENZIEREN 181

7.1.4 Es ist keineswegs jede Funktion differenzierbar, z.B. nicht die Funktion, die fur allerationalen x den Wert 1 und fur die irrationalen x den Wert 0 annimmt. Diese ist uberallunstetig, und deshalb auch nirgendwo differenzierbar, wie Du gleich sehen wirst. Aber auch dieFunktion f(x) = |x| ist in 0 nicht differenzierbar. Allerdings gibt es dort eine links- und einerechtsseitige Ableitung. Was meine ich wohl damit?

Bei folgender (stetigen) Funktion gibt es in 0 nicht einmal diese:

f : R→ R, f(x) := x · sin(

1

x

)fur x 6= 0, f(0) = 0.

Uberlege das schon einmal, wenn Du magst. Im 4. Abschnitt erfahrst Du mehr hierzu.

Man kann sogar Funktionen konstruieren, die uberall stetig, aber nirgendwo differenzierbarsind.

7.1.5 Um zu sehen, dass jede in a differenzierbare Funktion f dort auch stetig ist, betrachteeine Folge (xn)n∈N im Definitionsbereich von f , die gegen a konvergiert und xn 6= a fur alle nerfullt. Da nach Voraussetzung die Folge(

f(xn)− f(a)

xn − a

)n∈N

konvergiert, ist sie beschrankt, d.h. es gibt ein s mit

|f(xn)− f(a)||xn − a|

< s, also |f(xn)− f(a)| < s|xn − a| fur alle n.

Man sieht dann leicht, dass limn→∞ f(xn) = f(a) aus limn→∞ xn = a folgt.

7.1.6 Approximation, Tangente. Man kann die Ableitung einer Funktion f in einem Punktx0 ihres Definitionsbereiches auch anders beschreiben. Man kann sich fragen, wie man f in derNahe von x0 am besten durch eine lineare Funktion aproximieren kann, also

f(x0 + h) = f(x0) + c · h+ ϕ(h)

schreiben kann, wobei der Korrekturterm ϕ ‘mit großerer Beschleunigung als h gegen 0 geht’.Damit meine ich, dass

limh→0

ϕ(h)

h= 0

ist. Nun kann man die Gleichung 7.1.6 folgendermaßen umformen

ϕ(h)

h=f(x0 + h)− f(x0)

h− c

so dass

limh→0

ϕ(h)

h= 0 ⇐⇒ lim

h→0

f(x0 + h)− f(x0)

h= c

gilt. Es ergibt sich folgender

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182 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 7.1.7 Die Funktion f ist in x0 genau dann differenzierbar und hat dort die Ableitungf ′(x0) = c, wenn sich f folgendermaßen schreiben lasst

f(x0 + h) = f(x0) + c · h+ ϕ(h) mit limh→0

ϕ(h)

h= 0.

Der Graph der Funktion g(x) = f(x0) + c · (x − x0) ist dann eine Gerade, die durch denPunkt (x0, f(x0)) lauft und nahe x0 den Graphen der Funktion besser als linear, d.h. besserals jede andere Gerade approximiert, also ihn in (x0, f(x0)) ‘beruhrt’ – d.h. die sogenannteTangente an den Graphen von f in diesem Punkt ist. (Wir wollen die Tangente an denGraphen einer Funktion in einem Punkt schlicht auf diese Weise formal definieren. Es gibtallerdings Tangenten an Graphen von Funktionen, die so nicht erfasst werden konnen. Z.B. hatder Graph der Funktion f(x) = 3

√x (auch g(x) =

√x) im Nullpunkt eine sinnvolle Tangente,

namlich die ‘y-Achse’, ohne dass diese Funktion dort differenzierbar ware. Wenn uberhaupthatte dort die Ableitung den Wert ∞, den wir aber bei der Definition der Differenzierbarkeitals Wert der Ableitung bewusst ausgeschlossen haben. Ahnlich verhalt es sich mit der Funktion,f(x) =

√1− x2, deren Graph ein Halbkreis ist, bei x = ±1.)

7.1.8 Das Differenzieren einer Funktion ist langst nicht so spannend, wenn man es nur ineinzelnen Punkten, als wenn man es in allen Punkten oder wenigstens den meisten Punkten desDefinitionsbereiches macht. Und wie Du vielleicht schon weißt, geht das bei vielen Funktionengut, z.B. bei Polynomfunktionen, oder Quotienten von solchen, dort, wo sie definiert sind. Isteine Funktion f : D → R auf einer Teilmenge D′ ihres Definitionsbereiches D differenzierbar, soist f ′(x) fur jedes x ∈ D′ definiert, mit anderen Worten, wir haben eine Abbildung f ′ : D′ → R,die Ableitung von f .

Beispiele 7.1.9 a) Seien a, b ∈ R und f : R → R definiert durch f(x) := ax + b, so ist fuberall differenzierbar und hat die konstante Ableitung f ′(x) = a. Du wirst keine Schwierigkeithaben, das zu zeigen. (Es ware ja auch saublod, wenn eine lineare Funktion mit der Steigung anicht in jedem Punkt die Steigung a hatte.) Ubrigens ist jede Funktion, die auf einem Intervalluberall die konstante Ableitung a hat, von der Form f(x) = ax + b. Dies ist allerdings nichttrivial, soll aber hier als anschaulich klar angesehen werden.

b) Ein Beispiel, wo die Ableitung einer Funktion f nicht auf dem ganzen Definitionsbereichvon f definiert ist, ist die bereits oben betrachtete Funktion f(x) = 3

√x. Hier ist D = R und

D′ = R∗.

7.2 Berechnungsmoglichkeiten von Ableitungen

Wir beginnn jetzt damit, fur recht viele Funktionen zu zeigen, dass sie differenzierbar sind, undgleichzeitig einfache Regeln zur Berechnung ihrer Ableitungen anzugeben. Ohne diese Regelnware die Differenzialrechnung nicht halb so wichtig und beruhmt, wie sie ist!

Wir benotigen dafur folgende fast selbstverstandlichen Definitionen.

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7.2. BERECHNUNGSMOGLICHKEITEN VON ABLEITUNGEN 183

Definitionen 7.2.1 Seien f, g : D → R Funktionen und a ∈ R, so wird af , bzw. f + g, bzw.fg durch (af)(x) := a(f(x)), bzw. (f + g)x = f(x) + g(x), bzw. (fg)(x) = f(x)g(x) fur allex ∈ D definiert.

Ist D′ ⊂ D die Menge aller x mit g(x) 6= 0, dann definieren wir fur alle x ∈ D′ die Funktionf

gdurch

f

g(x) =

f(x)

g(x).

Achtung: Unterscheide zwischen dem Produkt fg und der Verkettung (Hintereinander-ausfuhrung) f g ! Und verwechsle auch nicht 1

f(x)mit der Umkehrfunktion f−1 !

Satz 7.2.2 Seien a, b ∈ R und f, g : D → R auf D differenzierbare Funktionen, wobei D eineVereinigung von Intervallen positiver Lange ist. Dann gilt:

a) Die Funktion af + bg ist auf D differenzierbar und es ist (af + bg)′ = af ′ + bg′. (Man kanndies auch in zwei Regeln aufteilen: f + g und af sind differenzierbar und haben die Ableitungenf ′ + g′, bzw. af ′.)

b) Produktregel: Die Funktion fg ist auf D differenzierbar und es ist (fg)′ = f ′g + g′f .(Vorsicht! Fast immer ist (fg)′ 6= f ′g′.)

c) Quotientenregel: Sei D′ die Menge aller x ∈ D, wo g(x) 6= 0 ist. Dann ist die Funktionf

gauf D′ differenzierbar und es gilt

(f

g

)′=f ′g − g′f

g2.

Beweis: Den Beweis von a) uberlasse ich Dir.

b) Wir benutzen die beliebte Umformungab− a′b′ = ab− a′b+ a′b− a′b′ = (a− a′)b+ a′(b− b′) und rechnen:

limh→0

f(x+ h)g(x+ h)− f(x)g(x)

h=

limh→0

f(x+ h)g(x+ h)− f(x)g(x+ h)

h+ lim

h→0

f(x)g(x+ h)− f(x)g(x)

h=

= limh→0

f(x+ h)− f(x)

h· g(x+ h) + lim

h→0f(x) · g(x+ h)− g(x)

h= f ′(x)g(x) + f(x)g′(x)

Insbesondere ist ja g in x stetig und deshalb limh→0 g(x+ h) = g(x).

c) Ich behandle zunachst den Fall f(x) = 1 (fur alle x ∈ D) und uberlasse es dann Dir, b) auf

das Produkt f · 1g

anzuwenden.

Wir berechnen die Ableitung der Funktion1

g:(

1

g

)′(x) = lim

h→0

1

h

(1

g(x+ h)− 1

g(x)

)= lim

h→0

1

h· g(x)− g(x+ h)

g(x)g(x+ h)=

limh→0

1

g(x)g(x+ h)· lim

h→0

(−g(x+ h)− g(x)

h

)= − g′(x)

(g(x))2.

Den Rest uberlasse ich – wie gesagt – Dir.

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184 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beispiele 7.2.3 a) Zeige mit Hilfe der Produktregel: Ist f(x) = xn mit einer naturlichen Zahln > 0, so gilt f ′(x) = nxn−1. Dies ist eine einfache Ubung zur vollstandigen Induktion.

b) Zeige, dass dies (fur x 6= 0) auch fur beliebige ganze, also auch negative n gilt. Die Ableitungder Funktion f(x) = x0 ist 0, die 0-Funktion, auch in x = 0, jedenfalls, wenn man 00 = 1setzt. (Die 0-Funktion ist die Funktion, die uberall den Wert 0 hat.)

c) Fur n ∈ Z, aber n 6= 0 ist also die Ableitung der Funktion f(x) =xn

ndie Funktion xn−1. D.h.

zu jeder Funktion g(x) = xn mit n 6= −1 gibt es eine Funktion, deren Ableitung gleich g ist,

eine sogenannte Stammfunktion von g, namlich die Funktion f(x) =xn+1

n+ 1. Dieser Ausdruck

hat keinen Sinn fur n = −1. Gibt es auch eine Stammfunktion von1

x? Vielleicht kennst Du

eine solche bereits. Sonst musst Du Dich noch etwas gedulden.

d) Berechne die Ableitung der Funktion f(x) = x3 − 5x2 + 6x+ 1.

d’) Zeige allgemeiner:

Ist f(x) =n∑

k=0

akxk, so ist f ′(x) =

n∑k=1

kakxk−1

Folglich erhaltst Du: Ist f(x) = anxn + · · · + a1x + a0 ein Polynom vom Grade n ≥ 1, so

ist f ′ ein Polynom vom Grade n − 1. Hat f den Grad 0, d.h. ist f konstant, aber nicht 0,so ist f ′ = 0, d.h. die 0-Funktion. Die Ableitung der 0-Funktion ist wieder die 0-Funktion.Somit ist ein Polynom unendlich oft differenzierbar. Die Ableitung eines Polynoms, das nichtkonstant gleich 0 ist, ist also ‘einfacher’, namlich von kleinerem Grad, als das Polynom selber.Fur allgemeinere Funktionen ist das aber nicht die Regel. Sehr haufig ist die Ableitung einerFunktion komplizierter als diese selbst, wie Du schon in folgendem Beispiel siehst.

e) Berechne die Ableitung von f(x) =x4 + x+ 1

x2 + 1. Allgemein besitzt eine rationale Funktion,

d.h. ein Quotient zweier Polynome eine Ableitung uberall da, wo sie definiert ist. Und dieseAbleitung ist wieder eine rationale Funktion.

7.2.4 Wir wollen auch Funktionen wie n√x differenzieren und erinnern uns daran, dass diese

die Umkehrfunktion von g(y) = yn ist. Genau genommen wird fur jede ungerade Zahl n > 0durch g(y) = yn eine bijektive Abbildung R → R definiert. Ist n > 0 gerade, so ist dieFunktion g(y) = yn jedenfalls als Abbildung von R+ nach R+ bijektiv. Deshalb gibt es eineUmkehrfunktion f = g−1 : R → R, bzw. f = g−1 : R+ → R+, die mit f(x) = n

√x bezeichnet

wird. Um die Ableitung von Umkehrfunktionen wollen wir uns sofort kummern und damit auchdie Ableitungen von Wurzelfunktionen berechnen.

Dass die Abbildungen g : R → R mit g(x) = xn fur ungerade n > 0, sowieg : R∗

+ → R∗+ mit g(x) = xn fur gerade n > 0, bijektiv sind, ist ziemlich plausibel, aber doch

nicht ganz selbstverstandlich. Die Injektivitat lasst sich leicht zeigen: x1 < x2 =⇒ xn1 < xn

2 . DieSurjektivitat folgt aus dem Zwischenwertsatz.

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7.2. BERECHNUNGSMOGLICHKEITEN VON ABLEITUNGEN 185

Satz 7.2.5 Seien I, J Intervalle, g : J → I eine bijektive stetige Funktion und f = g−1. Ist gin y0 ∈ J differenzierbar mit g′(y0) 6= 0, so ist f in x0 = g(y0) differenzierbar mit der Ableitung

f ′(x0) =1

g′(y0)=

1

g′(f(x0)).

Beweis: Ich begnuge mich mit einer Plausibilitatsbetrachtung:Betrachte eine Gerade in der x, y-Ebene, die zu keiner der beiden Achsen parallel ist. Sie istsowohl der Graph einer Funktion, die jedem y-Wert einen x-Wert, als auch der Graph einerFunktion die jedem x-Wert einen y-Wert zuordnet. Ist x = ay + b, so ist y = a−1x− a−1b.

Sei a = g′(y0). Dann wird die Tangente an den Graphen der Funktion g im Punkte (y0, x0)durch eine Gleichung der Form x = ay+ b beschrieben. Der Graph der Funktion f ist derselbe,wie der der Funktion g, wo nur die Rollen von x und y vertauscht sind. (Wenn Du, wie ublichdie ‘unabhangige Variable’ auf der waagerechten Achse variieren lassen mochtest, musst Du denGraphen an der Geraden ‘y = x’ spiegeln.) Die Tangente im Punkte (y0, x0) ist dann naturlichdieselbe. (Genau hier wird etwas gemogelt, da die Tangente nach obiger Definition nicht volligsymmetrisch in x, y definiert ist.) Wenn ich die Tangentengleichung nach y auflose, erhalte ich

y = a−1x− ba−1, so dass ihre Steigung a−1 =1

g′(y0)ist.

Folgerung 7.2.6 Die Funktion f : R+ → R+, x 7→ n√x ist fur x > 0 differenzierbar und hat

die Ableitung f ′(x) =n√x

nx=

1

nx

1n−1. (Ist n ungerade, so ist die Funktion f : R→ R, x 7→ n

√x

fur x 6= 0 differenzierbar und hat die angegebene Ableitung.)

Beweis: Die Umkehrfunktion von f(x) = n√x ist g(y) = yn. Dann ist

f ′(x0) =1

n( n√x0)n−1

=1

n( n√x0)

1−n =1

nx

1n−1

0 .

Bemerkung 7.2.7 Seien f1, . . . , fn differenzierbare Funktionen mit demselben Definitionsbe-reich. So ist ihr Produkt f1f2 · · · fn ebenfalls differenzierbar und hat die Ableitung

f ′1 · f2 · · · fn + f1 · f ′2 · f3 · · · fn + . . .+ f1 · · · fn−1 · f ′n

(Gemeint ist eine Summe von n Produkten aus jeweils n Faktoren, wo im k-ten Summandender k-te Faktor die Ableitung f ′k, und fur die anderen i 6= k der i-te Faktor fi ist.) Du wirstdies sicher mit Induktion beweisen konnen.

Das gilt naturlich auch wenn die Faktoren einander gleich sind:Ist n > 0 ganz und g(x) = f(x)n, so ist mit f auch g differenzierbar und g′(x) = nf ′(x)·f(x)n−1.

Schreibt man xm/n = ( n√x)

m, so erhalt man

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186 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Folgerung 7.2.8 Ist a eine positive rationale Zahl, so ist f : R∗+ → R∗

+, x 7→ xa differenzierbarund es gilt f ′(x) = axa−1. (Lasst sich a mit einem ungeraden Nenner schreiben, so kann manR∗

+ durch R∗ ersetzen. Fur a ≥ 1 ist die Funktion auch in 0 differenzierbar.)

Mit Hilfe der Quotientenregel erhalten wir:

Folgerung 7.2.9 Dasselbe gilt, wenn a eine negative rationale Zahl (und x > 0) ist.

Bemerkung 7.2.10 Im nachsten Abschnitt werden wir zeigen, dass f ′(x) = axa−1 fur beliebigereelle a gilt.

Bemerkungen 7.2.11 Fur den Beweis des nachsten Satzes brauchen wir das Folgende:

a) Sei ϕ, definiert auf einer Umgebung der 0, mit der Eigenschaft limh→0

ϕ(h)

h= 0, dann ist auch

limh→0

ϕ(ah)

h= 0. Denn dies ist fur a = 0 ohnehin klar, und fur a 6= 0 kann man

ϕ(ah)

h= a ·ϕ(ah)

ahschreiben.

b) Sei a 6= 0 und ϕ wie oben, dann gibt es ein δ > 0, derart dass fur alle h mit 0 < |h| < δdie Ungleichung |ϕ(h)| < |ah| gilt. Denn angenommen, fur jedes n ∈ N1 gabe es ein hn mit

|hn| < 1/n und |ϕ(hn)| ≥ |ahn|, dann ware limn→∞

ϕ(hn)

hn

6= 0 oder nichtexistent. Also muss fur

ein (genugend großes) n fur alle h mit |h| < 1/n die Ungleichung |ϕ(h)| < ah gelten.

c) Sei ψ eine weitere Funktion mit den genannten Eigenschaften von ϕ, dann folgt aus a) undb) dass auch die zusammengesetzte Funktion ψ(ah + ϕ(h)) diese Eigenschaften hat. Denn furgenugend kleine |h| ist ja dann |ϕ(h)| < |ah| und folglich |ah+ ϕ(h)| ≤ |ah|+ |ϕ(h)| < 2|ah|.

Wie kann man z.B. die Funktion f(x) =√

1 + x2 differenzieren? Dazu dient folgende wichtigeRegel:

Satz 7.2.12 Kettenregel: Seien I, J Intervalle und f : I → J, g : J → R Funktionen undx0 ∈ I. Sei ferner f in x0 und g in f(x0) differenzierbar. Dann ist gf in x0 differenzierbarund es gilt (gf)′(x0) = g′(f(x0)) · f ′(x0).

Anders ausgedruckt: Ist das lokale Wachstum von f im Punkte x0 gleich a und das lokaleWachstum von g im Punkte f(x0) gleich b, so ist das lokale Wachstum von gf im Punkte x0

gleich ba.

Beweis: Zunachst eine Plausibilitatsbetrachtung: Wenn man f in der Nahe von x0 durch dieapproximierende lineare Funktion x 7→ ax+c ersetzt und entsprechend g in der Nahe von f(x0)durch die approximierende lineare Funktion y 7→ by + d, so ist die Verkettung dieser linearenFunktionen die lineare Funktion b(ax+ c) + d = bax+ (bc+ d), deren Wachstum gleich ba ist.

Genauer, sei f(x+h) = f(x)+ah+ϕ(h) mit limh→0(ϕ(h)/h) = 0 und g(y+k) = g(y)+bk+ψ(k)mit limk→0(ψ(k)/k) = 0 fur kleine |h|, |k|.

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7.3. EXPONENTIAL- UND POTENZFUNKTIONEN 187

Dann ist gf(x+ h) = g(f(x) + ah+ ϕ(h)) = gf(x) + bah+ bϕ(h) + ψ(ah+ ϕ(h)). Es genugtfolgendes zu zeigen

limh→0

bϕ(h)

h= 0 und lim

h→0

ψ(ah+ ϕ(h))

h= 0 ,

wobei die erste Aussage trivial ist. Die zweite haben wir oben gezeigt.

Beispiel 7.2.13 Die Ableitung von f(x) =√

1 + x2 ist f ′(x) =2x

2√

1 + x2=

x√1 + x2

.

7.3 Exponential- und Potenzfunktionen

7.3.1 Uber die Funktion exp(x) = ex wissen wir aus Lemma 5.2.5 bereits folgendes:(∗) Fur |x| < 1 gilt |ex − 1− x| < x2.Hieraus folgt

Lemma 7.3.2 limx→0,x 6=0

ex − 1

x= 1

Beweis: Wenn Du die Ungleichung (∗) durch |x| (mit 0 < |x| < 1) dividierst, erhaltst Du∣∣∣∣ex − 1

x− 1

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ex − 1− xx

∣∣∣∣ < |x|was die Behauptung des Lemmas beweist.

Theorem 7.3.3 Die Funktion exp ist differenzierbar und hat die Ableitung exp′ = exp.

Beweis: Da ex+h = exeh ist, gilt (mit h 6= 0)

limh→0

exp(x+ h)− exp(x)

h= ex lim

h→0

eh − 1

h= ex .

Die letzte Gleichung gilt auf Grund obigen Lemmas.

Bemerkung 7.3.4 Wenn man die Exponentialreihe gliedweise differenziert, kommt man zumselben Ergebnis. Allerdings haben wir nicht bewiesen, dass dies gerechtfertigt ist! Es gibt vieleBeispiele von Reihen (Folgen) von Funktionen, wo die gliedweise Ableitung nicht zum richtigenErgebnis fuhrt.

Bezeichnung. Man schreibt oft ddxf(x) := f ′(x), besonders dann, wenn die Funktion durch

einen Ausdruck gegeben ist, den man nicht erst mit f(x) benennen will. Also statt des Satzes

Ist f(x) = x2 − 3√

2 + x+ x4, so ist f ′(x) = 2x− (1 + 4x3)

3 3√

(2 + x+ x4)2

schreibt man kurzer

d

dx(x2 − 3

√2 + x+ x4) = 2x− (1 + 4x3)

3 3√

(2 + x+ x4)2

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188 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 7.3.5 a) Fur die Ableitung des naturlichen Logarithmus gilt:

ln′(x) =1

xfur x > 0 , ja sogar

d

dxln |x| = 1

xfur alle x 6= 0 .

b) Allgemeiner gilt folglichd

dxloga |x| =

1

x ln afur a > 0.

c) Fur die Ableitung der Exponentialfunktion f(x) = ax (mit a > 0) gilt:

d

dxax := f ′(x) = ln(a) · ax

d) Fur die Ableitung der Potenzfunktion g(x) = xa (die fur alle reellen a und jedenfalls furx > 0 definiert ist) gilt

d

dxxa := g′(x) = axa−1

Beweis: a) Nach der Regel fur die Ableitung der Umkehrfunktion ist

ln′ x =1

exp′(lnx)=

1

exp(lnx)=

1

x.

a’) Ist x > 0, so ist |x| = x und die Behauptung bereits bewiesen. Fur x < 0 ist |x| = −x. Nach

der Kettenregel gilt dannd

dxln(−x) = − 1

−x=

1

x

b) folgt aus loga |x| = ln |x|/ ln(a)

c) Da ax = ex ln a ist, kannst Du die Kettenregel auf f(x) = ex ln a anwenden.

d) Es ist xa = ea ln x. Mit Hilfe der Kettenregel siehst Du

d

dxea ln x =

a

xea ln x =

a · xa

x= a · xa−1 .

Die Ableitung der Funktion ax ist also proportional zu ax. Und der Proportionalitatsfaktor istgenau dann gleich 1, wenn a = e ist.

Wenn ich von der Exponentialfunktion f(x) = ax und von der Potenzfunktion g(x) = xa rede,ist jedesmal mit x eine Variable (die sog. unabhangige Variable) und mit a eine Konstantegemeint. Deshalb haben die Ableitungen (nach x) dieser beiden Funktionen nichts miteinanderzu tun!

Bemuhe Dich, die Namen ‘Potenzfunktion’ bzw. ‘Exponentialfunktion’ immer richtig zuzuord-nen.

Leider werden haufig, sogar in naturwissenschaftlichen Abhandlungen, die Begriffe ‘exponenti-elles Wachstum’ und ‘exponentielle Abnahme’ falsch verwendet! Alles was nicht linear ist, wird‘exponentiell’ genannt. Diesem Missbrauch solltest Du nicht folgen.

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7.4. SINUS UND COSINUS 189

7.3.6 Wir wissen jetzt, was die Ableitungen der Funktionen g(x) = xa und h(x) = ax sind.Frage: Was ist die Ableitung der Funktion f : R∗

+ → R, definiert durch f(x) = xx?

f ′(x) = xx−1

x= xx−2 ln(x) · xx (1 + ln x)xx

Antwort: Schreibe xx = ex ln x und Du erhaltst mit Hilfe der Ketten- und Produktregel diedritte Moglichkeit als richtige Antwort! (Die Ableitung von x lnx ist ja 1 · lnx+ x · 1

x.)

Zur ersten Moglichkeit: Die Funktion f ist keine Funktion der Form xa mit einer Konstantena.

Zur zweiten Moglichkeit: Die Funktion f ist auch nicht eine Funktion der Form ax mit einerKonstanten a.

7.4 Sinus und Cosinus

Da wir hier Abbildungen I → R2 mit einem Intervall I betrachten, wollen wir zunachst definie-ren, wann eine Folge von Elementen des R2, also von Punkten oder Vektoren der Ebene, gegenein Element des R2 konvergiert.

Definition 7.4.1 Sei (an)n eine Folge von Elementen des R2 mit an = (an1, an2). Man sagt,die Folge (an)n konvergiert gegen ein a = (a1, a2) ∈ R2, wenn die Folge (an1)n gegen a1 und dieFolge (an2)n gegen a2 konvergiert.

Bemerkung 7.4.2 Wie Du weißt, kann man den Vektorraum der Ebene, oder auch die Ebeneauf vielerlei Weise mit dem R2 identifizieren. Und Du wirst fragen, ob verschiedene solcheIdentifikationen zu verschiedenen Definitionen der Konvergenz fuhren. Glucklicher Weise istdas nicht so.

Wenn namlich ϕ : R2 → R2 linear ist, so sind die Komponenten von ϕ(an) von der Formban1+can2 mit geeigneten reellen Zahlen b, c. Aus Satz 3.2.27 folgt dann, dass die Komponentender ϕ(an) gegen die jeweiligen Komponenten von ϕ(a) konvergieren. Ist ϕ invertierbar, so giltdas Entsprechende fur ϕ−1.

Und wenn man die Ebene zusatzlich durch eine Verschiebung des Ursprungs auf andere Weisemit dem Vektorraum der Ebene identifiziert, hat das erst recht keinen Einfluss auf die Konver-genz einer Folge.

7.4.3 Sei I ein Intervall in R. (Allgemeiner darf I eine beliebige Menge sein.) Eine Abbildungγ : I → R2 bedeutet, dass jedem t ∈ I ein Paar (x, y) mit x, y ∈ R zugeordnet wird. Das heißt,die Abbildung γ ist durch dasjenige Paar von Abbildugen (γ1, γ2) gegeben, welches γ(t) =(γ1(t), γ2(t)) fur jedes t ∈ I erfullt.

(Beachte, dass man eine Abbildung R2 → R, also in umgekehrter Richtung, meist nicht durchein Paar von Abbildungen beschreiben kann! Eines von vielen moglichen Beispielen ist dieAbbildung f , die durch f(x, y) = xy + x+ y beschrieben wird.)

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190 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Definition 7.4.4 Eine ebene parametrisierte Kurve ist eine stetige Abbildung γ : I → R2,wobei I ein Intervall ist.

Dabei heißt γ : I → R2 eine stetige Abbildung, wenn limx→a γ(x) = γ(a) fur jedes a ∈ Igilt, das heißt, wenn sie als Paar stetiger Abbildungen (γ1, γ2) mit γi : I → R gegeben ist.

Wegen obiger Bemerkung gilt die Stetigkeit der Abbildung, wenn sie bzgl. eines Koordinaten-systems gilt, auch fur alle anderen.

Anschaulich bedeutet eine parametrisierte Kurve, dass man einen Punkt, abhangig von derZeit, in der Ebene bewegt – und zwar stetig, d.h. ohne Sprunge. Wenn man z.B einen Kreismit dem Zirkel zeichnet, macht man so etwas.

Naturlich kann man allgemein Abbildungen γ : I → Rn betrachten. Ist n = 3, so spricht manvon Raumkurven.

Manchmal nennt man das Bild von γ (in obigem Beispiel den fertig gezeichneten Kreis) dieSpur von γ. Achte darauf, dass eine parametrisierte Kurve begrifflich nicht dasselbe bedeutet,wie ihre Spur. Erstere ist eine Abbildung von einem Intervall nach R2, letztere eine Teilmengedes R2.

γ(0) γ(3)

32γ(—)

γ(1) = γ(2)

Beispiele 7.4.5 a) Die parametrisierte Kurve γ : R→ R2, t 7→ (t, , t2) durchlauft die Parabel(x, x2) | x ∈ R, d.h. den Graphen der Funktion f(x) = x2. Die Parabel ist die Spur dieserparametrisierten Kurve.

b) Allgemeiner: Ist f : I → R eine stetige Funktion, so ist γ : I → R2, t 7→ (t, f(t)) eineparametrisierte Kurve, deren Spur der Graph von f ist.

c) Peano-Kurven. Man sollte nicht glauben, dass es so etwas Verucktes wirklich gibt, namlichsurjektive stetige Abbildungen [0, 1] → [0, 1] × [0, 1]. Die Stetigkeit γ : I → R2 ist also eineschwachere Bedingung als man denkt. Bijektive stetige Abbildungen [0, 1]→ [0, 1]× [0, 1] gibtes aber nicht.

7.4.6 Ableitung einer parametrisierten Kurve. Sei γ : I → R2 eine parametrisierteKurve. Fur t ∈ I fassen wir γ(t) als Vektor auf:

γ(t) =

(γ1(t)γ2(t)

)

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7.4. SINUS UND COSINUS 191

Wenn t0, t0 + h ∈ I also γ(t0), γ(t0 + h) definiert sind, dann soll naturlich γ(t0 + h)− γ(t0) dieDifferenz der Vektoren γ(t0 + h) und γ(t0) bedeuten. Wir konnen also den ’Differenzenquoti-enten’

1

h(γ(t0 + h)− γ(t0)) =

(γ1(t0+h)−γ1(t0)

hγ2(t0+h)−γ2(t0)

h

).

definieren. Dann kann man auch von einer moglichen Ableitung sprechen. Wir setzen

γ′(t0) := limh→0

1

h(γ(t0 + h)− γ(t0)) =

limh→0

(γ1(t0+h)−γ1(t0)

hγ2(t0+h)−γ2(t0)

h

)=

(γ′1(t0)γ′2(t0)

)so dieser Limes denn existiert. Offenbar ist das genau dann so, wenn die Ableitungen γ′1(t0)und γ′2(t0) in t0 existieren. Der Differenzenquotient 1

h(γ(t0 + h) − γ(t0)) ist ein Vielfaches des

Vektors, der durch den Pfeil (γ(x0), γ(x0 + h)) gegeben wird.

γ(t0+h0) – γ(t0)

γ(t0+h1) – γ(t0)γ(t0) γ(t0+h0)

γ(t0+h1)

Wenn wir h gegen 0 gehen lassen, nahert sich der Differenzenquotient einem Vektor, der, wennman ihn in γ(x0) beginnen lasst, im anschaulichen Sinn ein Tangentenvektor an die Kurve γ(I)ist.

Definition 7.4.7 Eine parametrisierte Kurve γ : I → R2 heißt differenzierbar, wenn inallen t ∈ I die Ableitung von γ existiert.

7.4.8 Sei jetzt die Ebene mit einem orthonormierten Koordinatensystem versehen. Dann nenntman den Vektor γ′(t) = (γ′1(t), γ

′2(t)) auch den Geschwindigkeitsvektor von γ in (d.h. zum

Zeitpunkt) t0. Er hat die Lange√γ′1(t0)

2 + γ′2(t0)2. Diese nennen wir die Absolutgeschwin-

digkeit von γ in t0.

Bemerkungen 7.4.9 Es kann sein, dass in einem (Zeit-)Punkt t0 sowohl γ′1(t0) = 0 als auchγ′2(t0) = 0 ist. In diesem Fall kannst Du Uberraschungen erleben:

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192 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

a) Betrachte z.B. γ1(t) = γ2(t) = t2 insbesondere im Punkte (0, 0). Die Spur dieser Kurve istdie Halbgerade

(x, x) ∈ R2 | x ≥ 0

Verfolge den Weg, den γ(t) = (γ1(t), γ2(t) auf dem Intervall [−1, 1] durchlauft. Man startet imPunkt (1, 1) lauft geradenwegs nach (0, 0) und von dort wieder auf geradem Weg zuruck nach(1, 1).

b) Ein weiteres Beispiel: γ(t) = (γ1(t), γ2(t))

γ1(t) =

−t2 fur t ≤ 0t2 fur t > 0

und γ2(t) = t2.

Die Spur dieser Kurve ist der Graph der Funktion f : R→ R mit f(x) = |x|.

7.4.10 Der Kreis als parametrisierte Kurve. Wir haben die Funktionen Sinus undCosinus so definiert, dass die Abbildung

R→ R2, t 7→ (cos t, sin t)

den Einheitskreis parametrisiert, d.h. eine parametrisierte Kurve beschreibt, deren Spur derEinheitskreis ist.

Nach Definition ist der Betrag des Geschwindigkeitsvektors fur jeden Zeitpunkt gleich 1. Fernerist er immer gegen den Ortsvektor in mathematisch positiver Richtung um π/2 = 90o verdreht,ist also gleich (− sin t, cos t). Das bedeutet

(cos′ t, sin′ t) = (− sin t, cos t), d.h. sin′ t = cos t, cos′ t = − sin t .

tγ(t)

π/2

γ'(t)cos t

–sin t

Satz 7.4.11 Die Funktionen cos, sin : R→ R sind differenzierbar. Und es giltsin′ t = cos t, cos′ t = − sin t .

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7.4. SINUS UND COSINUS 193

Beispiele 7.4.12 Mit Hilfe des Sinus (der Cosinus tut’s auch) lassen sich auf einfache WeiseBeispiele von Funktionen bilden, die sich außergewohnlich verhalten.

a) Betrachte die Funktion ϕ(x) = sin( 1x), die auf R∗ = R− 0 definiert ist. Nahert sich x der

Zahl 0, so ‘oszilliert’ sie immer schneller. In jedem noch so kleinen Intervall ]0, ε[ nimmt sie jedeZahl des Intervalles [−1, 1] unendlich oft als Wert an. (Dasselbe gilt naturlich auch fur jedesIntervall ]− ε, 0[.) Somit gibt es kein a ∈ R derart, dass die Funktion

f1 : R→ R mit f1(0) = a und f1(x) = ϕ(x) fur x 6= 0

stetig ware.

b) Betrachte nun die Funktion

f2 : R→ R mit f2(0) = 0 und f2(x) = x · ϕ(x) fur x 6= 0

Fur jedes x ∈ R gilt |f2(x)| ≤ |x|. Ist also (xn)n∈N eine Folge mit limn→∞ xn = 0, so musswegen |f2(xn)− 0| ≤ |xn − 0| auch die Folge (f2(xn))n∈N gegen 0 konvergieren. Diese Funktionist also in 0 stetig; ihre Stetigkeit und Differenzierbarkeit außerhalb 0 folgt, da sie dort eineVerknupfung differenzierbarer Funktionen ist.

Allerdings ist f2 in 0 nicht differenzierbar. Ihre Ableitung in 0 musste folgender Limes sein:

limx→0

f(x)

x.

Fur x 6= 0 ist aberf(x)

x= ϕ(x), und gemaß a) existiert limx→0 ϕ(x) nicht!

c) Die Funktion

f3 : R→ R mit f3(0) = 0 und f3(x) = x2 · ϕ(x) fur x 6= 0

ist uberall – auch in 0 differenzierbar. Aber ihre Ableitung ist in 0 nicht mehr stetig. Dennf ′3(0) = 0 und fur x 6= 0 gilt

f ′3(x) = 2x · sin 1

x− x2

(1

x2

)cos

1

x= 2x · sin 1

x− cos

1

x

Nun ist die Summe einer in einem Punkt x0 stetigen und einer in x0 unstetigen Funktion inx0 unstetig. Daraus folgt, dass f ′3 in 0 nicht stetig ist. (Sind α, β, γ Funktionen auf demselbenIntervall mit α+ β = γ und sind α, γ im Punkt a stetig, so ist β = α− γ es auch.)

d) Definiere f4(x) := f3(x)− 2x2. Da |f3(x)| ≤ x2, also f4(x) ≤ −x2, ferner f4(0) = 0 fur alle xgilt, hat f4 in 0 ein ‘absolutes’ Maximum; d.h. f4(0) > f4(x) fur alle x 6= 0. Andererseits gibtes beliebig nahe bei 0 Punkte x < 0 mit f ′4(x) < 0 und ebenso Punkte x > 0 mit f ′4(x) > 0. Esgibt also keine ε-Umgebung in der links von 0 die Funktion monoton wachst und rechts von 0monoton fallt, mag ε > 0 noch so klein sein.

Berechne dazu außerhalb 0 die Ableitung f ′4 = f ′3 − 2x = 2x(sin 1x− 1)− cos 1

x. Es gilt

|2x(sin 1x− 1)| ≤ 2|x|(1 + 1) = 4|x| < 1 fur |x| < 1/4, wahrend cos 1

xfur x ∈ ]− 1

4, 1

4[−0

unendlich oft sowohl den Wert 1, wie den Wert −1 annimmt.

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194 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

7.4.13 Tangens. Die Funktion tan(x) :=sin x

cosxist uberall da definiert, wo cosx 6= 0 ist. Sie

heißt der Tangens von x.

Die Nullstellen des Cosinus sind alle π/2 + nπ, wo n die ganzen Zahlen durchlauft. Das heißt,dass der Definitionsbereich des Tangens die Vereinigung der unendlich vielen offenen Intervalle]nπ − π/2 , nπ + π/2[ ist, wo n die ganzen Zahlen durchlauft.

(Geometrisch gesehen, ist tanα die Steigung der Geraden durch den Nullpunkt, die mit derpositiven x-Achse, den Winkel α bildet.)

Die Ableitung des Tangens ist nach der Quotientenregel

tan′ x =sin′(x) cos(x)− sin(x) cos′(x)

cos2 x=

cos2 x+ sin2 x

cos2 x=

1

cos2 x.

