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Das dunkle Reich

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Thorin Band 4

Das dunkle Reich von Al Wallon

Der Tod lauert in den Katakomben - Thorins Weg durch eine finstere Welt

Samara, die einst so stolze Wüstenstadt, brennt lichterloh. König Keron und Fürst Dion, die beiden Herrscher, sind in der grausamen Schlacht gefallen. Furchterregende Echsenkrieger sind urplötzlich aufgetaucht und richten ein Blutbad unter den Soldaten beider Völker an. Das Heer aus Kh'an Sor, das mit Thorins Hilfe in die Stadt eindringen und dann die Tore öffnen konnte, steht nun einem Gegner gegenüber, der nicht zu besiegen ist. Die Mächte der Finsternis haben ihre Klauen nach der Welt der Menschen ausgestreckt und Samara ist das erste Bollwerk, das unter dem Ansturm der dunklen Mächte fällt. Aber das ist nur der Anfang, denn Modor, Azach und R'Lyeh - die grausamen Götter des Chaos - wollen die Herrschaft über die Welt der Sterblichen und sie zu einem Teil ihres finsteren Reiches machen.

Ein Erdbeben erschüttert die Stadt, in der der Tod reiche Ernte hält. Der mächtige Göttertempel stürzt ein und verschüttet den Ein­gang zu den Katakomben, die Thorin betreten hat. Ihm ist nun der Rückweg in die Welt der Menschen versperrt. Das gilt auch für Hor-Dolan und seine treuen Priester, die zusammen mit Lorys, der Frau Fürst Dions, ebenfalls Zuflucht in den Katakomben gesucht haben. Weder Thorin noch die Priester wissen, dass sie einen Ort betreten haben, der noch viel schrecklichere Geheimnisse birgt, als jeder von ihnen sich erträumen könnte. Denn vor ihnen liegt DAS DUNKLE REICH...

*

Hor-Dolan hörte draußen vor den Toren der Stadt den Kampfeslärm und wusste, dass Samara dem Untergang geweiht war. Was er schon seit Stunden befürchtet hatte, wurde nun Wirklichkeit. Das feindliche Heer hatte das Stadttor erstürmt und drang nun mit todesmutiger Ver­achtung weiter in die einst so stolze Wüstenstadt ein.

Der kahlköpfige Priester in seinem blutroten Gewand wandte sich nervös vom Fenster ab, als er draußen vor der Tür seines Gemaches plötzlich hastige Schritte vernahm. Nur wenige Augenblicke später betrat einer der eingeweihten Adepten die Räume des obersten Pries­

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ters und verneigte sich kurz vor Hor-Dolan, bevor er dann das Wort ergriff.

»Draußen wartet die Gemahlin Fürst Dions, Herr«, sagte der Pries­ter. »Sie sucht Schutz im Tempel Parrs. Der Fürst will es so.«

»Schutz gibt es keinen mehr in Samara«, murmelte Hor-Dolan und blickte bei diesen Worten den Adepten besonders intensiv an. »Uns bleibt nur noch der Weg in die Katakomben. Sind die anderen bereit?« Als er sah, wie der Priester heftig nickte, fuhr Hor-Dolan fort. »Wir nehmen die Frau des Fürsten mit - eine andere Möglichkeit haben wir nicht...«

Während er das sagte, wurde der Kampfeslärm drüben vom Stadt­tor her immer lauter und bedrückender. Der oberste Priester von Sa­mara wusste nicht genau, was dort im einzelnen geschah - aber es bedurfte keiner großen Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie entschlossen die Söldner aus König Kerons Heer dort jetzt gegen die Verteidiger der Stadt vorgingen. Dort drüben herrschte der Tod, aber Hor-Dolan hatte nicht vor, ihm zu begegnen. Denn er wollte leben und nicht durch die Klinge eines Feindes sterben. Deshalb blieb ihm nur noch die Flucht vor den Eindringlingen aus Kh'an Sor.

Er verließ nun seine Räume und stand dann wenige Augenblicke später der schönen Gemahlin des Fürsten gegenüber. Unter anderen Umständen hätte er sonst vielleicht mehr als nur einen Blick für die Frau übrig gehabt, deren lange blonde Haare ein ebenmäßiges Gesicht umrahmten. Auch in Lorys Augen stand die Furcht um ihr Leben und das des Fürsten geschrieben. Hilfesuchend sah sie nun zu Hor-Dolan.

»Sie haben das Stadttor gestürmt«, sagte der oberste Priester von Samara zu ihr, bevor sie selbst das Wort ergreifen konnte. »Und nun dringen sie in die Stadt ein. Wir können hier nicht mehr bleiben. Selbst im Göttertempel werden wir nicht mehr sicher sein...«

»Was... was wollt Ihr tun, Hor-Dolan?«, fragte ihn Lorys mit zit­ternder Stimme, als ihr klar wurde, was diese Worte bedeuteten. »Wollt Ihr etwas auch...?«

»Kämpfen?«, erriet der oberste Priester von Samara ihre Gedan­ken und schüttelte dann heftig den Kopf. »Nein, das wäre Wahnsinn. Wenn wir am Leben bleiben wollen, so bleibt uns nur noch ein einziger

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Weg offen - nämlich der Weg in die Katakomben. Dort wird man uns nicht finden. Seht mich nicht so ungläubig an, Lorys. Oder habt Ihr vielleicht einen anderen Vorschlag?«

Er wartete gar nicht ab, ob die Frau des Fürsten daraufhin etwas zu erwidern hatte, sondern gab daraufhin dem Priester, der nur weni­ge Schritte entfernt stand und Zeuge dieses kurzen Gespräches zwi­schen Lorys und Hor-Dolan geworden war, einen Wink. Dieser ver­beugte sich und verschwand in einem Seitengang der Tempelmauern. Nur um schon wenige Augenblicke später zurückzukommen - diesmal allerdings nicht mehr allein. Sieben weitere Priester befanden sich bei ihm und jeder von ihnen blickte nun erwartungsvoll zu Hor-Dolan.

»Gehen wir!«, entschied Hor-Dolan und sah, wie Lorys bei seinen Worten sichtlich zusammenzuckte. »Das gilt auch für Euch, Fürstin«, wandte er sich an Lorys. Zwei der Priester ergriffen daraufhin die blonde Frau an den Oberarmen und zwangen sie, mitzukommen. Im ersten Moment wollte sich Lorys noch wehren, erkannte dann aber, dass sie gegen die Kräfte der Priester nicht ankam. Im Grunde ge­nommen hatte Hor-Dolan ja recht. Er wollte doch nur überleben. Also war es richtig, was er tat...

Die Schritte der Priester hallten als dumpfes Echo über den Gang zurück, während Lorys zum ersten mal einen Eindruck von der Größe der Tempelräumlichkeiten bekam, zu denen bisher nur die Priester Zugang gehabt hatten. Der Göttertempel war ein wuchtiger Bau mit vielen Räumen und noch mehr Gängen. Einem von diesen Gängen folgten sie jetzt. Er führte nach unten in die große Halle, wo Dion noch gestern zu dem mächtigen Parr gebetet hatte, um den Schutz des Got­tes für Samara zu erflehen. Das schien aber seltsam lange zurückzu­liegen, denn innerhalb weniger Stunden hatte sich alles verändert. Dagegen hörte nun auch Lorys draußen die Todesschreie der Männer, die sich den Eindringlingen entgegen warfen und versuchten, das Un­vermeidliche irgendwie noch verhindern zu können.

Aber nicht die Tempelhalle war das Ziel der Priester, sondern vielmehr eine Tür auf der anderen Seite des Raumes. Durch weitere schmale Gänge gelangte Lorys nun in einen Raum, der so seltsam düs­ter und kalt wirkte, dass ihr eine Gänsehaut über den Rücken strich.

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Auch hier bildete ein dunkler Altar den Mittelpunkt. Ein Altar, der so eigenartig geformt war, wie es Lorys nie zuvor gesehen hatte. Aber was hatte der zweite Altar denn überhaupt zu bedeuten? Wurde auch hier dem mächtigen Parr gehuldigt?

Schweigend näherte sich Hor-Dolan dem wuchtigen Opferaltar. Hinter dem Stein aus schwarzem Marmor führte eine unscheinbare Treppe nach unten, die durch ein stabiles Gitter gesichert war. Hor-Dolan war im ersten Moment doch ziemlich überrascht, als er sah, dass irgend jemand dieses Gitter geöffnet haben musste, trug dann aber den Priestern auf, jetzt Fackeln zu entzünden. Die Luft, die von dort unten Lorys entgegenschlug, roch irgendwie alt und verbraucht - so als wenn sich schon sehr lange kein Mensch dort unten mehr auf­gehalten hatte. Lorys wusste zwar, dass sich unterhalb des Tempels noch die Katakomben erstreckten. Aber sie selbst war noch niemals dort gewesen und kannte demzufolge die Größe dieser Gewölbe nicht. Dagegen schienen die Priester besser Bescheid zu wissen, denn jeder von ihnen benahm sich so, als wisse er ganz genau, was ihn nun er­wartete.

Mittlerweile hatten die Priester vier Fackeln entzündet, die ein un­ruhiges Licht an die Wände dieses Raumes warfen. Draußen war die Sonne noch nicht aufgegangen und es herrschte noch Nacht - eben jene Stunde zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wo der Schlaf des Menschen bekanntlich am tiefsten ist.

Gerade in dem Augenblick, als Hor-Dolan seinen Fuß auf die Trep­penstufen setzte, erfüllte plötzlich ein leichtes Beben den gesamten Tempel. Zuerst war es nur ein kurzes Zittern des Bodens, aber schon der zweite Erdstoß war dann so kräftig, dass die Mauern zu knirschen begannen und feiner Sand aus den Ritzen zwischen den Steinen zu Boden fiel.

»Schnell!«, befahl Hor-Dolan Lorys und den übrigen Priestern. »Beeilt euch!«

Lorys war ziemlich erstaunt darüber, dass es nicht mehr Priester waren, die dem obersten Götterpriester in die Katakomben folgten. Aber woher hätte Lorys denn wissen sollen, dass es innerhalb der Priesterkaste nur einen kleinen Teil Eingeweihter gab, die lange vorher

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gewusst hatten, dass Samara dem Untergang geweiht war. Sie wusste nichts von der Verbindung Hor-Dolans zu Mächten, die gar nichts mehr mit der Welt Parrs zu tun hatten. Nein, das waren andere, weitaus gefährlichere Kräfte, denen Hor-Dolan Gehorsam geschworen hatte. Mächte, für die ein Menschenleben absolut gar nichts bedeutete.

Wieder wurde sie an den Armen gepackt und mit sich gezerrt. Er­neut kamen ihr Zweifel, ob es wirklich richtig gewesen war, dass Dion sie der Obhut der Priester anvertraut hatte. Denn das Verhalten Hor-Dolans und der übrigen Gottesdiener kam Lorys seltsam falsch vor. Auch wenn sie es sich selbst nicht so richtig erklären konnte, so sträubte sich etwas in ihr, dieses Gewölbe zu betreten, dessen dunkler Schlund ihr entgegenblickte.

Erneut wurde der Tempel von einem kräftigen Erdstoß gepackt. Lorys schrie laut auf, als sich plötzlich Steine aus der Decke zu lösen begannen und polternd zu Boden fielen. Nur wenige Schritte von der Treppe entfernt, die zu den Katakomben führten.

»Worauf wartet Ihr noch, Fürstin?«, riss sie Hor-Dolans Stimme in die Wirklichkeit zurück. »Der Tempel stürzt ein - das ist das Ende der Stadt!«

»Dion«, murmelte Lorys, während die Priester sie zwangen, die Stufen nach unten zu gehen. »Bei allen Göttern, was geschieht nur da draußen? Dion ist in Gefahr! Ich muss jetzt wissen, was mit ihm...«

»Habt Ihr denn immer noch nicht begriffen, wie ausweglos die Lage ist?«, unterbrach sie Hor-Dolan in einer Schärfe, wie sie es bei dem obersten Priester bisher noch nicht festgestellt hatte. »Da drau­ßen ist nur noch der Tod - und ihm gilt es zu entfliehen!«

Er deutete den übrigen Priestern mit einer kurzen, aber dafür um so eindeutigeren Geste an, auf Lorys keinerlei Rücksicht zu nehmen. Stattdessen zerrten die Männer in den blutroten Gewändern die Frau des Fürsten einfach weiter die Treppe nach unten. Wieder schrie Lorys laut auf, als sich auf einmal ein dicker Mauerstein aus der Decke des Raums löste und ganz nahe zu Lorys Füßen auf die Treppenstufen fiel. Genau dort, wo sie eben noch gestanden hatte, bevor sie die Priester gezwungen hatten, weiter nach unten zu gehen! Auch Hor-Dolan spür­te mit jeder verstreichenden Minute, dass ihnen nicht mehr viel Zeit

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blieb, wenn sie sich wirklich noch in Sicherheit bringen wollten. Er ver­schwendete keinen weiteren Gedanken mehr an diejenigen Mitglieder der Priesterkaste, die in einem ganz anderen Teil des Tempels wahr­scheinlich jetzt kopflos hin und her rannten und verzweifelt Ausschau nach dem obersten Priester hielten. Aber sie würden ihn nicht mehr finden - ebenso wenig die übrigen acht Männer, die genau wie Hor-Dolan zu Mächten beteten, die weitaus gewaltiger waren als der Gott Parr, der schon seit vielen Jahren schwieg...