Diese ist auf dem ganzen Definitionsbereich des Tangens positiv. Also ist der Tangens auf jedemder Intervalle ]nπ − π/2 , nπ + π/2[ streng monoton wachsend. Geht x von unten gegen π/2,so geht tanx gegen∞. Geht hingegen x von oben gegen −π/2, so geht der Zahler sin gegen −1und der Nenner von oben gegen 0, also der Tangens gegen −∞. In 0 liegt eine Nullstelle vor,da der Zahler dort 0 und der Nenner 1 ist. Es ist

tan(−x) =sin(−x)cos(−x)

=− sin x

cosx= − tan(x).

Also ist der Graph punktsymmetrisch bzgl. des Ursprungs. Geht x von unten gegen π/2, sogeht tanx gegen ∞.

Da sin(x+ π) = − sin x und cos(x+ π) = − cosx, ist tan(x+ π) = tan x,

Offenbar ist die Einschrankung des Tangens auf das Intervall ] − π/2 , π/2[ eine bijektiveAbildung von diesem Intervall nach R. Es gibt also eine Umkehrfunktion

arctan : R→ ]− π/2 , π/2[ .

Sie wird Arcus-Tangens genannt. Beachte, dass man eine Umkehrfunktion des Tangens nurdann (als Abbildung im strengen Sinn) bilden kann, wenn man seinen Definitionsbereich ge-eignet einschrankt, z.B. auf das oben genannte Intervall ]− π/2 , π/2[. Dies ist auch moglich,wenn man den Tangens auf ein anderes Intervall der Form ]nπ − π/2 , nπ + π/2[ einschrankt.Die Wahl n = 0 ist jedoch in gewisser Weise ausgezeichnet.

7.4.14 Auch wenn man Umkehrfunktionen des Sinus und des Cosinus bilden mochte, mussman durch geeignete Einschrankungen den Sinus bzw. Cosinus bijektiv machen.

Fur den Sinus wahlt man gemeinhin den Definitionsbereich [−π/2 , π/2], fur den Cosinus [0, π].

Denn offenbar hat man bijektive differenzierbare Funktionen

sin : [−π/2 , π/2]→ [−1 , 1] , sowie cos : [0 , π]→ [−1 , 1] .

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7.4. SINUS UND COSINUS 195

π/2 π

–1

0

1

π/2–π/2

–1

0

1

Die Umkehrfunktionen heißen Arcus-Sinus, bzw. Arcus-Cosinus und werden mit arcsin,bzw. arccos bezeichnet. Sie haben als Definitionsbereich das abgeschlossene Intervall [−1 , 1],sind aber nur auf dem offenen Intervall ]− 1 , 1[ differenzierbar.

7.4.15 Wir wollen noch die Ableitungen der genannten Umkehrfunktionen bestimmen.

Zunachst erinnern wir uns an die Formel cos2 x + sin2 x = 1, d.h. cos x =√

1− sin2 x, je-denfalls dort, wo cosx ≥ 0 ist.

a) Zum Arcus-Sinus: Nach der Regel der Ableitung einer Umkehrfunktion ist

arcsin′ x =1

sin′(arcsinx)=

1

cos(arcsinx)=

1√1− sin2(arcsin)

=1√

1− x2.

Die Wurzel ist in R+ zu wahlen, da der Cosinus im wie oben eingeschrankten Definitionsbereichdes Sinus nichtnegativ ist.

b) Entsprechend ergibt sich als Ableitung des Arcus-Cosinus: arccos′ x = − 1√1− x2

.

c) Zum Arcus-Tangens: arctan′(x) =1

tan′(arctanx)= cos2(arctanx). Nun gilt tan2(arctanx) =

x2. Ferner ist

tan2(y) =sin2 y

cos2 y=

1− cos2 y

cos2 y=

1

cos2 y− 1 , also

cos2 y =1

1 + tan2 y, und deshalb arctan′(x) = cos2(arctanx) =

1

1 + x2

Wie die Ableitung des Logarithmus ist also auch die Ableitung des des Arcus-Tangens einerationale Funktion.

7.4.16 Frage. Es gilt ja tan x =sin x

cosx. Gilt deshalb auch arctanx =

arcsinx

arccos x???

Ich muss gestehen, ich hatte nie geglaubt, dass irgendjemand auf die Idee kommen wurde, dieskonnte gelten. Leider habe ich das doch erlebt!

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196 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Antwort. Nun fur x = 0 gilt diese Gleichung sogar, da sin 0 = 0, also arcsin 0 = 0 = arctan 0ist. Aber, da sin(π/4) = cos(π/4) = 2−1/2 ist, ist tan(π/4) = 1, also arctan 1 = π/4.Daraus folgt arctan(−1) = −π/4. Aber es ist arccos(−1) = π und arcsin(−1) = −π/2, alsoarcsin(−1)

arccos(−1)= −1/2 6= π/4. Abgesehen davon ist arctan auf ganz R definiert, arcsin und arccos

hingegen nur auf [−1, 1].

7.4.17 Eine Reihe die gegen π/4 konvergiert. Die Funktion f(x) = (1 + x2)−1, d.h. dieAbleitung des Arcus-Tangens lasst sich fur |x| < 1 als folgende geometrische Reihe schreiben:

1

1− (−x2)= 1− x2 + x4 − x6 ± · · · =

∞∑n=0

(−1)nx2n

Betrachte dazu die folgende Funktion

F (x) = x− x3

3+x5

5− x7

7± · · · =

∞∑n=0

(−1)n x2n+1

2n+ 1

Wie Du an der Uni lernen wirst, darf man Potenzreihen gliedweise differenzieren (s. z.B. For-ster). Also ist F ′ = f und andererseits arctan′ = f . Deshalb ist F (x) − arctan(x) = c, eineKonstante, was ich als anschaulich klar ansehen will. Da ferner offenbar arctan(0) = 0 = F (0)ist, gilt schließlich arctan(x) = F (x) fur |x| < 1. Fur x = 1 konvergiert die Reihe F nach demLeibnizkriterium. Nach dem Abelschen Grenzwertsatz, auf dessen Beweis im ersten SemesterDu Dich freuen darfst, ist dann F (1) = arctan(1) = π/4, ausgeschrieben (Leibniz):

π

4= 1− 1

3+

1

5− 1

7± · · · =

∞∑n=0

(−1)n

2n+ 1

Außer den großen Lucken, die ich im Beweis gelassen habe, gibt es noch den weiteren Wermuts-tropfen, dass diese Reihe nicht besonders gut konvergiert.

7.5 Zur Gestalt von Funktionsgraphen

Betrachte die uns bekannte Funktion f : R→ R, f(x) = x3 − 5x2 + 6x+ 1.

1

1

2

2

3

3

4

4

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7.5. ZUR GESTALT VON FUNKTIONSGRAPHEN 197

Bis zu dem Punkt x1 ≈ 0,8 wachst diese Funktion, um anschließend wieder bis zum Punkt x2 ≈2,6 zu fallen, von dem aus sie wieder wachst. (Weiter unten werden x1, x2 genauer bestimmt.)

Wie kann man das erkennen, wenn man nicht allzu viele Funktionswerte berechnen mochte?(Und selbst, wenn man die Funktionswerte an sehr vielen Stellen bestimmt hat, wissen wirkritischen Mathematiker im Grunde nicht, was zwischen diesen Stellen passiert, auch wenn derPraktiker unnotig finden mag.)

Du weißt vielleicht schon, dass hierzu die Differenzialrechnung nutzlich ist. Dies wollen wir indiesem Abschnitt genauer untersuchen. Dabei wirst Du, moglicherweise uberrascht, feststellen,dass es zur Bestimmung lokaler Extrema manchmal sinnvoll ist, die zweite Ableitung f ′′ (s.u.)der untersuchten Funktion f außer Betracht zu lassen, und sich stattdessen die erste Ableitunggenauer anzusehen, und nicht nur ihre Nullstellen auszurechnen. Mochte man allerdings wissen,in welche Richtung der Graph der Funktion f gekrummt ist, lohnt es sich schon f ′′ zu berechnen.

Definition 7.5.1 Sei f : I → R eine differenzierbare Funktion und f ′ ihre Ableitung. Mogli-cherweise kann man f ′ wieder differenzieren. Dann wollen wir mit f ′′ die Ableitung von f ′

bezeichnen. (f ′′ := (f ′)′.) Dieses f ′′ nennt man dann die zweite Ableitung von f .

Indem man das Verfahren iteriert, kann man auch versuchen, f ′′′, die dritte Ableitung usw. zubilden. Werden Dir der Striche zuviele, schreibe f (4) fur die vierte Ableitung usw., f (n) fur dien-te Ableitung. Eine Funktion f heißt n-mal differenzierbar, wenn f (n) existiert. Sie heißtn-mal stetig differenzierbar, wenn f (n) existiert und stetig ist.

In den beiden Punkten x1 und x2 hat die obige Funktion f(x) = x3 − 5x2 + 6x + 1 lokaleExtremwerte im Sinne der folgenden Definition:

Definitionen 7.5.2 Sei f : I → R eine Funktion auf einem (endlichen oder unendlichen)Intervall I und x0 ∈ I.

a) f heißt (auf I) monoton wachsend, wenn fur alle x, y ∈ I mit x < y die Ungleichungf(x) ≤ f(y) gilt. f heißt streng monoton wachsend, wenn aus x < y immer f(x) <f(y) folgt. (Manchmal nennt man eine monoton wachsende Funktion auch schwach monotonwachsend, wenn man betonen will, dass sie nicht notwendig streng monoton wachsend ist.)

b) Analog verwendet man die Bezeichnungen (schwach) monoton fallend und streng mo-noton fallend.

c) Man sagt, f habe in x0 ein lokales Maximum (bzw. ein lokales Minimum), wenn esin I eine ε-Umgebung von x0 gibt, in der f keine großeren, (bzw. kleineren) Werte als f(x0)annimmt.

Ein lokales Extremum ist ein lokales Maximum oder ein lokales Minimum.

d) Man sagt f habe in x0 ein absolutes Maximum bzw. absolutes Minimum, fallsf(x0) ≥ f(x) bzw. f(x0) ≤ f(x) fur alle x ∈ I ist.

Analog zu c) vermagst Du sicher zu definieren, was ein absolutes Extremum bedeutet.

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198 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beachte, dass f : I → R ein lokales Extremum nach obiger Definition nicht in einem Randpunktvon I annehmen kann. (Du darfst naturlich die Definition nach eigenem Gusto treffen, musstallerdings im folgenden Satz ausschließen, dass x0 ein Randpunkt ist.)

Folgender Zuammenhang besteht zwischen den lokalen Extremwerten einer differenzierbarenFunktion und den Nullstellen ihrer Ableitung.

Satz 7.5.3 Ist I ein Intervall, f : I → R eine differenzierbare Funktion, die in x0 ∈ I einlokales Extremum hat, so gilt f ′(x0) = 0.

Beachte folgende Punkte: a) Nach Voraussetzung ist f ′(x0) definiert und x0 kein Randpunktvon I.b) Die Umkehrung dieses Satzes gilt nicht. Die Funktion f(x) = x3 hat in 0 die Ableitung 0(d.h. ihr Graph hat dort eine waagerechte Tangente). Trotzdem ist sie uberall streng monotonwachsend.c) Wenn x0 ein Randpunkt von I ist, braucht die Behauptung des Satzes nicht zu gelten, auchwenn f dort ein absolutes Extremum hat. Die Funktion f : [0, 1] → R mit f(x) = x hat in 0ein absolutes Minimum, in 1 ein absolutes Maximum.

Beweis: Sei etwa f(x0) ≥ f(x) fur alle x in einer geeigneten ε-Umgebung in I von x0, so ist

f(x)− f(x0)

x− x0

≥ 0 fur x0 − ε < x < x0 undf(x)− f(x0)

x− x0

≤ 0 fur x0 + ε > x > x0.

Daraus folgt, dass der nach Voraussetzung existierende Grenzwert

limx→x0

f(x)− f(x0)

x− x0

sowohl ≤ 0 als auch ≥ 0 sein muss, also nur gleich 0 sein kann.

Die lokalen Extrema einer auf einem offenen Intervall definierten differenzierbaren Funktionliegen also bei gewissen Nullstellen ihrer Ableitung.

Den folgenden Satz gebe ich ohne Beweis. Ich sehe ihn vielmehr als anschaulich klar an.

Satz 7.5.4 Sei f : I → R eine differenzierbare Funktion auf einem Intervall I. Gilt f ′(x) > 0(bzw. f ′(x) < 0) fur alle x ∈ I, so ist f auf I streng monoton wachsend (bzw. fallend).

Die Voraussetzung kann man abschwachen. Es genugt zu fordern, dass uberall f ′(x) ≥ 0 (bzw.f ′(x) ≤ 0) ist, aber f ′(x) = 0 nur an endlich (oder auch nur an abzahlbar) vielen Stellenstattfindet.

Beispiel 7.5.5 Wir behandeln die o.a. Funktion f(x) = x3 − 5x2 + 6x+ 1 und sehen uns ihreAbleitung f ′ an: f ′(x) = 3x2 − 10x + 6. Deren Nullstellen finden wir mit Hilfe quadratischerErganzung:

f ′(x) = 3(x2 − 10

3x+ 2) = 3((x− 5

3)2 + 2− 25

9) = 3((x− 5

3)2 − 7

9)

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7.5. ZUR GESTALT VON FUNKTIONSGRAPHEN 199

Die Nullstellen der Ableitung sind also

x1 :=5

3−√

7

9und x2 :=

5

3+

√7

9.

Ferner siehst Du: 1. Uberall dort, wo (x− 53)2 > 7

9ist, ist f ′(x) > 0. Dort ist f streng monoton

wachsend.

2. Wo (x− 53)2 < 7

9ist, ist f ′(x) < 0. Dort ist f streng monoton fallend.

Der 1. Fall tritt fur alle x < x1 und fur alle x > x2 ein.

Der 2. Fall tritt ein, falls x in dem offenen Intervall ]x1, x2[ liegt.

Somit haben wir obige Aussagen uber den Graph von f bestatigt.

Moglicher Weise bist Du es gewohnt, die Werte der 2. Ableitung in den Punkten x1 und x2 zubetrachten. Es ist f ′′(x) = 6x− 10, und Du kannst rechnen:

f ′′(a) = 6(5

3−√

7/9)− 10 = −6√

7/9 < 0 , f ′′(b) = 6√

7/9 > 0 .

Da f ′′ (als Polynom) stetig ist, gilt f ′′(x) < 0 (bzw. f ′′(x) > 0) in einer ε-Umgebung von x1

(bzw. von x2) fur ein geeignetes ε > 0. Also ist f ′ in einer Umgebung von x1 streng monotonfallend (bzw. in einer Umgebung von x2 streng monoton wachsend).

Also hat f ′ nahe x1 links von x1 positive und rechts von x1negative Werte. Entsprechend hatf ′ nahe x2 links von x2 negative und rechts von x2 positive Werte. Somit ist f nahe x1 linksvon x1 streng monoton steigend und rechts von x1 monoton fallend. D.h. f hat in a ein lokalesMaximum. Entsprechend hat f in b ein lokales Minimum.

Indem Du die oben angewandten Argumente in einer allgemeineren Situation benutzt, siehstDu sicher folgenden Satz ein:

Satz 7.5.6 Sei I ein offenes Intervall, f : I → R eine 2-mal stetig differenzierbare Funk-tion. (Letzteres bedeutet, dass f ′ und f ′′ auf ganz I existieren und f ′′ dort stetig ist. f und f ′

sind dann – weil differenzierbar – auch stetig.) Sei a ∈ I, f ′(a) = 0, ferner f ′′(a) < 0 (bzw.f ′′(a) > 0) so hat f in a ein lokales Maximum (bzw. ein lokales Minimum).

Beachte die Zuordnung: Maximum, wenn f ′′(a) < 0, und Minimum, wenn f ′′(a) > 0 – nichtetwa umgekehrt!

Bemerkung 7.5.7 Es gibt aber viele Falle, wo es einfacher ist, die Ableitung f ′ in der Naheihrer Nullstellen genauer anzusehen als in diesen das Vorzeichen von f ′′ zu bestimmen, undzwar aus folgenden Grunden:

1) Die Berechnung von f ′′ mag kompliziert sein. Nur bei Polynomen ist f ′′ von einfachererGestalt als f ′.

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200 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

2) Manchmal ist ein Punkt a gleichermaßen eine Nullstelle von f ′ wie von f ′′, zum Beispiela = 0 fur f(x) = ±xn, wenn n ≥ 3 ist. In einem solchen Fall kann in a ein lokales Maximum,ein lokales Minimum oder keines von beidem vorliegen.

Wenn Du magst, kannst Du versuchen, Aussagen daruber zu beweisen, was passiert, wenn k > 0die kleinste Zahl mit f (k) 6= 0 ist und dieses k gerade oder ungerade ist.

Aber es gibt sogar nichtkonstante Funktionen, fur die alle Ableitungen f (n) existieren, undf (n)(a) = 0 fur alle n gilt. Ein Beispiel findest Du in den Ubungen.

Sogar, wenn die Ableitung zwar nicht in a, aber fur alle x ∈ I−a existiert, kann die Betrach-tung der Ableitung in der Nahe von a nutzlich sein. Dies zeigt folgender Satz, der fast trivialist.

Satz 7.5.8 Sei I ein Intervall und f : I → R stetig. Sei a ∈ I kein Randpunkt und f aufI − a differenzierbar.

a) Es gebe ein ε > 0, derart dass f ′(x) > 0 fur alle x ∈]a−ε, a[ und f(x) < 0 fur alle x ∈]a, a+ε[ist, dann hat f in a ein lokales Maximum. Analog gilt: f hat in a ein lokales Minimum, wenn. . .

b) Gilt f ′(x) > 0 fur alle x ∈]a − ε, a + ε[, x 6= a, so liegt in a kein lokales Extremum vor.Dasselbe gilt, wenn f ′(x) < 0 in einem solchem Bereich ist.

Die Umkehrung von a) gilt leider nicht, wie Beispiel d) in (7.4.12) uns gelehrt hat. (Die Aussageb) wirst Du kaum umkehren wollen.)

Beispiele 7.5.9 a) Ein Beispiel ist f(x) = |x|, welche nach diesem Satz in 0 ein lokales Mini-mum hat, was du naturlich eh weißt.

b) Ein Beispiel fur b) ist die Funktion f(x) = xu, wo u eine ungerade naturliche Zahl ist.

c) (Neilsche Parabel) Betrachte f : R→ R, definiert durch f(x) = x2/3 =3√x2. Diese Funktion

ist in der Tat uberall definiert und stetig. Ihre Ableitung f ′(x) = 23x−1/3 ist allerdings nur auf

R∗, d.h. uberall außer in 0, definiert. Links vom Nullpunkt ist sie negativ, rechts positiv. Alsohat f in 0 ein lokales (sogar absolutes) Minimum. Ferner gilt: Nahert man sich dem Nullpunktvon links (bzw. rechts), so geht die Ableitung monoton gegen −∞ (bzw.∞). In 0 hat der Graphvon f eine Spitze.

–1 1

1

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7.5. ZUR GESTALT VON FUNKTIONSGRAPHEN 201

Definitionen 7.5.10 Sei f : I → R eine Funktion auf dem Intervall I. Sie heißt dort konvex,wenn fur je zwei Punkte x1, x2 ∈ I und jedes λ ∈ [0, 1] die Ungleichung

f(λx1 + (1− λ)x2) ≤ λf(x1) + (1− λ)f(x2)

gilt.

Die Funktion f heißt auf I konkav, wenn −f konvex ist.

Bemerkung 7.5.11 Konvex zu sein bedeutet also, dass zu je zwei x-Stellen der Graph derFunktion unterhalb der zugehorigen Sekante verlauft. Das heißt aber, dass der Graph der Funk-tion (mit wachsendem x) linksgekrummt ist. (Im Grenzfall ist er gerade.)

Die Definition von ‘konvex’ ist einigermaßen willkurlich. Meiner Meinung nach konnte mandie Bezeichnungen konvex und konkav genau so gut vertauschen. Gemaß obiger (allgemeinublichen) Definition wolbt sich der Graph einer konvexen Funktion nach unten.

7.5.12 Die zweite Ableitung kann man benutzen, um zu sehen, ob die Funktion in einemIntervall konvex oder konkav ist. Denn wenn f ′′ auf einem Intervall I existiert und dort uberall≥ 0 ist, bedeutet das, dass die lokale Steigung der Funktion mit wachsendem x zunimmt, oderzumindest nie abnimmt, d.h. dass die Funktion auf I konvex ist.

Definition 7.5.13 Sei f : I → R eine differenzierbare Funktion auf dem Intervall I und x0

ein innerer Punkt von I. Man sagt, der Punkt (x0, f(x0)) ist ein Wendepunkt von f , wennes ein ε > 0 derart gibt, dass f entweder auf ]x0 − ε, x0] konvex und auf [x0, x0 + ε[ konkav ist,oder auf ]x0 − ε, x0] konkav und auf [x0, x0 + ε[ konvex ist.

7.5.14 Wenn eine Funktion auf einem Intervall I zweimal stetig differenzierbar ist (d.h. ihrezweite Ableitung existiert und stetig ist) und den Wendepunkt (x0, f(x0)) (mit x0 ∈ I) hat,gilt f ′′(x0) = 0.

Denn f ′′ wechselt bei x0 das Vorzeichen, da der Graph von f auf der einen Seite von x0 konvex,auf der anderen konkav ist.

Hinreichend, dafur, dass (x0, f(x0)) ein Wendepunkt sei, ist die Bedingung f ′′(x0) = 0 keines-wegs, wie das Beispiel f(x) = x4, x0 = 0 zeigt. Bei dieser Funktion ist f ′′(x) ≥ 0 auf beidenSeiten von 0. Also ist diese Funktion auf beiden Seiten konvex.

Hingegen hat die Funktion f(x) = x5 in 0 einen Wendepunkt. Sie ist links von 0 konkav, rechtsvon 0 konvex.

AUFGABEN

Eine Polynomfunktion hat die Form f(x) = anxn + an−1xn−1 + · · · + a1x

1 + a0x0. (Naturlich

schreibt man die letzten beiden Summanden in der Regel a1x, a0.) Das Nullpolynom ist als Po-lynomfunktion die Nullfunktion. Dessen Grad ist per definitionem gleich −∞. Ansonsten gibtes ein n mit an 6= 0 und ak = 0 fur alle k > n. In diesem Fall ist der Grad der Polynomfunktion

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202 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

gleich n und an wird als der Leitkoeffizient bezeichnet. Wenn man durch an dividiert, erhalt maneine Polynomfunktion mit dem Leitkoeffizienten 1, die sich von der ursprunglichen Funktionnur durch einen konstanten Faktor unterscheidet. Der Graph der ursprunglichen Funktion ent-steht aus der neuen durch Streckung oder Stauchung in Richtung der

”y-Achse“ und moglicher

Weise noch einer Spiegelung an der”x-Achse“. Die x ∈ R, wo f eine Nullstelle, bzw. in Extre-

mum hat, bleiben dieselben. Allerdings, war an < 0, so liegt ein Minimum (bzw. Maximum)dort, wo vorher ein Maximum (bzw. Minimum) lag. Jedenfalls bedeutet es keine ernsthafteEinschrankung, wenn man sich auf Polynomfunktionen beschrankt, deren Leitkoeffizient gleich1 ist.

1. Diskutiere allgemeine Polynomfunktionen f vom Grad ≤ 3. Zeige:

a) Ist grad(f) ≤ 0, d.h. grad(f) = −∞ oder grad(f) = 0, so ist der Graph von f eine Geradeparallel zur x-Achse.

b) Ist grad(f) = 1, so ist der Graph von f eine Gerade, die weder parallel zur x- noch zury-Achse ist. (Eine Parallele zur y-Achse ist kein Graph einer Funktion.) f hat genau eineNullstelle.

c) Ist grad(f) = 2, so gibt es genau ein x0, in dem f ein lokales Extremum hat. Dieses ist auch einglobales Extremum. Je nach dem Vorzeichen des Leitkoeffizienten ist der Graph uberall konvexoder uberall konkav. Sei etwa der Leitkoeffizient positiv. Dann ist das (lokale und globale)Extremum ein Minimum. Je nachdem ob f(x0) > 0 oder = 0 oder < 0 ist, hat f keine, eineoder 2 Nullstellen im Reellen.

d) Sei f(x) = a3x3 + a2x

2 + a1x + a0 und a3 > 0. Dann ist f fur x ≤ a2/(3a3) konkav, furx ≥ a2/(3a3) konvex und hat in a2/(3a3) einen Wendepunkt.

Unterscheide nun zwei Falle:

1. f ′ hat hochstens eine Nullstelle, d.h. f ′(x) ≥ 0 gilt fur alle x ∈ R und f ′(x) > 0 fur x 6= 0.Dann ist f uberall streng monoton wachsend. Somit hat f nur eine reelle Nullstelle.

2. f ′ hat zwei verschiedene Nullstellen x1 und x2. Dann ist f fur x ≥ x1 streng monotonwachsend fur x ≤ x1, streng monoton fallend fur x1 ≤ x ≤ x2 und wieder streng monotonwachsend fur x2 ≤ x. Durch Veranderung des konstanten Koeffizienten, kann man erreichen,dass f eine, zwei, oder drei reelle Nullstellen hat.

e) Wenn Du magst, kannst Du noch ein wenig uber Polynome 4. Grades herausfinden. Beipositivem Leitkoeffizienten kann es zwei lokale Minima und dazwischen ein lokales Maximumgeben. das ist der Fall, wenn die Ableitung drei verschiedene Nullstellen hat. Usw. Uberlegeinsbesondere, dass ein Polynom 4. Grades entweder zwei verschiedene Wendepunkte oder garkeinen solchen hat!

2. a) Zeige, dass die Abbildung ]− 1, 1]→ R+, gegeben durch x 7→ 1−x1+x

bijektiv ist.

b) Zeige selbiges fur die Abbildung ]− 1, 1[→ R, gegeben durch x 7→ x1−x2

3. Betrachte fur x 6= 0 die Funktion f(x) = exp(−1/x2). Wenn x gegen 0 geht, so geht −1/x2

gegen −∞, also f(x) gegen 0. Deshalb definieren wir f auf ganz R, indem wir noch f(0) = 0

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7.6. AMUSANTE FRAGEN ZU POTENZEN 203

setzen. Da f(x) > 0 fur x 6= 0 gilt, hat f in 0 ein (absolutes) Minimum. Das kann man auch

mit Hilfe der ersten Ableitung sehen. Diese ist namlich f ′(x) =2

x3· exp

(−1

x2

), also negativ

fur x < 0 und positiv fur x > 0. Auf der anderen Seite kann man mit einiger Muhe beweisen,dass f auch im 0-Punkt unendlich oft differenzierbar ist und f (n)(0) = 0 fur alle n ≥ 0 gilt.(Mit f (n) wird die n-te Ableitung von f bezeichnet, wo f (0) = f sei.)

4. Sei f die Funktion der vorigen Aufgabe und g : R→ R definiert durch

g(x) :=

−f(x) fur x < 0f(x) fur x ≥ 0

.

Auch diese Funktion ist uberall unendlich oft differenzierbar und es gilt g(n)(0) = 0 fur allen ≥ 0. Ferner hat g in 0 kein (lokales) Extremum.

5. Diskutiere die Funktionsgraphen von a) f(x) = x5−x3 b) g(x) = x3− 3√x c) h(x) = x2/3+x−1

6. Der Graph der Funktion f(x) =lnx

x, die auf R∗

+ definiert ist, wird im folgendem Abschnitt

diskutiert. Das darfst Du naturlich bereits jetzt selber machen.

7. Definiere f : ]− 1, 1[→ R durch f(0) = 0 und f(x) = |x|/(ln |x|) fur x 6= 0. Außerhalb 0 istdiese Funktion differenzierbar. Zeige, dass sie auch in 0 differenzierbar ist. Sie hat dort offenbarein absolutes Maximum.

7.6 Amusante Fragen zu Potenzen

7.6.1 Fur beliebige reelle Zahlen a, b gilt: a+ b = b+ a und ab = ba.

Fur Potenzen ist das bekanntlich anders:

23 = 8, aber 32 = 9.

Allgemein gilt: Sind a, b naturliche Zahlen, a gerade, b ungerade, so ist ab gerade und ba unge-rade. Fur ganze Zahlen a, b mit 3 ≤ a < b ist ba < ab.

Hingegen gilt 24 = 42. Gibt es weitere solche Falle?

Wir vergleichen (9

4

) 278

mit

(27

8

) 94

und rechnen: (9

4

) 278

=

((3

2

)2) 3

2· 94

=

(3

2

)2· 32· 94

=

((3

2

)3) 9

4

=

(27

8

) 94

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204 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Allgemeiner zeigt man ganz analog zur dieser Rechnung: Ist

a =

(1 +

1

n

)n

, b =

(1 +

1

n

)n+1

,

so gilt ab = ba. Man erkennt schon hier, dass es unendlich viele Paare verschiedener rationalerZahlen (a, b) mit ab = ba gibt.

7.6.2 Wir wollen alle Paare (x, y) positiver reeller Zahlen mit xy = yx finden. Will man Po-tenzen vergleichen, lohnt es sich haufig, sie zu logarithmieren! Es gilt:

xy = yx ⇐⇒ ln(xy) = ln(yx) ⇐⇒ y lnx = x ln y ⇐⇒ lnx

x=

ln y

y

Will man also Paare (x, y) positiver reeller Zahlen mit xy = yx, x 6= y finden, so hat man die

Funktion f(x) =lnx

xdarauf zu untersuchen, ob sie mehrfach denselben Wert annimmt!

Deshalb werden wir diese Funktion auf ihrem Definitionsbereich, d.h. dem Bereich der positivenreellen Zahlen, jetzt diskutieren. Dabei benutzen wir die Differentialrechnung.

i. Nullstellen:f(x) = 0 ⇐⇒ lnx = 0 ⇐⇒ x = 1.

Offenbar ist f(x) < 0 fur 0 < x < 1 und f(x) > 0 fur x > 1.

ii. Verhalten der Funktion nahe 0. Offenbar geht f(x) gegen −∞, wenn x (von oben) gegen 0geht.

iii. Die Ableitung:

f ′(x) =(1/x) · x− 1 · lnx

x2=

1− lnx

x2

Also ist f ′(x) = 0 genau dann, wenn x = e ist. Ferner ist f ′(x) > 0 fur 0 < x < e und f ′(x) < 0fur x > e.

Also kann man sich bereits ein Bild der Funktion machen. Ihr Graph steigt zwischen 0 und emonoton an, lauft bei 1 durch die x-Achse, erreicht bei e ein Maximum und fallt fur x > emonoton, bleibt aber positiv.

iv. Verhalten fur große x. Man weiß, dass die Logarithmusfunktion sehr langsam wachst. Deshalbgilt limx→∞ f(x) = 0. Dies kannst Du leicht folgendermaßen sehen:

Da f(x) fur x ≥ e monoton fallend ist, genugt es, eine monoton wachsende Folge (xn)n>0 zufinden, fur welche limn→∞ f(n) = 0 gilt. Eine solche Folge wird durch xn := en gegeben. Dennfur diese gilt: f(n) = n/en. Nun folgt aus der Exponentialreihe en > 1+n+n2/2 > n2/2. Somitist

f(n) =n

en<

2n

n2=

2

n

Da letzter Bruch fur n→∞ gegen 0 geht, tut dies auch f(n).

Was erkennst Du aus den Eigenschaften i. bis iv.?

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7.6. AMUSANTE FRAGEN ZU POTENZEN 205

Zu jeder reellen Zahl x mit 1 < x < e gibt es genau eine weitere Zahl y mit f(x) = f(y), unddieses y ist großer als e. Nicht wahr?

Es gibt also sehr viele Paare positiver reeller Zahlen (x, y), fur die xy = yx, aber x 6= y gilt.Verlangt man allerdings, dass x, y beide ganz und positiv sind, so ist, bis auf die Reihenfolge,(2, 4) das einzige solche Paar, da 2 die einzige ganze Zahl ist die großer als 1 und kleiner als eist.

Beachte aber, dass auch (−2)−4 = 1(−2)4

= 116

= (−4)−2 gilt.

7.6.3 Betrachte die Funktionen

f(x) := (1 +1

x)x und g(x) := (1 +

1

x)x+1

fur x > 0. Mit einiger Muhe kann man zeigen: Die Funktion f ist streng monoton wachsend,wahrend g streng monoton fallend ist. Ferner gilt:

limx→0

(1 +1

x)x = 1 und lim

x→∞(1 +

1

x)x = e.

Man berechnet leicht f(x)g(x) = g(x)f(x). Somit hat man eine Parametrisierung der Paare (a, b)positiver reeller verschiedener Zahlen mit ab = ba gewonnen.

Aus obigen Uberlegungen folgt auch

Satz 7.6.4 a) Es gelte 0 < a < b ≤ e. Dann ist ab < ba.

b) Es gelte e ≤ a < b. Dann ist ba < ab. Z.B. ist πe < eπ .

Beweis: a) Die Funktionlnx

xist auf dem Intervall ]0, e] streng monoton wachsend, wie wir

oben gesehen haben. Deshalb folgt aus der Voraussetzung, dassln a

a<

ln b

b. Dies impliziert

b ln a < a ln b. (Beachte a, b > 0.) Da exp streng monoton wachst, ergibt sich exp(b ln a) <exp(a ln b), das heißt ab < ba.

b) Auf dem Intervall [e,∞[ hingegen ist o.a. Funktion streng monoton fallend. Deshalb ergibtsich die umgekehrte Ungleichung.

Bemerkungen 7.6.5 a) Du hast vielleicht das Gefuhl, dass der Exponent in einer Potenz instarkerem Maße ihre Große bestimmt als die Basis. Das gilt aber nur, falls beide ≥ e sind.Falls beide ≤ e und positiv sind, gilt das umgekehrte. Im Fall a < e < b kann alles Moglichepassieren! Es ist 23 < 32 und 2,53 = 15,625 > 32,5 ≈ 15,59. Zu Anfang dieses Abschnittes habenwir fur die Zahlen a = 9/4, welches kleiner als e, und b = 27/8, welches großer als e ist, dieGleichheit ab = ba besteht.

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206 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

b) Zu meinem Erstaunen habe ich in einem neuen Mathe-Buch gelesen, im 19. Jahrhundert seies eine Herausforderung gewesen, zu entscheiden, welche der beiden Zahlen πe und eπ die großeresei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Euler, der im 18. Jahrhundert gelebt hat, auch nur diegeringste Schwierigkeit mit diesem Problem gehabt hatte. Der Unterschied zwischen den beidenZahlen ist einerseits nicht allzu groß, andererseits nicht gerade winzig: πe ≈ 22,46, eπ ≈ 23,14.

7.6.6 Wir betrachten Potenzturme

aaa···

In der Literatur habe fur einen solchen Potenzturm folgende abkurzende Notation gefunden:namlich na, sprich ‘a Turm n’, wenn der Potenzturm n Stockwerke hat. Induktiv definiert, heißtdas:

1a = a, n+1a = a(na)

Beachte aber, dass fast immer n+1a 6= (na)a ist!

Man kann die induktive Definition auch mit 0a = 1 oder, sage und schreibe, mit −1a = 0beginnen.

7.6.7 Die Folge (2, 22, 222, . . .) ist streng monoton wachsend und besteht aus ganzen Zahlen.

Deshalb gilt limn→∞n2 = ∞. Auch die Folge (n(

√2))n ist streng monoton wachsend. Denn

die Funktion f(x) :=√

2x

ist streng monoton wachsend. Deshalb ist√

2 <√

2√

2, folglich

√2√

2<√

2√

2√

2

. Usw. Man sieht (mit vollstandiger Induktion) n(√

2) < n+1(√

2). Analog gehtsfur alle (nb)n mit b > 1.

Sind die Limites dieser Folgen immer ∞?

Uberraschender Weise giltlim

n→∞n(√

2) = 2

Beweis: Wenn man in dem Potenzturm n(√

2) das oberste Stockwerk durch 2 ersetzt, erhaltman eine Zahl T , die sicher großer ist als n(

√2). Andererseits uberlegt man sich leicht, dass

T = 2 ist. In einem exemplarischen Beispiel sieht man das so.

√2√

2√

22

=√

2√

22

=√

22

= 2 .

In jedem Schritt wird√

22

= 2 genutzt. Es ist also n(√

2) < 2 fur alle n ≥ 1. Da die Folge(n(√

2))n monoton wachsend und durch 2 nach oben beschrankt ist, hat sie einen endlichenLimes t ≤ 2.

Um t zu bestimmen, rechnen wir

√2

t=√

2limn→∞ n(

√2)

= limn→∞

n(√

2) = t

Die Gleichung√

2t= t hat die Losungen t = 2 und t = 4. Durch eine Kurvendiskussion kannst

Du feststellen, dass sie keine weiteren haben kann. Wegen t ≤ 2 folgt t = 2. –

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7.6. AMUSANTE FRAGEN ZU POTENZEN 207

Diese Uberlegungen kann man allgemeiner, statt nur fur 21/2 fur a1/a mit a ≥ 1 anstellen. Da

ln(a1/a) =ln a

a

ist, ist die großte der Zahlen unter den a1/a – mit a > 0 – die Zahl e1/e. (Beachte, dass nachobigen Betrachtungen die Funktion lnx/x ein Maximum bei x = e hat.)

Fur a ∈ [1, e] ist limn→∞n(a1/a) = a. Fur a > e ist limn→∞

n(a1/a) = b, wobei b ∈]1, e[ sogewahlt ist, dass ab = ba ist. Nicht wahr?

Zum Schluss beweisen wirlim

n→∞nb =∞, falls b > e1/e gilt.

Da die Folge (nb) monoton wachsend ist, genugt es zu zeigen, dass sie keinen endlichen Limeshat. Ware dieser gleich t, so wurde bt = t, also b ≤ t1/t gelten (s.o.). Deshalb ware b ≤ e1/e. –

Fragt man nach der Konvergenz von (nb)n fur 0 < b < 1, so kann man beweisen, dass dieselbegenau fur die b ≥ (1/e)e gilt. Dabei ist zu beachten, dass die Folge (nb)n hier nicht mehrmonoton ist.

AUFGABEN

1. Sei ein gewisses Kapital auf Zinseszins mit 1 Prozent jahrlicher Verzinsung angelegt. Nachwievielen Jahren hat es sich (mindestens) verdoppelt?

2. Haben die Gleichungenx2 = 3 und 2x = 3

eine gemeinsame Losung? (Die Beantwortung dieser Frage ist sicher mit einem Taschenrechner,der allgemeine Potenzen beherrscht, am schnellsten zu leisten. Aber versuche es ohne einensolchen.) Hat eine dieser Gleichungen eine rationale Losung?