Hor-Dolan war der letzte, der die Treppenstufen nach unten ging. Er riskierte noch einen Blick zurück. Aber alles was er sah, waren noch mehr Risse in den Mauern, die nun immer deutlicher zu sehen waren. Gleichzeitig erfüllte ein schreckliches Knirschen das Gemäuer und zeig­te dem obersten Priester von Samara damit ganz unmissverständlich an, dass der Göttertempel in seinen Grundmauern zu brechen begann. Nicht mehr lange und alles würde einstürzen und jeden unter sich be­graben, der sich dann noch hier aufhielt. Hor-Dolan hatte nicht vor, das zu riskieren. Denn die einzige Sicherheit gab es in den Katakom­ben!

*

Es war eine fremde und unheimliche Welt, die der große Krieger mit der blonden Mähne betreten hatte. In der Linken die brennende Fackel und in der Rechten Sternfeuer, das Götterschwert, setzte er langsam und ganz vorsichtig seinen Weg weiter hinab fort. Der Kampfeslärm und die Schreie der sterbenden Menschen, unter denen die Echsen­krieger nun ein unbeschreibliches Blutbad anrichteten, waren mittler­weile verstummt. Die herabstürzenden Gesteinsbrocken des Tempels hatten nicht nur die Todesschreie der unglücklichen Söldner aus Kh'an Sor und der Verteidiger von Samara verstummen lassen, sondern hat­ten auch den Rückweg versperrt. Für den Nordlandwolf gab es also nur noch eine einzige Möglichkeit - nämlich diesen Weg ins Ungewisse fortzusetzen. Kurz bevor das Dach des Tempels eingestürzt war, hatte er den lauten Hilfeschrei einer Frau vernommen und war diesem Ruf

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bis zu dem dunklen Altarstein gefolgt, hinter dem dann eine Treppe in die Katakomben geführt hatte.

Seitdem war er gefangen in diesem finsteren Zwielicht, das nur vom Schein der unruhig flackernden Fackel erhellt wurde und dessen Licht bizarre Schatten an die rauen Steinwände warf. Es war nass und feucht, je tiefer er die Stufen der alten Treppe hinunterging und seine Schritte klangen seltsam hohl, wurden als geisterhaftes Echo wieder zurückgeworfen. In dieser vollkommenen Stille hörte man jeden noch so geringen Laut um so deutlicher. Aber vielleicht bildete sich das Tho­rin auch nur ein, weil er immer noch Mühe hatte, sich in dieser für ihn ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Denn welche Gefahren hier auf ihn lauerten - das wusste er nicht.

Und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als aus dieser Situation das Beste zu machen. Er vergaß die trüben Gedanken, die in seinem Kopf herumkreisten und lauschte stattdessen erneut in die Richtung, wo er den Schrei der Frau zuletzt gehört zu haben glaubte.

Mittlerweile hatte der Nordlandwolf das Ende der glitschigen Stu­fen erreicht. Vor seinen Augen öffnete sich nun ein gewölbeähnlicher Gang, der immer noch etwas abfiel. Also hatte er die tiefste Stelle noch lange nicht erreicht.

Von den Wänden tropfte es hinunter, ein stetiges Geräusch, das seinen Weg begleitete. Es war kalt hier unten, ein krasser Gegensatz zu der heißen Luft aus der Todeswüste, die Thorin mit dem Heer aus Kh'an Sor vor nicht all zu langer Zeit durchquert hatte.

Der Nordlandwolf spürte die Kälte, die seinen Körper allmählich einhüllte. Es war aber eine andere Kälte, als die aus den Eisländern des Nordens - das Land, das seine Heimat war. Nein, diese Kälte saß viel tiefer und war deutlicher zu spüren. Als wenn sie nicht natürlichen Ursprungs war!

Vielleicht leuchtete auch die Klinge des Götterschwertes deswegen jetzt auf, als der Nordlandwolf weiter hinten ein rötliches Schimmern bemerkte, das das Zwielicht vertrieb und wenigstens für etwas Hellig­keit sorgte. Unwillkürlich ließ Thorin die Fackel sinken, weil er nicht sofort bemerkt werden wollte. Denn nur die Götter mochten wissen, welches Schicksal ihn in diesen Gewölben erwartete. Und wenn sie es

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wussten, konnte der Nordlandwolf nur hoffen, dass ihn Odan der Wel­tenzerstörer, Thunor der Donnerer und Einar der Allwissende in die­sem Moment nicht im Stich ließen. Denn in der Vergangenheit hatten sie das ja auch nicht getan...

Fieberhaft suchten seine Blicke nach einer Möglichkeit, sich zu verbergen. Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen, denn er entdeckte die schmale Nische im Gewölbegang in dem Augenblick, als erneut dumpfe Schritte zu vernehmen waren - aber diesmal klangen sie weitaus lauter als beim ersten mal. Sie schienen sich dieser Stelle des Gewölbes zu nähern.

Sofort löschte der Nordlandwolf die Fackel und hastete dann hin­über zu der Nische, verbarg sich in dem schmalen Spalt. Sternfeuer hielt er fest in beiden Händen und war entschlossen, sein Leben bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, wenn er jetzt auf Gegner der Finsternis stieß. Denn wenn man ihn hier unten entdeckte, dann wür­den die dunklen Mächte keinen einzigen Moment mehr zögern, um ihm den Garaus zu machen. Denn Thorin wusste mittlerweile um die Be­deutung der beginnenden Auseinandersetzung zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis.

Er wagte sich kaum zu rühren und atmete ganz flach, während die Schritte nun so klar und deutlich zu vernehmen waren, als wären sie nur wenige Armlängen von ihm entfernt. Noch bevor er diesen Gedan­ken zu Ende gebracht hatte, erkannte der Nordlandwolf im rötlich schimmernden Licht die Konturen von großen Gestalten, deren Schat­ten sich an den gegenüberliegenden Wänden allmählich zu formen begannen. Gleichzeitig nahm das rötliche Schimmern an Intensität zu. Es hatte seinen Ursprung im Licht von vier Fackeln, die mit keiner kla­ren hellen Flamme brannten, sondern ein blutrotes Licht ausstrahlten. Ein kaltes Licht!

Thorin zuckte unwillkürlich zusammen, als er dann die sechs Ech­senkrieger erkannte, die zum Greifen nahe an ihm vorbeigingen und dann dem Weg folgten, von wo er hergekommen war. Kreaturen aus einer anderen Welt.

Thorin erinnerte sich noch gut an den Moment, wo er diese furchtbaren Gestalten ganz plötzlich im Kampfgetümmel hatte auftau­

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chen sehen. Von hier unten aus waren sie also gekommen, um die Menschen anzugreifen. Und er war mitten unter ihnen!

Der Nordlandwolf schickte ein stummes Gebet zu Odan und rührte sich nicht in seinem Versteck, während die schwer bewaffneten Ech­senkrieger die Stelle passierten, wo er sich verborgen hielt. Sie erreich­ten jetzt die Treppe, die hinauf zum Tempel führte und verschwanden Augenblicke später aus dem Blickfeld des Nordlandwolfs. Aber schon bald würden die Echsenkrieger erkennen, dass dort kein Weg mehr nach oben führte, weil das Erdbeben den Zugang zum Tempel ver­schüttet hatte. Spätestens dann würden sie wieder zurückkommen und bis dahin musste Thorin sein Versteck verlassen haben. Denn ob er ein zweites mal soviel Glück hatte - darauf wollte er sich lieber nicht ver­lassen.

Er wartete noch einige quälend lange Atemzüge, bis er schließlich die Nische verließ. Nicht aber ohne sich doch noch zu vergewissern, dass der Gewölbegang vor ihm leer und verlassen war. Leise und dar­auf bedacht, keinen verräterischen Laut zu verursachen, eilte er dann weiter, folgte dem rötlichen Schimmern. Jetzt mündete der Gang in einen zweiten, etwas breiteren Gang, der von denselben Fackeln er­hellt wurde, die die Echsenkrieger bei sich gehabt hatten. Zwar konnte Thorin nun viel besser sehen, aber das war auch ein Nachteil für ihn selbst.

Welche Richtung sollte er nun einschlagen? Denn schließlich war er ja ursprünglich der um Hilfe rufenden Frau gefolgt. Erst dann be­merkte er das kleine Stück Stoff, das in einer Mauerritze hing. Thorin wunderte sich darüber, dass die Echsenkrieger das nicht bemerkt hat­ten.

Dafür konnte es eigentlich nur eine einzige Erklärung geben - die Echsenkrieger waren von der anderen Seite des größeren Ganges ge­kommen, bevor sie in den kleineren Gewölbegang eingedrungen wa­ren. Also musste Thorin die Frau auf dieser Seite suchen. Der Fetzen Stoff gehörte bestimmt zu einem Kleid, denn Thorin roch noch die letz­ten Reste eines moschusähnlichen Parfüms.

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Thorin steckte das Stoffstück ein, um keine Spuren zu hinterlas­sen, wenn die Echsenkrieger wieder zurückkamen und eilte dann wei­ter.

*

Das rötliche Schimmern schien jetzt direkt aus dem Gestein zu kom­men, je weiter Thorin dem Gang folgte. Es reichte zumindest soweit aus, dass er die nähere Umgebung in diesem Gewölbegang gut erken­nen konnte. Erneut machte dieser Gang eine Biegung und führte den Nordlandwolf nun in einen Teilbereich, der ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Wahrscheinlich war das Beben auch in diesem Teil des Gewölbes zu spüren gewesen und hatte Gesteinsbrocken aus der Decke gelöst. Misstrauisch blickte der blonde Krieger zur Decke, als er weiterging. Von Felsbrocken erschlagen zu werden, war ein Ge­danke, der ihn seine Schritte beschleunigen ließ.

Eigentlich hätte ihn das kurze Aufleuchten der Götterklinge war­nen müssen, aber Thorin begriff fast zu spät, in welcher Gefahr er sich plötzlich befand. Denn auf einmal fuhr etwas Blitzendes dicht an sei­nem Kopf vorbei und prallte dann so hart gegen das Gestein, dass Funken aufschlugen. Geistesgegenwärtig duckte sich Thorin, machte einen Satz zur Seite und erkannte dann erst die Gestalt des Echsen­kriegers, der von einem Atemzug zum anderen aus einem Einschnitt in der Mauer gekommen war und den Feind natürlich sofort erspäht hat­te. Mit einem Knurren, das nichts Menschliches mehr an sich hatte, erhob die Kreatur erneut die rötlich schimmernde Klinge, um dem Nordlandwolf nun den Todesstoß zu versetzen.

Diesmal allerdings war Thorin gewappnet gegen diesen Hieb. Er riss Sternfeuer hoch und die beiden Klingen prallten mit einem hellen Singen aufeinander. Das Leuchten der Götterklinge nahm an Intensität zu, während das Schwert des Echsenkriegers an Leuchtkraft verlor. Das helle, reine Licht der Götterklinge sog das dunkle Schimmern voll­ständig in sich auf. Das verwirrte die Kreatur so sehr, dass sie für ei­nen winzigen Moment zögerte. Und dieses Zögern nutzte der Nord­landwolf natürlich aus, um nun selbst einen Hieb gegen den Feind zu

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landen. Sternfeuer traf den Echsenkrieger an der gepanzerten Schul­ter, schnitt aber durch die Rüstung, als handele es sich dabei gar nicht um hartes Metall.

Das Wesen der Finsternis stieß ein schreckliches Brüllen aus, als es den Schmerz in der Wunde spürte, gab sich aber dennoch nicht geschlagen. Stattdessen versuchte der Echsenkrieger erneut, seine Waffe hochzureißen und sie Thorin in die Seite zu stoßen. Aber dieser hatte erneut die Absicht seines Gegners erahnt und war einen Schritt zur Seite gesprungen, so dass der gut gezielte Stoß der Klinge ins Lee­re fuhr. Zu einem weiteren Angriff kam der Echsenkrieger nicht mehr, denn nun holte der Nordlandwolf zu einem vernichtenden Hieb aus.

Sternfeuer trennte das Haupt des Echsenkriegers von dem ge­schuppten Körper und ließ es in einem hohen Bogen zur Seite fliegen. Dunkles Blut spritzte dabei auf.

In einem Schwall schoss es aus dem Rumpf des Echsenkriegers, als der enthauptete Körper zu Boden fiel und dabei noch schwach zuckte. Aber schließlich ließ auch das nach. Dennoch näherte sich Tho­rin dem Körper ganz vorsichtig. Erst dann, als er wirklich sicher war, dass von diesem Wesen keine Gefahr mehr ausgehen und es ganz sicher von unheimlichen Kräften nicht mehr zum Leben erweckt wer­den würde, atmete er erleichtert auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn, der sich mit einigen Blutspritzern vermischt hatte.

»Odan sei Dank«, murmelte Thorin, weil ihm nun erst bewusst wurde, in welch gefährlicher Situation er sich befunden hatte. Der Ech­senkrieger hatte sich so lautlos an ihn herangeschlichen, dass es Tho­rin wirklich erst im allerletzten Moment bemerkt hatte. Gegen einen dieser Krieger hatte er sich wehren können, aber bei zwei Gegnern sah das schon ganz anders aus. Und je tiefer er nun in die Gewölbe unter der Wüstenstadt Samara eindrang, um so bewusster wurde ihm die Tatsache, was für ein Irrsinn es eigentlich gewesen war, dass er die Katakomben überhaupt betreten hatte. Trotzdem konnte er dieser Begegnung mit den Mächten der Finsternis nicht ausweichen, denn der einäugige Gott Einar hatte ihm prophezeit, dass es hier in Samara zu einer entscheidenden Auseinandersetzung zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis kommen würde. Und Thorins Schicksal war

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untrennbar mit diesen Ereignissen verknüpft. Im Grunde genommen schon in dem Moment, als er in der Felsenstadt Cathar das erste mal von der Legende des Götterschwertes Sternfeuer gehört und dann beschlossen hatte, auf die Suche nach dieser Klinge zu gehen und so­lange nicht aufzugeben, bis er Sternfeuer gefunden hatte...

Der Gestank des dunklen Blutes breitete sich jetzt intensiv aus. Thorin ging deshalb rasch weiter, denn schließlich war da noch die Hilfe rufende Frau, der er immer noch folgte, aber schon längst nicht mehr wusste, ob sie überhaupt noch am Leben war. Ein gewöhnlicher Sterblicher, der diese Katakomben des Todes betrat, wurde schnell ein Opfer der Echsenkrieger. Bis jetzt hatte Thorin sehr viel Glück gehabt - aber das Blatt konnte sich auch schnell wieder wenden. Erneut war er froh darüber, dass Sternfeuer solche Kräfte besaß. Denn mit einer nor­malen Klinge wäre dieser Zweikampf wahrscheinlich nicht so glimpflich ausgegangen.

Als er seinen Weg im rötlichen Schimmern fortsetzte, sah er einige Nischen zu beiden Seiten des Ganges. Misstrauisch näherte er sich ihnen vorsichtig und hielt die Götterklinge bereit. Aber zumindest jetzt drohte ihm keine unmittelbare Gefahr mehr, denn alles was er in den Nischen entdeckte, waren die zahllosen Gebeine Verstorbener, die man hier zur letzten Ruhe gebettet hatte. Bleiche Totenschädel grins­ten Thorin an, schienen ihn zu verhöhnen. Ein eigenartiges Gefühl erfasste den Nordlandwolf, als er sich hier der Endgültigkeit des menschlichen Lebens bewusst wurde. Hier bestatteten die Samaraner seit vielen Generationen ihre Toten - den reichen Kaufmann ebenso wie den einfachen Soldaten - der Tod machte sie alle gleich. Die Ruhe der Toten wurde nun von den Echsenkriegern gestört, die sich hier unten in den Katakomben so lange verborgen gehalten hatten, bis ihre Stunde gekommen war.

Und derjenige, der den Angriff auf die Söldner aus Kh'an Sor und die Verteidiger der Stadt befohlen hatte - der war bestimmt auch ir­gendwo in diesem unendlichen Labyrinth des Schreckens...

*

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Der schmale Gang mündete in einen natürlichen Felsendom. Hor-Dolan, Lorys und die anderen Adepten blickten sich nun unsicher um. Auch wenn es der oberste Priester von Samara niemals zugegeben hätte, so war doch eins eingetreten - sie hatten sich in diesem Gewirr der endlosen Gänge und Gewölbe verirrt. Hor-Dolan spürte die vor­wurfsvollen Blicke der Priester auf sich gerichtet und das machte ihn wütend. Aber er sagte nichts, sondern ging weiter voran.

Es war eine große Höhle, die vor Äonen von unterirdischen Was­sermassen hier geschaffen worden sein musste. Bizarre Tropfsteine hingen von der Decke herunter und andere wiederum wuchsen aus dem Boden nach oben. Eine Welt, die seltsam unwirklich erschien und die sich direkt an die Katakomben anschloss. Selbst Hor-Dolan, der als oberster Priester der Stadt ja schon oft Bestattungszeremonien unten in den Gewölben abgehalten hatte, war bis in diesen Teil des unterirdi­schen Reiches bisher noch nicht vorgedrungen. Wie weit mochte sich diese Höhle nur erstrecken und wohin führte der schmale Pfad zwi­schen den Tropfsteinen? Alles Fragen, auf die Hor-Dolan jetzt keine Antwort wusste und das sah man ihm auch an.

»Ich kann nicht mehr«, ergriff nun Lorys das Wort. »Ich muss mich ausruhen...«

Hor-Dolan drehte sich zu der Frau des Fürsten um und sah die Anspannung in ihren ebenmäßigen Gesichtszügen. Aber auch die Mie­nen der anderen Priester waren gekennzeichnet von den Strapazen dieses Marsches und der Furcht vor einem ziemlich Ungewissen Schicksal. Hor-Dolan hatte ihnen zwar versprochen, dass Orcon Drac, der Ritter der Finsternis, seine schützende Hand über sie alle halten würde - aber bis jetzt hatte noch keiner davon etwas bemerkt. Denn wenn das wirklich so war - warum hatten sie sich dann in diesem La­byrinth aus Gängen und Nischen überhaupt verirren können?

Die beiden Priester, die die ganze Zeit über Lorys mitgezerrt hat­ten, ließen sie jetzt auf ein Zeichen Hor-Dolans los und daraufhin setz­te sie sich mit einem tiefen Seufzer auf einen der kalk überzogenen Steine. Ihr war natürlich schon längst klar, dass dies nicht die Sicher­heit und der Schutz war, den Dion ihr versprochen hatte, als er sie zu Beginn der Schlacht um Samara in den Göttertempel geschickt hatte.

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Hor-Dolan und seine Priester spielten ein ganz anderes Spiel. Ein Spiel, über dessen Bedeutung sich Lorys noch nicht im klaren war und ein ungutes Gefühl tief in ihrem Inneren sagte ihr, dass es ihren Tod be­deutete, wenn sie es jemals herauszufinden versuchte.

»Da drüben!«, erklang auf einmal die furchtsame Stimme eines hageren Adepten. »Dort war doch was!«

Erschrocken fuhren nun auch die anderen Priester herum. Ihre Blicke folgten dem Fingerzeig ihres Glaubensbruders. Zwar konnten sie ihre unmittelbare Umgebung halbwegs gut erkennen, weil auch in die­sem Felsendom das rötliche Schimmern, das schon seit einiger Zeit hier unten vorherrschte und für das niemand von ihnen bisher eine Erklärung hatte finden können, für genügend Helligkeit sorgte - aber nach wie vor blieb alles still.

»Du musst dich getäuscht haben, Kelkyr«, erwiderte ein zweiter Priester. »Vielleicht war es auch nur eine Fledermaus. Man findet sie ja oft in solchen unterirdischen Gewölben.«

Die Antwort vermochte den anderen Priester jedoch nicht so recht zufrieden zu stellen. Nach wie vor blickte er furchtsam nach allen Sei­ten und diese Angst vor einem Ungewissen Schicksal übertrug sich auch auf die anderen. Das spürte auch Lorys und die Kälte der Furcht, die von ihrer Seele Besitz ergriffen hatte, wurde immer intensiver.

»Hört doch!«, erklang die Stimme des ängstlichen Kelkyr erneut. »Da war es wieder - und jetzt kommt es von dort!«

Furcht zeichnete sich in seinen asketischen Gesichtszügen ab, als er sich rasch erhob und hinüber zu der Stelle blickte, wo er geglaubt hatte, verdächtige Geräusche gehört zu haben. Diesmal ließ er das nicht auf sich beruhen, sondern ging langsam einige Schritte nach vorn. Dabei zog er einen scharfen und schmalen Dolch aus seinem Gewand, den jeder der Priester bei sich trug.

So verharrte er einige Augenblicke auf der Stelle, blickte hinüber zu den Felsen und Tropfsteinen. Erst danach wandte er sich wieder den anderen Priestern zu.

»Ich habe mich doch wohl getäuscht«, murmelte er und ließ sei­nen Dolch sinken. Genau in diesem Moment erklang ein sirrendes Ge­räusch und ein Speer bohrte sich mit einem hässlichen Klatschen in

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den Rücken des Priesters. Die Waffe war mit solcher Wucht geschleu­dert worden, dass die Spitze wieder aus der Brust des Unglücklichen heraustrat. Blut floss in Strömen aus der Wunde, während Kelkyr mit einem schrecklichen Röcheln in die Knie sank und nur wenige Atemzü­ge später auch schon tot war.

Hor-Dolan handelte um eine entscheidende Zeitspanne rascher als die übrigen Adepten. Während diese vor Schreck gelähmt zusahen, wie ihr Glaubensbruder von einem Speer aus dem Hinterhalt niederge­streckt wurde, war der oberste Priester von Samara auch schon aufge­sprungen. Er packte Lorys, riss sie zu sich.

»Komm!«, zischte er ihr zu und zog sie so schnell mit sich, dass sie gar nicht mehr dazu kam, sich gegen diesen Zugriff zu wehren.

»Ihr Götter!«, schrieen nun die Priester vollkommen außer sich vor Furcht, als unmittelbar nach dem ersten geschleuderten Speer echsenhafte Kreaturen zwischen den Felsen auftauchten und sich mit knurrenden Lauten auf die Adepten stürzten. Hor-Dolan hatte das kommen sehen, als der erste Priester bereits sein Leben ausgehaucht hatte. Jetzt gab es nur noch eins, wenn er sein Leben retten wollte - nämlich so rasch wie möglich das Heil in der Flucht suchen, bevor die Echsenkrieger die Falle ganz zuschnappen ließen.

Es war ein Glück für Hor-Dolan, dass er im entscheidenden Mo­ment geistesgegenwärtig gehandelt hatte. Denn noch während er Lo­rys mit sich zog und hinter den Tropfsteinen auf der anderen Seite vorläufige Deckung fand, die ihn zumindest jetzt den Blicken der Ech­senkrieger entzog, begann unweit der Stelle, wo er eben noch geses­sen hatte, ein furchtbares Gemetzel.

Hor-Dolan hörte die schrecklichen Todesschreie der Adepten, die seinem Wort vertraut hatten und ihm deshalb ohne Widerspruch bis hierher gefolgt waren. Der kahlköpfige Priester registrierte das jedoch nur am Rande, sondern zerrte Lorys weiter mit sich. Er sah die weit aufgerissenen Augen der Fürstin und wusste, dass sie nun gleich wie­der um Hilfe schreien würde. Aber diese Absicht erstickte er im Keim, indem er ihr eine Ohrfeige verabreichte, die den Schrei schon im An­satz ersticken ließ.

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»Schweig!«, zischte er ihr zu. »Oder willst du, dass sie uns jetzt auch entdecken und töten?«

Er brauchte sie nur kurz anzusehen, um zu erkennen, dass seine Worte nicht ohne Wirkung geblieben waren. Jetzt hatte Lorys begrif­fen, was auf dem Spiel stand. Während ihr angesichts der schreckli­chen Laute auf der anderen Seite der Tropfsteine ein Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte, ließ sie sich von Hor-Dolan mit­zerren. Denn jetzt war nur eins wichtig - so rasch wie möglich von hier wegzukommen, bevor auch sie ein Opfer der Echsenkrieger wurden!

Hor-Dolans Atem kam keuchend und auch Lorys atmete sehr hef­tig, als beide dem Pfad zwischen den Tropfsteinen folgten. Keiner von ihnen fragte sich in diesem Moment, wo er hinführte. Denn sie wollten beide nur ihr Leben retten.

Während die Adepten hinter ihnen im Felsendom auf grauenhafte Weise ihr Leben unter den Schwerthieben und Lanzenstichen der Ech­senkrieger ließen, wurde für Hor-Dolan eins immer deutlicher. Orcon Drac, der Ritter der Finsternis, hatte ihn verraten. Der Schutz, den er ihm und den anderen Adepten versprochen hatte, waren nichts als leere Worte gewesen. Wahrscheinlich wären er und Lorys jetzt auch schon tot, wenn der oberste Priester von Samara nicht so rasch ge­handelt hätte. Dem sicheren Tod war er jetzt noch einmal entronnen. Aber wie lange noch? Das waren Fragen, auf die er jetzt keine Antwort wusste. Hor-Dolan schwor sich aber, dass er das herausfinden würde. Denn die Enttäuschung darüber, dass ihn selbst die Mächte der Fins­ternis und ihr Vasall im Stich gelassen hatten, obwohl er ihnen bedin­gungslose Treue geschworen hatte, saß tief in ihm und ließ ein bitteres Gefühl zurück...