3. Berechne ohne Taschenrechner881/3 − (88)1/3

35

+ 513

4. Welche Zahl ist großer, (1000 + 1/7)1000 oder 10001000+1/7?

5. a) Welche Zahl ist großer,√

2 oder 3√

3?

b) Sei n ≥ 3 ganz. Welche Zahl ist großer, n√n oder n+1

√n+ 1?

c) Bestimme – falls moglich – limn→∞n√n.

6. Welche Zahl ist großer,√

23√2

oder 3√

2√

2?

7. a) Seien a < b naturliche Zahlen. Zeige, dass 2 · 3a < 3b ist.

b) Folgere fur die Potenzturme: m3 > n9, wenn m ≥ n+1, d.h. wenn der Dreierturm mindestensein ‘Stockwerk’ mehr als der Neunerturm hat.

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208 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

8. Sei a > 2 reell und b = aa−1(> a). Zeige fur die Potenzturme

n+1a > nb .

9. a) Die Idee (7.6.7) kann man zur Berechnung vieler Limites verwenden: Sei I ein Intervallund f : I → I eine stetige Funktion, ferner b ∈ I. Betrachte die Folge (an), definiert durcha0 = b, an+1 = f(an). Zeige: Wenn diese Folge den Limes a hat, so ist a eine Losung derGleichung x = f(x).

b) Beachte, dass manchmal die Gleichung x = f(x) eine Losung haben kann, ohne dass dieFolge (an) konvergiert. Z.B. sei – mit obigen Bezeichnungen – I = R, f(x) = x2, b = 2. WennDu willst, kannst Du Dir uberlegen, fur welche b die Folge (an) konvergiert.

c) Behandle den Fall I = R+, b = 0, f(x) =√c+ x, wo c > 0 ist. (Zum Beweis der Konvergenz

der Folge (an) zeige, dass diese monoton wachsend ist und eine obere Schranke hat. Ich glaube,man sollte die Falle c < 2 und c ≥ 2 unterscheiden. Im ersten Fall ist 2, im zweiten c eine obereSchranke.)

10. Lose die Gleichung x(xx) = (xx)x im Bereich R∗+ der positiven reellen Zahlen.

11. Lose die Gleichungen a) 2x + 2111110 = 2111111 und b) 2x2= 512x+28.

7.7 Integration

Bereits die Mathematiker der Antike befassten sich damit, die Lange einer Kurve, z.B. desKreisumfangs, und die Große eines ‘krumm’ begrenzten Flachenstucks, z.B. der Kreisflache zubestimmen. Sie wussten, das das Verhaltnis des Kreisumfangs zum Durchmesser gleich demVerhaltnis der Kreisflache zum Quadrat uber dem Radius ist. Den Proportionalitatsfaktor nen-nen wir heute π. Archimedes hat ein Verfahren angegeben, π naherungsweise zu berechnen undauch gezeigt, dass das Volumen einer Kugel vom Radius r gleich 4

3πr3 ist. Archimedes ist es

auch gelungen, die Flache eines Parabelabschnittes zu bestimmen.

Wahrend diese Berechnungen eher Einzelfalle betrafen, kennen wir seit der zweiten Halfte des17. Jahrhunderten eine Methode, solcherart Fragestellungen anzugehen. Wir betrachten einestetige Funktion f und Flachenstucke zwischen zwei Grenzen unterhalb des Graphen von f undoberhalb der x-Achse, wenn denn f(x) ≥ 0 in diesem Bereich ist. Ist f(x) stellenweise negativ,so sollen die Flachenstucke, die nach unten durch den Funktionsgraphen und nach oben durchdie x-Achse begrenzt werden, negativ angerechnet werden.

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7.7. INTEGRATION 209

+

Die große Idee von Newton, Leibniz und auch Vorgangern war es, eine der Grenzen alsvariabel aufzufassen, so dass die Flachengroße wieder zu einer Funktion wird, die man haufig(allerdings nicht immer) durch die uns bekannten Funktionen angeben kann.

Dies liegt an dem beruhmten ‘Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung’, den ich Dirjetzt ans Herz legen mochte.

7.7.1 Ich will zunachst eine prazise Definition fur Integrale (nach Riemann) angeben, damitDu siehst, dass es eine solche uberhaupt gibt, die zudem noch verhaltnismaßig einfach ist.Einige Satze der Integralrechnung will ich dann aber als anschaulich einleuchtend ohne Beweisangeben.

Wir beginnen mit Funktionen, die zwar im Allgemeinen nicht stetig sind, deren Integral abertrivial zu definieren ist.

Definitionen 7.7.2 a) Eine Treppenfunktion auf einem endlichen abgeschlossenen Intervall[a, b] ist eine Funktion f , fur die es endlich viele reelle Zahlen t0, . . . , tn mit a = t0 < t1 < · · · <tn = b gibt, derart dass f auf jedem der offenen Intervalle ]ti−1, ti[ konstant ist. (Fur die Wertef(ti) wird nichts gefordert.)

b) Sei f : [a, b] → R eine Treppenfunktion mit zugehorigen t0, . . . , tn wie oben und f(x) = cifur x ∈]ti−1, ti[. Das Integral von f ist dann folgendermaßen definiert:∫ b

a

f(x)dx :=n∑

i=1

ci · (ti − ti−1)

Das ist naturlich schlicht die Summe der Rechteckflachen, wobei die Rechtecke unterhalb derx-Achse negativ gerechnet werden.

+ +–

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210 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Definitionen 7.7.3 a) Sei f : [a, b] → R eine beschrankte Funktion. (‘Beschrankt’ be-deutet: es gibt ein S ∈ R mit |f(x)| ≤ S fur alle x ∈ [a, b].) Betrachte die Menge M allerTreppenfunktionen s auf [a, b] mit s(x) ≥ f(x) fur alle x ∈ [a, b]. Sie ist nicht leer, da diekonstante Funktion mit dem Wert S zu M gehort. Die Menge der Integrale∫ b

a

s(x)dx mit s ∈M

ist nach unten durch −S · (b − a) beschrankt. Also hat sie ein Infimum. (S. 3.2.24.) Diesesnennt man das Oberintegral von f .

b) Entsprechend ist das Unterintegral von f das Supremum der Menge aller Integrale uber dieTreppenfunktionen, deren Werte uberall kleiner oder gleich den jeweiligen Werte von f sind.

c) In dem Falle, dass das Oberintegral von f mit seinem Unterintegral ubereinstimmt, heißt fRiemann-integrierbar, und das gemeinsame Ober- und Unterintegral von f wird dann dasIntegral von f genannt. Die Bezeichnung ist∫ b

a

f(x)dx.

Bemerkungen 7.7.4 a) Nicht jede beschrankte Funktion auf [a, b] ist Riemann-integrierbar,z.B. nicht die Funktion, die auf den rationalen Zahlen den Wert 1, auf den irrationalen denWert 0 annimmt. Es gibt allerdings einen Integralbegriff, namlich denjenigen nach Lebesgue(sprich Lebeck, mit Ton auf der zweiten Silbe), der es gestattet, diese Funktion zu integrieren.Sie hat das Integral 0, da sie nur in abzahlbar vielen Punkten von der 0-Funktion abweicht.

Der Lebesguesche Integralbegriff ist weniger wegen obigen Beispiels, als fur Funktionen vonmehreren (unabhangigen) Variablen von großter Wichtigkeit!

b) Das∫

-Zeichen ist ein stilisiertes S fur Summe, und∫ b

af(x)dx soll etwa folgende bedeuten:

Fur jedes x ∈ [a, b] multipliziere f(x) mit der Lange dx eines unendlich kleinen Intervalls undaddiere alle diese Produkte. Du musst das nicht verstehen und darfst das dx schlicht als Zeichendafur ansehen, bezuglich welcher Variablen man integrieren soll, wenn etwa f eine Funktionzweier Variablen ist.

Definition 7.7.5 Wir wollen auch das Integral definieren, wenn die Genzen vertauscht sindund setzen ∫ a

b

f(x)dx := −∫ b

a

f(x)dx,

wenn letzteres Integral existiert.

Ferner sei ∫ a

a

f(x)dx = 0.

Jetzt gebe ich drei Satze ohne ihren Beweis an. Anschaulich sind sie allerdings sehr plausibel.

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7.7. INTEGRATION 211

Satz 7.7.6 Jede stetige Funktion auf einem endlichen abgeschlossenen Intervall ist Riemann-integrierbar.

Satz 7.7.7 Seien a ≤ b ≤ c, so ist∫ c

a

f(x)dx =

∫ b

a

f(x)dx+

∫ c

b

f(x)dx,

wenn die linke (oder die rechte) Seite definiert ist.

a b c

Folgerung 7.7.8 Dasselbe gilt auch, wenn a, b, c in beliebiger Großenbeziehung zueinander ste-hen und f auf dem großten der Intervalle, die zwei der drei Punkte als Randpunkte haben,integrierbar ist.

Satz 7.7.9 (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Sei f : [a, b] → R eine stetigeFunktion, dann gibt es ein ξ ∈ [a, b] mit∫ b

a

f(x)dx = (b− a)f(ξ)

(f(ξ) ist der ‘Mittelwert’ der Funktion f auf [a, b].)

a ξ b

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212 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Als Folgerung beweisen wir jetzt den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung:

Theorem 7.7.10 Sei I eine Intervall, a ∈ I und f : I → R eine stetige Funktion, dann ist dieFunktion

F (x) :=

∫ x

a

f(t)dt

eine Stammfunktion von f . D.h. es gilt F ′(x) = f(x) fur alle x ∈ I.

In diesem Sinne ist das Integrieren die Umkehrung des Differenzierens!

Beweis: Wir mussen fur jedes x ∈ I die Differenzierbarkeit von F in x zeigen und F ′(x) =f(x) nachweisen. Wir betrachten einen Differenzenquotienten:

F (x+ h)− F (x)

h=

1

h

(∫ x+h

a

f(x)dx−∫ x

a

f(x)dx

)=

1

h

∫ x+h

x

f(x)dx =1

h· h · f(ξ),

wobei ξ eine (von h – nicht unbedingt eindeutig – abhangige) geeignete Zahl zwischen x undx+h ist, die nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung existiert. Sei nun (hn) eine Nullfolgeund jeweils ξn zwischen x und x+ hn so gewahlt, dass∫ x+hn

x

f(t)dt = hnf(ξn) , d.h.1

hn

∫ x+hn

x

f(t)dt = f(ξn)

gilt, so konvergiert die Folge (ξn) gegen x. Wegen der Stetigkeit von f ist somit

limh→0

F (x+ h)− F (x)

h= f(x)

Folgerung 7.7.11 Sei f : [a, b]→ R stetig und F : [a, b]→ R eine Stammfunktion von f , d.h.F sei differenzierbar mit F ′ = f . Dann gilt∫ b

a

f(x)dx = F (b)− F (a)

Beweis: Definiere

G(x) :=

∫ x

a

f(t)dt

Wegen des Hauptsatzes 7.7.10 ist G eine Stammfunktion von f . Da nach Voraussetzung auchF eine solche ist, gilt (G− F )′ = G′ − F ′ = f − f = 0, also ist G− F eine Konstante, die ichmit c bezeichne. Ferner ist G(a) = 0. Dann ergibt sich∫ b

a

f(x)dx = G(b) = G(b)−G(a) = F (b) + c− (F (a) + c) = F (b)− F (a) .

Schreibweisen: F (b)− F (a) = F (x)∣∣∣ba

= [F (x)]ba.

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7.7. INTEGRATION 213

7.7.12 Auf Grund unserer Kenntnisse in der Differenzialrechnung wird es uns moglich sein, furviele (durch einen Rechenausdruck gegebene) Funktionen f eine Stammfunktion F zu finden(genauer: einen Rechenausdruck fur F anzugeben). Du wirst z.B. keine Probleme haben, eineStammfunktion einer Polynomfunktion als eine ebensolche anzugeben.

Eine Stammfunktion F einer stetigen Funktion f (auf einem Intervall) nennt man auch (ein)unbestimmtes Integral von f und schreibt haufig∫

f(x)dx = F (x) oder

∫f(x)dx = F (x) + C

F ist ja bis auf einen konstanten Summanden (der durch das +C angedeutet wird) eindeutigbestimmt. Ebenso ersetzt man haufig den Ausdruck ‘eine Stammfunktion von f bestimmen’durch ‘f integrieren’.

In folgender Tabelle sind in der rechten Spalte Stammfunktionen der linksstehenden Funktionenverzeichnet:

xa, a ∈ R, a 6= −1 (a+1)−1xa+1

x−1 ln |x|(1+x2)−1 arctanx

(1-x2)−1/2 arcsinx

ex ex

sin x -cos x

cosx sin x

cos−2 x tan x

Der Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung lehrt uns, dass jede stetige Funktionauf einem Intervall eine Stammfunktion besitzt. Das bedeutet allerdings nicht, dass man einesolche als eine Zusammensetzung, der uns bekannten Funktionen schreiben kann. Dies ist z.B.fur eine Stammfunktion von ex2

nicht moglich. (Das besagt ein Satz von Liouville. Furneuere Literatur siehe das Stichwort

”Elementare Funktion“ in der Wikipedia. ) Naturlich

bedeutet dieser Satz nicht, dass es keine Stammfunktion von ex2gabe! Jede auf einem Intervall

stetige Funktion hat schließlich dort eine Stammfunktion. Man kann sie nur nicht wie gewohntschreiben.

Und so schrecklich ist das ja auch nicht, wenn man folgendes bemerkt:

ex2

=∞∑

n=0

x2n

n!.

Nun gibt es einen Satz, dass man Potenzreihen gliedweise integrieren darf (jedenfalls im ‘Innern’ihres Konvergenzbereiches). Als eine Stammfunktion von f(x) = ex2

erhalt man somit

F (x) =∞∑

n=0

x2n+1

n!(2n+ 1).

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214 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Wenn man eine rationale Funktion (d.h. einen Bruch von zwei Polynomen) differenziert, ent-steht wieder eine rationale Funktion. Wenn man aber die rationale Funktion 1

xintegriert, so

erhalt man ln x, eine Funktion, von der man zeigen kann, das sie nicht rational ist. An diesemBeispiel und am Beispiel ex2

sieht man, dass es im Allgemeinen nicht so einfach sein kann,Stammfunktionen so zu berechnen, wie wir es bei der Bestimmung von Ableitungen gewohntsind. (Das ist der Sinn der manchmal geaußerten Ansicht: ‘Differenzieren ist ein Handwerk,Integrieren eine Kunst.’) Z.B. kann man ja die Funktionen, die aus c, x, exp, sin (wo mit c einekonstante Funktion, mit x die identische Abbildung R → R gemeint sind) entstehen, indemwir die Operationen Summe, Produkt, Quotient, Umkehrabbildung, Verkettung – auch iteriert– anwenden, nach den bekannten Regeln differenzieren.

Diese Regeln liefern allerdings meist nur Hinweise darauf, wie man moglicher Weise Stamm-funktionen findet. Zum Gluck gilt noch folgendes: Sind F,G Stammfunktionen der Funktionenf, g. so ist F+G eine Stammfunktion von f+g und cF eine solche von cf , falls c eine Konstanteist. Nicht wahr? Aber schon die Anwendung der Produktregel der Differentiation liefert keineso bequeme Regel.

Seien F,G Stammfunktionen von stetigen Funktionen f , bzw, g. Dann ist (FG)′ = F ′G+FG′ =fG+ Fg. Also gilt:

Theorem 7.7.13 (Partielle Integration) Unter obigen Voraussetzungen ist∫fGdx = FG−

∫Fgdx, oder anders geschrieben

∫F ′Gdx = FG−

∫FG′dx.

Fur das bestimmte Integral, erhalt man∫ b

a

F ′Gdx = FG∣∣∣ba−∫ b

a

FG′dx.

Beispiele 7.7.14 Die Methode der partiellen Integration ist erstaunlich nutzlich, und zwarnicht nur zur Berechnung spezieller Stammfunktionen und Integrale, sondern auch in allgemei-nen Zusammenhangen.

Man kann die partielle Integration auf ein Produkt fG von Funktionen immer dann anwenden,wenn man eine Stammfunktion F von f kennt und das Produkt Fg = FG′ leichter als fG =F ′G integrieren kann.

Beispiel 1. Ist z.B. f = 1 konstant und G(x) = lnx, so erhalt man∫lnxdx =

∫1 · lnx dx = x lnx−

∫x · 1

xdx = x lnx− x

Zu demselben Ergebnis kommt man naturlich auch, wenn man versuchsweise die Funktion x lnxdifferenziert.

Beispiel 2. Versuche (fur ganze n ≥ 2) die Funktion sinn x zu integrieren, indem Du sinn x indie Faktoren sin x und sinn−1 x zerlegst:∫

sinn xdx = − cosx sinn−1 x+

∫cos2 x · (n− 1) sinn−2 x =

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7.7. INTEGRATION 215

− cosx sinn−1 x+

∫(n− 1)(1− sin2 x) sinn−2 xdx

(Du musst dazu die Ableitung von sinn−1 x berechnen.) Indem Du auf beiden Seiten das Integral∫(n− 1) sinn xdx addierst, erhaltst Du

n

∫sinnxdx = − cosx sinn−1 x+ (n− 1)

∫sinn−2 xdx .

So reduzierst Du die Berechnung einer Stammfunktion von sinn x zu einer solchen von sinn−2 x.Wenn Du dies Verfahren iterierst, kommst Du schließlich bei sin x oder 1 an, je nachdem ob nungerade oder gerade ist.

7.7.15 Wenn man die verkettete Funktion F (ϕ(t)) (mit differenzierbaren F, ϕ) nach t ableitet,erhalt man nach der Kettenregel:

F ′(ϕ(t)) · ϕ′(t).

Daraus ergibt sich

Theorem 7.7.16 (Substitutionsregel.) Ist I ein Intervall, f : I → R stetig, ϕ : [a, b]→ I stetigdifferenzierbar (d.h. ϕ ist differenzierbar und ϕ′ ist stetig), so gilt∫ b

a

f(ϕ(t))ϕ′(t)dt =

∫ ϕ(b)

ϕ(a)

f(x)dx .

Beweis: Sei F eine Stammfunktion von f . Dann ist F (ϕ(t)) eine Stammfunktion vonf(ϕ(t))ϕ′(t) bezuglich t, also∫ b

a

f(ϕ(t))ϕ′(t)dt = F (ϕ(t))∣∣∣ba

= F (x)∣∣∣ϕ(b)

ϕ(a)=

∫ ϕ(b)

ϕ(a)

f(x)dx .

Bist Du verwirrt? Bedenke, dass ich unter F (ϕ(t))∣∣∣ba

die Differenz F (ϕ(b)) − F (ϕ(a)) und

unter F (x)∣∣∣ϕ(b)

ϕ(a)dieselbe Differenz F (ϕ(b))− F (ϕ(a)) verstehe! Vielleicht ziehst Du es vor, der

Genauigkeit halber statt F (ϕ(t))∣∣∣ba

den Ausdruck F (ϕ(t))∣∣∣t=b

t=aund statt F (x)

∣∣∣ϕ(b)

ϕ(a)den Ausdruck

F (x)∣∣∣x=ϕ(b)

x=ϕ(a)zu schreiben.

Beispiele 7.7.17 a) Ist F eine Stammfunktion von f , so ist 1cF (cx+d) eine solche von f(cx+d),

wenn c, d Konstanten mit c 6= 0 sind. Wenn man eine Stammfunktion von f kennt, kennt manauch eine solche von f(cx+ d)

b) Wenn man eine Stammfunktion F einer stetigen Funktion f : I → R (mit einem Intervall I)bestimmen kann, so kann man auch eine Stammfunktion (bezuglich t) von der Funktion t ·f(t2)

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216 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

auf einem Intervall J bestimmen, wenn nur x2 | x ∈ J in I liegt. Eine solche Stammfunktion

ist 12F (t2). (Woher kommt der Faktor 1

2?) Insbesondere ist

1

2ex2

eine Stammfunktion von x ·ex2.

Dies ist bemerkenswert, da man ja eine Stammfunktion von ex2nicht durch die uns gelaufigen

Funktionen ausdrucken kann.

c) Wir wollen die Flache eines Halbkreises vom Radius 1 bestimmen. Erinnere Dich, dass dieZahl π als die halbe Lange des Umfangs des Einheitskreises definiert ist. Ferner wird durch denSinus das Intervall [−π/2, π/2] bijektiv und monoton auf das Intervall [−1, 1] abgebildet. Dabeiist sin(−π/2) = −1, sin(π/2) = 1. Weitere Eigenschaften von sin und cos sind:

sin2 t+ cos2 t = 1, cos(2t) = cos2 t− sin2 t

Hieraus folgt

cos t =√

1− sin2 t fur diejenigen t wo cos t ≥ 0 ist,

und cos(2t) = 2 cos2 t− cos2 t− sin2 t = 2 cos2 t− 1 .

Wir rechnen, indem wir x = sin t setzen (substituieren)∫ 1

−1

√1− x2dx =

∫ π/2

−π/2

√1− sin2 t cos tdt =

∫ π/2

−π/2

cos2 tdt =

∫ π/2

−π/2

1

2(cos(2t) + 1)dt = (

1

4sin(2t) +

1

2t)∣∣∣π/2

−π/2=π

2,

da sin(−π) = sin(π) = 0 ist. Die Flachengroße des ganzen Kreises ist doppelt so groß also gleichπ. Dies gilt fur einen Kreis vom Radius 1. Ein Kreis vom Radius r hat dann die Flachengroßeπr2. Beachte: Wir haben π als halben Umfang des Einheitskreises definiert. Jetzt haben wirgezeigt, dass mit dieser Definition π die Flachengroße des Einheitskreises ist. Das ist nichttautologisch.

d) Das Riemannsche Integral bestimmt die Große der Flache unter einem Funktionsgraphen,indem es diese Flache durch die Vereinigung von gewissen Rechtecksflachen approximiert.Naturlich darfst Du fragen: Wie kanonisch ist dies? Glucklicherweise kommt beim Kreis dasselbeheraus, wenn man seine Flache durch regelmaßige n-Ecke approximiert, die ihre Mittelpunktemit dem Kreis gemeinsam haben. Aber das konnte ja Zufall sein.

e) Wir wollen uns aber uber diese Skrupel hinwegsetzen und das Volumen der Einheitskugelim R3 bestimmen, indem wir die Kugel durch Vereinigungen von Kreiszylinderscheiben ap-proximieren, deren Achsen mit der x-Achse ubereinstimmen. Das bedeutet, dass das Volumendas Integral von −1 bis 1 uber die Flachengroße der Schnittkreise (mit der Kugel) derjenigenEbenen ist, die senkrecht auf der x-Achse stehen und diese im Punkt x schneiden. D.h. wir be-trachten die Funktion f : [−1, 1]→ R, wo f(x) = π(

√1− x2)2 = π(1− x2) ist, und berechnen

das Integral uber diese Funktion von −1 bis 1.

Als Volumen der Einheitskugel ergibt sich so

V =

∫ 1

−1

π(√

1− x2)2dx = π

∫ 1

−1

(1− x2)dx = π

[x− x3

3

]1

−1

= π((1− 1

3)− (−1 +

1

3)) =

4

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7.8. DAS INTEGRALVERGLEICHSKRITERIUM 217

Das Volumen der Kugel vom Radius r ist somit 43πr3.

AUFGABEN

1. Bestimme Stammfunktionen von arcsinx und arctan x. (Verwende partielle Integration, wo dererste Faktor 1 ist, ferner die Beispiele a) und b) aus (7.7.17).)

2. Zeige, dass π irrational ist.

Angenommen es ware π = a/b mit a, b ∈ N1. Berechne

1

n!

∫ π

0

xn(a− bx)n sin xdx

und Du erhaltst eine ganzzahligen Wert, der naturlich > 0 ist. Andererseits kann er nach obendurch eine Zahl abgeschatzt werden, die mit wachsendem n beliebig klein wird.

7.8 Das Integralvergleichskriterium

Definition 7.8.1 Sei a ∈ R und f : [a,∞[→ R eine stetige Funktion. Dann definiert man dasuneigentliche Integral ∫ ∞

a

f(x)dx := limb→∞

∫ b

a

f(x)dx ,

so denn der Limes definiert ist.

(Verwechsle nicht die Adjektive ‘unbestimmt’ und ‘uneigentlich’.) Man kann auch in anderenFallen versuchen, uneigentliche Integrale zu definieren, z.B. wenn f auf ] −∞, a] definiert ist,aber auch wenn f auf einem (halb)offenen Intervall, aber nicht in den Randpunkten oder einemvon ihnen definiert ist.

Beispiel 7.8.2 Sei zum Beispiel r > 1, so gilt∫ ∞

1

1

xrdx = lim

b→∞

[− 1

(r − 1)xr−1

]b

1

= limb→∞

(− 1

(r − 1)br−1+

1

r − 1

)=

1

r − 1

Beachte r − 1 > 0.

Es gilt folgendes sehr nutzliche Konvergenzkriterium fur unendliche Reihen.

Theorem 7.8.3 Sei f : [1,∞[→ R+ eine stetige monoton fallende Funktion. Die unendliche

Reihe∞∑

n=1

f(n) ist genau dann konvergent (mit einem endlichen Limes), wenn das uneigentliche

Integral∫∞

1f(x)dx existiert (und einen endlichen Wert hat).

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218 KAPITEL 7. DIFFERENZIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis: Die ‘Treppen’-Funktion go : [1,∞[→ R, die durch go(x) = f(n) fur x ∈ [n, n + 1[definiert ist, erfullt go(x) ≥ f(x) fur alle x ∈ [1,∞[. Die Funktion gu, die durch gu(x) = f(n+1)fur x ∈ [n, n+ 1[ definiert ist, erfullt gu(x) ≤ f(x).

Daraus folgt

k−1∑n=1

f(n) =

∫ k

1

go(x)dx ≥∫ k

1

f(x)dx undk∑

n=2

f(n) =

∫ k

1

gu(x)dx ≤∫ k

1

f(x)dx .

Die Partialsummen der Ausgangsreihe kann man also durch Integrale von f uber endlicheAbschnitte nach unten abschatzen. Lasst man den ersten Summanden der Reihe weg, ergibtsich eine Abschatzung nach oben.

Wir hatten Treppenfunktionen auf beschrankten Intervallen mit endlich vielen ‘Stufen’ definiert.Die Funktionen go, gu sind auf dem unbeschankten Intervall [1,∞[ definiert und haben unendlichviele Stufen, sind aber doch so etwas ahnliches.

Beispiele 7.8.4 a) Das Integral ∫ ∞

1

x−sdx

ist fur s > 1 endlich, hingegen unendlich fur s ≤ 1. Deshalb konvergiert die Reihe∑∞

n=1 n−s

fur s > 1 und divergiert fur s ≤ 1.

Wir bekommen also eine Funktion

ζ : ]1,∞[ → R, ζ(s) :=∞∑

n=1

n−s .

(ζ ist der kleine griechische Buchstabe zeta, nicht zu verwechseln mit ξ, gesprochen xi.) Diesesogenannte Zeta-Funktion ist fur die Primzahltheorie sehr nutzlich, wenn man sie zu einerFunktion einer komplexen Veranderlichen erweitert. Im Rahmen der Einfuhrung der komplexenZahlen will ich Dir (ohne Beweis) einiges dazu sagen.

b) Betrachte die Funktion f(x) = ln(ln x). Wo ist sie definiert, wenn man den naturlichenLogarithmus nur fur positive Zahlen definiert? Berechne f ′. Zeige, dass

∞∑n=2

1

n · lnndivergiert.

c) Berechne die Ableitung der Funktion −(lnx)−1 und zeige, dass die Reihe

∞∑n=2

1

n · (lnn)2konvergiert.

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Kapitel 8

Komplexe Zahlen

Eine Ebene voller Zahlen

8.1 Was sind die komplexen Zahlen?

Glaub mir: Die Erfindung oder – so man will – Entdeckung der komplexen Zahlen ist sichereine der wunderbarsten Leistungen unserer mathematischen Vorfahren.

Wenn man von den naturlichen Zahlen aus uber die ganzen und rationalen Zahlen schließlich zuden reellen Zahlen gelangt ist, ist ein gewisser Abschluss erreicht. Man kann z.B. jeden Punktdes (euklidischen) Raumes – nach Festlegung eines Koordinatensystems – durch ein Tripelreeller Zahlen beschreiben, was bekanntlich nicht moglich ist, wenn man sich auf die rationalenoder die positiven reellen Zahlen beschrankt. Wen stort es eigentlich ernsthaft, dass man ausnegativen Zahlen keine Quadratwurzeln ziehen kann? Man verzichtet ja auch darauf, durch 0zu dividieren.

8.1.1 Die erste Ahnung davon, dass sich moglicherweise doch hinter der durch reelle Zah-len beschriebenen Realitat eine mathematisch relevante Wirklichkeit verbirgt, bekamen unsereVorfahren in der Renaissance.

Kubische Gleichungen: Du bist sicher in der Lage, quadratische Gleichungen – d.h. solcheder Form x2+px+q = 0 – zu losen. Auf die sogenannte ‘p-q-Formel’ kommt man durch die ‘qua-dratische Erganzung’. Wenn man analog eine ‘kubische Erganzung’ auf kubische Gleichungen(d.h. solche 3. Grades) anzuwenden versucht, erreicht man lediglich eine Reduktion auf Glei-chungen der Form x3 + px+ q = 0. (D.h. das quadratische Glied kann man zum Verschwindenbringen.) Eine Losungsformel fur diese Gleichung fand (wahrscheinlich) Tartaglia im Jahre1535:

x =3

√−q

2+

√q2

4+p3

27+

3

√−q

2−√q2

4+p3

27

Fur die Gleichung x3−3x+2 = 0 z.B. liefert Tartaglias Formel die Losung x = 3√−1 +

√1− 1+

3√−1−

√1− 1 = −2, die offenbar richtig ist. (Allerdings ist 1 eine weitere Losung.) Ebenso

219

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220 KAPITEL 8. KOMPLEXE ZAHLEN

erhalt man mit Tartaglias Formel die Losung 0 der Gleichung x3 + x = 0. (Diese ist ubrigensihre einzige Losung im Bereich der reellen Zahlen.)

Bei der ebenso simplen Gleichung x3 − x = 0 scheint allerdings Tartaglias Formel zu versagen.Sie ergibt

x =3

√√− 1

27+

3

√−√− 1

27

Die (richtige) Losung 0 erhalt man nur dann, wenn man sich großzugig daruber hinwegsetzt,

dass der zweimal vorkommende Ausdruck√− 1

27im Bereich der reellen Zahlen gar keinen Sinn

hat. An dieser Stelle wurde man eben doch ganz gerne Quadratwurzeln aus negativen Zahlenziehen konnen! Die weiteren Losungen 1 und -1 scheint man mit Tartaglias Formel gar nicht zufinden.

Dies sollte weniger ein Grund zur Resignation sein, als einer dafur, Quadratwurzeln aus nega-tiven Zahlen einen Sinn zu geben. Umso mehr, als in Tartaglias Formel solche merkwurdigenAusdrucke haufig genug auftreten, namlich immer gerade dann, wenn die Gleichung dreiverschiedene reelle Losungen hat. (Es gibt auch keine besseren anderen Formeln, die außerden Grundrechenarten lediglich Wurzeln verwenden, mit denen man dieses unangenehmePhanomen, casus irreducibilis genannt, vermeiden kann!)

8.1.2 Die komplexen Zahlen bilden einen Korper, der mit C bezeichnet wird, und dessen Ele-mente man in der Form a+ bi schreiben kann, wo a, b reelle Zahlen sind, und i eine neue Zahlmit der Eigenschaft i2 = −1 ist. Wie Du bald sehen wirst, darfst Du ganz naiv mit diesen‘Zahlen’ rechnen und jedesmal i2 durch −1 ersetzen.

Es gibt viele Grunde, warum die komplexen Zahlen aus der modernen Mathematik nicht mehrwegzudenken sind. Dass man Tartaglias Formel immer einen Sinn geben kann, ist nur einkleines Beispiel. Ich nenne Dir weitere Grunde:

1. In Bezug auf die Existenz von Losungen algebraischer Gleichungen gilt der so genannte Fun-damentalsatz der Algebra. Dieser besagt: Jedes nichtkonstante Polynom mit komplexenKoeffizienten hat mindestens eine komplexe Nullstelle.

Z.B. ist x2−2x+2 = (x−1)2+1, also im Reellen immer echt großer als 0, hat aber im Komplexendie Nullstellen 1+i, 1−i, besitzt also die Linearfaktorzerlegung x2−2x+2 = (x−1−i)(x−1+i).

Ein weiteres Beispiel ist x4 + 1, welches keine reellen, aber die folgenden vier komplexen Null-stellen hat:

±√

2

2±√

2

2i .

Dieses wirst Du unten sehen.

Wenn ein Polynom f erst einmal eine Nullstelle α hat, kann man, wie Du weißt, den entspre-chenden Linearfaktor x − α abspalten, d.h. man kann f = (x − α) · g mit einem Polynom gschreiben. Deshalb bedeutet der Fundamentalsatz der Algebra letztlich, dass jedes Polynomuber den komplexen Zahlen in Linearfaktoren zerfallt. Insbesondere gilt dies fur das Polynom

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8.1. WAS SIND DIE KOMPLEXEN ZAHLEN? 221

xn−1, welches trivialerweise die Nullstelle 1, und bei geradem n noch die Nullstelle −1 hat. Eshat daruber hinaus noch n−1, bzw. n−2 komplexe nicht reelle Nullstellen! Wenn man sich diekomplexen Zahlen als Punkte einer Ebene veranschaulicht, liegen die Nullstellen des Polynomsxn−1 auf dem Einheitskreis und bilden dort die Ecken eines regelmaßigen n-Ecks. (Dies wollenwir weiter unten beweisen!) Von dieser Beobachtung ausgehend hat Gauss die Frage angehenkonnen, welche regelmaßigen n-Ecke mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind.

2. Nach einem interessanten und grundlegenden Satz von Hilbert, seinem sogenannten Null-stellensatz, folgt aus dem Fundamentalsatz der Algebra, dass auch Systeme von Polynomenin mehreren Variablen gemeinsame (komplexe) Nullstellen haben, es sei denn, dies ist aus tri-vialen Grunden nicht moglich. Betrachte als Beispiel die Polynome x2 + y2− 1 und x− 2, derenNullstellen in der reellen Ebene einen Kreis, bzw. eine außerhalb dieses Kreises verlaufende Ge-rade ausmachen, die demnach keine gemeinsame reelle Nullstelle haben. Im Komplexen habensie jedoch die gemeinsamen Nullstellen (x1, y1) = (2,

√3 ·i) und (x2, y2) = (2,−

√3 ·i). Hingegen

konnen die 3 Polynome x, y, 2x + 3y + 1 offenbar trivialerweise keine gemeinsame Nullstellehaben. (Wenn Dir diese Bedingung zu schwammig erscheint, darfst Du sie folgendermaßen defi-nieren: Man sagt, Polynome f1, . . . , fn in einer oder mehreren Variablen haben trivialerweisekeine gemeinsame Nullstelle, wenn es Polynome g1, . . . , gn mit f1g1 + · · ·+ fngn = 1 gibt.)

Hilberts Nullstellensatz gehort zu den Grundlagen der klassischen Algebraischen Geome-trie. Leider kann ich hierauf nicht naher eingehen.

3. Die Funktion exp kann man auch fur beliebige komplexe Argumente erklaren, namlich durchdie bekannte Potenzreihe. Es ergibt sich ein Zusammenhang zwischen exp, sin, cos, den manim Reellen nicht herstellen kann. S.u.

4. Diesen Zusammenhang nutzen die Elektrotechnik und die Physik, insbesondere die Quan-tentheorie. Nicht nur in der Mathematik werden die komplexen Zahlen gebraucht!

5. Es gibt eine reichhaltige und schone Theorie der differenzierbaren komplexwertigen Funk-tionen auf Bereichen der komplexen Zahlenebene, die so genannte Funktionentheorie. Alserstes zeigt man, dass sich eine solche Funktion in der Nahe eines jeden Punktes, wo sie defi-niert ist, als Potenzreihe darstellen lasst. (Funktionen f : I → R, wo I ⊂ R ein Intervall ist,konnen sogar unendlich oft differenzierbar sein, ohne dass sie sich um jeden Punkt von I ineine Potenzreihe entwickeln lassen.)

6. Es gibt uberraschende Anwendungen der Funktionentheorie in der Theorie der Primzahlen.Eine Ahnung davon gebe ich Dir im 2. Abschnitt.

7. In der Algebra und der algebraischen Zahlentheorie sind die komplexen Zahlen genau so wiedie reellen beheimatet.

8. Die beruhmte Fermat’sche Vermutung, dass es namlich fur ganze n ≥ 3 keine von 0 ver-schiedenen ganzen Zahlen x, y, z gibt, so dass xn + yn = zn ist, wurde erst vor etwa 25 Jahrenvon A. Wiles (mit Vor- und Nacharbeiten anderer Mathematiker) bewiesen und zwar mitHilfsmitteln, die ohne komplexe Zahlen nicht auskommen.

Bemerkung hierzu: In dem uberaus spannenden Buch ‘Verdammnis’ von Stieg Larsson bekommst Duvielleicht den Eindruck, die Fermatschen Vermutung beziehe sich nur auf den Fall n = 3. Dieser Fall

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222 KAPITEL 8. KOMPLEXE ZAHLEN

wurde allerdings moglicher Weise bereits von Fermat selbst (ohne dass wir wussten, wie) spater vonEuler mit einer gewissen Ungenauigkeit, schließlich aber von Gauss, Kummer u.a. makellos erledigt.

8.1.3 Wir konstruieren jetzt den Korper C der komplexen Zahlen. Die Abbildung

F : R→M2(R) , definiert durch F (a) :=

(a 00 a

)ist injektiv, erfullt F (a+a′) = F (a)+F (a′), F (aa′) = F (a)F (a′) und bildet die 1 von R auf das

Einselement

(1 00 1

)von M2(R) ab. Vermoge dieser Abbildung betrachten wir den Korper R

als Unterring des Ringes M2(R). In diesem Ring werden wir C als Erweiterungskorper von Rfinden.

(Wie Du weißt, fasst man ja auch die ganzen Zahlen als gewisse Bruche auf, namlich n als den

Bruchn

1. Indem wir hier die reelle Zahl a als die Matrix

(a 00 a

)auffassen, tun wir etwas

ganz analoges!)