*

Das Feuer in der Knochenhöhle brannte jetzt lichterloh. Die hünenhaf­te Gestalt in der dunklen Rüstung blickte mit einem Lächeln der Ge­nugtuung in die flackernden Flammen, in denen er den Untergang der Stadt Samara sah. Seit die Echsenkrieger in die Geschehnisse einge­griffen hatten, war es aus und vorbei mit dem Triumph, der König Ke­

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rons Heer erfasst hatte, weil die Soldaten das Stadttor gestürmt hat­ten. Nichts mehr von den Siegesrufen des Heers aus Kh'an Sor war zu hören. Stattdessen erkannte Orcon Drac im Flammenbild die Leichen zahlloser Söldner, deren blutige Leiber vom Schein der brennenden Häuser in ein unwirkliches Licht getaucht wurden. Längst war die Nacht zum Tage geworden und es waren auch nicht mehr vereinzelte Häuser, die ein Raub der Flammen geworden waren, sondern vielmehr ganze Straßenzüge. Das Feuer, das die Söldner aus Kh'an Sor in ihrem Siegestaumel gelegt hatten, breitete sich nun rasend aus und überzog die einst so stolze Stadt mit lodernden Flammen und dichten Rauch­wolken, in denen die jetzt noch am Leben gebliebenen Menschen vol­ler Furcht hin und her rannten. Aber auch nach ihnen hatte der Tod schon seine knöchernen Finger ausgestreckt. Nämlich in Form der Echsenkrieger, die sich ohne Gnade an die Verfolgung der Hilflosen machten und sie sofort töteten, sobald sie diese entdeckten.

Der Ritter der Finsternis streckte seine Hand aus und murmelte einige Worte in einer vergessenen Sprache, die nur noch wenige Le­bewesen beherrschten. Das Bild der brennenden Stadt wich nun etwas anderem - Orcon Drac sah im Schein der Flammen den obersten Pries­ter von Samara, Hor-Dolan, der zusammen mit einer Handvoll Getreu-er in die Katakomben eingedrungen war. Bei ihnen befand sich auch die Gemahlin des Fürsten, der in der Schlacht sein Leben gelassen hatte.

Ein leises Lachen kam aus seiner Kehle, als er sich in die Gedan­ken der Priester hineinzuversetzen versuchte. Denn er wusste, dass Hor-Dolan und die übrigen Glaubensbrüder inständig darauf hofften, dass sie hier unten in den finsteren Gewölben unter dem Schutz der Mächte der Finsternis standen. Sollten sie das ruhig glauben! Orcon Drac wusste es besser, denn die Höhlen jenseits der alten Katakomben bargen eine Menge Gefahren für Sterbliche. Auch für die Priester Parrs...

Dieser Narr Hor-Dolan hatte doch tatsächlich geglaubt, dass die Mächte der Finsternis ihn und seine Anhänger verschonten! Dabei war er doch nur einer der zahlreichen Helfer gewesen, die Orcon Drac nur so lange nützlich gewesen waren, bis er sie nicht mehr brauchte! Na­

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türlich hätte er den Echsenkriegern traft seines Geistes befehlen kön­nen, die Priester und die Frau gleich zu töten, sobald die die Katakom­ben betreten hatten. Aber der Ritter der Finsternis zögerte noch und weidete sich stattdessen an der Hilflosigkeit Hor-Dolans, der sich mit seinen Getreuen schon kurze Zeit später im Labyrinth verirrt hatte. Das war der Moment, wo Orcon Drac den Kreaturen der Nacht dann den tödlichen Befehl erteilte und diesen führten die Echsen-Krieger wenig später aus.

Orcon Drac sah, wie die Adepten unter den Schwertern der Ech­senkrieger starben, aber er sah auch, wie es Hor-Dolan und der Frau im letzten Augenblick gelang, zu flüchten. Im ersten Impuls wollte er zwei der Krieger sofort hinter den Fliehenden hinterherschicken, aber dann überlegte es sich der Ritter der Finsternis wieder anders. Sollten die beiden ruhig glauben, dass sie nochmals mit dem Leben davonge­kommen waren! Um so schlimmer würde es sein, wenn sie schon bald begriffen, dass er ihren Tod herbeiführen konnte, wann er es wollte. Er konnte mit ihnen beliebig spielen wie mit Schachfiguren und Orcon Drac beschloss, dieses Spiel nach seinen Regeln noch ein wenig fort­zusetzen. Zumindest solange, bis er des Priesters und Lorys überdrüs­sig war!

Dann zuckte er sichtlich zusammen, als er auf einmal die Gegen­wart einer anderen Macht zu spüren begann. Wieder murmelte er eini­ge leise Worte und das Bild in den Flammen wechselte erneut. Orcon Drac stieß einen Fluch aus, als er Zeuge eines Kampfes zwischen ei­nem Echsenkrieger und dem blonden Krieger wurde, der das Schwert der Götter mit sich führte. Orcon Drac musste zusehen, wie der Krie­ger die Kreatur der Finsternis in einem kurzen, aber harten Kampf rasch besiegte.

Zuerst wollte er den übrigen Echsenkriegern befehlen, den ver­hassten Feind zu umzingeln und ihm dann den Garaus zu machen. Aber dann zögerte er, denn er hatte die Worte des schrecklichen Mo­dor nicht vergessen. Der Herr der Sümpfe hatte ihm ausdrücklich be­fohlen, erst in die Geschehnisse einzugreifen, wenn er ganz sicher sein konnte, dass es nicht doch noch eine überraschende Wende gab. Und da Orcon Drac hatte mit ansehen müssen, wie der blonde Krieger ei­

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nen für Menschen eigentlich schon unüberwindbaren Echsenkrieger besiegt hatte, traf er eine andere Entscheidung. Denn schließlich gab es jenseits der alten Katakomben noch andere Kräfte, die Orcon Drac Untertan waren und die er heraufbeschwören konnte, wenn der richti­ge Zeitpunkt gekommen war. Denn dann würde dieser Götterkrieger gewiss nicht mehr als Sieger dastehen. Aber das wusste nur Orcon Drac...

Unsichtbar wob er die Fäden eines gewaltigen Spinnennetzes, in dem sich sowohl Hor-Dolan und Lorys als auch Thorin immer weiter verfingen ohne sich dessen wirklich bewusst zu werden. Und dieses Spinnennetz hatte nur einen einzigen Zweck: nämlich zu einer giganti­schen Falle für den Krieger zu werden, der den Mächten der Finsternis bisher so arg zugesetzt hatte. Loon, der Magier, hatte es mit seinem Leben büßen müssen, als er sich Thorin zum Kampf gestellt hatte -und Loon war ein treuer Diener Orcon Dracs gewesen. Es wurde Zeit, Loons Tod zu rächen und zwar so, dass die Mächte des Lichts endlich begriffen, dass nicht sie die letzte Schlacht gewinnen würden!

*

Thorin atmete erleichtert auf, als er die Begräbnisstätten hinter sich gelassen hatte und nun das Ende des Gewölbeganges erreichte. Die stickige, modrige Luft war jetzt wieder etwas frischer geworden, als der Nordlandwolf sich nun einem Felsendom näherte, der vor Äonen hier unten tief unter der Stadt von der Natur geschaffen worden war. Zwar war es jetzt auch etwas kühler geworden, aber Thorin hatte sich seit dem Moment, als er die Katakomben betreten hatte, gefühlt wie in einem riesigen unterirdischen Gefängnis, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Die Größe des bizarr geformten Felsendoms vermittelte ihm zumindest jetzt nicht mehr diese permanente Enge!

Er war schon unschlüssig darüber, welche Richtung er nun ein­schlagen sollte, als ihm sein Instinkt die Lösung verriet. Denn plötzlich hörte er ein leises Wimmern weiter hinten in dieser Kalk- und Tropf­steinwelt, das jedoch nur wenige Augenblicke später wieder ver­stummte. Es waren menschliche Laute aus einer gepeinigten Kehle.

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Laute, die einem erfahrenen Krieger wie Thorin nicht unbekannt wa­ren. Irgendwo da drüben hatte der Tod zugeschlagen, denn so konnte nur ein Mensch in den letzten Zügen wimmern...

Sternfeuer dagegen schimmerte nicht mehr so hell und das sagte dem Nordlandwolf, dass er zumindest jetzt nicht mit einer unmittelba­ren Gefahr rechnen musste. Denn wenn die Klinge wieder hell ge­strahlt hätte, so hätte er sofort gewusst, dass die Kreaturen der Fins­ternis nicht mehr weit waren!

Kurz darauf passierte er dann einen vom Zahn der Zeit geformten Torbogen im Gestein und zuckte zusammen, als er die grässlich zuge­richteten Gestalten in den blutroten Gewändern sah. Grauenhafte, vor Angst ganz verzerrte Gesichter verrieten Thorin auch jetzt noch, was hier nicht vor allzu langer Zeit stattgefunden haben musste - nämlich ein Gemetzel, dem alle diese armen Teufel zum Opfer gefallen waren.

Das Wimmern war jetzt einer tödlichen Stille gewichen. Von den Priestern lebte keiner mehr. Thorin näherte sich vorsichtig den schrecklich zugerichteten Leichen und sah, dass der Angriff aus dem Hinterhalt ganz plötzlich gekommen sein musste. Und zwar so schnell, dass die Priester sich gar nicht mehr zur Wehr hatten setzen können ­und wenn, so hätte das ihren Tod wahrscheinlich nur für ganz kurze Zeit hinausgezögert!

Thorin sah sich misstrauisch nach allen Seiten um, bevor er sich über einen der Toten beugte und dann fühlte, dass sich noch ein Rest von Wärme in dem blutigen Körper befand. Also war es noch gar nicht lange her, seit der Tod hier reiche Ernte gehalten hatte. Bestimmt wa­ren die Unglücklichen in den Hinterhalt der Echsenkrieger geraten und allein der Gedanke daran jagte Thorin einen eisigen Schauer über den Rücken. Vielleicht waren die dunklen Geschöpfe ja noch in der Nähe und hatten ihn schon längst umzingelt?

Hastig erhob er sich, ließ seine Blicke erneut in die Runde schwei­fen. Aber nichts geschah. Es blieb alles still - so als hätte hier nie ein entsetzliches Abschlachten stattgefunden. Nur Thorin wusste es bes­ser.

Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass er den Echsenkriegern auf dem Weg hierher nicht wieder begegnet war. Denn gegen so eine

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Übermacht würde selbst er nicht ankommen können. Aber Thorin wusste zu dieser Zeit noch nicht, dass eine noch gefährlichere Macht ihre Fäden im Hintergrund bereits gesponnen hatte und somit das Schicksal des Nordlandwolfs schon jetzt beeinflusste - ohne dass die­ser davon etwas bemerkte.

Diese Priester - was bei allen Göttern hatten sie hier unten in den Katakomben verloren und warum hatten sie sich so weit von den ei-gentlichen Begräbnisstätten entfernt? Denn dieser Felsendom war ge­wiss kein passender Ort, um irgendwelche Zeremonien abzuhalten. Wahrscheinlich hatten sich die armen Teufel nur in Sicherheit bringen wollen, während oben in der Stadt der Kampf immer heftiger gewor­den war. Hätten sie nur geahnt, welches schlimme Schicksal sie hier unten erwartete, dann hätten sie diesen Weg ins finstere Labyrinth der Katakomben vielleicht erst gar nicht angetreten...

»Die Frau«, murmelte Thorin gedankenverloren, weil er Antworten auf die Fragen suchte, die sich ihm nun stellten. »Ob sie vielleicht zu­sammen mit den Priestern war? Allein würde sie es doch gar nicht wa­gen, bis hierher...«

Seine Gedanken brachen ab, als er wieder ein leises Wimmern vernahm. Im ersten Moment war er so erschrocken, dass er sichtlich zusammenzuckte. Dann aber fuhr er rasch herum und eilte auf einen Priester zu, der weiter links lag und in dessen Rücken ein großer Speer steckte, der ihn förmlich am Boden festgenagelt hatte. Nach allem menschlichem Ermessen hätte er gar nicht mehr am Leben sein dür­fen, denn sein Körper war eine einzige Wunde.

Sofort beugte sich Thorin über den Sterbenden. Ob ihn der Pries­ter noch erkannte, wusste er nicht, aber er hörte die wispernde Stim­me. Zuerst waren es unverständliche Worte, die über die Lippen des Unglücklichen kamen, aber dann konnte Thorin genau verstehen, was er sagte.

»Hor-Dolan«, kam es stöhnend heraus. »Er und... die... Frau. Sie sind... weg, haben uns... alle... geopfert...«

Ob der Priester noch mehr hatte sagen wollen, konnte Thorin nicht mehr herausfinden, denn ein jäher und heftiger Blutsturz been­dete diesmal endgültig das Leben des jungen Priesters. Aber was er

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gesagt hatte, waren sehr folgenschwere Worte gewesen. Denn nun wusste Thorin zumindest, dass die Frau, deren Hilferuf er schon so lange gefolgt war, noch lebte. Und sie war nicht allein! Ein Mann na­mens Hor-Dolan war bei ihr und die beiden hatten sich wohl noch im letzten Augenblick in Sicherheit bringen können. Ganz sicher, indem sie diese armen Teufel hier den Echsenkriegern geopfert hatten. Eine andere Schlussfolgerung war eher unwahrscheinlich. Thorin wusste nicht, wer dieser Hor-Dolan war und welche Rolle die Frau eigentlich in all diesen verwirrenden Geschehnissen spielte. Aber er würde es he­rausfinden und zwar schon sehr bald. Denn jetzt hatte er endlich wie­der eine Spur, der er folgen konnte. Und diese Spur führte immer tie­fer in die unergründbare Weite des Felsendoms hinein. Da der Nord­landwolf von dieser Seite aus die gigantische Höhle betreten hatte und die Echsenkrieger höchstwahrscheinlich von einem anderen Seiten­gang aus den Hinterhalt gelegt hatten, war dem Priester und der Frau nach Lage der Dinge wohl nichts anderes übrig geblieben als ihr Heil in der entgegen gesetzten Richtung zu suchen. Und das war die Rich­tung, die nun auch Thorin gewählt hatte...

Es war ein schmaler gewundener und überaus unübersichtlicher Pfad, der sich vor seinen Blicken erstreckte. Hinter jedem bizarren Tropfstein konnte eine tödliche Gefahr lauern. Dessen war er sich be­wusst, als er mit Sternfeuer in der Hand weiterging. Die toten Priester waren schon bald seinen Blicken entschwunden, ebenso wie der Zu­gang zu den Gewölben der Begräbnisstätten. Nun gab es nur noch den riesigen Felsendom mit seinen unzähligen Tropfsteingebilden, die so unbeschreiblich fremd und unheimlich wirkten.

Wie lange er diesem Pfad schon gefolgt war, wusste er nicht. Aber dann hörte er auf einmal irgendwo weiter vor sich eine drohende Stimme, der nun eine zweite, ziemlich eingeschüchterte Stimme ant­wortete. Und es war eine Frauenstimme. Nun war Thorin nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt!

*

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»Los, weiter!«, erklang die ungeduldige Stimme des kahlköpfigen Hor-Dolan, während er der erschöpften Lorys einen wütenden Blick zuwarf. »Wir können nicht hier bleiben!«

»Ich kann aber nicht mehr!«, sagte Lorys mit Tränen in den Au­gen und wehrte sich gegen den Zugriff des obersten Priesters von Sa­mara. »Wenn Ihr weitergehen wollt, dann tut es doch einfach. Lasst mich hier - ich lege sowieso keinen Wert auf Eure Gesellschaft. Ihr seid ein elender Verräter, Hor-Dolan!«

Dafür erhielt sie von dem kahlköpfigen Mann im blutroten Gewand eine schallende Ohrfeige, die sie kurz aufschreien ließ. Hätte sich Hor-Dolan solch eine Frechheit vor wenigen Tagen erlaubt, so hätte er da­mit sicherlich sein eigenes Todesurteil ausgesprochen. Auch wenn er der oberste Priester von Samara war, so hatte er die Gemahlin Fürst Dions dennoch zu respektieren. Aber all dies schien in einem anderen Leben stattgefunden zu haben - so erschien es Lorys jedenfalls.

»Nenn mich nicht Verräter, Weib!«, fuhr sie Hor-Dolan an. »Was weißt du denn, um was es hier wirklich geht? Ihr seid doch alle voll­kommen ahnungslos gewesen. Nicht Parr ist es, den wir angebetet haben - nein, Parr ist schon lange tot. Aber es gibt andere Götter, die viel mächtiger sind und...«

»... die euch genauso im Stich gelassen haben«, fügte Lorys hinzu und genoss es, wie er bei ihren Worten wütend mit den Augen funkel­te. »Ihr habt wohl geglaubt, dass Eure Adepten und Ihr selbst euer Leben retten könnt, wie? Jetzt seht Ihr, dass man auf solche Hoffnun­gen nichts geben kann. Sterben werden wir hier unten - und zwar schon bald.«

»Du sollst still sein!«, rief er jetzt in ungezügeltem Zorn und hätte sie beinahe ein zweites mal geschlagen, konnte sich dann aber im letz­ten Moment nochmals zurückhalten. »Es gibt immer einen Ausweg -auch in dieser Lage. Vielleicht werden die Götter mich ja erhören, wenn ich Ihnen das Leben deines ungeborenen Kindes weihe...«

»Was?«, entfuhr es Lorys, deren Miene nun sehr bleich wirkte. »Das könnt Ihr doch nicht tun! Wenn Ihr es wagt, dann...«

Eigentlich hatte sie noch mehr sagen wollen, brach dann aber mit­ten im Satz ab, als sie plötzlich drüben leise Geräusche vernahm. Auch

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Hor-Dolan schien etwas gehört zu haben, denn seine Rechte zuckte rasch zu dem Dolch, den er in den Falten seines Gewandes verborgen hatte.

»Lass es lieber, Priester!«, erklang auf einmal eine drohende Stimme. »Du wärst schon tot, bevor du es richtig begreifst!«

Irgendetwas klang in der Stimme an, das Hor-Dolan zur Vorsicht mahnte - auch wenn er sich das selbst nicht so recht erklären konnte. Trotzdem hielt er in seiner ursprünglichen Absicht inne und blickte stattdessen zu der Stelle, wo die drohenden Worte gefallen waren.

In diesem Moment kam ein großer blonder Krieger zwischen den Tropfsteinen hervor, der in seiner Rechten ein prachtvoll geschliffenes Schwert trug und mit der Spitze auf Hor-Dolans Magen zielte. Der Krieger machte einen verwegenen Eindruck und sah so aus, als wenn er diese Waffe auch zu handhaben wusste.

»Wer bist du?«, fragte Hor-Dolan ziemlich unsicher, weil ihm der Gesichtsausdruck des blonden Kriegers ganz und gar nicht gefiel. »Wie kommst du hierher?«

»Wahrscheinlich auf demselben Weg wie du und die Frau, Pries­ter«, erwiderte Thorin. »Ich hörte ihren Hilfeschrei und bin euch seit­dem gefolgt. Du wirst mir jetzt sagen, warum du die Frau gegen ihren Willen hier in diese finstere Welt entführt hast. Rede, Priester - und ich rate dir, die Wahrheit zu sagen. Oder es ergeht dir sonst wie den an­deren, deren Leichen ich dort hinten gefunden habe!«

Die Drohung schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Angesichts der auf ihn gerichteten Klinge verlor Hor-Dolan etwas von seinem Zorn und seiner Entschlossenheit, die er an der erschöpften Frau gegenüber eben noch ausgelassen hatte.

»Hilf mir, Krieger!«, rief nun die blonde Frau, erhob sich rasch und eilte mit schnellen Schritte hinüber zu ihm. »Hor-Dolan und seine A­depten zwangen mich, ihnen in die Katakomben zu folgen. Bring mich weg von hier. Ich bin Lorys, die Fürstin von Samara. Dion, mein Ge­mahl, wird dich reich belohnen, wenn du mich zu ihm bringst!«

»Dort oben herrscht das Chaos«, erwiderte Thorin mit einem ent­schiedenen Kopfschütteln. »Es gibt keinen Weg mehr zurück, denn ein Steinschlag hat den Zugang zu den Katakomben versperrt.«

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Als Lorys das hörte, machte sich wieder deutliche Verzweiflung in ihren ebenmäßigen Zügen breit. Und das konnte ihr Thorin sofort an­sehen.

»Samara brennt«, sagte Thorin. »Und diese Kreaturen der Fins­ternis richten unter den Bewohnern ein furchtbares Blutbad an. Selbst meine Gefährten haben die Flucht ergriffen!«

»Das ist ein Söldner aus König Kerons Armee, Weib!«, meldete sich der Priester zu Wort. »Und so einem willst du dein Leben anver­trauen?« Er lachte gehässig auf. »Wer sagt dir denn, dass er dir nicht schon bald die Kehle durchschneidet?«

»Priester, überleg dir lieber, was du sagst!«, fuhr ihn Thorin an, ging einen Schritt auf ihn zu und berührte ihn mit der Klinge so, dass die Spitze Sternfeuers in sein Gewand schnitt und einen schmerzhaften Riss in der Haut hinterließ. »Ich war zwar ein Hauptmann im Heer von Kh'an Sor - aber ich kämpfe gewiss nicht gegen Frauen und Kinder. Es gibt dort oben keinen Sieger mehr. König Keron ist im Kampf gefallen und auch der Fürst ist...«

Er brach ab, weil ihm plötzlich klar wurde, was er mit diesen Wor­ten bei Lorys auslöste. Sie schlug erschrocken beide Hände vors Ge­sicht und blickte Thorin kopfschüttelnd an.

»Nein«, murmelte sie leise. »Das glaube ich nicht. Dion kann doch nicht... ich hätte das doch spüren müssen, wenn er...« Sie suchte mühsam nach den passenden Worten, weil die Sorgen und Trauer jetzt Überhand nahmen.

»Aber es ist die Wahrheit«, sagte Thorin. »Ich sah den Fürsten fallen. Die Herrscher beider Reiche leben nicht mehr und somit ist je­der Kampf sinnlos geworden.«

Ein heftiges Schluchzen erfasste Lorys, schüttelte ihren ganzen Körper und sie schämte sich ihrer Tränen nicht in diesem Moment. Zu groß war die Trauer, die sie nun in ihren Bann geschlagen hatte. Dion - er lebte nicht mehr. Sie würde ihn niemals wieder sehen und erst recht nicht das Kind, das sie unter dem Herzen trug und auf das Dion sich so sehr gefreut hatte! Alles war jetzt so schrecklich sinnlos gewor­den!

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Thorin konnte der Gemahlin des Fürsten in diesem Moment keinen Trost zusprechen, denn er hatte den Priester die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Hor-Dolans Miene mahnte ihn nämlich zur Vorsicht.

»Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Kahlkopf!«, wandte sich Thorin erneut an den Priester. »Rede jetzt, bevor ich dich mit Gewalt dazu zwinge! Also - warum hast du die Frau mit hierher gekommen? Hattest du vielleicht vor, sie den finsteren Mächten zu opfern?«

»Was weißt du denn von den finsteren Mächten?«, erwiderte Hor-Dolan spöttisch. »Ein Söldner wie du versteht doch davon überhaupt nichts. Du und deinesgleichen - ihr seid noch nur Dreck für die dunklen Götter! Aber die Stunde wird kommen, wo sie über die Menschen herr­schen werden - und dann wird sich zeigen, wessen Leben sie verscho­nen werden...«

Thorin versetzte dem Priester daraufhin einen Hieb mit der Breit­seite der Götterklinge, der Hor-Dolan zurücktaumeln ließ. Er stieß ei­nen erschrockenen Schrei aus, weil er mit solch einer Reaktion des blonden Kriegers nicht gerechnet hatte und fiel dann zu Boden.

»Solche wie dich sollte man besser gleich töten!«, kam es zornig über Thorins Lippen. »Menschen, die mit den dunklen Mächten im Bunde stehen, sind Abschaum. Aber ich will dir dein Leben schenken. Natürlich nur, wenn du alles gestehst, was du über die dunklen Götter weißt. Wen betest du an? Modor, Azach oder R'Lyeh?«

Er genoss es, wie die Miene des Priesters auf einmal schreckhafte Züge annahm. Weil Hor-Dolan natürlich nicht damit gerechnet hatte, dass Thorin die Namen der finsteren Götter kannte.

»Oder handelst du vielleicht auf Befehl des Ritters der Finster­nis?«, fuhr Thorin fort und genoss die Reaktion, die seine Worte bei dem Priester im blutroten Gewand auslösten. »Ist es Orcon Drac, der dir befohlen hat, die Gemahlin des Fürsten in die Katakomben zu brin­gen? Rede endlich!«

»Du Hund!«, entfuhr es Hor-Dolan, als ihm klar wurde, dass Tho­rin die Zusammenhänge genau kannte. Er war jetzt so zornig, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er riss den Dolch aus seinem Gewand hervor und stürzte sich dann auf den Nordlandwolf,

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um ihm einen tödlichen Stoß zu versetzen. Jedoch hatte Hor-Dolan nicht mit Thorins rascher Reaktion gerechnet, denn der hatte gespürt, dass Hor-Dolan nun einen Angriff aus Verzweiflung wagen würde.

Er trat einen Schritt zur Seite und der tödliche Stoß ging ins Leere. Thorins rechtes Bein zuckte vor und trat nach dem Arm des Priesters. Sein Fuß erwischte den Dolch und riss ihn aus dessen Hand. Das machte Hor-Dolan allerdings noch zorniger als er es ohnehin schon war. Erneut sprang der Priester Thorin an und versuchte ihn niederzu­werfen. Jedoch schlug seine Absicht auch diesmal fehl, denn Thorin musste sich nicht sehr anstrengen, um den Angriff das Kahlköpfigen im Keim zu ersticken. Wieder versetzte er ihm einen Hieb mit der Breitseite der Klinge, der Hor-Dolan zurückschleuderte. Thorin hatte in diesen Hieb eine solche Wucht gelegt, dass Hor-Dolan wie von einer unsichtbaren Faust nach hinten gestoßen wurde. Genau auf einen Spalt unweit des schmalen Pfades zu!