Zunachst sei C die Menge der Matrizen folgender Gestalt(a −bb a

)= a

(1 00 1

)+ b

(0 −11 0

)Vielleicht hast Du Dir anhand fruherer Aufgaben bereits uberlegt, dass C ein kommutativer Un-terring von M2(R) ist. Dass die Nullmatrix, die Einsmatrix, die Summe zweier solcher Matrizenund das additiv Inverse einer solchen Matrix von obiger Gestalt sind, ist trivial. Du musst aberunbedingt nachrechnen (oder bereits nachgerechnet haben), dass das Produkt zweier solcherMatrizen auch wieder von dieser Gestalt und dass die Multiplikation dieser speziellen Matrizenkommutativ ist. In dem vollen Matrizenring ist sie es ja nicht!

8.1.4 Es gilt

det

(a −bb a

)= a2 + b2.

Die Quadratsumme a2 + b2 mit a, b ∈ R ist aber nur dann gleich 0, wenn sowohl a = 0, als auch

b = 0 ist. Ist also

(a −bb a

)nicht die Nullmatrix, d.h. mindestens eine der beiden Zahlen a, b

ungleich 0, so gibt es ein (multiplikativ) Inverses dieser Matrix, namlich

1

a2 + b2

(a b−b a

).

Du siehst, die Menge C der betrachteten Matrizen ist ein Korper.

8.1.5 Wir bezeichnen die Matrix

(0 −11 0

)jetzt mit i. Dann durfen wir schreiben(

a −bb a

)= a ·

(1 00 1

)+ b ·

(0 −11 0

)= a+ bi

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8.1. WAS SIND DIE KOMPLEXEN ZAHLEN? 223

Die komplexen Zahlen bilden insbesondere einen R-Vektorraum, der isomorf zu R2 ist. EineBasis wird von den Elementen 1 und i gebildet. Insbesondere ist

(a1 + b1i) + (a2 + b2i) = (a1 + a2) + (b1 + b2)i .

Offenbar ist

i2 =

(0 −11 0

)2

=

(−1 00 −1

)= −1

Da fur komplexe Zahlen die Korpergesetze gelten, durfen wir wie gewohnt rechnen und dabeiimmer i2 = −1 setzen. Zum Beispiel ist

(a1 + b1i)(a2 + b2i) = a1a2 + a1b2i+ a2b1i+ b1b2i2 = (a1a2 − b1b2) + (a1b2 + a2b1)i

Als Matrix geschrieben ist letzter Ausdruck gleich(a1a2 − b1b2 a1b2 + a2b1−(a1b2 + a2b1) a1a2 − b1b2

)=

(a1 −b1b1 a1

)(a2 −b2b2 a2

).

Und so muss es ja auch sein, nicht wahr?

Eine Matrix der Form (a −bb a

)ist naturlich durch das Paar (a, b) gegeben. Letzteres kann man nun als Vektor oder Punkt ineiner Ebene mit einem orthonormalen Koordinatensystem auffassen. Wenn Du dieses Paar mitder komplexen Zahl a+bi identifizierst, so siehst Du, dass man jede komplexe Zahl auf folgendedrei Weisen schreiben kann: (

a −bb a

)= a+ bi = (a, b)

Das multiplikativ Inverse von a+ bi ista

a2 + b2− b

a2 + b2i, falls a+ bi 6= 0 gilt, nicht wahr?

Achtung: Ich mochte Dich davor warnen, i =√−1 zu schreiben und dann unvorsichtig damit

umzugehen! Du konntest ja etwa folgendes rechnen i2 =√−1·√−1 =

√(−1) · (−1) =

√1 = 1 .

8.1.6 Sei nun (a, b) 6= (0, 0). Betrachte folgendes Bild:

(a,b)

ϕ1 2 3–2 –1 1

i

2i

–i

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224 KAPITEL 8. KOMPLEXE ZAHLEN

Wenn ϕ der in diesem Bild angegebene Winkel ist, gilt also

(a, b) =√a2 + b2 · (cosϕ , sinϕ)

Dabei ist√a2 + b2 die Lange des Vektors (a, b). In der Matrizenschreibweise bedeutet dies(

a −bb a

)=√a2 + b2 ·

(cosϕ − sinϕsinϕ cosϕ

)Die Matrix auf der rechten Seite ist die Drehmatrix um den Winkel ϕ. Wir wissen, dass dasProdukt zweier solcher Drehmatrizen um die Winkel ϕ, bzw. ψ die Drehmatrix um den Winkelϕ+ ψ ist. Es ergibt sich:

Satz 8.1.7 Seien a + bi, a′ + b′i komplexe Zahlen 6= 0 (mit a, b, a′, b′ ∈ R) und ϕ, bzw. ϕ′ dieWinkel der Vektoren v = (a, b), bzw. w = (a′, b′) mit der positiven reellen Halbachse. Dann hatdas Produkt der beiden Zahlen, aufgefasst als Vektor, die Lange

√a2 + b2 ·

√a′2 + b′2 und den

Winkel ϕ+ ϕ′ mit der positiven reellen Halbachse.

Definitionen 8.1.8 Sei a+ bi mit reellen a, b eine komplexe Zahl.

a) Die reelle Zahl a heißt der Realteil von a+ bi. Bezeichnung: a = Re(a+ bi).

b) Die reelle Zahl b heißt der Imaginarteil von a+ bi. Bezeichnung: b = Im(a+ bi). (Beachte,dass nach dieser – allgemein ublichen – Definition der Imaginarteil einer komplexen Zahl einereelle Zahl ist. Man konnte es naturlich auch anders machen.)

c) Der Betrag von a+ bi ist√a2 + b2. Bezeichnung |a+ bi| =

√a2 + b2.

d) Der Winkel, den der Vektor (a, b) mit der positiven reellen Halbachse bildet, heißt das Ar-gument von a + bi. Dieser Winkel ist lediglich bis auf Vielfache von 2π = 360 definiert.Schreibweise: arg(a+ bi) = ϕ, wobei ϕ wie im letzten Satz definiert wird.

e) Die zu a+ bi konjugierte komplexe Zahl ist a− bi. Bezeichnung: a+ bi = a− bi.

Bemerkungen 8.1.9 a) Der letzte Satz druckt sich in Formeln, wie folgt aus: Sind c, d ∈ C∗,so gilt |cd| = |c| · |d| und arg(cd) = arg(c) + arg(d).

b) |Re(a + bi)| =√a2 ≤

√a2 + b2 = |a + bi|, ebenso gilt |Im(a + bi)| ≤ |a + bi|. D.h. fur eine

komplexe Zahl c ist |Re(c)| ≤ |c| und |Im(c)| ≤ |c|

c) Sind c, d ∈ C, so gilt c+ d = c + d, sowie c · d = c · d. Die offensichtlich bijektive Ab-bildung C → C, definiert durch c 7→ c, ist also ein Ringisomorfismus und somit auch einenKorperisomorfismus. (Letzteres bedeutet, dass auch (c)−1 = c−1 ist.)

Ein Isomorfismus mit gleichem Start und Ziel wird ein Automorfismus genannt. Die Konju-gation c 7→ c ist also ein Automorfismus des Korpers C.

Offenbar ist c = c .

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8.1. WAS SIND DIE KOMPLEXEN ZAHLEN? 225

d) Die Dreiecksungleichung. Diese ist

|c+ d| ≤ |c|+ |d|

Geometrisch bedeutet sie, dass die Summe der Langen zweier Seiten eines Dreiecks großer odergleich der dritten Seite ist. Hier wollen wir das ’ungeometrisch’ zeigen:

Fur jede komplexe Zahl c gilt 2 · Re(c) = (c+ c) und cd = cd, sowie |c| = |c|. Es folgt

|c+d|2 = (c+d)(c+d) = cc+dd+cd+cd = |c|2+|d|2+2Re(cd) ≤ |c|2+|d|2+2|c||d| = (|c|+|d|)2

und daraus die Dreiecksungleichung.

e) Ist z 6= 0, so gilt |z−1| = |z|−1 und arg(z−1) = − arg(z). Mache Dir klar, was das geometrischbedeutet!

8.1.10 Potenzen mit naturlichen Exponenten. Sei n ganz und > 0. Wenn z den Betragr hat, d.h. auf einem Kreis vom Radius r um 0 liegt, so hat zn den Betrag rn, liegt somit aufdem Kreis vom Radius rn um 0.

Wenn z das Argument α hat, so hat zn das Argument n · α, zumindest bis auf ein Vielfachesvon 2π.

Wir lassen z den Kreis Sr um 0 vom Radius r > 0 mit konstanter Winkelgeschwindigkeit 1durchlaufen und beobachten, welchen Weg dabei zn nimmt. Nach dem, was wir uns geradeuberlegt haben, durchlauft zn den Kreis Srn vom Radius rn und zwar mit der Winkelgeschwin-digkeit n. Wenn z den Kreis Sr einmal durchlauft, so durchlauft zn den Kreis Srn genau n-mal.Es trifft dabei jeden Punkt auf Srn genau n-mal.

Was bedeutet das fur die Existenz und Vielfachheit von Wurzeln, d.h. die Losungen der Glei-chung xn = c?

Sei c 6= 0 eine komplexe Zahl mit dem Argument ϕ und d := n√|c|(cos(ϕ/n) + i sin(ϕ/n)), so

gilt offenbar dn = c. D.h. man kann aus jeder komplexen Zahl fur jede naturliche Zahl n > 0eine n-te Wurzel ziehen.

Allerdings ist das Wurzelziehen nicht eindeutig: Es gibt genau n verschiedene komplexe Zahlend mit dn = c, wenn nicht gerade c = 0 ist. Es ist cos(ϕ+k ·2π)+ i sin(ϕ+k ·2π) = cosϕ+ i sinϕfur jede ganze Zahl k. Also ist jede komplexe Zahl dk := n

√|c|(cos(ϕ/n+ k · 2π/n)+

i sin(ϕ/n + k · 2π/n)) eine n-te Wurzel aus c, d.h. dnk = c. Die Zahlen d0, d1, . . . , dn−1 sind

untereinander verschieden, aber danach wiederholen sie sich: dn = d0, dn+1 = d1, . . .. Siebilden offenbar die Ecken eines regelmaßigen n-Ecks.

Insbesondere gibt es n verschiedene komplexe Zahlen z0, z1, . . . , zn−1, die alle die Gleichungzn = 1 erfullen. Eine von ihnen ist 1, alle haben den Betrag 1, d.h. sie befinden sich auf demEinheitskreis. Sie bilden dort ein regelmaßiges n-Eck mit dem Mittelpunkt 0.

(Von dieser Tatsache ist Gauss ausgegangen, als es ihm kurz vor 1800 gelang, ein regelmaßiges17-Eck allein mit Zirkel und Lineal zu konstruieren.)

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226 KAPITEL 8. KOMPLEXE ZAHLEN

Definition 8.1.11 Die Nullstellen von xn − 1 in C heißen die n-ten Einheitswurzeln.

Bemerkung 8.1.12 Du weißt vielleicht noch von der Herleitung der Summenformel fur diegeometrische Reihe, dass zn− 1 = (z− 1)(zn−1 + zn−2 + · · ·+ z+1) = (z− 1)

∑n−1k=0 z

k ist. Dassbedeutet, dass die Nullstellen von

∑n−1k=0 z

k die von 1 verschiedenen n-ten Einheitswurzeln sind.

Beispiele 8.1.13 Wir berechnen einige spezielle Beispiele. Mit ihrer Hilfe bestimmen wir spe-zielle Werte des Cosinus und Sinus.

a) Rechne (1+i)2 = 1+2i−1 = 2i, also ( 1√2+ 1√

2i)2 = 1

2·2i = i, mithin ( 1√

2+ 1√

2i)4 = i2 = −1. Du

siehst erneut, diesmal ohne geometrische Argumente, dass −1 im Bereich der komplexen Zahlennicht nur ein Quadrat, sondern auch eine 4. Potenz ist. Wenn Du dies mit der geometrischenBeschreibung der Multiplikaton zusammenbringst, kannst Du

sin(π/4) = cos(π/4) =1√2

(=

√2

2)

ableiten.

Wir bleiben bei diesem Beispiel und setzen abkurzend v := 1√2

+ 1√2i. Dann ist v3 = v2v =

iv = − 1√2

+ 1√2i, v5 = v4v = −v, v6 = v4v2 = −i v7 = v4v3 = −v3 = 1√

2− 1√

2i

und schließlich v8 = (v4)2 = (−1)2 = 1. Dann wiederholen sich die Werte der Potenzen, alsov9 = v8v = v, v10 = v8v2 = v2 = i, v11 = v8v3 = v3 = − 1√

2+ 1√

2i usw. Fur jede beliebige

(ganze) Potenz vk gilt offenbar (vk)8 = (v8)k = 1k = 1. D.h. wir haben insgesamt 8 verschiedeneZahlen gefunden, deren 8. Potenz 1 ergibt, namlich 1, v, v2, . . . , v7.

b) Ein weiteres Beispiel. Setze w := 12

+√

32i. Dann ist w2 = 1

4− 3

4+ 2 · 1

2

√3

2i = −1

2+

√3

2i und

w3 = ww2 = (12

+√

32i)(−1

2+

√3

2i) = −1

4− 3

4= −1. Weiter erhalt man w4 = w3w = −w, w5 =

w3w2 = −w2 und w6 = w3w3 = (−1)(−1) = 1. Wie oben wiederholen sich jetzt die Potenzen:w7 = w1, w8 = w2 usw. Ebenso siehst Du, dass fur jede ganze Potenz wk von w gilt: (wk)6 = 1.Es gibt also (mindestens) 6 verschiedene komplexe Zahlen, die die Gleichung x6 = 1 erfullen.Da diese Gleichung den Grad 6 hat, hat sie auch auch nur 6 Losungen.

Man kann hieraus

cos(π/3) =1

2und sin(π/3) =

√3

2

ableiten. (Was folgt daraus fur sin(π/6), cos(π/6)?)

8.1.14 Zusatzliche Bemerkungen.

Zu Tartaglias Formel: Wenn man sie im Komplexen anwenden will, hat man es mit

mehrdeutigen Wurzeln zu tun. Mit den Quadratwurzeln ist es einfach: Mit√

q2

4+ p3

27sei

willkurlich eine der beiden moglichen Wurzeln bezeichnet; −√

q2

4+ p3

27ist dann automatisch die

andere. Jeder der beiden Summanden in Tartaglias Formel ist nun eine kubische Wurzel mit 3moglichen Werten. So hat man insgesamt 9 mogliche Kombinationen. Es gibt nun eine Regel,

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8.1. WAS SIND DIE KOMPLEXEN ZAHLEN? 227

welche 3 Kombinationen die Nullstellen des kubischen Polynoms ergeben. Hierauf will ichnicht genauer eingehen und verweise stattdessen auf das Buch

”Kubische und biquadratische

Gleichungen“ von Heinrich Dorrie (Leibniz Verlag Munchen 1948).

Plausibilitat des Fundamentalsatzes der Algebra. Sei n ∈ N1. Die Funktiong : C → C, definiert durch g(z) = zn, bildet die Kreislinie Sr vom Radius r > 0 um 0 auf dieKreislinie Srn vom Radius rn um 0 ab, und zwar so, dass ein Umlauf um Sr zu n Umlaufen umSrn wird. Sei jetzt f(z) = zn + a1z

n−1 + · · ·+ an−1z + an Wir setzen an 6= 0 voraus, da f sonstbereits die Nullstelle 0 hat.

Ist der Betrag von z sehr groß, so uberwiegt der Anteil von zn in starkem Maße die Anteile derubrigen Summanden in f . Also gilt: Wenn z die Kreislinie Sr einmal durchlauft und r ‘sehrgroß’ ist, so lauft f(z) ‘in der Nahe’ von Srn genau n-mal um den Nullpunkt herum. Lasst manjetzt r gegen 0 gehen, so zieht sich die Bildkurve von Sr auf den Punkt an zusammen. Irgend-wann muss sie unterwegs uber den Punkt 0 hinweggehen. Das heißt, es gibt eine Nullstelle von f .

Die komplexe Exponentialfunktion: Man definiert sie, wie im Reellen durch

ez =∞∑

n=0

zn

n!

fur beliebige z ∈ C und beweist auch das Additionstheorem wie im Reellen.

Im Folgenden halte ich mich etwas kurz. Insbesondere gilt ex+iy = ex · eiy fur x, y ∈ R. Dauns die Funktion ex bereits einigermaßen bekannt ist, wollen wir die Abbildung R → C, y 7→eiy studieren. Uberlege Dir, dass die zu eiy konjugierte komplexe Zahl gleich e−iy ist. (DieKonjugation ist nicht nur mit endlichen Summen und Produkten vertraglich, sondern auch mitLimesbildung.) Daraus folgt ∣∣eiy

∣∣2 = eiy · e−iy = 1

D.h. Die Spur der parametrisierten Kurve R → C, y 7→ eiy liegt also im Einheitskreis. Durchgenauere Untersuchung, stellt man fest, dass sie diesen entgegen dem Uhrzeigersinn mit derAbsolutgeschwindigkeit 1 durchlauft. Da zudem noch e0i = 1 gilt, erhalt man gemaß unsererDefinition der Kreisfunktionen

eiy = cos y + i sin y und somit ex+iy := ex(cos y + i sin y)

Die aus diesen Uberlegungen folgende Gleichung eiπ + 1 = 0 hat den bekannten PhysikerFeynman seit seiner Jugend fasziniert. (Sie involviert die wahrscheinlich wichtigsten Zahlender Mathematik, namlich 0, 1, i, π, e.)

Wenn man den Zielbereich der Funktion exp auf C∗ = C−0 einschrankt, so ist die Abbildungexp : C → C∗ surjektiv, aber nicht injektiv. Fur jedes z ∈ C gilt, dass die z + 2nπi fur allen ∈ Z dasselbe Bild unter exp haben.

Allgemeine Potenzen. Seien c, z ∈ C, c 6= 0 Man kann versuchen cz := exp(z ln(c)) zudefinieren. Dies hat den Vorzug, dass man bis auf die Bedingung c 6= 0 keine Einschrankung

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228 KAPITEL 8. KOMPLEXE ZAHLEN

machen muss. Der Nachteil liegt darin, dass die ‘Funktion’ ln auf C× = C − 0 von Naturaus unendlich viele Werte hat, die sich um Vielfache von 2πi unterscheiden. Das kommt daher,dass im Komplexen die Funktion exp nicht injektiv, sondern periodisch mit der Periode 2πi ist.Jeder noch so geschickt ausgewahlte, auf ganz C× eindeutig definierte Logarithmus ist wederuberall stetig, noch erfullt er allgemein die Gleichung ln(z1z2) = ln(z1) + ln(z2).

Man muss also damit leben, dass etwa der Ausdruck ii zunachst unendlich viele Werte hat – wiewir gleich sehen werden – und wenn man mit ihm rechnen will, angeben, welcher der moglichenWerte gemeint ist.

Wenn man ii als exp(i · ln i) definiert, so muss man die moglichen Werte von ln i bestimmen.Fur c 6= 0 gilt ln c = ln |c| + i arg(c). Dabei ist arg(c) aber nicht eindeutig, sondern nur bisauf ganzzahlige Vielfache von 2π bestimmt. (Dies alles ergibt sich, wenn man exp wie obendefiniert und versucht, diese nicht bijektive Funktion umzukehren.)

In unserem Fall ist |i| = 1 und arg i = π/2 + 2nπ, also ln i = i(π/2 + 2nπ), wo n ∈ Z beliebigist. Fur ii ergeben sich also die unendlich vielen moglichen Werte: exp(−π/2 + 2mπ), m ∈ Z,die alle reell sind.

AUFGABEN

Die Aufgaben beschaftigen sich mit Einheitswurzeln.

1. Sei n eine ungerade naturliche Zahl. Welche gemeinsamen Nullstellen haben alle Polynome(uber C) der folgenden Gestalt:

∑nk=0 akz

k mit an 6= 0 und ak = an−k ∈ −1, 0, 1 fur alle k?

2. Bestimme die gemeinsamen Nullstellen der Polynome f = z3+2z2+2z+1 und g = z2015+z121+1in C.

8.2 Sind Primzahlen einsam?

Hier will ich nichts beweisen, sondern nur versuchen, Dir einiges aus der Theorie der Primzahlenzu erlautern.

Du weißt hoffentlich noch, dass es unendlich viele Primzahlen gibt (und wie man dies beweist),ferner dass es zwischen zwei aufeinanderfolgenden Primzahlen beliebig große Lucken gibt. Uberdiese eher

”qualitativen“ Aussagen hinaus kann man sich naturlich auch

”quantitative“ Fragen

stellen, etwa: Gibt es zu jeder ganzen Zahl n ≥ 1 eine (im Dezimalsystem) n-stellige Primzahl?Der experimentielle Befund ist eindeutig: Es gibt 4 einstellige, 21 zweistellige, 143 dreistelligePrimzahlen – und soweit es Primzahltafeln gibt, setzt sich dieser Trend fort. Wir Mathematikerund Mathematikerinnen wunschen naturlich, einen Beweis dafur zu haben. Und einen solchengibt es in der Tat; aber dieser ist uberhaupt nicht trivial.

Du wirst vielleicht dem Dezimalsystem das Binarsystem vorziehen. Und in der Tat gilt die ent-sprechende Aussage auch hier: Zu jedem ganzen n ≥ 2 gibt es eine im Binarsystem geschriebenen-stellige Primzahl. Dies folgt – wie Du sofort siehst – aus dem sogenannten Bertrand’schen

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8.2. SIND PRIMZAHLEN EINSAM? 229

Postulat: Zu jeder ganzen Zahl n ≥ 1 gibt es immer eine Primzahl p mit n < p ≤ 2n. (Bert-rand konnte dies nicht beweisen, hat es aber als wahr unterstellt, um einen anderen Satz zuzeigen.) Dieses

”Postulat“ wurde spater von Cebysev bewiesen.

Man kann solche Fragen in Beziehung zu dem sogenannten Primzahlsatz bringen. Wir be-trachten dazu die Funktion π, die jedem reellen x die Anzahl der (positiven) Primzahlen ≤ xzuordnet. (Diese Funktion hat nichts mit der Kreiszahl π zu tun!) Die Funktion π(x) ist 0 furx < 2 und springt bei jeder Primzahl um 1 nach oben. (Sie ist insbesondere nicht stetig, aber‘von Weitem gesehen’ merkt man das nicht.)

Der Primzahlsatz vergleicht die Funktion π mit der fur x > 1 definierten Funktion x/ ln(x). Erbesagt

limx→∞

π(x)

x/ ln(x)= 1 .

Man kann ihn auch wie folgt ausdrucken: Sei ε > 0 beliebig klein. So gibt es eine Zahl Y , sodass fur alle x ≥ Y die Ungleichungen

(∗) (1− ε) x

lnx≤ π(x) ≤ (1 + ε)

x

lnxgilt.

Bemerkungen 8.2.1 a) Ich will nicht verschweigen, dass es eine bessere Vergleichsfunktionfur π(x) als x/ ln(x) gibt, namlich den sogenannten Integrallogarithmus Li, definiert durch

Li(x) =

∫ x

2

dx

ln(x),

die fur x ≥ 2 definiert ist.

b) Der Primzahlsatz wurde von Gauß vermutet und erst Ende des 19. Jahrhunderts von Ha-damard und de la Vallee Poussin (unabhangig voneinander) bewiesen. Beide benutzeneine Aussage uber die Nullstellen der Zeta-Funktion.

8.2.2 Nun folgt etwas zu dem behaupteten Zusammenhang mit der Funktionentheorie. Die imletzten Kapitel fur reelle x > 1 definierte Zetafunktion lasst sich fur alle komplexen Zahlen, mitAusnahme der 1 definieren. Seltsamer Weise hangen die Nullstellen der Zetafunktion mit derPrimzahlverteilung zusammen, wie Riemann erkannt hat. Es gibt die (sogenannten trivialen)Nullstellen −2n fur n = 1, 2, . . ., dazu aber noch unendlich viele andere in dem Streifen 0 ≤Re(z) ≤ 1. Hadamard und de la Vallee Poussin konnten zeigen, dass am Rande diesesStreifens (wo Re(z) = 0 oder 1 ist) keine Nullstellen liegen, und damit den Primzahlsatzbeweisen. Die bislang unbewiesene Riemannsche Vermutung besagt, dass alle nichttrivialenNullstellen auf der mittleren Geraden Re(z) = 1/2 dieses Streifens liegen. Aus ihr wurden sehrgenaue Abschatzungen fur die Primzahlverteilung folgen.

8.2.3 Sei x < y. Die Anzahl der Primzahlen p mit x < p ≤ y ist gleich π(y) − π(x). DieseDifferenz kann man mit Hilfe der Ungleichungen (∗) nach unten abschatzen:

π(y)− π(x) ≥ (1− ε)(y/ ln y)− (1 + ε)(x/ lnx)

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230 KAPITEL 8. KOMPLEXE ZAHLEN

Im Hinblick auf das Bertrandsche Postulat betrachten wir den Fall y = 2x und erhalten

π(2x)− π(x) ≥ (1− ε)(2x/ ln(2x))− (1 + ε)(x/ ln(x))

Nun ist ln(2x) = ln(x) + ln(2) < ln(x) + 1. Das bedeutet, dass 2x/ ln(2x) nicht viel kleiner als2 · (x/ ln(x)) ist. Wir wahlen nun δ(x), so dass x/ ln(2x) = (1− δ)x/ ln(x) ist. Dann gilt

π(2x)−π(x) ≥ (1− ε)((2x/ ln(2x))− (1+ ε)(x/ ln(x)) = (2(1− ε)(1− δ(x))− (1+ ε)) ·x/ ln(x)

Beachte limx→∞ δ(x) = 0. Ist nun

(∗∗) 2 >1 + ε

(1− ε)(1− δ),

so ist π(2x)− π(x) > 0, also gibt es dann mindestens eine Primzahl p mit x < p ≤ 2x. Ist nunε klein genug, dass (1 + ε)(1 − ε) < 2 gilt, so gilt die Ungleichung (∗∗) fur genugend große x.Es folgt sogar, dass die Anzahl der Primzahlen zwischen x und 2x mit x gegen unendlich geht,nicht wahr?

Num konnte Cebysev zwar den Primzahlsatz noch nicht beweisen, aber die Ungleichungen (∗)fur ε = 1/9 zeigen, falls nur x genugend groß ist.

Da1 + 1

9

1− 19

< 2 ist, folgt das Bertrand’sche Postulat – zunachst fur große x. Es ist dann noch

etwas Feinarbeit zum vollstandigen Beweis zu leisten.

8.2.4 Was wir oben fur den Faktor 2 getan haben geht ebenso gut fur den Faktor 1,1 oder1,01, allgemeiner fur jeden Faktor der Form 1 + γ mit beliebig kleinem γ > 0. Dann allerdingsist die Anzahl der Primzahlen zwischen x und (1 + γ)x nur fur genugend große x nicht null.Zum Beweis muss man außerdem den vollen Primzahlsatz benutzen.

Was sollen wir nun zur Frage sagen, ob Primzahlen einsam sind?

Man mag ja eine Primzahl, die zur nachsten Primzahl einen großen Abstand hat als einsamansehen. Dann gibt es einsame Primzahlen. Wenn man aber den Abstand der n-ten Primzahlpn zur (n+1)-ten Primzahl pn+1 im Verhaltnis zur Große von pn als Maß fur seine Einsamkeitsnimmt, sieht die Sache anders aus. Fur jede noch so kleine Zahl γ > 0 gibt es ja eine reelle Zahlx, so dass zu jeder Primzahl p > x die nachstgroßere Primzahl kleiner als (1 + γ) · p ist.

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Kapitel 9

Gruppen

Ist es sinnvoll, Bereiche mit nur einer Rechnungsart zu betrachten?

9.1 Was sind Gruppen?

Bislang hast Du die algebraischen Begriffe Ring und Korper kennengelernt. Moglicherweisehast Du sogar ein gewisses Verstandnis dafur bekommen, warum man sie in aller Allgemeinheitstudiert. Es gibt ja viele interessante Ringe, und unter diesen auch viele interessante Korper.Neben Z,Q,R,C gibt es z.B. noch die Restklassenringe Z/(m), die genau dann Korper sind,wenn m eine Primzahl ist, ferner die Matrizenringe. Glaub mir, das ist nur der Anfang!

Haltst Du es fur sinnvoll, algebraische Strukturen zu definieren, bei denen es nur eine Ver-knupfung (Rechenart) gibt? Vielleicht nicht.

Auch ich kann Dir hier nur eine Ahnung davon geben, zu welchem Zweck man den Gruppenbe-griff einfuhrt, und dich einfach bitten, zu glauben, dass er in der Mathematik und der Physikeine große Rolle spielt.

Definition 9.1.1 Eine Gruppe ist eine Menge G zusammen mit einer Verknupfung (Rechen-art), die vorlaufig mit

”“ bezeichnet sei, so dass folgendes gilt:

0) (a b) c = a (b c) fur alle a, b, c ∈ G. (Assoziativitat)

1) Es gibt ein neutrales Element e ∈ G mit e a = a e = a fur alle a ∈ G. (Existenz einesneutralen Elementes) (Hier ist mit e nicht die Eulersche Zahl 2,718... gemeint.)

2) Fur ein solches neutrales Element e gilt: Zu jedem a ∈ G gibt es ein Inverses a− ∈ G mita− a = a a− = e. (Existenz inverser Elemente)

Definition 9.1.2 Eine Gruppe G (mit der Verknupfung”“) heißt abelsch (oder kommuta-

tiv), wenn a b = b a fur alle a, b ∈ G gilt.

Nils Hendrik Abel (1802-1829) war einer der ganz großen Mathematiker – trotz seineskurzen Lebens. (Eine abelsche Gruppe ist kaine Gruppe von Mannern, die von ihren Brudernerschlagen wurden.)

231

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232 KAPITEL 9. GRUPPEN

Bemerkungen 9.1.3 a) Das neutrale Element ist eindeutig definiert. Denn fur jedes weitereneutrale Element e′ gilt: e = e e′ = e′ gemaß 1).

In einer Gruppe gelte x x = x. Dann ist x = x− (x x) = x− x = e.

b) Auch gibt es zu jedem a ∈ G nur ein Inverses. Sei etwa a ein weiteres solches, so erhaltman a− = e a− = (a a) a− = a (a a−) = a e = a

Offenbar ist a invers zu a−und wegen der Eindeutigkeit des Inversen deshalb (a−)− = a .

(Du hast diese Uberlegungen bereits fur die Addition in Ringen gemacht!)

c) Ein sparsameres Axiomensystem ersetzt 1) und 2) durch:

Es gibt ein e ∈ G, so dass gilt:

1’) e a = a fur alle a ∈ G,

2’) zu jedem a ∈ G existiert ein a− ∈ G mit a− a = e.

Es ist nicht ganz einfach zu zeigen, dass aus 0), 1’) und 2’) (bei fehlender Kommutativitat)auch 1) und 2) folgen. Und ich halte das auch nicht fur so wichtig, da in den meisten Beispielenvon Gruppen die Gesetze 1) und 2) leicht zu zeigen sind.

d) Die Assoziativitat besagt, dass es in iterierten ‘Produkten’, etwa (a b) (c (d f)) auf dieKlammerung nicht ankommt, man also die Klammern weglassen darf.

Die Reihenfolge der ‘Faktoren’ bleibt allerdings wichtig – es sei denn die Gruppe ist abelsch.

e) Achtung: (a b)− = b− a−. Du erinnerst Dich: Wenn man zuerst ein Hemd und danacheinen Pullover anzieht und dies (ohne Verrenkungen) wieder ruckgangig machen will, muss manzuerst den Pullover und danach das Hemd ausziehen.

Fur a, b mit (ab)− = a− b− gilt somit ab = ((ab)−)− = (a− b−)− = (b−)− (a−)− = ba .

f) Man kann in einer Gruppe sinnvoll Potenzen mit ganzzahligen Exponenten definieren: DieDefinition ist dieselbe, wie fur Elemente 6= 0 eines Korpers. Und es gelten auch die Regeln:

am an = am+n, (am)n = amn, aber nicht allgemein (ab)m = am bm.

Zeige: Gilt in einer Gruppe (a b)2 = a2 b2, so ist b a = a b.

g) Das neutrale Element hat die Eigenschaft e e = e. Umgekehrt ist es das einzige Elementmit dieser Eigenschaft. Aus x x = x erhalt man namlich x− x x = x− x, also x = e. (Docherinnere Dich: In jedem Ring gilt sowohl 1 · 1 = 1 als auch 0 · 0 = 0.)

h) Wir konstruieren eine Gruppe von 2 Elementen: G = e, a mit dem neutralen Element eund einem weiteren a 6= e. Die Verknupfungen e e = e, e a = a e = a sind durch ein Axiomdirekt vorgeschrieben. Aus a a = a wurde a = e folgen. Also ist a a = e. Die Assoziativitatkannst Du naturlich durch Untersuchung aller Falle nachprufen. (Ist e ein beidseitig neutralesElement, so folgt (xe)y = x (ey). Ebenso (ex)y = e (xy) und (xy)e = x (y e).Es bleibt der Fall (a a) a = a (a a), der unmittelbar aus a a = e folgt.) Eine andere

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9.1. WAS SIND GRUPPEN? 233

Moglichkeit, dies einzusehen, ergibt sich durch die Betrachtung der sogenannten Gruppentafel(Multiplikationstabelle):

e ae e aa a e

Diese ist namlich offenbar die gleiche wie die Additionstabelle unseres ‘Minikorpers’ F2, wennman nur e durch 0 und a durch 1 ersetzt. Da die Verknupfungen zwangslaufig sind, ist jedeGruppe von 2 Elementen zu der konstruierten ‘isomorf’, d.h. nicht wesentlich von ihr verschie-den. (Was das genau bedeutet, muss und werde ich naturlich noch definieren.) Diese Gruppekommt haufig vor: In jedem Ring, in dem 1 6= −1 gilt, ist die Menge 1,−1 in Bezug auf dieMultiplikation eine Gruppe aus 2 Elementen. Hier entspricht e der 1 und a der -1.

9.1.4 Etwas zur Schreibweise: Im Allgemeinen werden alternativ zwei mogliche Schreibweisenfur die Verknupfung, das neutrale Element und das zu a Inverse benutzt:

a) Die multiplikative Schreibweise: ab oder a · b fur a b, sowie 1 fur e und a−1 fur a−.(Wenn die Gruppe aus bijektiven Abbildungen einer Menge auf sich selbst besteht und dieVerknupfung deren Verkettung bedeutet, schreibt man naturlich auch ab fur die Verknupfungund id oder z.B. auch I fur das neutrale Element.)

Bei multiplikativer Schreibweise schreibt man Potenzen wie gewohnt.

b) Die additive Schreibweise: a + b fur a b, sowie 0 fur e und −a fur a−. In diesem Fallschreibt man auch a− b an Stelle von a+(−b) usw. Die additive Schreibweise wird in der Regelnur bei abelschen Gruppen benutzt.

Bei der additiven Schreibweise entspricht dem Begriff ‘Potenz’ der Begriff ‘Vielfaches’. Beispielaaa schreibt man als a3, wahrend a+ a+ a als als 3a geschrieben wird. Entspechend bedeuteta−2 bei multiplikativer Schreibweise (aa)−1, wahrend man bei additiver Schreibweise (−2)a =−(a+ a) setzt. (Naturlich gilt (aa)−1 = a−1a−1 und somit auch −(a+ a) = (−a) + (−a), welchletzteres auch −a− a geschrieben wird.)

Ich benutze hier meist, aber nicht immer, die multiplikative Schreibweise. Manchmal liegtnaturlich die additive Schreibweise nahe.

Definition 9.1.5 Die Kardinalzahl (d.h. die Elementezahl) einer endlichen Gruppe wird auchihre Ordnung genannt.

Beispiel 9.1.6 Ein typisches erstes Beispiel einer nicht abelschen Gruppe ist das Folgende:

Die Menge S3 ist die Menge aller bijektiven Abbildungen ϕ : 1, 2, 3 → 1, 2, 3. Wir schreibensolche Abbildungen in der Form (

1 2 3ϕ(1) ϕ(2) ϕ(3)

)also ist z.B.

σ1 :=

(1 2 31 3 2

)

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234 KAPITEL 9. GRUPPEN

diejenige Abbildung, die 1 auf 1, 2 auf 3 und 3 auf 2 abbildet.

Welche Ordnung hat S3? Nun, sie hat offenbar soviele Elemente, wie es Anordnungen der Menge1, 2, 3 gibt, d.h. 3!=6 Stuck.

Außer der genannten Abbildung σ1 gibt es noch die folgenden 5

σ2 :=

(1 2 33 2 1

), σ3 :=

(1 2 32 1 3

)(σi lasst i fest, d.h. bildet i auf sich selbst ab, und vertauscht die beiden anderen Elemente aus1, 2, 3.)

δ :=

(1 2 32 3 1

), δ′ :=

(1 2 33 1 2

)und – nicht zu vergessen – die Identitat (identische Abbildung)

I :=

(1 2 31 2 3

)9.1.7 Die Verknupfung

”“ ist die Verkettung (Hintereinanderausfuhrung) der Abbildungen.

Dabei verabreden wir, die rechtsstehende zuerst auszufuhren. Z.B.

σ2σ1 =

(1 2 33 2 1

)

(1 2 31 3 2

)=

(1 2 33 1 2

)= δ′

Hingegen

σ1σ2 =

(1 2 31 3 2

)

(1 2 33 2 1

)=

(1 2 32 3 1

)= δ

Es ist also σ1σ2 6= σ2σ1.

Wir konnen eine Tabelle aller Produkte, die Gruppentafel, aufstellen

I σ1 σ2 σ3 δ δ′

I I σ1 σ2 σ3 δ δ′

σ1 σ1 I δ δ′ σ2 σ3

σ2 σ2 δ′ I δ σ3 σ1

σ3 σ3 δ δ′ I σ1 σ2

δ δ σ3 σ1 σ2 δ′ Iδ′ δ′ σ2 σ3 σ1 I δ

In der α-Zeile und β-Spalte steht das Element αβ.

In jeder Zeile steht jedes Element von S3 genau einmal. Das ist auch in jeder Spalte so. Dies giltfur jede Gruppe. Denn fur je zwei Elemente a, b der Gruppe hat die Gleichung ax = b genaueine Losung, namlich x = a−1b. Entsprechend hat die Gleichung xa = b genau eine Losung.Welche?

Die Assoziativitat ist ein Spezialfall einer allgemeinen Feststellung uber die Assoziativitat derVerkettung von Abbildungen, die wir im Abschnitt uber Abbildungen bereits gezeigt haben.

Das neutrale Element ist I. Das Inverse einer Abbildung ist die Umkehrabbildung.

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9.1. WAS SIND GRUPPEN? 235

Beispiele 9.1.8 Weitere Beispiele von Gruppen:

a) (Z,+), d.h. die Menge der ganzen Zahlen zusammen (allein) mit der Addition, ist eineGruppe. Das neutrale Element ist 0, das Inverse von n ist −n.

b) Jeder Ring (und auch jeder Vektorraum) mit der Addition allein (d.h. wenn man die Multi-plikation unberucksichtigt lasst) ist eine Gruppe. Man spricht man von der additiven Gruppedes Rings, bzw. Vektorraums, auch von der unterliegenden (additiven) Gruppe des Vektor-raumes.) Wieder bezeichnet die 0 das neutrale Element und −a das zu a Inverse.

Eine besondere Rolle spielen die additiven Gruppen der Ringe Z/(m). Diese Gruppen sind vonbesonders einfacher Gestalt. Erinnere Dich an die Additionstabelle 2.4.8. Fur m > 1 sieht sieallgemein so aus:

+ 0 1 2 · · · · · · · · · m-10 0 1 2 · · · · · · · · · m-11 1 2 · · · · · · · · · m-1 02 2 · · · · · · · · · m-1 0 1...

......

.... . .

......

...m-2 m-2 m-1 0 · · · · · · · · · m-3m-1 m-1 0 1 · · · · · · m-3 m-2

c) Sei K ein Korper und K∗ = K − 0. Dann ist K∗ zusammen mit der Multiplikation eineGruppe, die multiplikative Gruppe des Korpers. Hier ist das neutrale Element die 1 unddas Inverse von a ist a−1 = 1/a. In Bezug auf die Multiplikation ist Z − 0 keineswegs eineGruppe; fast immer fehlt das Inverse.

d) Sei n > 0 eine naturliche Zahl. Mit Sn, der n-ten symmetrischen Gruppe wird die Mengeder bijektiven Abbildungen α : 1, 2, . . . , n → 1, 2, . . . , n zusammen mit der Verkettung alsVerknupfung bezeichnet. Dies ist eine naheliegende Verallgemeinerung der oben betrachtetenS3 – und naturlich eine Gruppe. Im Gegensatz zu den Beispielen a), b), c) gilt fur n ≥ 3 in derSn das Kommutativitatsgesetz nicht. D.h. es gibt α, β ∈ Sn mit αβ 6= βα (falls n ≥ 3). Dashast Du fur n = 3 oben bereits gesehen. Fur n ≥ 4 ist das erst recht so. (Warum?)

e) Noch allgemeiner als unter d) kann man allgemein eine (moglicherweise unendliche) MengeM betrachten und zu dieser die

”symmetrische Gruppe von M“, die aus samtlichen bijektiven

Abbildungen M →M besteht, wo die Verknupfung die Verkettung ist.

f) Sei K ein Korper. Dann bilden die 2×2-Matrizen uber K, deren Determinante ungleich 0 ist,bezuglich der Matrizenmultiplikation eine Gruppe. Diese Gruppe wird mit Gl2(K) bezeichnet.(“General linear group“) Berechne in dieser Gruppe(

1 01 1

)2

·(

1 10 1

)2

und

((1 01 1

)·(

1 10 1

))2

.

Die Gruppe Gl2(K) ist also fur keinen Korper K kommutativ.

Es gibt naturlich mehrere Verallgemeinerungsmoglichkeiten: Du kannst n×n-Matrizen betrach-ten. Du kannst anstelle eines Korpers einen kommutativen Ring R betrachten und in M2(R)

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236 KAPITEL 9. GRUPPEN

die Matrizen, deren Determinante in R invertierbar ist. Ist R = Z so bedeutet das, dass dieDeterminante 1 oder −1 ist. Ein Beispiel eines solchen Elementes ist hier die Matrix(

5 172 7

)Schließlich darf der Ring auch nichtkommutativ sein. Dann betrachte die (multiplikativ) inver-tierbaren Matrizen. Determinanten helfen hier allerdings nicht.

Wie man bei Vektorraumen Untervektorraume betrachtet, gibt es auch in der Theorie derGruppen den Begriff der Untergruppe.

Definition 9.1.9 Sei G eine Gruppe. Eine Untergruppe U von G ist eine Teilmenge von G,die bezuglich der Verknupfung in G wieder eine Gruppe ist. D.h. es wird verlangt, dass 1 ∈ Uist und aus a, b ∈ U sowohl ab ∈ U als auch a−1 ∈ U folgt.

(Es reicht hierfur zu verlangen, dass U 6= ∅ und mit a, b ∈ U auch ab−1 ∈ U ist. Beweis?)

Beispiele 9.1.10 a) In jeder Gruppe G sind sowohl 1 (bei additiver Schreibweise 0) alsauch G selbst Untergruppen. Diese nennt man manchmal die trivialen Untergruppen

b) Sei G := Z mit der Verknupfung”+“ und m ∈ N. Die Menge mZ := mx | x ∈ Z ist eine

Untergruppe von G. Du wirst spater erfahren, dass jede Untergruppe der additiven Gruppevon Z so aussieht. Du kannst naturlich versuchen, dies jetzt schon selbst zu beweisen. (Tipp:Division mit Rest.)

c) Sei K ein Korper. Dann ist die Menge 1,−1 eine Untergruppe von K∗. Fur den KorperC gilt, dass R∗,R∗

+ und z ∈ C | |z| = 1 Untergruppen von C∗ sind. Ferner bilden fur jedesganze n ≥ 1 die n-ten Einheitswurzeln eine Untergruppe von C∗.

d) Seien m,n mit 1 ≤ m ≤ n naturliche Zahlen. Dann hat Sn folgende zur Sm isomorfeUntergruppe U . Sie besteht aus denjenigen bijektiven Abbildungen α : 1, . . . , n → 1, . . . , n,fur welche α(j) = j fur alle j mit m < j ≤ n gilt. (Die Elemente von U lassen die letzten n−mZahlen fest.) (Den Begriff ‘isomorf’ werde ich bald einfuhren, namlich in Definition 9.1.12.)

Wendet man dies auf den Fall m = 3 an, sieht man, dass Sn fur n ≥ 3 nicht abelsch ist.Naturlich gilt dies auch fur SM , wenn M eine unendliche Menge ist.

e) Sei a ein Element einer (multiplikativ geschriebenen) Gruppe G. Dann ist die Menge 〈a〉 :=an | n ∈ Z eine Untergruppe von G. (Bei additiv geschriebenen Gruppen ist 〈a〉 =na | n ∈ Z.) Man nennt 〈a〉 die von a erzeugte Untergruppe von G.

Weiter unten gehen wir genauer auf solche Untergruppe ein.

f) Sei K ein Korper. Die 2× 2-Matrizen der Form

A =

(a −bb a

)mit detA 6= 0

bilden eine Untergruppe der Gl2(K). Insbesondere musst Du zeigen, dass mit A auch A−1 dieverlangte Form hat.

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9.1. WAS SIND GRUPPEN? 237

Beispiel 9.1.11 Wir wollen die Untergruppen der S3 bestimmen. Zunachst haben wir diebeiden Untergruppen I und S3.

Da σ2i := σiσi = I ist, sind die drei Mengen Ui := (〈σi〉 :=)I, σi Untergruppen. Und da

δ2 = δ′ und δ3 = δ2δ = I gilt, ist V := I, δ, δ′ eine Untergruppe. (Es gibt drei Untergruppender Ordnung 2 und eine solche der Ordnung 3.)

Wir haben also außer den beiden trivialen Untergruppen I und S3 noch die o.a. vier Unter-gruppen. Wir wollen jetzt uberlegen, dass es keine weiteren Untergruppen gibt.

Jede der vier Untergruppen U1, U2, U3, V besitzt außer I und sich selbst keine weiteren Un-tergruppen. Ferner liegt jedes Element von S3 in einer dieser vier Untergruppen. Jede weiterevon I verschiedene Untergruppe H von S3 muss also zwei Elemente enthalten, die nicht ge-meinsam in einer der Untergruppen U1, U2, U3, V liegen. Es genugt jetzt zu zeigen, dass unterdieser Voraussetzung H = S3 ist.

Es gelte etwa σ1, σ2 ∈ H. Dann ist auch δ = σ1σ2 ∈ H, ebenso δ′ = δ2, ferner noch σ3 = σ1δ′.

Da ohnehin I ∈ H gilt, mussH = S3 sein. Ebenso einfach zeigt man die folgenden Implikationen

σ1, σ3 ∈ H =⇒ H = S3; σ2, σ3 ∈ H =⇒ H = S3; σi, δ ∈ H =⇒ H = S3;

σi, δ′ ∈ H =⇒ H = S3

Wir sehen insbesondere, dass S3 keine Untergruppe der Ordnung (d.h. Elementezahl) 4 oder 5hat. Spater werden wir ganz allgemein zeigen: Ist G eine endliche Gruppe der Ordnung n undU eine Untergruppe von G, so wird n von der Ordnung von U geteilt.

Die Untergruppen von S3 ergeben folgendes Bild:

S3

U1 U2 U3 V

I

Die Gruppen U1, U2, U3, V umfassen alle die Gruppe I und liegen alle in der S3. Zwischenihnen gibt es keine Inklusionsrelationen.

Der Begriff der Isomorfie. Wann wollen wir Gruppen G und H zueinander isomorfnennen, d.h. dass sie bis auf die Bezeichnung der Elemente (und der Verknupfung)

”uberein-

stimmen“ sollen? Am klarsten kann man dies mit Hilfe des Abbildungsbegriffes ausdrucken:

Definitionen 9.1.12 a) Seien G,H Gruppen. Ein Gruppenhomomorfismus (kurz: Homo-morfismus) von G nach H ist eine Abbildung f : G→ H, die

f(a b) = f(a) ′ f(b) fur alle a, b ∈ G erfullt. (∗)

(Dabei bezeichne die Verknupfung in G und ′ diejenige in H.

b) Ein Isomorfismus, auch Isomorfie von Gruppen ist ein bijektiver Homomorfismus.

c) Gruppen G und H heißen zueinander isomorf, wenn es einen Isomorfismus G→ H gibt.

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238 KAPITEL 9. GRUPPEN

Bemerkungen 9.1.13 Im Folgenden sei die multiplikative Schreibweise benutzt.

a) Die Umkehrabbildung eines Isomorfismus f : G→ H ist wieder ein solcher.

Zunachst ist ja f−1 : H → G wieder bijektiv.

Seien nun zu gegebenen a′, b′ ∈ H die Elemente a, b ∈ G durch a := f−1(a′), b := f−1(b′)definiert. Dann ist a′ = f(a), b′ = f(b), also a′b′ = f(a)f(b) = f(ab). Hieraus folgt f−1(a′b′) =f−1(f(ab)) = ab. Mit ab = f−1(a′)f−1(b′) erhalt man dann f−1(a′b′) = f−1(a′)f−1(b′).

b) Ist f : G → H ein Gruppenhomomorfismus und 1 das neutrale Element von G, so ist f(1)das neutrale Element von H. Denn es ist ja f(1)2 = f(12) = f(1). Wende die Bemerkung (9.1.3a) an.

c) Ist f ein Gruppenhomomorfismus, so gilt f(a−1) = f(a)−1. Denn f(a)f(a−1) = f(aa−1) =f(1) = 1.

Beispiele 9.1.14 a) Seim > 0 ganz. Wir betrachten einerseits die additive Gruppe von Z/(m),andererseits die multiplikative Gruppe Em der m-ten Einheitswurzeln, d.h. derjenigen komple-xen Zahlen z, die die Gleichung zm = 1 erfullen.

Diese beiden Gruppen sind isomorf! Wir wissen ja, dass fur jede m-te Einheitswurzel ζ dieGleichung ζa = ζb gilt, wenn a, b ganze Zahlen sind, die modulo m kongruent sind. Sei jetztζ1 := cos(2π/m) + i sin(2π/m).

Dann ist die folgende Abbildung wohldefiniert:

ϕ : Z/(m)→ Em, (a mod m) 7→ ζa1 .

Da fur beliebige a, b ∈ Z, z ∈ C die Regel za+b = za · zb gilt, ist ϕ ein Homomorfismus. Die Bi-jektivitat gilt, da auf Grund der Wahl von ζ1 die Zahlen ζ0

1 , . . . ζm−11 untereinander verschieden

sind. (Beachte, dass man ζ1 nicht durch jede m-te Einheitswurzel ersetzen kann. Sei namlich et-wa m = 4. Die Abbildung Z/(4)→ 1, i,−1,−i mit a 7→ ζa ist zwar fur jedes ζ ∈ 1, i,−1,−iwohldefiniert, aber nur fur ζ = ±i surjektiv!)

b) Allgemeiner: Sei G eine multiplikativ geschriebene Gruppe und a ∈ G. Dann ist die Abbil-dung

f : Z→ G, n 7→ an

ein Gruppenhomomorfismus, wenn wir von Z nur die additive Struktur betrachten. Dabeibraucht f weder injektiv noch surjektiv zu sein.

c) Je zwei Gruppen G,H von 2 Elementen sind zueinander isomorf.

Denn jede solche Gruppe besteht ja aus Elementen e, a mit dem neutralen Element e und einemvon e verschiedenen a, deren Verknupfung, wie oben gesehen zwangslaufig ist.

9.1.15 Jetzt bestimmen wir die Gruppen der Ordnung 3. Sei G eine solche und seien a, b diebeiden von 1 verschiedenen Elemente.

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9.1. WAS SIND GRUPPEN? 239

Die drei Elemente a1, aa, ab mussen die drei verschiedenen Elemente von G sein. Aus ab = bwurde a = abb−1 = bb−1 = 1 folgen. Analog ist ab = a nicht moglich. Also bleibt ab = 1 unda2 = b.

In der folgenden Multiplikationstabelle ist die erste Zeile klar, die zweite gerade bestimmtworden. Die dritte ergibt sich zwangslaufig daraus, dass in jeder Spalte jedes Element genaueinmal auftritt.

1 a b1 1 a ba a b 1b b 1 a

Betrachte die oben gefundene Untergruppe V = I, δ, δ′ ⊂ S3. Ihre Gruppentafel ist

I δ δ′

I I δ δ′

δ δ δ′ 1δ′ δ′ I δ

Du siehst, die zweite Tabelle geht aus der ersten hervor, wenn man 1 durch I, a durch δ undb durch δ′ ersetzt. Also ist die erste Multiplikationstabelle die einer Gruppe; insbesondere giltfur G die Assoziativitat. Da die erste Gruppentafel sich zwangslaufig aus der Voraussetzungergibt, dass G aus den Elementen 1, a, b besteht, erkennst Du dass es bis auf Isomorfie nur eineGruppe von 3 Elementen gibt.

Ferner siehst Du a2 = b, b2 = a, a3 = b3 = ab = 1. Die Elemente kann man als Potenzenvon a schreiben: a0 = 1, a1 = a, a2 = b, a3 = 1, a4 = a, wonach sie sich periodisch wiederholen.Ebenso geht es mit den Potenzen von b, namlich b0 = 1, b1 = b, b2 = a, b3 = 1 usw. Offenbarkann man die Rollen von a und b vertauschen. Das heißt, die Abbildung α : G → G, definiertdurch α(1) = 1, α(a) = b, α(b) = a ist ein Isomorfismus von G nach G, ein sogenannterAutomorfismus. Aber α ist nicht die identische Abbildung idG.

Nochmal: Wie im Fall der Ordnung 2 gibt es bis auf Isomorfie genau eine Gruppe der Ordnung 3.Diese ist abelsch. Dies lasst sich verallgemeinern. Fur jede Primzahl p gibt es bis auf Isomorfiegenau eine Gruppe der Ordnung p, namlich die (abelsche) additive Gruppe von Z/(p). Daswerden wir weiter unten sehen. Hingegen gibt es bis auf Isomorfie zwei Gruppen der Ordnung4, die beide abelsch sind, sowie zwei Gruppen der Ordnung 6. Die eine Gruppe der Ordnung 6ist die additve Gruppe von Z/(6), also insbesondere abelsch, die andere unsere S3, also nichtabelsch. (Der Beweis dafur, dass es bis auf Isomorfie keine andere Gruppe der Ordnungen 4oder 6 gibt, ist leider nicht so einfach.)

Beispiele 9.1.16 In der Gruppe Gl2(Q) der invertierbaren 2×2-Matrizen uber Q gibt es zweiUntergruppen der Ordnung 4, die nicht zueinander isomorf sind, namlich einerseits die ausfolgenden Elementen bestehende

E =

(1 00 1

),

(−1 00 1

),

(1 00 −1

),

(−1 00 −1

);

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240 KAPITEL 9. GRUPPEN

andererseits die aus folgenden Elementen bestehende

E =

(1 00 1

),

(0 −11 0

),

(−1 00 −1

),

(0 1−1 0

).

Prufe nach, dass es sich wirklich um Untergruppen handelt.

In der ersten gilt fur alle Elemente A2 = E, in der zweiten ist(0 −11 0

)2

=

(−1 00 −1

),

(0 −11 0

)3

=

(0 1−1 0

),

(0 −11 0

)4

= E .

Die erste Gruppe besitzt drei Untergruppen der Ordnung 2, die zweite Gruppe nur eine Unter-gruppe der Ordnung 2. Letztere ist isomorf zur additiven Gruppe von Z/(4).

Untergruppen der additiven Gruppe von Z. Sei m eine naturliche Zahl. Du weißt schon,dass die Menge mZ = mz | z ∈ Z, also die Menge der durch m teilbaren ganzen Zahlen eineUntergruppe der additiven Gruppe von Z ist. Umgekehrt kann man zeigen:

Satz 9.1.17 Zu jeder Untergruppe H der additiven Gruppe von Z gibt es genau eine naturlicheZahl m mit H = mZ.

Beweis: Ist H = 0 so ist H = 0Z, aber H 6= mZ fur m 6= 0.

Ist H 6= 0, so gibt es ein a ∈ H, a 6= 0. Da mit a auch −a ∈ H ist, gibt es sogar ein positivesa ∈ H. Sei m die kleinste positive Zahl, die zu H gehort. Ich behaupte, dass H = mZ ist.

Um dies zu beweisen nimm an, a sei ein beliebiges Element von H. Dividiere a durch m mitRest: a = qm+ r mit 0 ≤ r < m.

Ist r = 0, so ist a ein Vielfaches von m.

Ware hingegen r > 0, so ware r = a− qm ein positives Element von H, das aber kleiner als mware. Das widersprache der minimalen Wahl von m. Es bleibt nur die Moglichkeit, dass a einVielfaches von m ist.

Sind m,m′ positive ganze Zahlen mit mZ = m′Z, so ist sowohl m als auch m′ das kleinstepositive Element von mZ, was m = m′ zur Folge hat.

AUFGABEN

1. Sei G eine (multiplikativ geschriebene) endliche abelsche Gruppe. Was kann man uber dasProdukt aller ihrer Elemente sagen? Beantworte diese Frage speziell unter der Voraussetzung,dass es genau ein Element der Ordnung 2 im G gibt, also genau ein a 6= 1 mit a2 = 1.

2. Zeige: In einem Korper K erfullen nur 1 und −1 die Gleichung x2 = 1. Das gilt auch, falls1 = −1 in K gilt.

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9.2. NEBENKLASSEN 241

3. Folgere aus den letzten beiden Aufgaben (p− 1)! ≡ −1 (mod p), falls p eine Primzahl ist. (Satzvon Wilson).

4. Zeige auch die Umkehrung: Ist n > 1 keine Primzahl, so ist (n − 1)! 6≡ −1 (mod n). (Unter-scheide, ob n = 4 oder n > 4.)

5. Beantworte (etwa mit Hilfe des Satzes von Wilson) die Frage, ob 100! + 1 eine Primzahl ist.

6. Sei p eine Primzahl mit p ≡ 1 (mod 4). Folgere aus dem Satz von Wilson, dass −1 in demKorper Z/(p) ein Quadrat ist.

7. Zeige dass in einem Korper die Menge aller von 0 verschiedenen Elemente der Form a2 + b2 eineUntergruppe der multiplikativen Gruppe ist. (Dabei darf einer der Summanden 0 sein.) (Tipp:Beispiel f) in (9.1.10).)

8. Zeige, dass die additive Gruppe aller reellen Zahlen zur multiplikativen Gruppe der positivenreellen Zahlen isomorf ist.

9. Ist die additive Gruppe aller rationalen Zahlen isomorf zur multiplikativen Gruppe aller posi-tiven rationalen Zahlen?

10. Betrachte die Potenzmenge P (M) einer MengeM . Zeige, dass P (M) eine abelsche Gruppe wird,wenn man als Verknupfung die symmetrische Differenz wahlt, also (etwa additiv geschrieben)A+B := A ∪B − (A ∩B) definiert.

11. Sei G eine Gruppe, derart, dass alle ihre Elemente a die Gleichung a2 = 1 erfullen. Zeige: G istabelsch.

12. Du magst Dich fragen, warum man von der additiven Gruppe eines Ringes verlangt, dass siekommutativ ist. Genauer. Warum betrachtet man keine ‘ringahnlichen’ Rechenbereiche, derenadditive Gruppe nicht kommutativ ist?

Nun berechne (a+b)(1+1) mit Hilfe der beiden Distributivgesetze: Einmal als (a+b)+(a+b) =a+ b+ a+ b, zum andern als a(1 + 1) + b(1 + 1) = a+ a+ b+ b.

13. Zeige: Die Gruppen S3 und Gl2(F2) sind isomorf.

9.2 Nebenklassen

Es handelt sich hier um eine Verallgemeinerung der bekannten Restklassen r +mZ in Z.

Der grundlegende Satz uber endliche Gruppen besagt, dass die Ordnung einer (beliebigen) Un-tergruppe H einer endlichen Gruppe G deren Ordnung teilt.

Dies zeigen wir, indem wir G in Teilmengen zerlegen, deren jede soviele Elemente wie H besitzt.

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242 KAPITEL 9. GRUPPEN

Diese Zerlegung existiert unabhangig davon, ob G endlich ist. Unter einer zusatzlichen Vor-aussetzung uber die Untergruppe H kann man die entsprechenden Teilmengen von G zu denElementen einer Gruppe machen! Das besprechen wir im nachsten Abschnitt. Ein Beispiel da-von kennst Du schon, namlich wie man Z/(m) aus Z gewinnt. (Beachte: Z/(m) ist als Ring jainsbesondere eine Gruppe bezuglich der Addition.)

Definition 9.2.1 Sei also G eine Gruppe und H eine Untergruppe und a ein Element von G.Die Linksnebenklasse von a nach H ist die Menge aH := ax | x ∈ H. Die Rechtsne-benklasse von a nach H ist die Menge Ha := xa | x ∈ H. Wenn klar ist, was von beidengemeint ist, sagen wir kurz Nebenklasse.

Wir benutzen hier die multiplikative Schreibweise! D.h. die Nebenklasse aH ist vollig analogder Restklasse r+mZ in Z gebildet, wo wir die additive Schreibweise benutzen. G entspricht Z,und H entspricht mZ und schließlich a ∈ G der Zahl r ∈ Z. D.h. die Nebenklasse aH entsprichtder Restklasse r +mZ.

Bemerkung 9.2.2 Ist G nichtabelsch, so kann durchaus aH 6= Ha sein. S.u.

Satz 9.2.3 Fur Nebenklassen aH, bH, (bzw. Ha,Hb) in G gilt:

a) Es gibt (fur ein fest gegebenes a) eine bijektive Abbildung f : H → aH. Mithin haben H undaH gleichviele Elemente.

b) aH = bH ⇐⇒ b ∈ aH ⇐⇒ a−1b ∈ H.

Beachte: Zwei Nebenklassen aH, bH sind nicht schon dann verschieden, wenn a 6= bist, sondern erst, wenn sie als Mengen verschieden sind, d.h. wenn es ein Elementin einer gibt, das nicht in der anderen liegt. Erinnere Dich daran, dass r+mZ = s+mZgenau dann gilt, wenn r ≡ s (mod m) ist.

b’) Ha = Hb ⇐⇒ ba−1 ∈ H. Beachte den kleinen Unterschied zu b).

c) Es ist entweder aH = bH oder aH ∩ bH = ∅.

Beweis: a) Definiere f : H → aH durch f(x) := ax. Nach Definition von aH ist f surjektiv.Um die Injektivitat von f zu zeigen, nimm an, es sei f(x) = f(y), also ax = ay. Dann istauch a−1(ax) = a−1(ay). Mittels der Assoziativitat und a−1a = 1 folgt dann die gewunschteGleichheit x = y.

b) Wir zeigen, dass aus der ersten Aussage die zweite, aus der zweiten die dritte und schließlichaus der dritten wieder die erste folgt. Damit folgt aber aus jeder der drei Aussagen auch jedeandere.

Ist aH = bH, so gilt insbesondere b ∈ aH, da ja b = b1 ∈ bH ist.

Ist b ∈ aH, so gibt es (nach Definition von aH) ein x ∈ H mit b = ax. Hieraus folgt a−1b =x ∈ H.

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9.2. NEBENKLASSEN 243

Sei a−1b ∈ H, also a−1b = y, d.h. b = ay fur ein geeignetes y ∈ H. Nach Definition ist bH dieMenge der bx mit x ∈ H, also die Menge der ayx mit x ∈ H. Uberlege Dir jetzt, dass mit xauch yx die ganze Menge H durchlauft. Demnach ist aH = ayH = bH. (Nicht wahr: mit xund y gehort auch xy zur Untergruppe H. Ist umgekehrt z irgendein Element von H, so istz = (zy−1)y von der Form xy mit einem x ∈ H, namlich x = zy−1.)

c) Nimm an, es sei aH ∩ bH 6= ∅. Also gibt es x, y ∈ H mit ax = by. Wir haben zu zeigen,dass dann aH = bH ist. Aus ax = by folgt b = axy−1 Dabei ist xy−1 ∈ H. Also ist b ∈ aH undgemaß b) deshalb aH = bH.

Beispiele 9.2.4 a) H selbst ist immer eine Nebenklasse nach H, namlich H = xH fur allex ∈ H, insbesondere H = 1H.

b) Ist H = G, so gibt es nur eine Nebenklasse nach H, namlich H.

c) Ist H = 1, so besteht jede Nebenklasse aus genau einem Element. Die einelementigenTeilmengen von G sind die Nebenklassen nach 1.

d) Sei G = S3, unsere bekannte Gruppe der Permutationen der Menge 1, 2, 3, und H = U1 =I, σ1. Die Nebenklassen nach U1 sind:

U1 = I, σ1 = σ1U1, σ2U1 = σ2, δ′ = δ′U1, σ3U1 = σ3, δ = δU1

Je schwerer es Dir gefallen ist, obigen Satz zu verstehen, umso intensiver solltest Du diesesBeispiel studieren. Ubrigens ist U1σ2 = σ2, δ 6= σ2U1.

e) Sei wiederum G = S3, aber jetzt H = V . Die Nebenklassen nach V sind die 2 folgendenMengen:

V = I, δ, δ′ = δV = δ′V, σ1V = σ1, σ2, σ3 = σ2V = σ3V

Du kannst leicht nachrechnen, dass auch

V = V δ = V δ′ und σ1V = V σ1 = V σ2 = V σ3

gilt. Fur V gilt also xV = V x fur alle x ∈ S3, im Gegensatz zu Ui!

f) Der Ring Z ist in Bezug auf die Multiplikation keine Gruppe. Deshalb ist auch mZ :=mz | z ∈ Z fur m > 1 keine Nebenklasse nach Z !

9.2.5 Sei jetzt G wieder eine beliebige (multiplikativ geschriebene) Gruppe und H eine Unter-gruppe von G.

Jedes Element a von G liegt in einer Nebenklasse nach H, namlich in aH. Liegt a auch inder Nebenklasse bH, so ist schon aH = bH. Jedes Element von G liegt somit in genau einerNebenklasse nach H.

G ist also die Vereinigung aller Nebenklassen nach H, und zwar die disjunkte Vereinigungdieser Nebenklassen. Mit ‘disjunkt’ meine ich: Je zwei verschiedene Nebenklassen haben einenleeren Durchschnitt.

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244 KAPITEL 9. GRUPPEN

Sei nun G endlich. Dann sind naturlich auch H und die Anzahl r der Nebenklassen nachH endlich. (Jede endliche Menge hat nur endlich viele Teilmengen.) Seien nun a1, . . . , ar sogewahlt, dass a1H, a2H, . . . arH die r verschiedenen Nebenklassen von G nach H sind. (Jedesai darf durch ein beliebiges a′i ∈ aiH ersetzt werden.) Dann wissen wir:

1. G = a1H ∪ a2H ∪ . . . ∪ arH;

2. aiH ∩ ajH = ∅, wenn i 6= j ist;

3. jedes aiH hat soviele Elemente wie H.

Es folgt: G hat r-mal soviele Elemente wie H. Wir haben folgendes bewiesen:

Satz 9.2.6 Sei G eine endliche Gruppe und H eine Untergruppe von G, dann ist die Ordnungvon H ein Teiler der Ordnung von G.

9.2.7 Sei a ein Element einer (multiplikativ geschriebenen) Gruppe G. Die Potenzen an mitn ∈ Z bilden offenbar eine abelsche Untergruppe von G, die von a erzeugte Untergruppe,die mit 〈a〉 bezeichnet wird. Man kann zwei Falle unterscheiden:

1. Falls m 6= n, ist immer auch am 6= an. D.h. alle Potenzen

. . . , a−2, a−1, 1, a, a2, . . .

sind untereinander verschieden. In diesem Fall ist die Abbildung

Z→ 〈a〉, n 7→ an

ein Isomorfismus, wo Z als additive Gruppe betrachtete wird.

Z.B. gilt dies fur a = 2 in Q∗, der multiplikativen Gruppe aller von 0 verschiedenen rationalenZahlen.

2. Es gibt ganze Zahlen m 6= n mit am = an. Dies gilt z.B. fur a = −1 in Q∗, da (−1)2 = (−1)4

ist, und allgemeiner (−1)m = (−1)n genau dann stimmt, wenn m,n beide gerade oder beideungerade sind, m.a.W. wenn m ≡ n (mod 2) ist. Ein anderes Beispiel ist das Element δ ∈ S3.Die von δ erzeugte Gruppe ist I, δ, δ′ = V , da δ2 = δ′ und δ3 = I ist. Hier gilt δm = δn ⇐⇒m ≡ n (mod 3).

Im Fall 1. ist die von a erzeugte Gruppe und mit ihr auch G unendlich. Ist G endlich, mussdemnach der 2. Fall eintreten.

Im 2. Fall gelte am = an mit m 6= n, etwa m > n. Dann ist am−n = 1. Mithin gibt es dann einepositive ganze Zahl r mit ar = 1. Sei k die kleinste positive ganze Zahl mit ak = 1.

Behauptung. Unter den o.a. Voraussetzungen gilt

m ≡ n (mod k) ⇐⇒ am = an

Beweis hierfur: Ist ak = 1, so ist auch akl = (ak)l = 1 fur jede ganze Zahl l. Aus m ≡ n (mod k)folgt m− n = kl fur ein l, hieraus am−n = 1, also am = an.

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9.2. NEBENKLASSEN 245

Sei umgekehrt am = an, also am−n = 1. Dividiere m − n durch k mit Rest: m − n = qk + r,wo q, r ∈ Z und 0 ≤ r < k. Es folgt ar = am−n−qk = am−n(ak)−q = 1. Ware r > 0, so ware reine positive ganze Zahl mit ar = 1, die kleiner als k ware. Das widersprache der Wahl von k.Somit ist r = 0, d.h. m− n = qk, also m ≡ n (mod k). –

Die verschiedenen Potenzen von a sind demnach a0, a1, a2, . . . , ak−1. Diese bilden eine Unter-gruppe von G aus k Elementen. Diese Untergruppe ist isomorf zur additiven Gruppe Z/(k),sowie zur multiplikativen Gruppe der n-ten Einheitswurzeln.

Definition 9.2.8 Die Ordnung eines Elementes a einer (multiplikativ geschriebenen) Gruppeist:

∞, wenn die Potenzen an samtlich verschieden sind.

k, wenn die Potenzen an nicht samtlich verschieden sind und k die kleinste positive ganzeZahl mit ak = 1 ist.

Bemerkung 9.2.9 Die Ordnung k eines Elementes a einer Gruppe G ist die Ordnung der vona erzeugten Untergruppe. Ist insbesondere G endlich, so ist k (naturlich endlich) und ein Teilervon #G.

Satz 9.2.10 Sei G eine endliche (multiplikativ geschriebene) Gruppe aus g Elementen unda ∈ G. Dann ist ag = 1.

Beweis: Die Ordnung k von a ist ein Teiler von g, etwa g = kl. Somit ist ag = akl = (ak)l =1l = 1.

Folgerung 9.2.11 Zu jeder Primzahl p gibt es bis auf Isomorfie nur eine Gruppe der Ordnungp. Diese ist isomorf zur additiven Gruppe von Z/(p) und somit abelsch.

Beweis: Sei G eine Gruppe der Ordnung p und a ∈ G nicht das neutrale Element. DieOrdnung der von a erzeugten Untergruppe 〈a〉 ist ein Teiler von p. Andererseits ist ihre Ordnunggroßer als 1, da sie außer dem neutralen Element mindestens ein weiteres Element enthalt. Alsoist ihre Ordnung p. Somit ist G gleich 〈a〉, also isomorf zur additiven Gruppe von Z/p.

Folgerung 9.2.12 (Fermat) Sei p eine Primzahl und a ∈ Z nicht durch p teilbar. Dann giltap−1 ≡ 1 (mod p).

Beweis: Wir betrachten den Korper Z/(p). Dieser hat p Elemente. Seine multiplikativeGruppe besteht aus allen Elementen außer der Restklasse von 0, also aus p− 1 Elementen. Furjedes Element x 6= 0 dieses Korpers gilt also xp−1 = 1. Die Restklasse jeder ganzen Zahl a, dienicht durch p teilbar ist, ist ein Element x 6= 0 dieses Korpers. Die Gleichung xp−1 = 1 in demKorper Z/(p) bedeutet dann die Kongruenz ap−1 ≡ 1 (mod p) in Z.

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246 KAPITEL 9. GRUPPEN

Bemerkung 9.2.13 Die fundamentale Tatsache (9.2.10) uber endliche Gruppen ergibt alsounmittelbar den angegebenen zahlentheoretischen Satz von Fermat.

Beachte, dass aus diesem Satz fur ganz beliebige a ∈ Z und eine Primzahl p die Kongruenzap ≡ a (mod p) folgt (auch wenn a durch p teilbar sein sollte).

Auch gilt allgemein fur a, b,m, n ∈ Z und jede Primzahl p die Implikation:

a ≡ b (mod p) und m ≡ n (mod p− 1) =⇒ am ≡ bn (mod p)

Beachte: Um eine Kongruenz modulo p von Potenzen zu erhalten, hat man also fur die Basen dieKongruenz modulo p, hingegen fur die Exponenten die Kongruenz modulo p−1 vorauszusetzen!

Naturlich kann man allgemeiner Ringe der Form Z/(m) betrachten und darin die multiplikativeGruppe der (multiplikativ) invertierbaren Elemente (Z/(m))∗. Die Anzahl der Elemente dieserGruppe wird seit Euler mit ϕ(m) bezeichnet. Fur ganze Zahlen a, die zu m teilerfremd sind,d.h. deren Restklassen in Z/(m) invertierbar sind, gilt dann

aϕ(m) ≡ 1 (mod m) (Euler)

Dieser Satz wird erst dann interessant, wenn man ϕ(m) berechnen kann. Dies ist leicht moglich,wenn man die Primfaktorzerlegung von m kennt. Sei namlich

m = pk11 · · · pkr

r

mit verschiedenen Primzahlen p1, . . . , pr und naturlichen Zahlen ki ≥ 1; dann ist

ϕ(m) = (pk11 − pk1−1

1 ) · · · (pkrr − pkr−1

r )

Falls m = pk eine Primzahlpotenz ist, gilt ϕ(pk) = pk − pk−1. Das kannst Du vielleicht selbstnachprufen. Zum allgemeinen Fall benotigt man den sogenannten chinesischen Restsatz, derweiter unten bewiesen wird.

Definition 9.2.14 Eine Gruppe G heißt zyklisch, wenn es ein a ∈ G mit 〈a〉 = G gibt.

Bemerkung 9.2.15 Bis auf Isomorfie gibt es genau eine zyklische Gruppe unendlicher Ord-nung. Diese ist isomorf zur additiven Gruppe von Z.

Zu jeder endlichen Ordnung m ≥ 1 gibt es bis auf Isomorfie genau eine zyklische Gruppe. Dieseist isomorf zur additiven Gruppe von Z/(m) und zur multiplikativen Gruppe Em der m-tenEinheitswurzeln. Das wird weiter unten bewiesen.

AUFGABEN

1. Endliche Untergruppen von C∗, der multiplikativen Gruppe des Korpers C. Sei G eine endlicheUntergruppe der Ordnung n von C∗. Dann gilt an = 1 fur alle a ∈ G. Also gilt G ⊂ En, wobeiEn die Gruppe der n-ten Einheitswurzeln ist. Es folgt G = En, da auch En aus n Elementenbesteht.

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9.3. FAKTORGRUPPEN 247

2. Sei G eine (multiplikativ geschriebene) endliche zyklische Gruppe. Zeige: Hat G eine ungeradeOrdnung, so ist inG jedes Element das Quadrat eines geeigneten Elementes vonG. Hat hingegenG eine gerade Ordnung, so ist genau die Halfte der Elemente von G ein Quadrat in G.

3. Sei G eine zyklische Gruppe von der Ordnung g und g zu m > 0 teilerfremd. Dann ist jedesElement von G eine m-te Potenz in G. Ist hingegen die Ordnung von G durch m teilbar, so istjedes m-te Element von G eine m-te Potenz in G.

4. a) Ist die Zahl 10 · 210 + 1 eine Primzahl?

b) Sei p 6= 101 eine Primzahl. Kann dann 100 · p100 + 1 eine Primzahl sein?

c) Seien p, q verschiedene Primzahlen. Kann dann (q − 1) · pq−1 + 1 eine Primzahl sein?

5. Bestimme (bis auf Isomorfie) alle Gruppen der Ordnung 4.

Bemerkung: Naturlich bleibt es Dir unbenommen, zu zeigen, das es bis auf Isomorfie nur 2Gruppen der Ordnung 6 gibt, namlich die S3 und die Z/(6). Es scheint mir allerdings nichtunbedingt sinnvoll, mit den wenigen in diesem Buch bereit gestellten Mitteln fur zuviele n dieGruppen der Ordnung n zu bestimmen. Schon der Fall der Ordnung 6 ist nicht trivial.

Auch wenn man mit verhaltnismaßig elementaren Mitteln etwas weiter kommt – ich selberhabe einst die Gruppen der Ordnungen 48 und 52 bestimmt – bleibt letztlich der Versuch, alleendlichen Gruppen zu beschreiben, unbefriedigend.