Hor-Dolan sah das Unheil kommen, ruderte wild mit den Armen, um sich noch irgendwie vor dem Sturz retten zu können. Aber der Schwung war einfach zu groß gewesen. Er fiel weiter nach hinten und stürzte dann in das unergründliche Dunkel einer tiefen Spalte. Ein grässlicher Schrei entrang sich der Kehle des Priesters, der so lange anhielt und als schauriges verzerrtes Echo von den Felswänden zu­rückgeworfen wurde, bis sein Körper unten mit einem hässlichen Ge­räusch aufschlug. Dann herrschte mit einem mal eine erdrückende Stille im Felsendom. Eine Stille, die man fühlen konnte.

Thorin näherte sich der Spalte im Felsen und versuchte einen Blick in die Tiefe zu erhaschen. Aber alles was er sah, war eine unheimliche Finsternis, die bereits schon wenige Schritte vor dem Abgrund begann. Erst dann wandte sich der Nordlandwolf wieder ab und widmete sich der blonden Frau, die mit schreckgeweiteten Augen den kurzen, aber um so heftigeren Kampf hatte mit ansehen müssen. Sie zuckte unwill­kürlich zusammen, als sie den harten Ausdruck in Thorins Augen er­kannte.

»Keine Angst!«, beruhigte sie Thorin sofort und ließ die Klinge des Götterschwertes sinken, steckte sie dann zurück in die Scheide auf

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seinem Rücken. »Es ist alles vorbei. Von diesem Hund droht keine Ge­fahr mehr...«

»Ich verstehe gar nichts mehr«, antwortete Lorys daraufhin. »Was bei den Göttern geht hier nur vor? Und was weißt du von diesen schrecklichen Göttern? Du stehst doch nicht mit ihnen im Bunde?«

»Nein«, antwortete Thorin rasch. »Ich habe nur herausgefunden, dass die Welt der Menschen in großer Gefahr ist. Die dunklen Götter stehen kurz davor, mit ihren Kreaturen über die Menschen herzufallen. Samara war der Anfang und es wird noch mehr geschehen. Dinge, die man mit allen Mitteln verhindern muss!«

»Wer bist du?«, fragte Lorys nun. »Hor-Dolan hat zwar behauptet, dass du zum Söldnerheer von Kh'an Sor gehörst - aber du kommst nicht aus diesem Land. Deine Augen und dein Haar - sie sind heller als die der Menschen dort...«

»Ich heiße Thorin«, sagte er knapp. »Meine Heimat sind die fer­nen Eisländer weit im Norden. Ich habe sie vor sehr langer Zeit verlas­sen, weil ich Ruhm und Abenteuer suchte. Gefunden habe ich aller­dings ganz andere Dinge. Nämlich Erkenntnisse darüber, in welch gro­ßer Gefahr sich die Welt der Menschen befindet. Und mit jedem ver­streichenden Tag wird diese Gefahr immer größer.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte ihn die blonde Frau. »Noch vor wenigen Tagen wusste ich nichts von all diesen Dingen - und jetzt ist soviel geschehen, dass ich es kaum noch fassen kann...«

»Der Ritter der Finsternis schmiedet seine Ränke«, klärte sie Tho­rin auf. »Ich bin ganz sicher, dass er hinter dem Krieg zwischen Sama­ra und Kh'an Sor steckt. Beide Völker wurden gegeneinander aufge­hetzt. Auf der einen Seite war es Hor-Dolan und auf der anderen Seite Loon, der teuflische Magier...«

»Kennst du Loon?«, fragte Lorys sichtlich überrascht. »Und ob ich ihn kenne«, antwortete Thorin. »Er behauptete von

sich, ein verlässlicher Berater von König Keron zu sein - bis zu dem Tag, wo ich sein schmutziges Spiel aufdeckte und ihn tötete. Sonst hätte er das Heer aus Kh'an Sor in eine tödliche Falle geführt. Auch Loon stand in Orcon Dracs Diensten und ich bin mir ganz sicher, dass

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die Spur zu dem Vasallen der finsteren Mächte hierher in die Gewölbe führt.«

Ungläubigkeit und Furcht zeigte sich nun in Lorys Zügen. Vor allen Dingen, als sie sich vorstellte, dass dieser geheimnisvolle Orcon Drac irgendwie hier lauerte und nur seine Klauen nach ihnen auszustrecken brauchte.

»Solange ich Sternfeuer bei mir trage, sind wir sicher«, sagte Tho­rin. »Es ist eine besondere Klinge und sie wird uns beide vor bösen Überraschungen schützen. Und nun lass uns weitergehen, Lorys. Wir müssen das tun, denn es gibt keinen Weg zurück...«

Natürlich wusste Lorys, dass Thorin recht hatte. Aber das Wissen um die wirklichen Zusammenhänge ließ die Furcht tief in ihrem Inne­ren einfach nicht weichen.

Liebend gerne hätte ihr Thorin noch mehr erzählt, aber dafür war jetzt keine Zeit. Zuerst einmal mussten sie weg von hier und einen Ort finden, wo sie halbwegs sicher vor weiteren Gefahren sein konnten. Und diesen Ort musste Thorin bald finden, denn lange hielt die blonde Schönheit nicht mehr durch. Erschöpfung stand in ihren Zügen ganz deutlich geschrieben und irgendwann würde der Punkt kommen, wo sie nicht mehr weiterkonnte. Thorin wusste das und deshalb hielt er verzweifelt Ausschau nach einer geeigneten Stelle, wo er und die Frau zumindest eine kurze Ruhepause einlegen konnten. Aber alles, was Thorin sah, waren bizarr geformte Tropfsteinfelsen, die in das stetige rötliche Schimmern der Felswände getaucht waren. Der Felsendom schien noch größer zu sein als der Nordlandwolf vermutet hatte...

*

Zwischenspiel I Er schlief in seinem heißen Grab schon seit Äonen. In einem Reich aus Lava und Glut, zu dem niemals ein Sterblicher Zugang finden würde. Unvorstellbare Temperaturen jenseits jeglichen menschlichen Ermes­sens herrschten dort. Es war eine Welt voller Flammen, glühender Magma und schwefliger Dämpfe, ein Reich weit im Inneren der Erde.

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Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er auch Kontakt zur Welt jenseits der Lava gehabt hatte. Damals war diese Welt noch jung ge­wesen und viele Götter hatten sie sich geteilt. Aber das war schon so lange vorbei, dass selbst er nur noch Bruchstücke davon in seiner Er­innerung behalten hatte. Manchmal sah er diese Welt wieder vor sich, wenn ein Traum ihn erfasste und ihn in ein Meer von Erinnerungen an die Vergangenheit tauchte. Träume, unzählige Träume...

Sie kamen und gingen wieder, hielten seinen Geist gefangen - und so vergingen die Jahre. Aus Jahren wurden Jahrzehnte und aus Jahr­zehnten Jahrhunderte. Manchmal träumte er aus der Zeit, wie es ge­wesen war, als sein Volk ihm in großen Opferzeremonien gehuldigt hatte. Dann waren die Gewölbe in unmittelbarer Umgebung des damp­fenden Sees aus Lava voller Leben gewesen. Männer, Frauen und Kin­der hatten ihm Opfergaben dargebracht. Manchmal auch Menschen aus ihrem eigenen Volk, um ihn damit gnädig zu stimmen. Blut war geflossen, wenn die alten Priester ihnen die Kehlen durchgeschnitten hatten und dann darauf warteten, dass er aus den Tiefen des Sees kam, um sich das zu holen, was ihm gehörte.

Schrecken und Entsetzen hatte sich unter den Menschen seines Volkes ausgebreitet, wenn er sich ihnen gezeigt hatte - in seiner mäch­tigen Gestalt, die jedem deutlich vor Augen führte, dass er jedes ande­re Lebewesen mit seiner Kraft förmlich zerschmettern konnte. Sie hat­ten sich alle zu Boden geworfen und um seine Gnade gefleht - und er hatte sie ihnen gewährt. Jedenfalls solange, wie man ihn anbetete und Opfer darbrachte. Das war das Zeichen, dass sein Volk ihn verehrte und ihm fortwährende Treue geschworen hatte. Eine Treue, die einen mächtigen Gott wie er es war, zufrieden stimmte.

Sie hatten ihm einen Namen gegeben - Zych, der gehörnte Gott aus den Tiefes des Lavasees, der das Zentrum das Reiches bildete. Ein Reich, von dessen Existenz die vielen wilden Stämme, die es vorgezo­gen hatten, jenseits der finsteren Gewölbe oben auf der Erdoberfläche zu leben, nichts ahnten. Es war eine Zeit, in der unbeschreibliche Na­turgewalten die äußere Welt heimsuchten und sie zu formen began­nen. Die neue Welt war erst nach am Entstehen.

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Viele kleine Königreiche wurden gegründet und zerfielen ebenso schnell wieder wie sie von ihren Herrschern ins Leben gerufen worden waren. Zych wurde Zeuge, wie sich die Menschen auf der äußeren Welt immer mehr ausbreiteten und es schließlich lernten, mit den Stürmen und Wasserfluten zu leben, die immer wieder gewaltige Zer­störungen anrichteten. Auch wenn viele dabei ihr Leben lassen muss­ten, so gaben diese Menschen doch niemals auf, sondern lernten, den Gefahren zu trotzen und sie schließlich zu besiegen.

Die junge Erde bebte nicht mehr, sondern beruhigte sich schließ­lich wieder. Nur noch tief im Inneren brodelte die heiße Lava und formte auch hier immer wieder neue Höhlen und Gewölbe. Es war das Reich von Zych, der nun ein Volk gefunden hatte, das es vorzog, im Inneren der Erde zu leben und jegliche Verbindung zur äußeren Welt beendet hatte. Zuerst nicht ganz freiwillig, denn zu Beginn hatte es noch einige verborgene Gänge zur Außenwelt gegeben, die nur die eingeweihten Priester gekannt hatten und dieses Geheimnis hüteten wie einen Schatz von unermesslichem Wert. Aber als dann die Erde in ihrem letzten Stadium der Verformung wieder zu beben begann, wur­den diese Gänge von gewaltigen Felsmassen zugeschüttet - für alle Ewigkeiten!

Das Volk der Mroni musste sich darauf einstellen, dass es von nun an nie wieder das Licht der Sonne sehen würde. Und sie lernten, sich darauf einzustellen. Im Laufe der vielen Jahrzehnte veränderten sie sich, wurden zu Menschen der Düsternis. Sie brauchten kein Licht mehr, um auch im Dunkeln sehen zu können, denn ihre Augen hatten es gelernt, sich an die neue Situation anzupassen. Die Mroni vergaßen irgendwann, dass es jenseits der Gewölbe noch eine andere Welt gab und verfielen in einen bedingungslosen Glauben zu dem gehörnten Zych - denn er war es gewesen, der ihnen gezeigt hatte, wie man hier unten überleben konnte. Indem er sie lehrte, die Pflanzen, die trotz des Mangels an Sonnenlicht hier unten wuchsen, zu ernten und sie als Nahrung zu verwenden - sowie noch viele andere Dinge, die es dem Volk der Mroni ermöglichten, über so lange Zeit am Leben zu bleiben. Bis sie es schließlich auch verstanden, aus eigener Kraft alles Notwen­dige zu tun, um ein Fortbestehen des Volkes zu sichern.

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Es war eine Zeit, in der Zychs Macht und Größe allgegenwärtig war. Die Mroni dankten es ihm, indem sie freiwillig den Aufrufen der Priester zu den Opferzeremonien folgten. Selbst wenn ein Mensch aus ihrer Familie, aus dem Kreis der Verwandten zum Opfer bestimmt wurde, so gab es doch kein Trauern und Wehklagen, denn es war schließlich eine große Ehre, der Auserwählte für Zych zu sein. Und wenn die Opfer dann ihr Blut für den gehörnten Gott gaben, dann er­schallten an den Ufern des Lavasees unbeschreibliche Freudenchoräle. Es waren Tage der Freude, keine Zeiten der Trauer...

Jedes mal erfüllte ein gewaltiges Zittern den Felsendom am Lava­see, wenn Zych tief aus dem Inneren nach oben kam, um sein Opfer zu holen. Er sah die jubelnden Menschen, hörte die Trommelschläge und Gesänge der Priester und nahm sich dann sein Opfer. Und es er­füllte ihn mit Genugtuung, dass das Volk der Mroni ihm damit seine Ehrerbietung bewies. Denn er war so alt wie diese Welt jenseits des Sonnenlichts - das glaubten die Menschen aus dem Volk der Mroni. Aber Zych war sogar noch viel älter. Er war schon hier gewesen, als draußen auf der Erdoberfläche noch Wasser und Feuer herrschten und die wenigen Lebensformen gerade dabei waren, ihr nasses Element zu verlassen und stattdessen auf dem Lande weiterzuleben...