Anders ist die Sache bei endlichen abelschen Gruppen. Kennt man die Primfaktorzerlegungeiner naturlichen Zahl n, kann man die abelschen Gruppen der Ordnung n leicht beschreiben.

9.3 Faktorgruppen

Betrachte die additive Gruppe von Z. Du weißt bereits, dass die Mengen mZ mit m ∈ N dieUntergruppen von Z sind.

Wenn man von den multiplikativen Strukturen auf Z und Z/(m) absieht, so sind beide additiveGruppen und die Abbildung k 7→ k+mZ von Z nach Z/(m) ist ein surjektiver Gruppenhomo-morfismus.

9.3.1 Wir verallgemeinern die Konstrukion von Z/(m). Zu einer Untergruppe U einer abelschen(multiplikativ geschriebenen) Gruppe G bilden wir die Nebenklassen aU , wo a ∈ G ist. Wirwissen bereits, dass verschiedene Nebenklassen disjunkt sind und ihre Vereinigung ganz G aus-macht. Die Menge der Nebenklassen bezeichnet man mit G/U . Nun definiert man das Produktzweier Nebenklassen, wie folgt: (aU)(bU) := (ab)U . Es stellt sich die Frage nach der Wohlde-finiertheit. D.h. wir mussen uns vergewissern, dass aus aU = a′U, bU = b′U die Gleichheit(ab)U = (a′b′)U folgt. (Dabei brauchen wir die Voraussetzung, dass G abelsch ist.)

Beweis hierfur: Die Voraussetzungen bedeuten a−1a′ ∈ U, b−1b′ ∈ U . Dann ist (ab)−1a′b′ =a−1a′b−1b′ ∈ U , da G abelsch und U eine Gruppe ist. –

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248 KAPITEL 9. GRUPPEN

Man erhalt eine surjektive Abbildung κ : G → G/U, a 7→ aU mit der Eigenschaft κ(ab) =κ(a)κ(b). Auf Grund dieser Eigenschaft und der Surjektivitat ubertragt sich die Gruppenstruk-tur von G auf G/U . Das neutrale Element ist 1U = U , das Inverse von aU ist die Nebenklassea−1U .

Mache Dir klar, dass tatsachlich die Konstruktion der additiven Gruppe Z/(m) einSpezialfall der der Konstruktion von G/U als Gruppe ist. Lediglich die Schreibweise‘additiv’, bzw. ‘multiplikativ’ ist verschieden!

Ist G nicht abelsch, kann man nicht wie oben argumentieren. In der Tat muss U eine gewisseEigenschaft haben, die im abelschen Fall immer erfullt ist. Fur alle a ∈ G muss namlichaU = Ua gelten.

Im folgenden Beispiel gibt es Gruppenelemente x, y mit xU = yU , aber (xx)U 6= (yy)U .

Beispiel 9.3.2 Sei mit den Bezeichnungen aus dem ersten Abschnitt G = S3, U = U1 =I, σ1. Dann ist σ3U = σ3, δ, also σ3U = δU . Aber σ3σ3 und δδ liegen in verschiedenenLinksnebenklassen nach U1. Es ist namlich σ3σ3 = I, und δδ = δ′, hingegen IU = U undδ′U = δ′, σ2 6= I, σ1 = U .

Definition 9.3.3 Ein Normalteiler einer Gruppe G ist eine Untergruppe U von G, fur diefolgendes gilt: Fur jedes a ∈ G ist aU = Ua.

Satz 9.3.4 Sei G eine Gruppe, U ⊂ G eine Untergruppe. Durch die Vorschrift (aU)(bU) :=(ab)U (fur alle a, b ∈ G) wird genau dann eine Multiplikaton in der Menge der Nebenklassennach U wohldefiniert, wenn U ein Normalteiler von G ist.

Beweis: a) Sei U ein Normalteiler. Wir setzen aU = a′U und bU = b′U voraus. Dann ista′ = au und b′ = bv fur geeignete u, v ∈ U . Es gilt also a′b′ = aubv. Da U ein Normalteilerist, ist Ub = bU . Also gibt es ein u′ ∈ U mit ub = bu′. Es folgt a′b′ = aubv = abu′v ∈ (ab)U .Deshalb haben wir die Gleichheit (ab)U = (a′b′)U .

b) Sei o.a. Produkt fur alle a, b ∈ G wohldefiniert, sowie a = u ∈ U , d.h. aU = 1U . Dann muss(ub)U = (1b)U sein, d.h. ub ∈ bU . Da dies fur beliebige u ∈ U gilt, folgt Ub ⊂ bU . Daraus ergibtsich offenbar b−1U ⊂ Ub−1. Beides gilt fur alle b ∈ G. Da mit b auch b−1 ganz G durchlauft,gilt fur alle a ∈ G sowohl Ua ⊂ aU als auch aU ⊂ Ua. Mithin ist U ein Normalteiler.

9.3.5 Sei U ein Normalteiler einer Gruppe G. Wie oben (im abelschen Fall) wird mit G/U dieMenge der Nebenklassen von G nach U bezeichnet. Wie dort siehst Du, dass G/U wieder eineGruppe ist.

Definition 9.3.6 Wenn U ein Normalteiler einer Gruppe G ist, heißt G/U die Faktorgruppevon G nach U .

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9.3. FAKTORGRUPPEN 249

Beispiel 9.3.7 Sei wieder G = S3. Zeige, dass die Untergruppe V = I, δ, δ′ ein Normalteilerist, und dass S3/V eine Gruppe von 2 Elementen ist. Die Nebenklasse V ist das neutrale,die Nebenklasse σ1V das weitere Element. Erinnere Dich daran, dass V = δV = δ′V undσ1V = σ2V = σ3V gelten. Es gibt genau 2 Nebenklassen von S3 nach V . Die FaktorgruppeS3/V ist also eine Gruppe von 2 Elementen, d.h. isomorf zur aditiven Gruppe Z/(2) und zurUntergruppe 1,−1 von Q∗.

In obigen Beispiel haben wir gesehen, dass U1 kein Normalteiler von S3 ist. Dasselbe giltnaturlich fur U2 und U3.

Theorem 9.3.8 Homomorfiesatz. Sei f : G → H ein Gruppenhomomorfismus und K :=f−1(1H) sein sogenannter Kern. (1H bezeichnet das neutrale Element von H.) Dann istK ein Normalteiler von G und im(f) = f(G) eine Untergruppe von H. Und es wird durchϕ(xK) := f(x) eine Abbildung ϕ : G/K → f(G) wohldefiniert. Diese ist ein Isomorfismus.

Man kennt also die Struktur des Bildes eines Gruppenhomomorfismus G → H, wenn manseinen Kern als Teilmenge von G kennt.

Beweis: Seien f(a), f(b) beliebige Elemente von f(G). Dann ist f(a−1b) = f(a)−1f(b), fernergilt 1H = f(1G). Also ist f(G) eine Untergruppe von H.

Sicher ist 1G ∈ K. Ferner, seien a, b ∈ K. Dann gilt f(a−1b) = f(a)−1f(b) = 1. Also ist Keine Untergruppe von G. Ist x ∈ G, a ∈ K, so ist f(xax−1) = f(x)f(a)f(x)−1 = f(x) · 1H ·f(x)−1 = 1H . D.h. mit a ∈ K gilt xax−1 ∈ K, d.h. xa ∈ Kx. Also ist xK ⊂ Kx und ausSymmetriegrunden Kx ⊂ xK. Mithin ist xK = Kx und K ein Normalteiler.

Wir mussen zeigen, dass ϕ wohldefiniert ist. Sei also xK = yK, d.h. es gibt ein a ∈ K mity = xa. Es folgt f(y) = f(x)f(a) = f(x), was zu zeigen war.

ϕ ist ein Homomorfismus. Denn ϕ((xK)(yK)) = ϕ((xy)K) = f(xy) = f(x)f(y) =ϕ(xK)ϕ(yK).

Das Bild der Abbildung ϕ ist naturlich dasselbe wie das Bild von f . Also ist ϕ surjektiv.

Schließlich sei ϕ(xK) = ϕ(yK), so ist f(x) = f(y). Es folgt f(x−1y) = 1H , d.h. x−1y ∈ K, alsoxK = yK. Somit ist ϕ injektiv.

Beispiele 9.3.9 a) Betrachte det : Gl2(K)→ K∗. Der Gruppenhomomorfismus det ist surjek-

tiv, da det

(a 00 1

)= a gilt. Der Kern von det, der aus den Matrizen mit der Determinante 1

besteht, wird Sl2(K), die spezielle lineare Gruppe, genannt. Nach dem Homomorfiesatz istGl2(K)/Sl2(K) isomorf zur Gruppe K∗.

b) Betrachte die Abbildung R → C∗, x 7→ exp(xi). Wenn ich R als additive Gruppe auf-fasse, ist dies ein Gruppenhomomorfismus. Das Bild dieser Abbildung ist die Untergruppe

S1 := Z ∈ C∣∣∣ |z| = 1 von C∗. Der Kern ist 2πZ, d.h. besteht aus den ganzzahligen Viel-

fachen von 2π. Es ist also R/2πZ isomorph zur multiplikativen Gruppe S1. Ubrigens ergibt

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250 KAPITEL 9. GRUPPEN

sich kein wesentlicher Unterschied, wenn ich anstelle der genannten Abbildung die Abbildungx 7→ exp(2πxi) betrachte. Dann ist der Kern einfach die (additive) Untergruppe Z von R.

Die Gruppenhomomorfismen in den genannten Beispielen sind in keiner Weise Ringhomomor-fismen. Es bereichert also ganz sicher die Mathematik, wenn man neben Ringen (und Korpern)auch Gruppen betrachtet.

Satz 9.3.10 Sei G eine zyklische Gruppe. Dann ist G isomorf zur additiven Gruppe von Z/(m)fur ein eindeutig bestimmtes m ∈ N. Und zwar ist m = 0 genau dann, wenn G unendlich ist.Anderfalls ist m = #G.

Beweis: Im Grunde wissen wir das schon. Aber es folgt auch direkt aus dem Homomorfiesatz,indem man fur ein erzeugendes Element a den Gruppenhomomorfismus

Z→ G, n 7→ an

betrachtet. (Hier wird Z als die additive Gruppe von Z aufgefasst.) Dieser Homomorfismus istsurjektiv und sein Kern ist eine Untergruppe von Z, also gleich mZ fur ein gewisses m ∈ N.Somit ist G ∼= Z/mZ. Beachte: Ist m = 0, so ist Z/0Z, und damit G isomorf zu Z, betrachtetals additive Gruppe.

9.3.11 Ziemlich weit oben, im Kapitel 2 uber Ringe und Korper habe ich das direkte Produktvon Ringen definiert: R1×R2× · · ·×Rn definiert. Dieses besteht aus den n-tupeln (a1, . . . , an)mit ai ∈ Ri, wo Summe und Produkt auf naheliegende Weise, namlich komponentenweisedefiniert sind: (a1, . . . , an)+(b1, . . . , bn) := (a1 +b1, . . . , an +bn) und (a1, . . . , an) · (b1, . . . , bn) :=(a1 ·b1, . . . , an ·bn) . Wenn die Ri lediglich Gruppen sind, kann man naturlich auch ein direktesProdukt von diesen Gruppen ganz analog definieren, namlich als cartesisches Produkt derMengen mit komponentenweiser Verknupfung.

Beispiel: Die Untergruppe der Gl2(Q) der Ordnung 4, die aus den Matrizen

(a 00 b

)mit

a, b ∈ 1,−1 besteht (vgl. 9.1.16), ist isomorf der (additiven) Gruppe (Z/(2))× (Z/(2)).

Sind R1, . . . , Rn Ringe, so ist die additive Gruppe des direkten Produktes der Ringe R1, . . . , Rn

naturlich das direkte Produkt der additiven Gruppen der R1, . . . , Rn. Betrachte nun auch dieGruppen R∗

i der invertierbaren Elemente der Ri, so gilt (R1×· · ·×Rn)∗ = R∗1×· · ·×R∗

n. Denn einn-tupel (a1, . . . , an) besitzt genau dann ein multiplikativ Inverses in dem direkten Produkt, wennjede Komponente ai in Ri ein Inverses besitzt. Denn es ist ja (a1, . . . , an)(b1, . . . , bn) = (1, . . . , 1)genau dann, wenn aibi = 1 fur alle i = 1, . . . , n gilt.

Betrachte nun speziell Ringe der Form Z/(mi) und die kanonischen Ringhomomorfismenκi : Z → Z/(mi), definiert durch κi(a) = a + miZ. Beachte, dass die κi auch Gruppenho-momorfismen der additiven Gruppen sind!

Zu n solchen mi kann man dann einen Ringhomomorfismus F : Z → Z/(m1) × · · · × Z/(mn)durch F (a) := (κ1(a), . . . , κn(a)) = (a+m1Z, . . . , a+mnZ) definieren.

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9.3. FAKTORGRUPPEN 251

Beispiele 9.3.12 a) n = 2, m1 = m2 = 3. Das Bild der Abbildung F besteht aus denRestklassen-Paaren: (0, 0), (1, 1), (2, 2). Die Abbildung F ist also keineswegs surjektiv!

b) n = 2,m1 = 2,m2 = 3. Das Bild von F ist die Menge F (0) = (0, 0), F (1) = (1, 1), F (2) =(0, 2), F (3) = (1, 0), F (4) = (0, 1), F (5) = (1, 2). Dabei bedeutet der Querstrich in der linkenKomponente die Restklasse modulo 2, die in der rechten Komponente die Restklasse modulo3.

Du siehst, das Bild von F ist der ganze Ring Z/(2)×Z/(3). Die Abbildung F ist also surjektiv!Nach dem Homomorfiesatz ist dann Z/(2) × Z/(3) isomorf zu Z/(6), zunachst als additiveGruppe. Da aber die Abbildung F auch mit der Multiplikation vertraglich ist, sind die beidenRinge auch als solche isomorf.

Der Unterschied zwischen den beiden Beispielen liegt darin, dass im zweiten die Zahlen 2, 3zueinander teilerfremd sind, nicht aber die Zahlen 3, 3 im ersten Beispiel.

Um einen dem zweiten Beispiel entsprechenden Satz allgemein zu zeigen, benotigen wir das

Lemma 9.3.13 Seien m1, . . . ,mn ∈ N1 paarweise teilerfremd. D.h. fur i 6= j seiggT(mi,mj) = 1. Wenn dann eine ganze Zahl k durch jedes der mi teilbar ist, ist k auchdurch das Produkt m1 · · ·mn teilbar.

Beweis: Die Primfaktorzerlegung von m1 · · ·mn sei pα11 · · · pαr

r mit untereinander verschie-denen Primzahlen pi und ganzen αi ≥ 1. Jeder Primzahlpotenz-Faktor pαi

i teilt wegen derTeilerfremdheit genau eines der mj, da ansonsten mehrere mj einen Primfaktor gemeinsamhatten. Also gilt pαi

i |k fur jedes i. Wegen der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung von k wirdk durch das Produkt aller pαi

i also von m1 · · ·mn geteilt.

Satz 9.3.14 (Chinesischer Restsatz. Sun Tsu, Chhin Chiu–Shao)Seien m1, . . . ,mn ∈ N1 paarweise teilerfremd. Die kanonischen Homomorfismen

κi : Z −→ Z/(mi), a 7→ a+miZ

definieren dann einen surjektiven Homomorfismus

Z −→ Z/(m1)× · · · × Z/(mn) durch a 7→ (κ1(a), . . . , κn(a))

und einen Isomorfismus

G : Z/(m1 · · ·mn)∼=−→ Z/(mi)× · · · × Z/(mn) .

Beweis: Betrachte den oben definierten Homomorfismus

F : Z −→ Z/(m1)× · · · × Z/(mn) .

Sein Kern besteht aus allen a ∈ Z, fur die m1|a, m2|a, . . . ,mn|a gilt. Dies ist nach obigem Lem-ma gleichbedeutend mit m1 · · ·mn|a, da die mi paarweise teilerfremd sind. Somit ist m1 · · ·mnZ

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252 KAPITEL 9. GRUPPEN

der Kern von F . Nach dem Homomorfiesatz wird also durch F ein injektiver Homomorfismusinduziert:

G : Z/(m1 · · ·mn) −→ Z/(m1)× · · · × Z/(mn) .

Da die Start- und die Zielmenge von G die gleiche endliche Anzahl von Elementen haben,namlich m1 · · ·mn, ist G auch surjektiv. Und hieraus folgt die Surjektivitat der Abbildung F .

Folgerung 9.3.15 Seien m1, . . . ,mn paarweise teilerfremde ganze Zahlen 6= 0 unda1, . . . , am ∈ Z beliebig. Dann hat das Kongruenzsystem

x ≡ ai (mod mi) (i = 1, . . . , n)

eine Losung, d.h. es gibt ein x ∈ Z, welches alle n angegebenen Kongruenzen erfullt. Die Losungist bis auf Kongruenz modulo m1 · · ·mn eindeutig bestimmt.

Beweis: Die Existenzaussage folgt aus der Surjektivitat, die Eindeutigkeitsaussage aus derInjektivitat der Abbildung G.

Folgerung 9.3.16 Sei m > 1 eine ganze Zahl und m = pα11 · · · pαr

r ihre Primfaktorzerlegungmit zueinander verschiedenen Primzahlen pi und ganzen αi ≥ 1. Dann ist ϕ(m) = (p1 −1)pα1−1

1 · · · (pr − 1)pαr−1 fur Eulers ϕ.

Beweis: Betrachte zunachst den Fall m = pα mit einer Primzahl p und α ≥ 1. Die Elementedes Ringes Z/(pα) sind die Restklassen der Zahlen 1, 2, . . . , pα. (Um das folgende Argumentdurchsichtiger zu machen, habe ich die 0-Restklasse hier durch pα reprasentiert!) DiejenigenZahlen dieser Menge, die zu pα nicht teilerfremd sind, sind die Vielfachen von p, also die pα−1

Zahlen p, 2p, . . . , pα−1p. In dem Ring Z/(pα) gibt es somit pα − pα−1 = (p − 1)pα−1 zu pα

teilerfremde Restklassen, d.h. Einheiten.

Nach Voraussetzung sind die r Zahlen pα11 , . . . , p

αrr zueinander paarweise teilerfremd. Also ist

nach dem chinesischen Restsatz Z/(m) isomorf zu dem direkten Produkt Z/(pα11 )×· · ·×Z/(pαr

r ),hat also die behauptete Anzahl von Einheiten.

Bemerkung 9.3.17 (RSA-Verschlusselung) Falls m = pq mit verschiedenen Primzahlen p, qist, ist ϕ(m) = (p− 1)(q − 1), wie man aus der letzten Folgerung sieht.

(Dies kannst Du allerdings auch ohne den chinesischen Restsatz direkt einsehen: Von den Zahlen0, 1, . . . , pq − 1 sind genau p Zahlen durch q teilbar, sowie q Zahlen durch p und genau eineZahl, namlich die 0 sowohl durch p wie durch q. Du erhaltst ϕ(pq) = pq−p−q+1 = (p−1)(q−1).)

Ohne die Primfaktorzerlegung von m zu kennen, kann man ϕ(m) nicht wirklich berechnen.(Wenn man m und ϕ(m) kennt, kann man p und q mittels einer quadratischen Gleichungbestimmen. Wie? D.h. die Aufgaben, einerseits ϕ(m) zu berechnen, andererseits m in Prim-faktoren zu zerlegen sind im wesentlichen gleich muhsam.) Und falls p und q jeweils mehr als200 Dezimalstellen besitzen, kann einer, dem nur ihr Produkt m bekannt ist, die Faktoren p, q

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9.3. FAKTORGRUPPEN 253

meist auch mit Computer-Hilfe nicht finden. Das ist kein mathematischer Satz, sondern ein Er-fahrungssatz! Sollte es eines Tages sogenannte Quantencomputer geben, wurde diese Aussageauch nicht mehr stimmen. (Quantencomputer nutzen fur aufwendige Rechnungen die quanten-theoretische Natur der Materie aus. Es gibt solche der Idee nach, aber noch nicht wirklich inder Realitat.)

Einen Text von 200 Zeichen (Buchstaben, Satzzeichen, Leerstellen, ...) kann man durch einZahl von 400 Dezimalstellen codieren. Einen langeren Text kann man in Teile von 200 Zeichenzerlegen. Es genugt also etwa 400-stellige Zahlen zu verschlusseln.

Sind k und a naturliche Zahlen, so gilt ak(p−1)(q−1)+1 ≡ a (mod pq). Derjenige, der p und q,also (p− 1)(q− 1) kennt, kann mit Hilfe des euklidischen Algorithmus leicht naturliche Zahlenk, c, d mit cd = k(p−1)(q−1)+1 finden. Er kann dann jedermann auffordern, ihm Nachrichtenzu schicken, nachdem sie folgendermaßen verschlusselt wurden: Ist die Nachricht durch einenaturliche Zahl a < m, d.h. auch als Element von Z/(m) beschrieben, bilde ac modulo m. Dasist durch die im 1. Kapitel beschriebene abgekurzte Berechnung von Potenzen moglich, wennman nach jeder Einzelrechnung den Rest modulo m bestimmt. Er selber kann sie dann durchPotenzieren von ac mit d, wieder modulo m, entschlusseln. Denn da cd = k(p − 1)(q − 1) + 1ist, gilt

acd = ak(p−1)(q−1)+1 = ak(p−1)(q−1) · a1 ≡ a (mod m) .

Mache Dir klar, dass man xy modulo m verhaltnismaßig schnell berechnen kann, dass manaber d aus m und c nur berechnen kann, wenn man ϕ(m) kennt.

AUFGABEN

1. Sei U eine Untergruppe einer Gruppe G. Zeige: Wenn U kein Normalteiler von G ist, so gibtes a, b ∈ G mit aU = bU , aber Ua 6= Ub.

2. Unter der Voraussetzung der letzten Aufgabe gilt aber: aU = bU ⇐⇒ Ua−1 = Ub−1. Folglichgibt es eine bijektive Abbildung von der Menge der Linksnebenklassen nach U auf die Mengeder Rechtsnebenklassen gegeben durch aU 7→ Ua−1. Die Kardinalzahl der Menge der Links-oder der Rechtsnebenklassen von G nach U heißt der Index von U in G. Er wird mit [G : U ]bezeichnet.

3. Zeige: Gilt unter obiger Voraussetzung [G : U ] = 2, so sind U und G − U sowohl die beidenLinksnebenklassen als auch die beiden Rechtsnebenklassen von G nach U . Folglich ist U einNormalteiler von G.

4. Wann gilt fur eine naturliche Zahl n, dass ϕ(n) eine Potenz von 2, also durch keine ungeradePrimzahl teilbar ist?

Zeige: Dies gilt genau fur die Zahlen der Form n = 2kp1 · · · pr, wo die Faktoren p1, . . . , pr

verschiedene sogenannte Fermat’schen Primzahlen sind.

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254 KAPITEL 9. GRUPPEN

Eine Fermatsche Primzahl ist eine solche der Form 22m

+ 1. (Du weißt schon, wenn 2n + 1eine Primzahl ist, muss n = 0 oder n = 2m sein.) Beispiele Fermat’scher Primzahlen sind diefolgenden 2 = 20 + 1, 3 = 21 + 1, 5 = 22 + 1, 17 = 24 + 1, 257 = 28 + 1, 65537 = 216 + 1. Bisjetzt kennt man keine weiteren Primzahlen der Form 22m

+ 1 als die genannten und weiß vonvielen Zahlen dieser Form, dass sie nicht prim sind.

5. Seien G1, G2, H abelsche Gruppen und fi : Gi → H Homomorfismen. Zeige: Die AbbildungF : G1 × G2 → H mit F (a1, a2) = f1(a1) + f2(a2) (additive Schreibweise in H) ist ein Homo-morfismus.

6. Sei H eine endliche Gruppe, in der jedes Element eine Ordnung ≤ 2 hat. Zeige: H ist isomorfzu Z/(2) × Z/(2) × · · · × Z/(2) mit einer geeigneten Anzahl von Faktoren. (Hinweis: Wirwissen schon, dass H abelsch ist. Benutze jetzt die additive Schreibweise fur H: BetrachteUntergruppen von H, die zu direkten Produkten Z/(2) × · · · × Z/(2) isomorf sind und unterdiesen eine maximalmogliche U . Das soll heißen: Ist V eine Untergruppe mit V ⊃ U , die zueiner Gruppe der Form Z/(2) × · · · × Z/(2) isomorf ist, so gilt schon V = U . Ist nun U = H,so gilt die Behauptung. Ist aber U eine echte Unterguppe von H, so kann man mit Hilfe derletzten Aufgabe eine Untergruppe V konstruieren, die U echt umfasst und isomorf zu einerGruppe der Form Z/(2)× · · · × Z/(2) ist. )

7. Sei H eine Untergruppe der multiplikativen Gruppe eines Korpers K. Sei G die Menge derje-nigen Matrizen aus Gl2(K), die entweder von der Form(

a 00 b

)oder von der Form

(0 cd 0

)mit a, b, c, d ∈ H sind. Zeige

a) G ist eine Untergruppe der Gl2(K).

b) Die Teilmenge N von G, die aus den Matrizen der Form(a 00 b

)mit a, b ∈ H

besteht, ist ein Normalteiler vom Index 2 in G. Somit ist G/N die – bis auf Isomorfie eindeutigbestimmte Gruppe der Ordnung 2.

b’) Die nichttriviale (d.h. von N verschiedene) Nebenklasse von G nach N besteht aus denMatrizen der Form (

0 cd 0

)mit c, d ∈ H.

c) In K gelte 1 6= −1, und es sei im Folgenden H = 1,−1. Dann ist G eine nichtabelscheGruppe der Ordnung 8.

Bestimme die Elemente der Ordnung 2 (davon gibt es 5) sowie die der Ordnung 4 (davon gibtes 2).

8. Bestimme die letzten 3 Ziffern von 19981998! .

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Kapitel 10

Lineare Gleichungssysteme

Die Behandlung linearer Gleichungssysteme ist ein wichtiger Teil des Gebietes der LinearenAlgebra.

Hier mochte ich Dir eine systematische Methode, lineare Gleichungssysteme zu losen vorstellen,namlich das sogenannte Gaußsche Verfahren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es vielenjungen Studierenden schwerfallt, eine allgemeine Beschreibung dieses Verfahrens zu verstehen.Deshalb behandle ich zunachst Spezialfalle.

10.0.18 Wir wollen z.B. die rationalen Losungen des folgenden Gleichungssystems finden.

3x +2y +4z = 62x −3y +1

2z = 4

5x +4y −3z = 20

Wir formen das Gleichungssystem um, indem wir das (−23)-fache der ersten Gleichung zur

zweiten addieren:3x +2y +4z = 60x −13

3y −13

6z = 0

5x +4y −3z = 20

Es ist klar, dass jede Losung des ersten Systems auch eine des zweiten ist. Umgekehrt, da manaber das erste System aus dem zweiten zuruckerhalt, indem man das (+2

3)-fache der ersten

Gleichung zur zweiten addiert, ist jede Losung des zweiten Gleichungssytems auch eine desersten. Durch die obige Umformung hat man die Losungsgesamtheit des Gleichungssystemsnicht verandert. D.h. ein Tripel von (etwa rationalen) Zahlen (ξ, η, ζ) fur (x, y, z) eingesetzterfullt genau dann das erste System, wenn es das zweite erfullt.

Indem wir das (−53)-fache der ersten Gleichung zur dritten addieren, erhalten wir:

3x +2y +4z = 60x −13

3y −13

6z = 0

0x +23y −29

3z = 10

Wieder hat sich an der Menge der Losungen nichts geandert!

255

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256 KAPITEL 10. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME

Nun addieren wir das 213

-fache der zweiten Gleichung zur dritten:

3x +2y +4z = 60x −13

3y −13

6z = 0

0x +0y −10z = 10

Dieses Gleichungssystem konnen wir”von hinten aufrollen“ und die einzig mogliche Losung

ausrechnen: x = 3, y = 12, z = −1. Diese, und nur diese, erfullt (naturlich) auch das erste

System. (Eine Losung eines Gleichungssystems mit 3 Unbekannten ist immer ein Tripel vonZahlen, hier das Tripel (3, 1

2,−1). Bei n Unbekannten ist eine Losung ein n-tupel (a1, . . . , an).)

Man kann aber auch das letzte Gleichungssystem noch weiter modifizieren, so dass die Losungschließlich ganz durchsichtig erkennbar ist. Zunachst multiplizieren wir die erste Gleichung mit13, die zweite mit − 3

13und die dritte mit − 1

10:

1x +23y +4

3z = 2

0x +1y +12z = 0

0x +0y +1z = −1

Da wir durch Multiplikation mit den inversen Faktoren wieder zum vorletzten System zuruck-kommen, hat sich wieder nichts an der Losungsmenge geandert.

Nun addieren wir das −12-fache der letzten Gleichung zur zweiten, dann das −4

3-fache der letzten

Gleichung zur ersten:1x +2

3y +0z = 10

3

0x +1y +0z = 12

0x +0y +1z = −1

Schließlich addieren wir das −23-fache der zweiten Gleichung zur ersten:

1x +0y +0z = 30x +1y +0z = 1

2

0x +0y +1z = −1

Hier kann man die (einzige) Losung in der Tat direkt ablesen.

10.0.19 Ein weiteres Beispiel:

3x +2y +4z = 62x −3y +1

2z = 4

7x −4y +5z = 13

Addiere das −23-fache der ersten Gleichung zur zweiten und dann das −7

3-fache der ersten zur

dritten:3x +2y +4z = 60x −13

3y −13

6z = 0

0x −263y −13

3z = −1

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257

Nun addiere das −2-fache der zweiten Gleichung zur dritten:

3x +2y +4z = 60x −13

3y −13

6z = 0

0x +0y +0z = −1

Da es kein z ∈ Q mit 0z = −1 gibt, hat dieses Gleichungssystem keine Losung! Die Losungs-menge ist ∅, die leere Menge.

Ein weiteres Beispiel:3x +2y +4z = 62x −3y +1

2z = 5

7x −4y +5z = 16

Das Gleichungssystem unterscheidet sich von dem zuletzt behandelten nur durch die rechtenSeiten der zweiten und dritten Gleichung. Wir behandeln es so wie das vorangegangene System.

3x +2y +4z = 60x −13

3y −13

6z = 1

0x −263y −13

3z = 2

Weiter:3x +2y +4z = 60x −13

3y −13

6z = 1

0x +0y +0z = 0

Dieses System hat offenbar ∞-viele Losungen. Man kann fur z ein beliebiges ζ (oder fur y einbeliebiges η) einsetzen und dann die zugehorigen ξ, η (bzw. ξ, ζ) ausrechnen.

Wir wollen alle moglichen Losungen noch expliziter angeben. Dafur formen wir noch weiter um,zunachst durch Multiplikation der ersten beiden Gleichungen durch geeignete Faktoren 6= 0:

1x +23y +4

3z = 2

0x +1y +12z = − 3

13

0x +0y +0z = 0

Dann addieren wir das −23-fache der zweiten Gleichung zur ersten:

1x +0y +1z = 2813

0x +1y +12z = − 3

13

0x +0y +0z = 0

Man bekommt die folgende Parameterdarstellung aller moglichen Losungen (ξ, η, ζ) des o.a.Gleichungssystems:

ξ = 2813− t, η = − 3

13− 1

2t, ζ = t.

Der Parameter t darf dabei alle rationalen (oder reellen oder auch komplexen) Zahlen durch-laufen (je nachdem welche Zahlen wir zulassen wollen).

Hierfur wollen wir auch schreiben:

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258 KAPITEL 10. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME

(ξ, η, ζ) = (2813, − 3

13, 0) + t(−1,−1

2, 1).

Dabei gelte wie gewohnt:

t(a, b, c) := (ta, tb, tc) und (a, b, c) + (a′, b′, c′) := (a+ a′, b+ b′, c+ c′).

10.0.20 Wir wollen das letzte Beispiel noch etwas genauer analysieren.

Von allen Losungen (ξ, η, ζ) = (2813, − 3

13, 0) + t(−1,−1

2, 1), wo t die Menge Q durchlauft, ist

(2813, − 3

13, 0) eine spezielle – wie man etwa sieht, indem man t = 0 setzt.

Die Tripel t(−1,−12, 1) hingegen sind Losungen des folgenden Gleichungssystems:

3x +2y +4z = 02x −3y +1

2z = 0

7x −4y +5z = 0

welches aus dem letztbehandelten dadurch entsteht, dass man die rechten Seiten aller Glei-chungen durch Nullen ersetzt. Denn, wenn man mit dem neuen Gleichungssystem dieselbenManipulationen vornimmt wie mit dem alten, so bleiben auf den rechten Seiten immer dieNullen stehen und auf den linken Seiten erhalt man dasselbe wie oben.

1x +0y +1z = 00x +1y +1

2z = 0

0x +0y +0z = 0

Und dieses Gleichungssystem hat eben offensichtlich die Losungen t(−1,−12, 1), wo t alle (ra-

tionale) Zahlen durchlauft.

Satz 10.0.21 Seia11x1 +a12x2 + · · · +a1nxn = b1a21x1 +a22x2 + · · · +a2nxn = b2· · · · · · · · ·· · · · · · . . . · · · ...· · · · · · · · ·

am1x1 +am2x2 + · · · +amnxn = bm

ein (ganz allgemeines) lineares Gleichungssystem und (ξ1, . . . , ξn) eine seiner Losungen, so istdie Gesamtheit der Losungen gleich (ξ1, . . . , ξn) + X, wo X die Menge aller Losungen desfolgenden

”zugehorigen homogenen“ Gleichungssystems ist:

a11x1 +a12x2 + · · · +a1nxn = 0a21x1 +a22x2 + · · · +a2nxn = 0· · · · · · · · ·· · · · · · . . . · · · ...· · · · · · · · ·

am1x1 +am2x2 + · · · +amnxn = 0

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259

Dabei sei definiert:

(ξ1, . . . , ξn) +X := (ξ1, . . . , ξn) + (η1, . . . , ηn) | (η1, . . . , ηn) ∈ X.

Beweis: Eigentlich ist die Behauptung trivial:

Sei etwa (η1, . . . , ηn) eine Losung des homogenen Gleichungssystems, so gilt offenbar:

ai1(ξ1 + η1) + ai2(ξ2 + η2) + · · ·+ ain(ξn + ηn) =

ai1ξ1 + ai2ξ2 + · · ·+ ainξn + ai1η1 + ai2η2 + · · ·+ ainηn = bi + 0 = bi

Und das fur alle i = 1, . . . , n. Das bedeutet, dass jedes n-tupel aus (ξ1, . . . , ξn)+X eine Losungunseres Gleichungssystems ist.

Sei umgekehrt (ζ1, . . . , ζn) eine solche Losung und (η1, . . . , ηn) := (ζ1, . . . , ζn) − (ξ1, . . . , ξn).Dann gilt

ai1η1 + ai2η2 + · · ·+ ainηn =

ai1(ζ1 − ξ1) + ai2(ζ2 − ξ2) + · · ·+ ain(ζn − ξn)

= ai1ζ1 + ai2ζ2 + · · ·+ ainζn − (ai1ξ1 + ai2ξ2 + · · ·+ ainξn) = bi − bi = 0

Das heißt: (η1, . . . , ηn) ist eine Losung des zug. homogenen Gleichungssystems, gehort also zuX. Fur die Losung (ζ1, . . . , ζn) des ursprunglichen Systems gilt also (ζ1, . . . , ζn) = (ξ1, . . . , ξn)+(η1, . . . , ηn) ∈ (ξ1, . . . , ξn) +X.

10.0.22 Wenn ein lineares Gleichungssystem uberhaupt Losungen hat und man eine solchekennt, so erhalt man mit Hilfe der Losungsmenge des zugehorigen homogenen Gleichungssy-stems alle Losungen.

Ein homogenes lineares Gleichungssystem besitzt immer (mindestens) eine Losung, namlich(0, 0, . . . , 0), die sogenannte triviale Losung.

Hat ein lineares Gleichungssystem eine Losung und hat das zugehorige homogene Gleichungs-system nur die triviale Losung, so ist das ursprungliche Gleichungssystem eindeutig losbar.

Die Losungsmenge X eines homogenen linearen Gleichungssystems ist gegenuber gewissen Ver-knupfungen (Operationen) abgeschlossen:

ξ, η ∈ X =⇒ ξ + η ∈ X. Ist zusatzlich a eine (rationale) Zahl und ξ ∈ X, so gilt aξ ∈ X. (Mankann dies zusammenfassen zu a, b ∈ Q, ξ, η ∈ X =⇒ aξ + bη ∈ X.)

Das bedeutet, dass die Menge der (rationalen) Losungen eines homogenen linearen Gleichungs-systems in n Variablen ein Teilvektorraum des Qn ist. Rechnet man allgemein in einem KorperK, so ist Qn durch Kn zu ersetzen.

Bemerkungen 10.0.23 a) Es kann naturlich vorkommen dass der Koeffizient der”ersten“

Unbekannten der ersten Gleichung gleich 0 ist. Dann ist es zweckmaßig, diese Gleichung miteiner zu vertauschen, in der das nicht der Fall ist. Durch die Vertauschung von Gleichungenandert sich gewiss nicht die Losungsmenge des Systems.

b) Naturlich ist es auch nicht verboten, dass in jeder Gleichung der Koeffizient der erstenUnbekannten gleich 0 ist. Was bedeutet das fur die Losungsmenge?

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260 KAPITEL 10. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME

10.0.24 Wir wollen ein Hilfsmittel einfuhren, welches zunachst lediglich als abgekurzte Schreib-weise von linearen Gleichungssysemen dient, aber spater von großter Bedeutung sein wird:

Eine Matrix ist ein”rechteckiges“ Schema von Zahlen: a11 · · · a1n

.... . .

...am1 · · · amn

Man kann sie als m-Tupel von n-Tupeln auffassen. Die aij heißen die Eintrage der Matrix.Die

”waagerechten“ n-Tupel (ai1, . . . , ain) heißen die Zeilen, die

”senkrechten“ m-Tupel a1j

...amj

die Spalten der Matrix.

Es ist eine Konvention, dass der erste Index die Zeile, der zweite die Spalte bezeichnet. (Zeilezuerst, Spalte spater.)

Die (eingeschrankte) Koeffizientenmatrix des LGS

a11x1 +a12x2 + · · · +a1nxn = b1a21x1 +a22x2 + · · · +a2nxn = b2· · · · · · · · ·· · · · · · . . . · · · ...· · · · · · · · ·

am1x1 +am2x2 + · · · +amnxn = bm

ist a11 · · · a1n...