*

Längst wussten sie nicht mehr, wie tief sie sich unter der Erde befan­den. Der schmale Gang, dem Thorin und Lorys gefolgt waren, hatte immer tiefer hinab ins rötlich schimmernde Licht geführt. So tief, dass sich Thorin im stillen mehr als einmal fragte, ob es ihm überhaupt je­mals wieder vergönnt war, das Sonnenlicht zu sehen. Samara, der lange Marsch durch die Todeswüste von Esh sowie seine Abenteuer in der Schmiede der Götter - all dies schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Als habe all das in einem anderen Leben stattgefunden.

Lorys ertrug diese stetige Ungewissheit sehr tapfer, auch wenn sie mit der schrecklichen Tatsache fertig werden musste, dass Fürst Dion nicht mehr am Leben war. Aber sie war nicht die einzige, die ein solch schlimmes Schicksal zu erdulden hatte. Den übrigen Bewohnern von

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Samara erging es wahrscheinlich noch viel schlechter als der Fürstin. Lorys hatte wenigstens ihr eigenes Leben noch retten können, bevor die grauenvollen Echsenkrieger in die Geschehnisse eingegriffen und der Bevölkerung der Wüstenstadt Tod und Verderben gebracht hat­ten...

Irgendwann war dann der Zeitpunkt gekommen, wo Lorys wirklich am Ende ihrer Kräfte war. Thorin ahnte das und konnte die blonde Frau gerade noch auffangen, bevor sie zusammenbrach. Er hob sie mit seinen starken Armen hoch und trug sie hinüber in eine von drei di­cken Felsbrocken gebildete Nische, wo er sich halbwegs sicher fühlte, nicht unangenehm überrascht zu werden. Sofern man von Sicherheit in dieser unwirklichen Höhlenwelt überhaupt sprechen konnte.

»Durst«, murmelte Lorys. »Ich habe Durst...« Ihre Augen nahmen einen flehenden Ausdruck an. Aber Thorin

konnte ihr zumindest in diesem Augenblick nicht helfen. Er hatte we­der Wasser noch Proviant mitgenommen, seit er die Treppen zu den Katakomben von Samara hinunter gestiegen war. Auch sein Magen machte sich mittlerweile unangenehm bemerkbar, aber er ignorierte das Gefühl. Es änderte ohnehin nichts.

»Du musst noch durchhalten, Lorys«, sagte er dann zu ihr. »Wir werden hoffentlich bald Wasser finden - aber solange musst du es ohne einen Schluck schaffen.« Während er das sagte, sah er sich um. »Bleib hier - ich will einmal sehen, ob ich hier in der Nähe Wasser fin­de.«

»Nein!«, entfuhr es Lorys, als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wurde. »Lass mich nicht allein, Thorin - bitte!«

»Lorys, du musst keine Angst haben«, redete ihr der Nordlandwolf Mut zu. »Ich bleibe in der Nähe und werde dich hören, wenn du nach mir rufst. Bleib ruhig - ich will doch nur nach Wasser suchen...«

Seine Worte sollten sie beruhigen, aber irgendwie gelang ihm das nicht. Trotzdem erhob er sich jetzt und folgte wieder dem Pfad ein Stück nach vorn, bis er sich nur wenige Schritte später zu gabeln be­gann. Thorin entschied sich für links und diesmal schien es das Schick­sal gut mit ihm zu meinen. Denn schon wenige Augenblicke später hörte er ein leises Klatschen in der Stille. Sofort blieb er stehen und

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lauschte erneut. Dieses Geräusch kam aus nächster Nähe. Hoffnung ergriff ihn, als er nun seine Schritte beschleunigte und schon bald dar­auf das entdeckte, was er vermutet hatte. Unweit des Pfades hatte die Natur eine flache Mulde im Gestein geschaffen, in der sich Wasser angesammelt hatte. Stetige Tropfen lösten sich aus einem Riss im Felsgestein und fielen hinunter in die Pfütze. Dieses Geräusch hatte Thorin vernommen!

»Den Göttern sei Dank«, murmelte Thorin. Rasch beugte er sich hinab, tauchte eine Hand ins kalte Wasser

und nahm einen Schluck davon. Es schmeckte bitter, aber Wasser be­deutete die Rettung für ihn und Lorys. So konnten sie wenigstens wie­der neue Kräfte schöpfen, bevor sie ihren Weg ins Ungewisse fortsetz­ten.

Rasch erhob er sich und eilte dann wieder zu der Stelle zurück, wo er Lorys zurückgelassen hatte.

»Komm mit!«, sagte er rasch zu ihr. »Ich habe Wasser gefunden. Nicht weit von hier. Es ist nicht viel, aber es ist genug für uns beide.«

Er reichte ihr die Hand, half ihr auf. Lorys mobilisierte noch einmal alle Kräfte und folgte Thorin zu der Mulde im Felsgestein. Dann er­frischte auch sie sich, trank von dem kühlen Wasser, bis sie Thorin schließlich zurückhalten musste.

»Das reicht, Lorys«, sagte er. »Nicht so viel auf einmal. Lass uns lieber warten, bis sich wieder etwas Wasser angesammelt hat. Wir werden eine Zeit lang hier bleiben und uns dann noch einmal stärken, bevor wir weitergehen.«

Lorys nickte. Vom einstigen Stolz der blonden Schönheit war nicht mehr viel übrig geblieben. Hier unten in dieser geheimnisvollen Welt gab es keinen Unterschied mehr zwischen einem einfachen Krieger und einer Frau von hoher Herkunft. Das Schicksal hatte die beiden zusammengeschweißt - oder war es vielleicht auch der unergründliche Wille der Götter gewesen? Vielleicht würde Thorin eines Tages darauf eine Antwort erhalten...

»Thorin, wie soll es jetzt weitergehen?«, wollte Lorys von dem hünenhaften Krieger wissen. »Es muss doch einen Weg nach draußen geben. Wie lange wollen wir diesem Weg denn noch folgen? Er führt

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doch immer tiefer in die Erde - vielleicht sogar in die finsteren Schlün­de dieser dunklen Götter, von denen du erzählt hast.«

»Wer weiß?«, entgegnete Thorin. »Ich würde dir gerne die Wahr­heit sagen, wenn ich sie wüsste, Lorys. Aber ich kenne sie selbst nicht. Trotzdem dürfen wir nicht aufgeben, denn derjenige, der für den Un­tergang von Samara verantwortlich ist, befindet sich immer noch hier unten. Der Kampf ist unvermeidlich. Wir können das zwar noch hin­auszögern, aber irgendwann wird es dazu kommen.«

»Du kannst doch nicht gegen Götter kämpfen, Thorin!«, hielt ihm Lorys entgegen. »Ein einzelner Sterblicher ist doch vollkommen hilflos. Selbst wenn du mit deinem Schwert umzugehen weißt. Aber was sind wir Menschen schon gegen Götter!«

»Auf jeden Fall werde ich nicht zusehen, wie unsere Welt in die Hände der Finsternis fällt, Lorys«, erwiderte er daraufhin. »Ich wusste zu Beginn auch nichts davon, dass es solche Mächte gibt, die schon lange planen, sich diese Welt Untertan zu machen. Aber dann erfuhr ich von den Zusammenhängen zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis und das ist noch nicht einmal so lange her. Gewissheit hatte ich erst, als die Schlacht um Samara kurz bevorstand. Einar, der Allwissende, war es selbst, der mir vom Ritter der Finsternis berichte­te.«

»Einar?«, fragte Lorys. »Wer ist Einar?« »In meiner Heimat kennt man ihn als den Einäugigen«, sagte

Thorin. »Er ist der Gott der Erkenntnis und seine Brüder sind Odan, der Weltenzerstörer und Thunor, der Donnerer. Es gibt sie wirklich, diese Götter, Lorys. Ich bin Einar schon mehrfach begegnet und auch Thunor der Donnerer beherbergte mich einmal in seiner Schmiede. Von dort stammt auch dieses Schwert hier...« Mit diesen Worten zog er es aus der Scheide und betrachtete die Klinge lange und gründlich. »Es ist eine besondere Waffe - sie wurde von den Göttern selbst ge­schmiedet.«

Er berichtete ihr von seinen Erlebnissen in der Dschungelstadt und auf welch dramatische Weise er dann die Götterklinge errungen hatte - genauso wie es die Schriften von Ushar prophezeit hatten. Damals hatte Thorin das aber noch nicht gewusst, sondern erst viel später

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davon erfahren. Lorys hörte staunend zu, als sie Thorins Geschichte erfuhr - es war eine Geschichte, die fast unglaublich erschien. Und doch spürte Lorys ganz genau, dass jedes einzelne Wort stimmte.

»Thorin, ich will, dass mein Sohn das Licht der Welt erblickt«, sag­te sie dann zu ihm. »Seinen Vater wird er zwar nicht mehr sehen kön­nen - aber er soll die Welt noch so vorfinden, wie ich sie kenne. Wenn ich dir dabei helfen kann, den Plan der Götter des Lichts zu vollenden, dann will ich das tun. Auch wenn ich nicht so kämpfen kann wie du...«

Thorin blickte überrascht auf, als ihm Lorys gestand, dass sie ein Kind erwartete. Was für Qualen musste sie seit dem Fall von Samara ausgestanden haben! Und es gab keinen, der sie beschützt hatte -stattdessen hatten diejenigen, bei denen Lorys in ihrer Verzweiflung Hilfe und Schutz gesucht hatte, sich als Verräter erwiesen. Allen voran Hor-Dolan, der oberste Priester von Samara. Wer weiß, welches Schicksal Lorys hätte erdulden müssen, wenn Thorin nicht in die Ge­schehnisse eingegriffen hätte?

»Es wird Zeit aufzubrechen«, sagte Thorin und warf noch einen Blick zum Wasser, das sich in der Mulde ansammelte. Es war wieder genug, dass sie sich beide noch einmal stärken konnten. Thorin nahm nur zwei Schlucke und gönnte den Rest Lorys. Ihr dankbarer Blick bes­tätigte ihm, wie froh sie darüber war, dass er ihr den Rest des Wassers überließ. Sie tauchte die Hände in die kühle Flüssigkeit, formte sie zu einem Becher und wollte gerade trinken, als sie roch, wie das Wasser einen eigenartigen Geruch verströmte.

Es war jetzt nicht mehr klar, sondern stattdessen ganz dunkel und irgendwie klebrig. Zuerst wollte es Lorys gar nicht glauben, als sie sah, dass ihre Hände ganz rot waren, aber dann begriff sie.

»Blut!«, schrie sie, während die dunkle Flüssigkeit durch ihre Fin­ger rann und zu Boden tropfte. »Ihr Götter - es ist Blut!«

Schreckensbleich taumelte sie zurück, suchte Schutz bei Thorin, während ein gehässiges Lachen irgendwo aus den Tiefen der Höhlen­welt erschallte und als verzerrtes Echo von den Felswänden zurückge­worfen wurde.

Thorin riss sofort Sternfeuer aus der Scheide und hielt die Klinge hoch empor. Sie schimmerte diesmal hell, während sich der kunstvoll

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geschmiedete Griff erwärmte. Das war das Zeichen, dass die finsteren Mächte wieder ihre Hände im Spiel hatten.

»Orcon Drac!«, rief Thorin herausfordernd. »Komm und zeig dich - oder bist du womöglich zu feige, dich auf einen ehrlichen Kampf ein­zulassen?«

Wieder erschallte das Gelächter - diesmal sogar noch eine Spur spöttischer als beim ersten mal. Falls Thorin jedoch darauf hoffte, auf diese Weise endlich dem Ritter der Finsternis gegenübertreten zu kön­nen, so wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Denn nichts geschah stattdessen. Das Gelächter ebbte ab, dann herrschte wieder Stille - und das Blut war wieder verschwunden. Es klebte weder an Lorys Händen, noch hatte es irgendwelche Spuren in der kleinen Mulde zu­rückgelassen.

»Thorin...«, murmelte Lorys, weil sie noch gar nicht fassen konn­te, was sie gerade gesehen und erlebt hatte. »Aber das war doch... es war doch Blut...«

»Es war nicht wirklich da, Lorys«, verneinte Thorin. »Du hast nur geglaubt, dass du Blut an den Händen hast. Die Mächte der Finsternis haben nur mit dir gespielt...«

»Bring mich weg von hier, Thorin«, bat sie ihn und griff nach sei­ner Hand. »Mir ist es egal, wohin - aber ich will nur weg von diesem schrecklichen Ort...«

Thorin nickte. Das war nur ein kleines und im Grunde unbedeu­tendes Ereignis gewesen, war Lorys gerade hatte durchstehen müs­sen. Im Vergleich zu dem, was sie und Thorin ganz sicher noch erwar­tete, war es nichts. Die Mächte der Finsternis hatten ihnen nur zeigen wollen, dass sie jeden ihrer Schritte beobachteten - und dieser Gedan­ke beunruhigte Thorin sehr.