. . ....

am1 · · · amn

Die erweiterte Koeffizientenmatrix desselben LGS ist a11 · · · a1n b1

.... . .

......

am1 · · · amn bm

Definition 10.0.25 Die folgenden Manipulationen mit einer Matrix heißen elementareZeilen-Umformungen:

(I) Eine Zeile wird geandert, indem man ein Vielfaches einer anderen zu ihr addiert.

(II) Zeilen werden vertauscht.

(III) Eine Zeile wird mit einer von 0 verschiedenen Zahl multipliziert.

Zeilen-Umformungen vom Typ (I) heißen auch spezielle elementare Zeilenumformungen.

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261

10.0.26 Sei nun a11 · · · a1n b1...

. . ....

...am1 · · · amn bm

die erweiterte Koeffizientenmatrix eines LGS.

Wir haben oben – allerdings nur exemplarisch – gesehen, dass folgendes gilt: Durch eine Folgeelementarer Zeilenumformungen vom Typ (I) und Typ (II) kann man sie auf die folgende Gestaltbringen:

0 · · · 0 a′1j1· · · · · · a′1n b′1

0 · · · 0 0 · · · 0 a′2j2· · · a′2n b′2

0 · · · 0 · · · 0 a′3j3· · · a′3n b′3

.... . .

......

0 · · · · · · 0 a′rjr· · · a′rn b′r

0 · · · 0 b′r+1

0 · · · 0 0...

. . ....

...

Hier ist 1 ≤ j1 < j2 < j3 < · · · < jr und a′kjk

6= 0 fur k = 1, . . . , r.

Ist j1 = 1, so besteht die erste Spalte nicht aus lauter Nullen. Vielmehr ist sie dann von derForm

a′11

0...0

mit a′11 6= 0. Im Allgemeinen bestehen die ersten j1− 1 Spalten aus lauter Nullen. Die nachstenj2− j1 Spalten haben die Eigenschaft, dass alle Komponenten, bis auf moglicherweise die erste,gleich 0 sind. Auf jeden Fall ist a1j1 6= 0. Sowohl br+1 = 0 wie br+1 6= 0 ist moglich.

Die letzte Matrix heißt die Zeilenstufenform der Ausgangsmatrix. Die”Platze“ mit den

Indices 1j1, 2j2, . . . , rjr heißen die Stufen der Matrix in Zeilenstufenform, die Zahlen j1, . . . , jrdie Stufenindices. Die Eintrage a′kjk

heißen die Stufeneintrage.

10.0.27 Wir haben oben exemplarisch uberlegt, dass das LGS, das zur umgeformten Matrixgehort, dieselben Losungen hat wie das ursprungliche.

An der Matrix in Zeilenstufenform konnen wir jetzt sofort erkennen, ob das zug. LGS eineLosung hat oder nicht. Offensichtlich gibt es keine Losung, wenn b′r+1 6= 0 ist. Denn dann hatschon die (r + 1)-te Gleichung 0x1 + · · ·+ 0xn = b′r+1 keine Losung.

Ist hingegen b′r+1 = 0, so kann man fur alle j ∈ 1, . . . , n−j1, j2, . . . , jr die Unbekannten xj

gleich 0 setzen und dann das LGS”von unten her aufrollen“. D.h. eine Losung sieht so aus

(0, . . . , 0, ξj1 , 0, . . . , 0, ξj2 , . . . , ξjr , 0, . . . , 0),

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262 KAPITEL 10. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME

wobei ξjr = b′r/a′rjr, ξjr−1 = (b′r−1 − a′r−1,jr

ξjr)/a′r−1,jr−1

etc. ist.

Um die Losungsmenge (im Falle br+1 = 0) teoretisch besser zu durchschauen, unternehmen wirnoch Folgendes:

1. Wir machen die Stufeneintrage zu 1, indem wir fur jedes k = 1, . . . , r die k-te Zeile mit 1/a′kjk

multiplizieren. (Es ist ja a′kjk6= 0.)

2. Dann machen wir durch spezielle Zeilenumformungen (also solche vom Typ I) alles oberhalbder Stufen zu 0. In der jk-ten Spalte steht als danach an der k-ten Stelle eine 1, sonst uberallNullen.

3. Schließlich machen wir etwas fur die Praxis Gefahrliches. Wir vertauschen die Unbekannten,d.h. die Spalten der bisher erreichten Matrix. (Die letzte Spalte, in der die rechten Seiten derGleichungen stehen, muss naturlich an ihrem Platz bleiben. Wenn man am Ende die Losungs-menge korrekt angeben will, muss man die Vertauschung der Unbekannten naturlich beruck-sichtigen!) Wir bringen die Spalten mit den Stufen nach vorn, d.h. wir machen die jk-te Spaltezur k-ten.

Wenn wir die uninteressanten n−k letzten Zeilen, die ja aus lauter Nullen bestehen, weglassen,kommen wir schließlich zu einer Matrix von folgender Gestalt:

1 0 0 · · · 0 a1,r+1 · · · a1n b10 1 0 · · · 0 a2,r+1 · · · a2n b2

. . . . . ....

0 1 ar,r+1 · · · arn br

Eine spezielle Losung des LGS ist dann (b1, . . . , bn, 0, . . . , 0)

Um nun alle Losungen zu finden, losen wir das zug. homogene LGS, d.h. ersetzen die bi durchNullen.

Wir konnen die letzten n − r Unbekannten durch beliebige Zahlen ersetzen. Die ersten r sinddann eindeutig bestimmt. Die Losungen des homogenen LGS sehen dann so aus:

(−n∑

k=r+1

tka1k , . . . ,−n∑

k=r+1

tkark , tr+1, . . . , tn),

wo die tr+1, . . . , tn unabhangig voneinander alle (rationalen) Zahlen durchlaufen. Man kanndiese n-Tupel auch so schreiben:

tr+1(−a1,r+1, . . . ,−ar,r+1, 1, 0, . . . , 0) + · · ·+ tn(−a1,n, . . . ,−ar,n, 0, . . . , 0, 1)

AUFGABEN

1. Geben Sie die Losungsmenge des folgenden LGS an:

x1 + 3x2 + 5x3 + 2x4 = 13x1 + 9x2 + 10x3 + x4 + 2x5 = 0

2x2 + 7x3 + 3x4 − x5 = 32x1 + 8x2 + 12x3 + 2x4 + x5 = 1

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263

2. Bestimmen Sie die Losungsmenge des Gleichungssystems

x1 + 2x2 + x3 + x4 + x5 = b1−x1 − 2x2 − 2x3 + 2x4 + x5 = b22x1 + 4x2 + 3x3 − x4 = b3x1 + 2x2 + 2x3 − 2x4 − x5 = b4

in den Fallen a) (b1, b2, b3, b4) = (0, 0, 0, 0), b) (b1, b2, b3, b4) = (2, 5,−1,−3),c) (b1, b2, b3, b4) = (2, 5,−1, 8).(Versuchen Sie, moglichst lange die drei Falle a), b), c) gemeinsam zu behandeln!)

3. Fur welche c ∈ Q ist das LGSx − cy = 1

(c− 1)x − 2y = 1

a) eindeutig losbar, b) losbar, aber nicht eindeutig losbar, c) unlosbar?

4. Zeigen Sie, dass das LGSx1 + 2x2 + 3x3 = 0

4x1 + 5x2 + 6x3 = 07x1 + 8x2 + 9x3 = 0

nicht nur die triviale Losung besitzt.

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264 KAPITEL 10. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME

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Anhang A

Losungen

1.2.A1. a) Teile n durch 3 mit Rest: n = 3k+ r mit r = 0, 1 oder 2. Ist r = 0, so ist n durch 3teilbar. Andernfalls ist n = 3k+1 oder n = 3(k+1)−1. Setze m := k im ersten und m = k+1im zweiten Fall.

b) Ist p = 3, so ist 2 · 32 + 1 = 19 eine Primzahl. Ist p 6= 3, so ist p auch nicht durch 3 teilbar.Deshalb lasst sich p wegen a) in der Form p = 3m± 1 schreiben. Dann ist p2 = 9m2 ± 6m+ 1,also 2p2 + 1 = 18m2 ± 12m + 3, also durch 3 teilbar. p = 3 ist somit die einzige Primzahl, furdie auch 2p2 + 1 eine Primzahl ist.

Der Fall p2 + 2 erledigt sich genau so.

1.2.A2. Es ist 15! = 2·3·(2·2)·5·(2·3)·7·(2·2·2)·(3·3)·(2·5)·11·(2·2·3)·13·(2·7)·(3·5) (WennDu willst kannst Du anschließend noch die gleichen Faktoren zu Potenzen zusammenfassen.)Du siehst, es ist ziemlich einfach. Wenn Du es Dir schwer machen willst, rechne zuerst 15! ausund versuche dann, das Ergebnis zu zerlegen. ;-)

1.2.A4. Sei m ∈ N1 keine Primzahl und p der kleinste Primfaktor von m. Dann lasst sichm in der Form m = kp mit k ≥ p schreiben. Ware namlich k < p, so hatte k und damit meine kleineren Primfaktor als p, im Widerspruch zur Wahl von p. Wenn aber p ≤ k ist, istp2 ≤ pk = m. Nun sind 2, 3, 5, 7 die einzigen Primzahlen p mit p < 11, d.h. p2 < 121. Ist alsom ≤ 120 nicht prim, so hat es einen Primfaktor unter den Primzahlen 2, 3, 5, 7 Ist m ≥ 8 undhat unter diesen Zahlen einen Primfaktor, so kann es nicht selbst prim sein.

Allgemein gilt: Sind p1, . . . , pn+1 die ersten n+1 Primzahlen, so ist eine Zahl k mit pn < k < p2n+1

genau dann prim, wenn k durch keine der Primzahlen p1, . . . , pn teilbar ist.

1.2.A5. Zur Regel a): Nimm an, dass nur 3 Kandidaten A, B und C Stimmen bekommen.Wenn 33 Senatoren A und B, 34 Senatoren A und C und schließlich 34 Senatoren B und Cwahlen, bekommt jeder der drei Kandidaten mindestens 67 Stimmen!

Zur Regel b): Angenommen die Kandidaten A, B, C und D bekommen Stimmen. Wenn 26Senatoren A und B , 25 weitere A und C , 25 weitere A und D, schließlich 25 Senatoren C undD wahlen, so bekommen A 76, B 26, C 50 und D 50 Stimmen! (Wenn nur drei KandidatenStimmen bekommen, so entfallen auf einen maximal 101 der insgesamt 202 Stimmen, also aufmindestens einen weiteren mindestens 51 Stimmen.)

265

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266 ANHANG A. LOSUNGEN

Man muss immer eine gewisse Vorsicht walten lassen, wenn man Abstimmungsregeln aufstellt!Ich kenne mindestens einen mathematischen Fachbereich, der diesen Ratschlag bei derAufstellung seiner Satzung nicht beachtet hat.

1.4.2. Zur Gleichheit von Bruchen: Seien m′ = km, n′ = kn. Dann geht der Bruch m′

n′aus dem

Bruch mn

durch Erweitern, und der Bruch mn

aus dem Bruch m′

n′durch Kurzen hervor. In diesem

Falle gilt mn′ = kmn = m′n. D.h. wenn m′

n′aus m

ndurch Erweitern und anschließendes Kurzen

hervorgeht, muss mn′ = m′n sein.

Sei umgekehrt mn′ = m′n. Dann wird mn

durch Erweitern zu mn′

nn′. Der Zahler letzteren Bruches

ist nach Voraussetzung gleich dem von m′nnn′

. Und diesem Bruch wird durch Kurzen m′

n′.

1.5.5.1

n− 1

n+ 1=n+ 1− nn(n+ 1)

=1

n(n+ 1).

1

1 · 2+

1

2 · 3+ · · ·+ 1

(n− 1)n=

(1

1− 1

2

)+

(1

2− 1

3

)+ · · ·+ (

1

n− 1− 1

n= 1− 1

n

1

12+

1

22+

1

32+ · · ·+ 1

n2≤ 1 +

1

1 · 2+ · · ·+ 1

(n− 1)n= 1 + 1− 1

n.

1

0!+

1

1!+

1

2!+

1

3!+ · · ·+ 1

n!≤ 2 +

1

1 · 2+ · · ·+ 1

(n− 1)n= 3− 1

n

1.5.A1. Die erste Gleichung hat die Losung x = −1213

, die zweite ist nicht losbar.

1.5.A3. Man kann a mit dem Nenner p1 · · · pn schreiben. Konnte man kurzen, etwa durch pn, so

ware ap1 · · · pn−1 bereits ganz. Andererseits ist ap1 · · · pn−1 =

(1

p1

+ · · ·+ 1

pn−1

)p1 · · · pn−1 +

p1 · · · pn−1

pn

; das ist eine Summe zweier Summanden, von denen der erste eine ganze Zahl, der

zweite aber wegen der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung keine ganze Zahl ist. Eine solcheSumme ist nie ganz.

1.5.A4. Diese Aufgabe lost man ahnlich wie die vorangehende. Ware a ganz, dann auch am/2.Der Ausdruck am

2· 1

kist fur k = 2, . . . , n genau dann eine ganze Zahl, wenn k nicht die großte

2-Potenz ≤ n ist.

1.5.A5. (n− 1)!a ist nicht ganz.

1.5.A6. Die Summe ist gleich (x+ y)(x− y + 1)/2.

1.5.A7. Das Ergebnis ist n2. Das kannst Du anschaulich an der Figur unterhalb der Aufgabesehen, wo bei jedem Schritt durch Addition der nachsten ungeraden Anzahl von Kringelnwieder ein Quadrat entsteht. Die Losung nach ‘Opas’ Schema geht wie folgt. Die Anzahl derSummanden ist n. Die Summe des ersten und n-ten Summande ist 2n. Dasselbe gilt fur dieSumme des zweiten und des (n − 1)-ten, auch fur die des dritten und des (n − 2)-ten, usw.Deshalb ist das Ergebnis gleich n · 2n/2.

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267

1.5.A8. Die Summe der beiden Gleichungen ist 2x = a+ b, ihre Differenz ist 2y = a− b. Nunist a + b genau dann gerade, wenn a und b entweder beide gerade oder beide ungerade sind.Dasselbe gilt fur a− b.

1.5.A9. Sind x, y ganze Zahlen, so ist von den beiden Zahlen x + y und x − y + 1 die einegerade und die andere ungerade. Und wenn zusatzlich x > y > 0 ist, sind x+ y und x− y + 1beide mindestens gleich 2. Ist also n > 0 eine Summe aufeinander folgender positiver ganzerZahlen, so muss 2n ein Produkt einer geraden und einer ungeraden Zahl ≥ 2 sein. Das schließtalle 2-Potenzen aus.

Sei n > 0 keine 2-Potenz (insbesondere n > 2) so ist 2n = 2ru mit einer ungeraden Zahl u > 2und r ≥ 1. Seien ferner a die großere der beiden Zahlen 2r und u, sowie b+ 1 die kleinere vondiesen. Dann sind a und b beide gerade oder beide ungerade, und es ist b > 0. Also lasst sichdas folgende Gleichungssystem in ganzen Zahlen x, y mit x > y > 0 losen.

x+ y = ax− y = b

Ist das Zahlenpaar (x, y) eine Losung dieses Gleichungssystems, so gilt n =∑x

k=y k.

1.5.A10. a) Es gilt bekanntlich x2 − y2 = (x + y)(x − y). Man kann also eine ganze Zahle ngenau dann als Differenz zweier Quadratzahlen darstellen, wenn ein Produkt zweier geraderoder zweier ungerader Zahlen ist. Dabei darf im zweiten Fall einer der Faktoren die 1 sein.Es folgt, dass jede ungerade Zahl eine Differenz zweier Quadratzahlen ist. Eine gerade Zahl,die nicht durch 4 teilbar ist, ist von der Form 2u mit ungeradem u. Wie immer man sie inzwei Faktoren zerlegen mag, so ist einer gerade und der andere ungerade. Jede durch 4 teilbareZahl ist von der Form 4m = 2 · (2m) also ein Produkt zweier gerader Zahlen und deshalbeine Differenz zweier Quadratzahlen. Zusammengefasst, sind genau die Ganzen Zahlen eineDifferenz zweier Quadrate, die entweder ungerade oder durch 4 teilbar sind. (Spater wirst Dudiese Bedingung durch n 6≡ 2 (mod 4) ausdrucken konnen.)

b) Alle ganzen Zahlen lassen sich so schreiben. Ist n ungerade, so gibt es y, z mit n = 02+y2−z2.Ist n gerade, so ist n − 1 ungerade, also n = 12 + y2 − z2 mit geeigneten y, z. Die Losung istuberraschend einfach.

c) Ist a = 0, so gibt es trivialer Weise unendlich viele Losungen, ansonsten nur endlich viele.Dafur habe ich sogar 2 Argumente: Erstens kann man a innerhalb Z nur auf endlich vieleWeisen in zwei Faktoren zerlegen. Zweitens: Fur x > y > 0 (was man immer annehmen kann)und x > n gilt x2−y2 ≥ (n+1)2−n2 = 2n+1. Und es gibt nur endlich viele n mit 2n+1 ≤ |a|.

d) Nikolausaufgabe: Setze n0 := 1606160. Sei x das Alter von Klaus, y dasjenige von Nicole,jeweils als ganze Zahl > 0. Nach Voraussetzung ist n0 = x4 − y4 = (x2 − y2)(x2 + y2). Da n0

gerade ist, mussen x2 + y2 und x2− y2 beide gerade sein. (Das folgt daraus, dass zunachst einerder beiden Faktoren gerade ist.) Dann muss aber auch x2− y2 = (x+ y)(x− y) durch 4 teilbarsein, nicht wahr? Ferner ist 0 < y < x.

Wir haben die (mit Taschenrechnerhilfe berechnete) Primfaktorzerlegung

n0 = 24 · 5 · 17 · 1181

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268 ANHANG A. LOSUNGEN

Wir betrachten alle Moglichkeiten x2 − y2 = k, x2 + y2 = l, wo n0 = kl eine Zerlegung in zweiganze Faktoren, ferner 0 < k < l und k durch 4 und l durch 2 teilbar ist.

1. Der Faktor k ist großtmoglich im Falle k = 8 · 5 · 17 = 2 · 340, l = 2 · 1181. Dann errechnetman

x2 =k + l

2= 1181 + 340 = 1521, y2 =

k − l2

= 1181− 340 = 841

Nun ist 1521 = 1600 − 80 + 1 = (40 − 1)2 und 841 = 900 − 60 + 1 = (30 − 1)2. Also gilt indiesem Falle: Klaus ist 39 und Nicole 29 Jahre alt. Wir zeigen, dass es keine weiteren Losungengibt.

2. Im Falle k = 4 · 5 · 17 = 2 · 170 und l = 4 · 1181 = 2 · 2362 musste x2 = 2362 + 170 = 2532sein. Da 502 = 2500 < 2532 < 2601 = 512 gilt, ist aber x2 6= 2532 fur jede naturliche Zahl x.

3. In allen anderen Fallen ist k ≤ 23 · 17 und l ≥ 2 · 5 · 1181. Dann ist x+ y ≤ k/2 ≤ 4 · 17 = 68also x2 + y2 ≤ (x+ y)2 ≤ 682 = 4624 < 11810. Auch hier ergibt sich keine Losung.

1.5.A11. Wenn man den linken Bruch mit n − k, den rechten mit k + 1 erweitert, bekommtman gleiche Nenner.

1.5.A12. Um die geforderte Vollstandigkeit zu erreichen, genugt es, eine gewisse Systematikin die Menge aller Tripel (a, b, c) ∈ N3 mit 1 ≤ a ≤ b ≤ c zu bringen.

Zunachst betrachte man Tripel der Form (1, 1, c) (mit 1 ≤ c). Dann die der Form (1, 2, c) (mit2 ≤ c). Dann die der Form (1, b, c) mit 3 ≤ b ≤ c.

Damit hat man offenbar alle Falle mit a = 1 behandelt. Jetzt folgen die Falle (2, 2, c), (2, 3, c)und (2, 4, c), ferner (2, b, c) mit 5 ≤ b ≤ c).

Jetzt folgen (3, 3, c) und (3, b, c) mit 4 ≤ b.

Schließlich (a, b, c) mit 4 ≤ a).

Die moglichen Losungen sind: (1, 1, 1) , (1, 2, 2) , (2, 3, 6) , (2, 4, 4) , (3, 3, 3).

1.5.A13. Nimm an, m/q mit zueinander teilerfremden m, q ∈ Z sei eine Losung. Dann gilt

mn

qn= −a1

mn−1

qn−1− a2

mn−2

qn−2− · · · − an− 1

m

q− an

Da m, q und alle ai ganz sind, sieht man nach Multiplikation der Gleichung mit qn−1, dassmn

qganz ist. Ware nun m/q nicht ganz, d.h. q 6= ±1, so hatte es einen Primfaktor p, der auchmn teilen wurde. Wegen der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung musste p auch m teilen, imWiderspruch zur Teilerfremdheit von m und q.

1.5.A13 Die Antwort ist (m1 + 1)(m2 + 1) · · · (mr + 1).

1.6.A1. Man kann die Induktionsbeweise mit n = 0 beginnen. Dann stehen auf den rechtenSeiten leere Summen. Eine solche hat nach Definition den Wert 0. Das mag Dir sehr formalvorkommen.

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269

Wenn Du Hemmungen hast, damit zu argumentieren, schreibe die linken Seiten der erstenGleichung wie folgt:

02 + 12 + 22 + · · ·+ n2 ,

entsprechend die der zweiten Gleichung. Oder beginne gemaß Absatz 1.6.3 die Induktion mitn = 1.

In allen Fallen ist der Induktionsanfang fur die behaupteten Gleichheiten trivial.

Induktionsschritt fur a): Zu zeigen ist 12 + 22 + · · ·+ n2 + (n+ 1)2 = (n+1)(n+2)(2n+3)6

unter der

Voraussetzung 12 + 22 + · · ·+ n2 = n(n+1)(2n+1)6

. Unter dieser Voaussetzung gilt aber

12 + 22 + · · ·+ n2 + (n+ 1)2 =n(n+ 1)(2n+ 1)

6+ (n+ 1)2 =

n(n+ 1)(2n+ 1) + 6(n+ 1)2

6

=(n(2n+ 1) + 6(n+ 1))(n+ 1)

6=

(n+ 1)(2n2 + n+ 6n+ 6)

6=

(n+ 1)(2n2 + 3n+ 4n+ 6)

6=

(n+ 1)(n+ 2)(2n+ 3)

6

1.6.A2. Dies gilt zunachst fur n = 1

Induktionsschritt: Sei (a1, . . . , an) irgend eine Anordnung der Zahlen 1, . . . , n. Dann kann mandie Zahl n+ 1 auf n+ 1 verschiedene Weise einordnen:

(n+ 1, a1, . . . , an), (a1, n+ 1, a2, . . . , an), . . . , (a1, . . . , an−1, n+ 1, an), (a1, . . . , an, n+ 1)

Man erhalt also (n+1)-mal soviele Anordnungen der Zahlen 1, . . . , n, n+1, wie es Anordungender Zahlen 1, . . . , n gibt. Ist die letztere Anzahl nach Induktionsvoraussetzung gleich n!, so isterstere gleich n!(n+ 1) = (n+ 1)!.

1.6.A4. Wenn Du bislang nicht auf die Losung gekommen bist, versuche es mit dem Tipp:53 = 125 = 11 · 11 + 4.

Induktionsanfang n = 0. Es ist 2 · 51 + 40 = 11, also durch 11 teilbar.

Induktionsschritt: Zu zeigen ist, dass 2·53n+4+4n+1 durch 11 teilbar ist – vorausgesetzt, dies giltfur 2·53n+1+4n. Nun es ist 2·53n+4+4n+1 = 125·2·53n+1+4·4n = 121·2·53n+1+4(2·53n+1+4n).Der erste Summand in diesem Ausdruck ist durch 11 teilbar, weil 121 es ist. Fur den zweitenSummand gilt dies, weil der Klammerausdruck nach Induktionsvoraussetzung durch 11 teilbarist.

1.6.A5. Wir machen den Induktionsanfang bei k = 1: Sei u = 2m + 1. Dann ist u2 − 1 =4m2 + 4m+ 1− 1 = 4m(m+ 1), also durch 23 teilbar, da eine der Zahlen m,m+ 1 gerade ist.

Induktionsschluss: Sei die Aussage richtig fur ein k ≥ 1. Wir haben zu zeigen, dass sie dannauch fur k + 1 gilt. Nun es gilt

u2k+1 − 1 =(u2k)2

− 1 = (u2k

+ 1)(u2k − 1) .

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270 ANHANG A. LOSUNGEN

Da u ungerade ist, ist der erste Faktor gerade. Der zweite ist nach Induktionsvoraussetzungdurch 2k+2 teilbar, und somit das Produkt durch 2k+3 teilbar.

1.7.A1. Es gilt ggT(70, 125) = 5. Deshalb ist 5 die kleinste positive Zahl, die sich in der Form70m+ 125n mit ganzen m,n darstellen lasst. Alle anderen sind Vielfache von 5.

1.7.A3. Die Gleichung ist aquivalent mit xa = −yb. Da a und b zueinander teilerfremd sind,haben sie Primfaktorzerlegungen ohne gemeinsamen Faktor. Deshalb muss x durch b und ydurch a teilbar sein. Die moglichen Losungen sind somit von der Form (x, y) = (kb, k′a). Damitdie Gleichung erfullt ist, muss noch k′ = −k sein. Die Gesamtheit der Losungen besteht alsoaus den Zahlenpaaren (kb,−ka), wo k alle ganzen Zahlen durchlauft.

1.7.A5. a) Sei a′ ∈ N minimal gewahlt, so dass c = aa′ + bb′ mit einem b′ ∈ Z ist. Dann gilta′ ≤ b− 1. Aus b′ < 0 wurde aa′ + bb′ < (a− 1)(b− 1) folgen.

b) Es ist d = a(b − 1) + b(−1). Jede Anderung, die den Faktor von b zu einer nichtnegativenZahl macht, erhoht ihn um ein positives Vielfaches von a, muss also den Faktor von a um einpositives Vielfaches von b vermindern, also negativ machen.

1.7.A11 b) Die angegebene Gleichung ist aquivalent zu 1 = mb + na. Dies siehst Du sofort,wenn Du weißt, wie man Bruche addiert!

2.3.A3. Zeige zunachst, dass die Summe je zweier verschiedener Matrizen der Form Ak gleichder dritten Matrix dieser Form ist. Dass sind 3 nahezu triviale Rechnungen. Ferner gilt naturlichAk + Ak = 0 und Ak + 0 = Ak. Also ist K gegenuber der Addition und auch gegenuber derBildung additiv Inverser abgeschlossen.

In Bezug auf die Multiplikation beachte, dass K∗, die Menge der von 0 verschiedenen Matrizen∈ K aus den Potenzen von A besteht. Es ist nur A4 = A usw. Es gilt Ak · Am = Ak+m, fernerAk ·0 = 0. Also ist K gegenuber Multiplikation und bis auf die 0 auch der Bildung multiplikativInverser abgeschlossen.

Mit 0 und E gehoren die neutralen Elemente auch zu K. Also ist K ein Schiefkorper. DieMultiplikation ist kommutativ, da Ak · Am = Ak+m = Am+k = Am · Ak gilt. Alles in allem istsomit K ein Korper.

Beachte, dass die grundlegenden Ringgesetze (Assoziativitat der Addition und Multiplikation,die Kommutativitat der Addition, die Distributivgesetze) deshalb gelten, da sie bereits in demRing M2(F2) erfullt sind.

2.3.A4. a) Jede der Zahlen 1, . . . , n kommt wegen (i) genau n-mal, also ungerade oft in derMatrix vor. Wegen (ii) kommt sie außerhalb der Diagonalen gerade oft vor, muss also auchmindestens einmal in der Diagonalen vorkommen. Da in der Diagonalen insgesamt n Zahlenund dabei jede der n Zahlen 1, . . . , n mindestens einmal steht, kann auch keine von ihnen mehrals einmal dort auftauchen.

b) Analog zu a) sieht man, dass jede der Zahlen 1, . . . , n in der ganzen Matrix gerade oft undauch außerhalb der Diagonale gerade oft auftaucht. Also muss sie auch in der Diagonale geradeoft auftauchen. Das geht aber nur wenn einige der Zahlen gar nicht, andere mindestens 2-maldort vorkommen.

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271

2.4.A2. a) Die Quadrate der Restklassen 0, 4 sind gleich 0, die der Restklassen 2, 6 sind gleich4 und die der Restklassen 1, 3, 5, 7 sind gleich 1 Insgesamt sind 0, 1, 4 alle Quadrate in Z/(8).

Beachte, dass das Element 1 in Z/(8) vier verschiedene ’Quadratwurzeln’ hat. Es gibt also 4Nullstellen des Polynoms x2 − 1 in diesem Ring. Die Regel, dass ein Polynom n-ten Gradeshochstens n Nullstellen hat gilt nicht fur Polynome mit Koeffizienten in einem beliebigen RingR. Sie gilt allerdings falls R nullteilerfrei und kommutativ, also z.B. ein Korper ist.

b) Da 1000 durch 8 teilbar ist, sind die Zahlen der Form ...011 zu 3, die der Form ...101 zu 5,die der Form ...110 zu 6 modulo 8 kongruent. Die Restklasse des Quadrates einer naturlichenZahl (nach einem Modul m) muss aber naturlich ein Quadrat in Z/(m) sein.

2.4.A3. Zerlege Z in die n Restklassen modulo n. In mindestens einer dieser Restklassen mussenmindestens 2 Zahlen der Menge M liegen. D.h. es gibt 2 Zahlen aus M , die konguent modulon sind, deren Differenz also durch n teilbar ist.

2.4.A4. Behauptung: Eine solche Fahne gibt es nicht. Begrundung: Die Anzahl der Sterne istm2

1 +m22 − k2. Die von 0 verschiedenen Quadrate in Z/(5) sind die Restklassen von 1 und −1.

Um die Behauptung zu beweisen, genugt es deshalb folgendes zu zeigen. In dem Ring Z/(5) isteine Summe von drei Summanden der Form ±1 nie 0.

Nun, seien k1, k2, k3 ∈ 1,−1. Sind alle ki untereinander gleich, so ist ihre Summe gleich ±3.Ist eine dieser Zahlen von den andern verschieden, so ist ihre Summe gleich ±1. Ihre Summeist nie durch 5 teilbar.

2.4.A5. a) Es gilt 10 ≡ 1 (mod 3) und 10 ≡ 1 (mod 9) , ferner 10 ≡ −1 (mod 11). DieBehauptungen folgen daraus unmittelbar.

c) Die Zahl n und ihre Spiegelzahl haben die gleiche Quersumme und die gleiche alternierendeSumme. Also sind sie kongruent sowohl modulo 9, als auch modulo 11. Ihre Differenz ist alsosowohl durch 9 wie durch 11 und somit durch 99 teilbar.

d) Schreibt man n mit gerade vielen Ziffern, so ist ihre Spiegelzahl meist nicht kongruent zun modulo 11, hat allerdings dieselbe Quersumme. Deshalb ist die angegebene Differenz zwarmeist nicht durch 11, aber noch durch 9 teilbar. Beispiel 63− 36 = 27.

e) Sei n die gewahlte Zahl, q ihre Quersumme. Da q ≤ 45 und n ≥ 10050 ist n − q auch5-Stellig. Ferner ist n − q durch 9 teilbar, da n ≡ q(mod 9) gilt. Die Restklasse modulo 9 derersten Ziffervon n − q ist durch die Summe der weiteren 4 Ziffern also eindeutig bestimmt.Da sie nicht 0 ist, ist die erste Ziffer als solche eindeutig bestimmt. Beispiel: n = 12345. DieQuersumme ist 15. Die Differenz somit n = 12330. Die Summe der letzten 4 Ziffern ist 8. Damitdie Quersumme von n durch 9 teilbar ist, muss die erste Ziffer 1 sein.

2.4.A6. Zur letzten Frage: Naturlich ist dies moglich, z.B., wenn man zwei Ziffern irrtumlichvertauscht. Statt der Neunerprobe kann man naturlich auch die analoge Elferprobe verwenden,wo eine Vertauschung zweier Nachbarziffern aufgedeckt wird.

2.4.A7. a) Teilbarkeit durch 2. Ist d gerade, so ist die gegebene Zahl genau dann durch 2 teilbar(d.h. gerade), wenn die letzte Ziffer es ist. Ist d ungerade, so ist die gegebene Zahl genau danndurch 2 teilbar, wenn die Quersumme es ist.

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272 ANHANG A. LOSUNGEN

b) Teilbarkeit durch 3. Ist d durch 3 teilbar, so ist die gegebene Zahl genau dann durch 3 teilbar,wenn die letzte Ziffer es ist. Ist d ≡ 1 (mod 3), so ist die gegebene Zahl genau dann durch 3teilbar, wenn ihre Quersumme es ist. Ist d ≡ −1 (mod 3), so ist die gegebene Zahl genau danndurch 3 teilbar, wenn ihre alternierende Quersumme es ist.

2.4.A8. Man stellt leicht fest, dass fur jede ganze Zahl n die Kongruenz n5 ≡ n (mod 10)gilt. Modulo 10 ist also das Ergebnis schlicht zur Summe aller ganzen Zahlen von 1 bis 101kongruent. Diese Summe ist 101 · 102/2 = 5151. Die gesuchte letzte Ziffer ist also die 1.

2.4.A.10.b Zerlege die absteigende Folge der ganzen Zahlen mn,mn−1, . . . , 1 in m absteigendeFolgen von je n ganzen Zahlen:mn,mn− 1, . . . ,mn− n+ 1 || (m− 1)n, . . . , (m− 1)n− n+ 1 || (m− 2)n, . . . , (m− 2)n− n+1 || . . . | 1 · n, . . . , 1 · n− n+ 1 .Fur k = 0, . . . ,m− 1 ist dann das Produkt der n Faktoren ((m− k)n) · · · ((m− k)(n− n+ 1))durch (m − k)n! teilbar. Fur das Produkt aller mn Zahlen mn, . . . , 1 bekommt man so diebehauptete Teilbarkeit.

2.4.A11. Ist m ungerade, so ist offenbar (m+12

mod m) zu (2 mod m) invers.

Nach Voraussetzung ist m 6≡ 0 (mod 3). Also ist m modulo 3 zu −1 oder zu 1 kongruent Imersten Fall ist (m+1

3mod m), im zweiten ist (−m−1

3mod m) zu (3 mod m) invers.

2.4.A12. b) Geburts- und Todesjahr von Carl Friedrich Gauss.

2.4.A13. Da die Restklassen von 9 und von 2 in Z/(17) invertierbar sind, sind die Kongruenzen(1) 3x+ 2y ≡ 0 (mod 17) und (1′) 9(3x+ 2y) ≡ 0 (mod 17) zueinander aquivalent. Dasselbegilt fur die Kongruenzen (2) 5x+ 9y ≡ 0 (mod 17) und (2′) 2(5x+ 9y) ≡ 0 (mod 17) Nun ist9(3x+2y) = 27x+18y und 2(5x+9y) = 10x+18y. Da 27 ≡ 10 (mod 17), sind die Kongruenzen(1′) und (2′) zueinander aquivalent und deshalb schließlich auch die Kongruenzen (1) und (2).

2.4.A14. (−5)3 = −125, (−5)4 = 625, (−5)5 = −3125 ≡ −125 (mod 1000). Du erkennst, dassab dem Exponenten 3 die Potenzen von −5 modulo 1000 sich mit der Periode 2 wiederholen.Sei n ≥ 3. Dann gilt fur ungerade n die Kongruenz (−5)n ≡ −125 ≡ 875 (mod 1000). Da 1995!gerade, also 1995! + 1 ungerade ist, hat die erstgenannte Potenz die letzten drei Ziffern 875.

2.4.A16. Die Eigenschaft kann man auch so schreiben: 7 · 13 ≡ 1 (mod p). Und das bedeu-tet, dass p ein Teiler von 7 · 13 − 1 = 90 ist. Die gesuchten Primzahlen sind also genau diePrimfaktoren von 90, d.h. 2, 3 und 5.

2.4.A17. a) Wir bezeichnen die Elemente von Z/3 mit −1, 0, 1. (M. a. W. wir schreiben −1fur (−1 mod 3) usw.) Dann ist:

A0 = E, A =

(1 11 0

), A2 =

(−1 11 1

)A3 =

(0 −1−1 1

)

A4 =

(−1 00 −1

), A5 =

(−1 −1−1 0

), A6 =

(1 −1−1 −1

),

A7 =

(1 11 0

), A8 = E = A0 .

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273

b) Die Abgeschlossenheit bezuglich der Multiplikation ist klar, da A0, . . . , A7 die samtlichenPotenzen mit ganzzahligem Exponenten von A sind. Auch jedes (multiplikativ) Inverse gehortdazu.

Um die Abgeschlossenheit bezuglich der Addition zu zeigen, berechne zunachst A0 − E,A1 −E, . . . , A7 −E, 0−E, und stelle fest, dass Du die Matrizen A0, . . . , A7, 0 in anderer Reihenfol-ge erhaltst. Wenn Du diese Differenzen also mit einer der Matrizen A1, . . . , A7 multiplizierst,erhaltst Du wieder alle diese Matrizen. Insgesamt gehoren samtliche Differenzen zweier derangegebenen Elemente wieder zu den Matrizen A0, . . . , A7, 0. Dann gehoren auch alle additivInversen und mit ihnen auch alle Summen dazu. (X + Y = X − (−Y ).)

2.5.A.1. Es genugt, den Fall n = 1 zu betrachten, also pm+1|xp − yp zu zeigen. Schreibexp − yp = (x − y)(xp−1 + xp−2y + · · · + yp−1). Modulo pm besteht der zweite Faktor aus pzueinander kongruenten Summanden, ist also, da m ≥ 1, durch p teilbar.

2.5.A2. Binomialsatz!

2.5.A3. a) Wenn a ungerade ist und a, n ≥ 2 gilt, so ist an + 1 > 2 und gerade, also keinePrimzahl. Ist n keine Zweierpotenz, so gibt es eine ungerade Zahl u > 2 mit n = 2m · u, alsoan +1 = bu +1 = 1− (−b)u, wobei b = a2m

ist. Wegen 1− (−b)u = (1− (−b))(1+(−b)+(−b)2 +· · · + (−b)u−1) (geometrische Reihe) ist 1 + bu durch 1 + b teilbar, also nicht prim. (Beachteb, u > 1, also 1 + bu > 1 + b.)

b) Nach der Formel der geometrischen Reihe ist an − 1 durch a− 1 teilbar. Wenn a > 2 ist, istdieser Teiler großer als 1, zudem wegen n ≥ 2 kleiner als an − 1. Wenn nun zwar a = 2, aber nnicht prim ist, gibt es k,m > 1 mit n = km. Dann ist an − 1 = bm − 1, wo b = 2k > 2 ist.

c) In a) und b) haben wir nur gezeigt:”Wenn an± 1 prim ist, dann gilt . . . .“ Die angegebenen

Beispiele besagen nur, dass die Umkehrungen von a) und b) nicht richtig sind!

2.5.A4. a) Denke Dir c in Primfaktoren zerlegt. Jeden solchen kann man gegen einen Primfaktorvon a oder b kurzen, da ja c ein Teiler von ab ist. Am Ende ist der Nenner 1, aber sowohl vona, als auch von b bleibt wegen c < a, c < b ein Teiler > 1 ubrig, so dass ab/c ein nichttrivialesProdukt ist.

b) Eine n-stellige Zahl aus lauter 1-en schreibt sich als geometrische Reihe wie folgt:∑n−1

k=0 10k =(10n − 1)/(10− 1). Ist n = rs, so gilt

10rs − 1 = (10r)s− 1 = (10r − 1)s−1∑k=0

10rk

Sind r, s > 1, so sind beide Faktoren großer als 9. Wende a) an.

c) Eine solche Zahl ist von folgender Form:

n∑k=0

100k =100n+1 − 1

100− 1=

(10n+1 − 1)(10n+1 + 1)

99

Wende (fur n > 1) Teil a) an.

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274 ANHANG A. LOSUNGEN

2.5.A5. Bekanntlich ist an−bn durch a−b teilbar: Wenn n ungerade ist gilt an+bn = an−(−b)n.Nun ist 148 = 4 · 37 und deshalb 2148 + 1 = 24·37 − (−1)37 = (24 − (−1)) ·

∑37k=0(2

4)37−k(−1)k.Also ist 24 + 1 = 17 ein Primfaktor.

2.5 A13. Ziehe aus der Ungleichung (m+ 1)m < mm+1 die m(m+ 1)-te Wurzel. So bekommstDu – da die Wurzel im positiven Bereich streng monoton wachsend ist – die Ungleichung

m+1√m+ 1 < m

√m fur m ≥ 3.

Daraus folgt (wenn Du willst, mit Induktion)

m+k√m+ k < m

√m fur m ≥ 3 und k ≥ 1.

2.5.A14. Beachte zunachst: Fur beliebige b, d ∈ N ist bd− 1 durch b− 1 auf Grund der Formelfur die geometrische Reihe teilbar.

Dann rechne:

am − 1 = aqn+r − 1 = ar(aqn − 1) + (ar − 1) = q′(an − 1) + (ar − 1), (mit einem geeignetenganzen q′, da nach obigem aqn − 1 durch an − 1) teilbar ist.

Da Du somit parallel zum euklidischen Algorithmus fur m,n (mit positiven Resten) den furam − 1, an − 1 durchfuhren kannst, folgt b) .

3.1 Zusatzbemerkung zu Beispiel 7. Jede reelle Zahl ist der Wert einer Reihe, die aus deralternierenden harmonischen Reihe durch Umordnung hervorgeht.Beweis: Die Reihe R der positiven Summanden hat den Wert ∞. Denn es gilt fur ihre m-tePartialsumme

1

2 · 0 + 1+

1

2 · 1 + 1+ · · ·+ 1

2m+ 1>

1

2

m−1∑k=1

1

k

Rechts steht die mit 12

multiplizierte (m− 1)-te Partialsumme der harmonischen Reihe, die mitm gegen ∞ geht. Ebenso leicht siehst Du, dass die Summe der negativen Summanden gegen−∞ geht.

Sei α ∈ R beliebig. Nimm ihrer Reihenfolge nach soviele positive Summanden wie gerade notigsind, damit ihre Summe S0 großer als α ist. Setze die gesuchte Reihe fort, indem Du ihrerReihenfolge nach soviele negative Summanden nimmst, dass fur ihre Summe S1 so gerade dieUngleichung S0 + S1 < α gilt. Jetzt nimm wieder ihrer Reihenfolge nach so viele positiveSummanden, dass fur ihre Summe S2 die Ungleichung S0 + S1 + S2 > α gilt. Usw.

4.1.A.1. a) Es ist #(A∪B) = a+b−d = #A+#B−#(A∩B). Denn wenn man die Elementevon A zahlt, zahlt man genau d Elemente von B bereits mit.

b) Betrachte A1 ∪ A2 ∪ A3 als Vereinigung der beiden Mengen A3 und A1 ∪ A2. Nach Teil a)gilt #(A1 ∪ A2) ∪ A3) = #(A1 ∪ A2) + a3 −#((A1 ∪ A2) ∩ A3).

Nun ist (A1∪A2)∩A3) = (A1∩A3)∪ (A2∩A3). Jetzt wende auf die beiden Summenden in derrechten Seite der letzten Gleichung beides Mal a) an: Du erhaltst #(A1 ∪A2) = a1 + a2 − a12,sowie #(A1 ∩ A3) ∪ (A2 ∩ A3) = a13 + a23 − a123 und damit die Behauptung.

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275

c) Wir gehen analog zur Losung von b) vor und benutzen Induktion nach n, wobei der Falln = 1 trivial ist. (Du kannst auch mit dem unter a) behandelten Fall n = 2 beginnen.)

Fur den Induktionsschritt (n → n + 1) wende a) auf die Vereinigung der beiden MengenA1 ∪ . . . ∪ An und An+1 an. Demgemaß ist

(∗) #(A1 ∪ . . . ∪ An+1) = #(A1 ∪ . . . ∪ An) + an+1 −#((A1 ∪ . . . ∪ An) ∩ An+1)

Es gilt (A1 ∪ . . . ∪ An) ∩ An+1 = (A1 ∩ An+1) ∪ . . . ∪ (An ∩ An+1). Nun wende die Indukti-onsvoraussetzung auf den ersten und dritten Summanden obiger Gleichheit d.h. auf die beidenVereinigungen von je n Mengen

⋃ni=1Ai und

⋃ni=1(Ai ∩ An+1) an. Du erhaltst

#(A1 ∪ . . . ∪ An) =∑

∅6=J⊂1,...,n

(−1)#J+1aJ , sowie

−#((A1 ∩ An+1) ∪ . . . ∪ (An ∩ An)) =∑

∅6=J⊂1,...,n

(−1)#J ·#(AJ ∩ An+1).

Beachte dass jede nichtleere Teilmenge I ⊂ 1, . . . , n + 1 entweder bereits eine nichtleereTeilmenge von 1, . . . , n oder eine Menge der Form J ∪ n + 1mit J ⊂ 1, . . . , n ist, wobeiin letzterem Fall auch J = ∅ zugelassen ist.

Der erste Summand auf der rechten Seite von (∗) behandelt die Teilmengen von 1, . . . , n,der zweite Summand, namlich an+1 , die Menge ∅ ∪ n + 1 = n + 1, der dritte Summandschließlich die Mengen J ∪ n + 1 mit ∅ 6= J ⊂ 1, . . . , n, und zwar auch mit dem richtigenVorzeichen, nicht wahr?

4.1.A2. a) A = 2N := 2k | k ∈ N, B := N − A. Da hier X = Y = ∅ gilt, sind X, Y beideendlich.

b) A := 2N, B := 3N := 3k | k ∈ N. Es gibt ja unendlich viele Vielfache von 6. Und diese sind(genau) die Vielfachen von sowohl 2 wie 3. Andererseits gibt es unendlich viele ganze Zahlen,die weder durch 2 noch durch 3 teilbar sind, z.B. alle Potenzen von 5.

c) A := 2n |n ∈ N, B := 3n | n ∈ N. X = A ∩B := 1, Y ⊃ 5n | n ∈ N1

d) A = B := N. Naturlich gibt es auch weniger triviale Beispiele.

4.1.A3 Bezeichne die Elemente von F2 mit 0, 1. Erinnere Dich, dass in F2 folgendes gilt:0 + 0 = 1 + 1 = 0, 0 + 1 = 1 + 0 = 1, − 1 = 1. Eine Summe von gerade vielen 1-en ist 0.

Das n-tupel (1, . . . , 1) sei mit e bezeichnet. Jedem v ∈ V ordne das n-tupel e + v = e − v zu.Die Komponenten von e+ v sind genau an den Stellen gleich 1, wo die von v gleich 0 sind. Esgilt v + (e + v) = e und v 6= e + v. Man kann die Menge V in 2-elementige Teilmengen derForm v, e + v zerlegen. Von diesen gibt es #(V )/2 = 2n−1 Stuck. Da v + (e + v) = e ist, istdie Summe uber alle Elemente von V gleich der Summe von 2n−1 Summanden, die alle gleiche sind. Da fur n ≥ 2 die Zahl 2n−1 gerade ist, ist diese Summe gleich (0, . . . , 0).

4.2.A1 a) Ware f nicht injektiv, so gabe es verschiedene x, x′ ∈M mit f(x) = f(x′). Dann istauch g(f(x)) = g(f(x′)).

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276 ANHANG A. LOSUNGEN

b) Sei z ∈ P . Da gf surjektiv ist, gibt es ein x ∈ M mit g(f(x)) = gf(x) = z. Fur y = f(x)gilt dann g(y) = z.

c) 1. M = P := 0, N := 0, 1, f(0) = 0, g(0) = g(1) = 0.2. M = N = P := N. f(n) := n+ 1, g(0) := 0, g(n) := n− 1 fur n ≥ 1.

4.2.A2 a) Sei y ∈ N . Da f surjektiv ist, gibt es mindestens ein x ∈ M mit f(x) = y. Setzeg(y) := x fur ein solches ausgewahltes x. Da fur ein solches x ja gilt, dass f(x) = y ist, istf g(y) = y fur jedes y ∈ N .

Weil idM injektiv ist, muss nach Aufgabe 1. auch f es sein, wenn gf = idM gilt.

b) Sei x0 ∈ M fest gewahlt. Sei y ∈ N . Liegt y nicht im Bild von f , d.h. y /∈ im(f), setzeg(y) := x0. Ist aber y ∈ im(f), so gibt es ein (aber auch nur ein) x ∈ M mit f(x) = y. Dannsetze g(y) = x.

Ist f g = idN , so ist f surjektiv.

4.2.A3 a) Antwort: nm. Die Menge der Abbildungen von M nach N wird deshalb manchmalauch mit NM bezeichnet. (Beachte: Der Exponent ist die Startmenge, die Basis die Zielmenge.

b) Ist m > n, so gibt es keine solche Abbildungen. Ansonsten nimm M = 1, 2, . . . ,m an. Umeine beliebige injektive Abbildung zu beschreiben, hat man als Bild der 1 noch n Moglichkeiten,als Bild der 2 noch n−1 solche, usw. usw., als Bild der m nur noch n−m+1 solche. Insgesamtgibt es n · (n− 1) · · · (n−m+ 1) = n!/(n−m)! injektive Abbildungen, wobei die rechte Seitedieser Identitat im Fall m > n nicht definiert ist, da k! fur negative ganze Zahlen nicht sinnvolldefiniert werden kann. Die linke Seite gibt allerdings auch in diesem Fall die richtige Antwort,da dann einer der Faktoren gleich 0 ist.

c) Bijektive Abbildungen M → N gibt es genau dann, wenn m = n ist. Gemaß b) gibt esn! solche. Vielleicht hast du fruher schon gezeigt, dass man eine n-elementige Menge auf n!verschiedene Weise anordnen kann. Dann kannst Du die Antwort auch folgendermaßen be-grunden: Jede bijektive Abbildung f : 1, 2, . . . , n → N liefert eine Anordnung vom M ,namlich (f(1), f(2), . . . , f(n)). Umgekehrt liefert eine solche Anordnung eine bijektive Abbil-dung.

d) Eine Abbildung M → N ist genau dann surjektiv, wenn ihr Bild in keiner der TeilmengenNx := N − x mit einem x ∈ N liegt. Die Anzahl aller Abbildungen M → N ist nm. Ist Ax

die Menge aller Abbildungen M → N , deren Bild in Nx liegt, so ist die Anzahl aller surjektiven

Abbildungen gleich nm − #⋃x∈N

Ax . Die Zahl #⋃

x∈N Ax kannst Du mit dem Prinzip der

Inklusion-Exklusion berechnen. Ist namlich J ⊂ N und AJ :=⋂x∈J

Ax, so ist AJ offenbar die

Menge der Abbildungen M → N , deren Bild in NJ :=⋂x∈J

Nx liegt. (Denn eine Abbildung,

deren Bild in U1 ∩ . . . ∩ Uk liegt, ist eine solche, der Bild sowohl in U1, als auch in U2, als auchusw., als auch in Uk liegt. Die entsprechende Aussage fur die Vereinigung gilt nicht: Das Bildeiner Abbildung, deren Bild in U ∪ V liegt, liegt nicht immer ganz in U oder ganz in V .)

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277

Nun besteht NJ aus n−#J Elementen. Ferner gibt es fur jedes k ≤ n genau

(n

k

)Teilmengen

aus k Elementen von N .

Die Anzahl der surjektiven Abildungen M → N ist also

nm−(n

1

)(n−1)m +

(n

2

)(n−2)m−

(n

3

)(n−3)m + . . .±

(n

n− 1

)1m =

n−1∑k=0

(−1)k

(n

k

)(n−k)m

4.4.A4 Ich gebe nur das multiplikativ Inverse von a+ b√

2 an, wenn a, b nicht beide 0 sind.

1

a+ b√

2=a− b

√2

a2 − 2b2=

a

a2 − 2b2+

−ba2 − 2b2

·√

2

Beachte, dass a2 − 2b2 fur rationale a, b nur dann zu 0 werden kann, wenn a = b = 0 ist.

4.5.A1 a) Ordne einer solchen Folge die Folge der Abstande zwischen den Nullen zu. Der nullteAbstand soll dabei die Anzahl der 1en sein, mit denen die Folge beginnt. Die Menge A ist alsogleichmachtig zur Menge aller Folgen naturlicher Zahlen (bei denen alle Folgenglieder nach derersten ≥ 1 sind), also uberabzahlbar.

b) Eine der betrachteten Folgen ist die konstante Folge (1, 1, 1, . . .), alle anderen brechen indem Sinne ab, das ab einer Stelle nur noch Nullen stehen. Die Menge ist abzahlbar.

4.5.A2 Sei a = (an)n∈N eine 0-1-Folge. Definiere hierzu eine Menge M = ϕ(a) durch: n ∈M ⇐⇒ an = 1.

4.5.A3 Zu jeder endlichen Teilmenge E von N gibt es ein n ∈ N, derart dass E eine Teilmengeder Menge Mn := 0, . . . , n ist. Jedes Mn hat aber nur endlich viele Teilmengen. Die Mengealler endlichen Teilmengen von N ist also die abzahlbare Vereinigung der endlichen Mengen(Mn), also abzahlbar. (Auf diese Weise zahlt man allerdings jede endliche Menge unendlich oft.Willst Du dies vermeiden, betrachte außer der leeren Menge von jeder Menge Mn nur diejenigenTeilmengen, die das Element n enthalten.)

Es gibt noch eine weitere Moglichkeit: Fur jedes n gibt es nur abzahlbar viele Teilmengen derKardinalzahl n.

4.5.A6. Ebenso, wie man jede reelle Zahl als (moglicherweise unendlichen) Dezimalbruch schrei-ben kann, so so kann man ihn auch als Binarbruch schreiben. Deshalb ist die angegebene Ab-bildung surjektiv. Sie ist aber nicht injektiv, da z.B. 0,1 = 0,01 ist.

5.3. Die Verbindungsstrecke der Punkte (0, 0) und (m,n) besteht aus den Punkten λ(m,n)mit λ ∈ [0, 1], wobei = 0 und λ = 1 die Endpunkte dieser Strecke ergeben. Fur ein λ ∈ ]0, 1[sind offenbar λm und λn genau dann beide aus Z, wenn λ rational ist und sich in der Form k

d

schreiben lasst, wo d ∈ N ein gemeinsamer Teiler von m und n und 0 < k < d gilt. Die Antwortist also: Genau dann, wenn ggT(m,n) = 1 ist, gibt es außer den Endpunkten keinen Punkt mitganzen Koeffizienten auf der Verbindungstrecke von (0, 0) nsch (m,n).

Seien jetzt m,n teilerfremd zueinander, so gibt es ganze Zahlen a, b mit am+bn = 1. Waren nunλ ∈ ]0, 1[ und λm, λn ∈ Z, so ware a(m) + b(λn) = λ einerseits ganz, andererseits nicht ganz.

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278 ANHANG A. LOSUNGEN

Also gibt es in diesem Fall keinen Punkt mit ganzen Koordinaten auf der Verbindungsstrecke,außer den Endpunkten.

6.4. Der Satz des Pythagoras, angewendet auf drei Dreiecke besagt:

(s+ t)2 = a2 + b2, a2 = t2 + h2, b2 = s2 + h2

Folgere aus diesen Gleichungen

s2 + 2st+ t2 = t2 + h2 + s2 + h2, also st = h2.

Rechne schließlichsc = s2 + st = s2 + h2 = b2.

7.5.A1. a),b) sind bekannt oder trivial.

c) f(x) = a2x2 + a1x+ a0, f ′(x) = 2a2x+ a1, f ′′(x) = 2a2

f ist konvex, wenn a2 > 0, bzw. konkav, wenn a2 < 0 ist.

Sei jetzt etwa a2 > 0. Dann ist f ′(x) < 0, falls f ′(x) < 0, d.h. x < − a1

2a2

gilt. Fur x > − a1

2a2

ist

f ′(x) > 0. Also ist f im Intervall

]−∞,− a1

2a2

]streng monoton fallend, in

[− a1

2a2

,∞[

streng

monoton wachsend. Im Punkt x0 = − a1

2a2

liegt ein Minimum vor.

d) f ′(x) = 3a3x2 + 2a2x+ a1.

7.5.A2 a) Da der Nenner auf dem Intervall ]− 1, 1] keine Nullstelle hat, ist die Funktion dortdefiniert. Ferner sind Zahler und Nenner, also auch f(x) auf diesem Intervall uberall ≥ 0. Esist f ′(x) = −2

(1+x)2< 0 fur alle x ∈ ]− 1, 1]. Deshalb ist f(x) auf dem Intervall streng monoton

fallend und somit injektiv. Schließlich ist f(1) = 0 und limx−1

f(x) = ∞. Darum werden alle

Zahlen aus + als Wert angenommen.

b) Analog.

7.5.A5. a) Da f(x) = (x2− 1)x3 ist, lassen sich die Nullstellen leicht bestimmen. Dasselbe giltfur die Nullstellen der ersten und zweiten Ableitung. Die Diskussion des Funktionsgraphen istalso leicht.

b) Die Nullstellen der Funktion liegen dort, wo x3 = 3√x. Da die 3-te Potenz streng monoton

wachst und deshalb eine injektive Funktion ist, ist diese Gleichung aquivalent zu x9 = x. DieNullstellen der Funktion x3 + 3

√x sind also ±1 und 0.

Die Ableitung 3x2 − 13x−2/3 ist in 0 nicht definiert, sonst uberall. Falls |x| klein genug, ist sie

negativ und geht von beiden Seiten mit x gegen 0 gegen −∞. Der Funktionsgraph hat in 0die Gerade x = 0 als Tangente. Die Nullstellen der Ableitungsind ±1/ 4

√3. Bei −1/ 4

√3 liegt ein

lokales Maximum, bei 1/ 4√

3 ein lokales Minimum vor.

c) Die Funktion h ist in 0 nicht definiert. von ‘links’ geht sie dort gegen −∞, von ‘rechts’ gegen∞. Denn der zweite Summand tut dies, wahrend der erste dort von beiden Seiten gegen 0 geht.

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279

(Wenn man den ersten Summand durch irgendeine in 0 definierte und dort stetige Funktionersetzt, gilt dasselbe.)

Eine Nullstelle von h ist −1. Wir werden bald sehen, dass es die einzige ist. Zumindest in R∗+

hat h keine Nullstelle, da dort beide Summanden positiv sind.

Die Ableitung ist h′(x) = 23x−1/3 − x−2. Fur alle x < 0 ist h′(x) < 0, nicht wahr? (x−2 > 0

fur alle x 6= 0.) Deshalb ist h im Bereich der negativen Zahlen streng monoton fallend. DieFunktion h hat also nur die Nullstelle −1 .

Jetzt bestimme ich das Verhalten der Ableitung in R∗+. Sei R eine der Relationen <, >, =.

Fur x > 0 gilt dann

h′(x) R 0 ⇐⇒ 2

3x−1/3 R x−2 ⇐⇒ x5/3 R

3

2.

Da x5/3 eine streng monoton wachsende Funktion ist, sehen wir, dass h′(x) < 0 fur 0 < x <5√

27/8, und h′(x) = 0 fur x = 5√

27/8 und schließlich h′(x) > 0 fur x > 5√

27/8 ist.

In 5√

27/8 ≈ 1,275 liegt also ein lokales Minimum vor.

7.5.A7. Da f(0) = 0 ist sieht ein allgemeiner Differenzenquotienten im Punkte 0 wie folgt aus:

|x|/(ln |x|)x

= ± 1

ln |x|

Da limx→0 ln |x| = −∞ ist gilt limx→0±1/(ln |x|) = 0.

7.6.A2. Ist x ≤ 0, so ist 2x ≤ 1, also 2x 6= 3. Sei also im Folgenden x > 0. Die einzige Losungder ersten Gleichung ist

√3. Da 22 > 3 und die Wurzelfunktion streng monoton wachsend

ist, gilt√

3 < 2. Da außerdem e = 1 + 1 + 1/2 + · · · ist, gilt 2 < e. Satz 7.6.4 ergibt somit

2√

3 <√

32

= 3.

Dass√

3 irrational ist, wirst Du bereits wissen. Nimm an, es gabe naturliche Zahlen m,nmit n 6= 0 und 2m/n = 3, so ware 2m = 3n, was der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegungwidersprache.

7.6.A3 −117.

7.6.A4. Nach Satz 7.6.4 ist die zweite der Zahlen goßer.

7.6.A.5 a) Es ist 23 < 32. Die 6. Wurzelfunktion ist streng monoton wachsend. Also

6√

23 <6√

32 , d.h.√

2 <3√

3

b) Wegen n ≥ 3 > e ist nn+1 > (n + 1)n. Durch Ziehen der n(n + 1)-ten Wurzel siehst Dun√n > n+1

√n+ 1. Es ist also so: Wenn man die Zahlen n

√n miteinander vergleicht, so wachsen

sie von 1 bis 3, danach fallen sie.

c) Es ist ln( n√n) = ln(n)/n. Aus (7.6.2 iv.) folgt limn→∞ ln( n

√n) = 0, also limn→∞

n√n = 1

7.6.A6. Da e > 2, gilt 0 < 3√

2 <√

2 < e. Aus Satz 7.6.4 folgt, dass die erste Zahl großer ist.

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280 ANHANG A. LOSUNGEN

7.6.A8. Haufig ist es bei einem Induktionsbeweis einfacher, eine starkere Aussage zu beweisen.(Diese steht ja auch in der Induktionsvoraussetzung.) So auch hier. Zeige

n+1a ≥ a · nb

Induktionsanfang: 2a ≥ a · 1b. Sei jetzt bereits n+1a ≥ a · nb gezeigt, so gilt:

n+2a = a(n+1a) ≥ aa·nb ≥ a · (a(a−1))nb = a · n+1b .

7.6.A10. Da (xx)x = xx2gilt, kann man die Gleichung auch in der Form xxx

= xx2schreiben.

Offenbar ist x = 1 eine Losung. Ist x > 0 und x 6= 1 so gilt xa = xb genau dann, wenn a = bist. Aus xxx

= xx2folgt dann, dass (fur positive x 6= 1) die Gleichung xx = x2, dass also aus

demselben Grunde x = 2 gelten muss. Umgekehrt erfullt x = 2 die Gleichung.

7.6.A11. a) Es ist 2111111 = 2 · 2111110, also 2111111− 2111110 = 2111110. Die einzige reelle Losungder Gleichung ist also x = 111110.

b) Es gilt 512 = 29. Dividiere die Gleichung durch die echte Seite. Dann ergibt sich

2x2

29x+252= 1 d.h. 2x2−9x−252 = 1

Letztere Gleichung ist genau dann erfullt, wenn x2 − 9x− 252 = 0 gilt.

8.1.A1. Die Menge der Polynome der genannten Art bezeichnen wir mit S (’symmetrisch’).Jedenfalls ist −1 eine gemeinsame Nullstelle derPolynome aus S. Wir zeigen, dass keine weiterekomplexe Zahl Nullstelle aller Polynome aus S ist, indem wir zwei Polynome aus S angeben, dielediglich die Nullstelle −1 gemeinsam haben. Das Polynom zn + 1 gehort zu S. Da n ungeradeist, hat es die mit einem Minuszeichen versehenen n-ten Einheitswurzeln als Nullstellen, d.h. dieZahlen −1,−ζ,−ζ2, . . . , ,−ζn−1, wo ζ = cos(2π/n) + i sin(2π/n) ist. Das Polynom ϕ = zn−1 +zn−2 + · · ·+z+1 hat die von 1 verschiedenen n-ten Einheitswurzeln als Nullstellen. (z+1) ·ϕ =zn + 2zn−1 + 2zn−2 + · · ·+ 2z + 1 gehort auch zu S und hat neben −1 die von 1 verschiedenenn-ten Einheitswurzeln als Nullstellen. Das additiv Inverse einer n-ten Einheitswurzel ist aberbei ungeradem n nie eine n-te Einheitswurzel! (Fur ungerades n ist (−a)n = −(an).) Die beidenzu S gehorenden Polynome (z + 1)ϕ und zn + 1, haben außer −1 keine gemeinsame Nullstelle.

8.1.A2. Wir wissen aus der Losung der Aufgabe 1) dass f = (z+1)(z2 + z+1) gilt. Also hat feinerseits die Nullstelle −1, andererseits die von 1 verschiedenen dritten Einheitswurzeln ζ, ζ2

mit ζ = cos(2π/3)+ i sin(2π/3) = (1+ i√

3)/2. Das Polynom g hat, wie man nachrechnet, nichtdie Nullstelle −1. Hingegen hat g die Nullstellen ζ und ζ2. Sei namlich ξ eine der beiden Zahlenζ, ζ2. Dann ist ξ3 = 1, also ξ3k+m = ξm. Ferner gilt ξ2 + ξ + 1 = 0. Es folgt ξ2015 + ξ121 + 1 =ξ2 + ξ1 + 1 = 0.

9.1 A1. Man sagt, ein Gruppenelement a habe die Ordnung 2, wenn a2 = 1, aber a 6= 1 gilt.Ein Element a 6= 1 hat genau dann die Ordnung 2, wenn a = a−1 ist. Die Elemente a mita 6= a−1 kann man zu Paaren zueinander Inverser zusammenfassen. Jedes solche Paar hat dasProdukt 1. Das Produkt aller Gruppenelemente ist also gleich dem Produkt der Elemente derOrdnung 2, sofern man das leere Produkt gleich 1 setzt. Wenn es ein einziges Element der

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281

Ordnung 2 gibt, ist also dieses das Produkt aller Elemente der Gruppe. (Man kann zeigen, dassdas Produkt aller Elemente einer endlichen abelschen Gruppe gleich 1 ist, wenn es mehrereElemente der Ordnung 2 gibt.)

9.1.A2. Die Gleichung x2 = 1 ist aquivalent zur Gleichung (x + 1)(x − 1) = 0. Und in einemKorper ist ein Produkt genau dann gleich 0, wenn einer der Faktoren es ist. (Beachte, dass diezu beweisende Behauptung fur den Ring Z/(pq) mit zwei verschiedenen Primzahlen p, q > 2falsch ist. Dies kann man mit Hilfe des chinesischen Restsatzes, der weiter unten bewiesen wirdleicht sehen. Zeige es fur pq = 15.)

9.1.A3. Die Restklasse von (p − 1)! ist das Produkt aller Elemente von (Z/(p))∗, also gleichder Restklasse von −1, der einzigen, die in der Gruppe (Z/(p))∗ fur p 6= 2 die Ordnung 2 hat.Fur p = 2 ist die Aussage trivial, da 1 ≡ −1 (mod 2) ist.

9.1.A4 (4−1)! = 6 ≡ 2(mod 4). Sei m > 4. Fall 1. m = p2 mit einer Primzahl p > 2. Dann giltp, 2p ≤ m−1. Also ist (m−1)! durch p ·2p teilbar, mithin ≡ 0 (mod p2). Fall 2. m > 2 ist wedereine Primzahl, noch das Quadrat einer Primzahl. Dann ist m das Produkt zweier verschiedenernaturlicher Zahlen > 1, die kleiner als m sind. Also ist (m− 1)! ≡ 0 (mod m).

9.1.A5. Ist p eine Primzahl, so ist nach Wilson (p−1)!+1 durch p teilbar. Da 101 eine Primzahlist, ist demnach 100! + 1 durch 101 teilbar. Ferner ist 100! + 1 (viel) großer als 101, da bereits5! > 101 gilt. Also besitzt 100! + 1 einen nichttrivialen Teiler und ist deshalb nicht prim.

9.1.A6. Alle p Restklassen modulo p kann man ja in der Form k + pZ schreiben, wobei k dieZahlen 0, 1, . . . , p−1 durchlauft. Setze nun m = (p−1)/2. (Nach Voraussetzung ist p ungerade,also m ∈ N.) Du erhaltst jede Restklasse k+pZ modulo p genau einmal, wenn Du k die Zahlen−m, . . . ,−1, 0, 1, . . . ,m durchlaufen lasst. (Beispiel p = 5. Hier erhalt man alle Restklassen inder Form −2 + 5Z,−1 + 5Z, 5Z, 1 + 5Z, 2 + 5Z.) Modulo p ist dann −1 ≡ (p − 1)! kongruentdem Produkt der Zahlen −m, . . . ,−1, 1, . . . ,m. Also ist −1 ≡ (−1)m(m!)2 (mod p). Nun istm = (p − 1)/2 genau dann gerade, wenn p ≡ 1 (mod 4) ist. Deshalb ist dann die Restklassevon −1 ein Quadrat.

9.1.A7 Die Matrizen der Form

(a −bb a

)sind invertierbar, genau dann, wenn ihre Determi-

nannte a2 + b2 6= 0 ist. Diese bilden eine Untergruppe G ⊂ Gl2(k). Die Determinante gibt unseine surjektive Abbildung f von G auf die Menge der von 0 verschiedenen Elemente der Forma2 +b2 in K, welche f(AB) = f(A)f(B) erfullt. Das Bild von f ist dann naturlich eine Gruppe.

9.1.A8. Die Abbildung exp : R→ R∗+ ist ein Isomorfismus.

9.1.A9. Angenommen, es gabe einen Isomorfismus: f : Q→ Q∗+. Sei dann α ∈ Q ein Element

mit f(α) = 2. Dann hat α/2 die Eigenschaft f(α/2)2 = f((α/2) + (α/2)) = f(α) = 2. D.h.das Element β = f(α/2) ∈ Q hatte die Eigenschaft β2 = 2. Ein Widerspruch, da ein solches βnicht rational sein kann.

9.1.A10. Als ich zum ersten Mal auf diese Aufgabe stieß, habe ich die Assoziativitat muhevolldurch unmittelbares Rechnen mit Mengen gemaß der Definition hergeleitet. Erst spater habeich erkannt, dass es viel sinnvoller ist, zunachst die Teilmengen E von M durch ihre charak-teristischen Funktionen χE : M → F2 zu beschreiben. Die charakteristische Funktion χE ist

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282 ANHANG A. LOSUNGEN

durch χE(x) = 1 ⇐⇒ x ∈ E definiert. Dann entspricht der symmetrischen Differenz namlichdie Summe dieser Funktionen.

9.1.A11. Nach Voraussetzung gilt fur a, b ∈ G sowohl a2b2 = 1, als auch abab = (ab)2 = 1.Multipliziert man die Gleichung aabb = abab von links mit a−1 und von rechts mit b−1, so erhaltman ab = ba.

Alternativ: a2 = 1 ist gleichbedeutend mit a = a−1. Somit gilt ab = a−1b−1 = (ba)−1 = ba.

Beachte: Es Ist durchaus moglich, dass a2 = b2 = 1 und trotzdem ab 6= ba ist. Sei etwaa = σ1, b = σ2 in der S3. Fur den Beweis der Behauptung in der Aufgabe muss man ja zusatzlich(ab)2 = 1 benutzen.

9.1.A13 Betrachte die Elemente(10

),

(01

),

(11

)∈ F2

2

Wenn man sie von links mit den Matrizen aus Gl2(F2) multipliziert so vertauscht man sie – ingenau der Weise, wie die Elemente von S3 die Zahlen 1,2,3 vertauschen.

9.2.A4 c) Da p eine von q verschiedene Primzahl ist, ist p nicht durch q teilbar, also nachFermat pq−1 ≡ 1 (mod q). Es folgt (q−1)pq−1 +1 ≡ q−1+1 (mod q). Also ist (q−1) ·pq−1 +1durch q teilbar und großer als q.

b) und a) folgen aus c). Was a) betrifft wirst Du naturlich ohnehin sofort sehen, dass 10·210+1 =10241 nach dem bekannten Kriterium durch 11 teilbar ist.

9.2.A5 Die Ordnung eines jeden Elements einer Gruppe G der Ordnung 4 ist 1,2 oder 4.

1. Fall: Es gibt in G ein Element der Ordnung 4. Dessen Potenzen machen dann ganz G aus,d.h. G ist zyklisch. Je zwei zyklische Gruppen derselben Ordnung sind naturlich isomorf.

2. Fall: Jedes von 1 verschiedene Elements von G hat die Ordnung 2. Dann ist G abelsch nachder Aufgabe 1.A11. Seien 1, a, b, c mit dem neutralen Element 1 die (verschiedenen) Elementevon G. Die Produkte 1a = a, 1b = b, 1c = c, a2 = b2 = c2 = 1 sind bekannt. Was ist ab? Wareab = 1, so ware b = a−1 = a im Widerspruch zu b 6= a. Ware ab = a, ergabe die Multiplikationmit a−1 = a die Gleichung b = 1. Ebenso wurde ab = b zu a = 1 fuhren. Als einzige Moglichkeitbleibt ab = c. Ebenso muss bc = a und ca = b gelten. Die Produkte ergeben sich zwangslaufig.

Das bedeutet: In einer nichtzyklischen Gruppe der Ordnung 4 gilt, dass das Produkt zweier ver-schiedener von 1 verschiedenen Elemente das dritte unter denselben ist. Je zwei nichtzyklischeGruppen der Ordnung 4 sind also zueinander isomorf.

Aber, dass es eine solche uberhaupt gibt, wissen wir schon, namlich die Gruppe der folgenden4 Matrizen uber Q:

1 =

(1 00 1

), a =

(−1 00 1

), b =

(1 00 −1

), c =

(−1 00 −1

).

Und diese ist naturlich auch isomorf zum direkten Produkt (Z/(2))× (Z/(2)).

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283

9.3.A1. Wenn U kein Normalteiler ist, dann gibt es ein a ∈ G mit aU 6= Ua. Das bedeutet,dass es ein u ∈ U mit au /∈ Ua oder ua /∈ aU gibt. (Beachte, dass Ua ( aU nicht automatischausgeschlossen ist und man deshalb beide genannten Moglichkeiten in Betracht ziehen muss.)

1. Fall: Setze b := au; dann ist bU = aU , aber Ub 6⊂ Ua, also Ub 6= Ua.

2. Fall: Ersetze a durch a−1 und u durch u−1. Dann gilt a−1u−1 /∈ Ua−1. Nach Fall 1 ist danna−1U = (a−1u−1)U , aber Ua−1 6= Ua−1u−1.

9.3.A2. Sei aU = bU . Fur jedes u ∈ U gibt es dann ein v ∈ U mit au = bv. Daraus folgtu−1a−1 = (au)−1 = (bv)−1 = v−1b−1. Somit liegen a−1 und b−1 in derselben Rechtsnebenklassenach U , d.h. Ua−1 = Ub−1.

9.3.A3. Wie Du weißt, ist G die disjunkte Vereinigung der beiden Linksnebenklassen nach U .Eine der beiden Linksnebenklassen ist U , die andere deshalb G−U . Dasselbe gilt fur die beidenRechtsnebenklassen.

Es gilt also aU = U oder aU = G− U , und ebenso Ua = U oder Ua = G− U , je nachdem, oba ∈ U oder a ∈ G− U ist. In jedem Falle ist also aU = Ua.

9.3.A6. Sei f ′1 : (Z/(2))m → U ein Gruppenisomorfismus. Ihn kann man auch als (injektiven)Gruppenhomomorfismus f1 : (Z/(2))m → G auffassen. (Es wird nur die Zielmenge vergroßert.Ansonsten ist f1(x) = f ′1(x).)

Ware nun U 6= H, so gabe es ein c ∈ H − U . Da nach Voraussetzung c2 = 1 ist, ist 1, ceine zu Z/(2) = 0, 1 isomorfe Untergruppe von H. Die Abbildung f2 : Z/(2) → H, definiertdurch f2(0) = 0H , f2(1) = c, ist ein Homomorfismus nach der vorangehenden Aufgabe. Dieserist immer noch injektiv. Dazu genugt es, zu zeigen, dass der Kern von F nicht nur aus der 0besteht. Nun sei F (a, b) = 0. Dann gilt f2(b) = −f1(a) ∈ U . Da aber f2(1) = c /∈ U gewahltwar, ist b = 0. Dann muss auch

9.3.A7. Modulo 1000 gilt: 1998 ≡ −2. Es ist 1000 = 8 · 125. Wenn also N := 19981998! je eineKongruenz modulo 8 und modulo 125 erfullt, kannst Du nach dem chinesischen Restsatz eineKongruenz modulo 1000 angeben und damit die letzten 3 Ziffern bestimmen. Es gilt (−2)m ≡0 (mod 8 fur m ≥ 3, und deshalb ist N ≡ 0 (mod 8. Da −2 zu 125 teilerfremd und ϕ(125) = 100ist, gilt (−2)k·100 ≡ (1 mod 125). Da einerseits 1998! ≥ 3, andererseits 1998! durch 100 teilbar ist,giltN ≡ 0 (mod 8) undN ≡ 1 (mod 125). Die Zahl 376 erfullt die Kongruenzen 376 ≡ 0 (mod 8)und 376 ≡ 1 (mod 125). Deshalb ist nach der Eindeutigkeitsaussag des chinesischen RestsatzesN ≡ 376 (mod 1000). D.h. die letzten 3 Ziffern von N sind 376.