*

Als sich Orcon Dracs Geist wieder aus dem Felsendom zurückzog, er­fasste ein Gefühl unbeschreiblichen Triumphes den Ritter der Finster­nis. Er hatte die furchtbare Angst der Frau gespürt, ihr namenloses Entsetzen vor der Kraft der dunklen Mächte, die sich ihr gezeigt hat­

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ten. Die Furcht der Sterblichen vor Dingen, die sie nicht fassen konn­ten - der dunkle Ritter konnte sie fühlen, auch wenn es nur sein Geist gewesen war, der sich in der Nähe der Frau und des blonden Kriegers gezeigt hatte.

Orcon Drac hörte den wütenden Schrei des Hünen und er sah im Schein der Flammen des Feuers in der Knochenhöhle, wie Thorin sein Schwert zog und es wütend emporreckte. Die Klinge begann hell auf­zuglühen und Orcon Drac zuckte kurz zusammen, als er das sah. Denn er wusste um die Bedeutung dieses Schwertes. Auch wenn diese Waf­fe im Hort der Götter selbst geschmiedet worden war, so würde er schon dafür sorgen, dass sich die alten Prophezeiungen niemals erfül­len würden. Hier in diesem unübersehbaren Labyrinth der zahllosen Gänge und tiefen Höhlen würde sich das Schicksal von Orcon Dracs Gegner erfüllen. Denn der Ritter der Finsternis hatte mächtige Verbün­dete, die er nur zu rufen brauchte, wenn er ihren Schutz und Beistand erflehen wollte. Und keiner der finsteren Götter würde es dulden, wenn ein Sterblicher dem Paladin der dunklen Mächte gefährlich wurde - sie würden deshalb eingreifen, wenn sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielten. Und dieser rückte immer näher, je tiefer Thorin und die Frau in die Unterwelt eindrangen.

»Mächtiger Modor«, murmelte Orcon Drac, schloss die Augen und verfiel dann in einen monotonen Singsang in einer Sprache, die nur er noch kannte und beherrschte. Er geriet in eine Art Trance und nahm gar nicht mehr wahr, wie auch die Flammen des Feuers immer mehr aufzulodern begannen. Nur wenige Augenblicke später schoss eine rötliche Stichflamme hoch empor, gefolgt von dunklem beißenden Rauch. Und dann erklang eine tiefe Stimme, die keinen menschlichen Ursprung hatte.

ORCON DRAC - DU HAST MICH GERUFEN, erfüllte die tödliche Stimme dann die Knochenhöhle. HAST DU IHN ENDLICH BESIEGT, DIESEN STERBLICHEN MIT DEM SCHWERT DES LICHTS?

Orcon Drac zuckte unwillkürlich zusammen, als er die Ungeduld im Klang von Modors Stimme bemerkte. Auch wenn der Herrscher der Sümpfe von Cardhor noch sehr weit entfernt war, so spürte der finste­re Gott doch sehr rasch, ob Orcon Drac die Wahrheit sprach.

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»Er tappt in die Falle, die ich ihm stellen werde, mächtiger Mo­dor«, murmelte der Ritter der Finsternis. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit...«

ALLES IST EINE FRAGE DER ZEIT, rief die dunkle Stimme. TÖTE IHN RASCH!

»Ich höre und gehorche«, antwortete Orcon Drac rasch, um sich nicht Modors Zorn zuziehen zu müssen. Denn der finstere Gott war unerbittlich in seiner Wut. »Mächtiger Modor, ich werde den gewalti­gen Zych aus seinem tiefen Schlaf erwecken. Er wird Thorin töten - ihn und die Frau!«

ZYCH SCHLÄFT SCHON SEHR LANGE, antwortete die Stimme des Herrschers der Sümpfe. ES WIRD LANGE DAUERN BIS ER DEINEN RUF VERNIMMT. BIST DU STARK GENUG, UM ZYCH BÄNDIGEN ZU KÖN­NEN, ORCON DRAC?

Der Ritter der Finsternis spürte den leisen Spott in der Stimme Modors. Deshalb war er um so entschlossener, dem dunklen Gott zu zeigen, dass er der würdige Paladin der Finsternis war. Schließlich hat­ten sie es ihm zu verdanken, dass die Wüstenstadt Samara gefallen und das Heer der Angreifer in alle Winde zerstreut war. Und beide Reiche waren ohne Herrscher - somit stellten sie eine leichte Beute dar, wenn die Heere jenseits der Sümpfe von Cardhor erst in die Schlacht zogen!

»Modor, Azach und R'Lyeh - das sind die Mächte, die mir die not­wendigen Kräfte für mein Vorhaben geben«, antwortete Orcon Drac, um den dunklen Gott gnädig zu stimmen. »Es gibt keinen Sterblichen, der diesen Kräften trotzen kann - denn diesmal erhält Thorin keine Hilfe von den Mächten des Lichts. Denn ich habe mit Hilfe des Buches von Vharya eine Barriere errichtet, die selbst für die Mächte des Lichts kaum zu überwinden ist. Ihr habt mich das Wissen aus dem Buch von Vharya gelehrt...«

WIR WISSEN DAS BEREITS, ORCON DRAC, fuhr die grausame Stimme fort. UND ES FREUT UNS, DASS DU EIN SOLCH EIFRIGER DIENER BIST. TÖTE DEN KRIEGER DES LICHTS UND DU WIRST MEHR MACHT BEKOMMEN ALS DU DIR VORSTELLEN KANNST!

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Mit diesen Worten erlosch die Stimme so rasch wie sie gekommen war. Orcon Drac öffnete die Augen wieder und musste im ersten Mo­ment tief Luft holen. Der Kontakt zum Herrn der Sümpfe kostete im­mer viel Kraft. Und davon brauchte er noch genug, wenn er sein Vor­haben jetzt in die Tat umsetzen wollte.

Ein weiteres mal blickte er in die Flammen des Feuers und sah darin, wie Thorin und die Frau immer tiefer ins Höhlensystem eindran­gen. Sie waren noch weit von der Knochenhöhle entfernt, denn die befand sich auf der anderen Seite des Lavasees und der versunkenen Welt der Mroni, von dessen Existenz der blonde Krieger und seine Begleiterin noch nichts ahnten.

Orcon Drac lächelte, als er das ängstliche Gesicht der Frau sah. Es war ein großer Fehler gewesen, dass der blonde Krieger die Frau bei sich hatte. Nur Narren taten das in solch einer Situation. Wenn dieser Thorin sich für einen heldenmütigen Krieger hielt, der die Schwachen und Hilflosen unbedingt beschützen wollte, dann würde er bald am eigenen Leibe zu spüren bekommen, in welche Falle er bereits schon getappt war, ohne es zu wissen.

Orcon Drac wandte seinen Blick von den Flammen ab. Thorin nahm genau den Weg, den er nach Orcon Dracs Plänen auch einschla­gen sollte. Deshalb widmete er seine ganze Aufmerksamkeit nun ei­nem Vorhaben, das Kräfte zum Leben erwecken sollte, die schon seit langer Zeit an einem sicheren Ort ruhten. Aber diese Ruhe würde nicht mehr lange anhalten - und sobald der gewaltige Zych aus seinem Schlaf erwacht war, bedeutete dies das Ende für den Krieger mit dem Schwert der Götter - und den Anfang des Untergangs der Mächte des Lichts!

*

Zwischenspiel II Auf dem Höhepunkt von Zychs grenzenloser Macht wurde ein Mann aus dem Volk der Mroni in den Kreis der Priester aufgenommen, des­sen weiteres Handeln den Untergang des Volkes in der Tiefe einleiten sollte. Aber zu dieser Stunde ahnten die Mroni noch nichts davon,

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denn sonst hätten sie mit allen Mitteln verhindert, dass Trachtan zum obersten Priester gewählt wurde.

Trachtan war ein gläubiger Diener des mächtigen Zych und vollzog jedes mal die uralten Rituale ohne jeglichen Gedanken an Widerstand. Die Opferzeremonie war mittlerweile ein fester Bestandteil der Mroni-Kultur geworden und jeder Auserwählte war stolz darauf, mit seinem Tod dem mächtigen Zych zu dienen. Jedoch hielt dieser Gedanke nur so lange an, bis der gehörnte Gott aus den Tiefen des Lavasees stieg, um sein Recht zu fordern. Dann wurden aus den anfänglichen Freudengebeten der Opfer laute durchdringende Schreie der Angst. Aber die hörte das Volk der Mroni draußen am Ufer des Sees nicht mehr, denn die Lobchoräle der Priester übertönten die Hilfeschreie des Opfers um ein vielfaches. Und das Volk, das sich zu jeder Opferzere­monie draußen vor dem Tempel versammelt hatte, sah dann nur noch, wie der mächtige Zych sich sein Opfer holte und mit ihm zusammen in der Lavaglut wieder verschwand - so lange bis das nächste Opfer an der Reihe war.

Trachtan hatte die Schreie der Opfer gehört und war in den Jah­ren, in denen er das Amt des obersten Priesters innehatte, allmählich ins Zweifeln geraten. Er wusste nicht, ob es wirklich richtig war, einem mächtigen Wesen, das vollkommen fremdartig war, immer wieder aufs neue Mitglieder seines Volkes zu opfern - als wenn dies ganz selbst­verständlich war. Denn es gab auch solche unter den Mroni, die nach vollzogener Opferung nicht jubelten, sondern sich hastig wieder in ihre Behausungen zurückzogen, um über den Tod des geliebten Sohnes oder der geliebten Tochter zu trauern. Trachtan wusste das, aber er hatte das bisher nicht sehen wollen. Aber dann kam der Tag, wo auch er auf verhängnisvolle Weise die Wahrheit erkannte. Nämlich dass die Opferungen ein einziges Verbrechen an seinem Volk darstellten!

Er erkannte es, als ihm seine Frau eine Tochter schenkte, die sein ganzer Stolz war. Unter den Priestern der Mroni war es gestattet, zu heiraten, denn es zählte zur Religion seines Volkes, dass die Glaubens­führer auch in weltlichen Fragen sich nicht isolierten. Es war ihnen also freigestellt, eine Familie zu gründen oder die Ehelosigkeit zu wählen. Solange sie ihr Amt gut erfüllten.

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Ynkia, die Tochter der Priesterfamilie, war fünf Jahre alt, als das Los des neuen Opfers ausgerechnet auf sie fiel. Nach jedem neuen Zyklus, in dem die Lava des Sees kochte und heiße Dämpfe ausspuck­te, war es Tradition, ein Opfer auszuwählen und Zych zu besänftigen - und dies hatte in den letzten Jahren mit großer Regelmäßigkeit statt­gefunden. Die Wahl des jeweiligen Opfers wurde dem allmächtigen Schicksal überlassen - und natürlich dem Los. Und so traf es ausge­rechnet die kleine Ynkia, die noch viel zu jung war, um überhaupt zu begreifen, was sie schon in den nächsten Tagen erwartete.

Für Trachtan und seine Frau brach eine Welt zusammen, als sie erfuhren, dass Ynkia das nächste Opfer Zychs sein sollte. Es erging ihnen nicht anders wie jeder Familie, die jetzt erfuhr, dass sie ihr Kind verlieren würde. Erst als Trachtan die Tränen seiner Frau sah, wurde er plötzlich wankelmütig in seiner bedingungslosen Treue zu Zych.

Sein bisher total gefestigtes Weltbild geriet in diesem Augenblick ins Wanken. Er liebte die kleine Ynkia und der bloße Gedanke daran, dass der gehörnte Zych sie mit seinen furcht erregenden Krallen zer­reißen und mit sich in die Tiefe nehmen würde, ließ ihn von da an nicht mehr schlafen. Er wusste, dass es schon ein Sakrileg war, allein diesen Gedanken zu folgen, aber Trachtan war nicht nur Priester, son­dern auch ein Mensch, der seine Familie liebte und sie beschützen wollte. Nun begriff er das Verhalten der anderen Mroni, die bereits einen Sohn oder eine Tochter zur Opferung hatten freigeben müssen. Trachtan hatte zunächst immer nur verächtliche Blicke für sie übrig gehabt, wenn sie nicht in die Freudenrufe der anderen Mroni bei der Opferzeremonie einfielen. Aber jetzt wurde es ihm so klar wie nie zu­vor und er fragte sich, warum er es erst jetzt verstand, in welche Ab­hängigkeit sich die Mroni gegeben hatten. Gut, Zych hatte ihnen viel gegeben - aber er hatte ihnen dafür um so mehr genommen. Etwas, das man nicht nehmen durfte - wenn es noch einen Respekt vor dem Leben gab.

Trachtan behielt diese Gedanken für sich. Er wagte es nicht, sich den anderen Priestern mit seinen Gedanken anzuvertrauen, denn als Oberhaupt dieser Glaubensgemeinschaft erwartete jeder unbedingten Gehorsam Zych gegenüber. Trachtans Frau dagegen erhielt Besuch

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von denjenigen, die bereits ein Familienmitglied verloren hatten und wussten, was Trauer bedeutete. Sie sprachen ihr Mut zu, aber das tröstete sie nicht. Da reifte der Entschluss in Trachtan, nicht zuzulas­sen, was das Gesetz seines Volkes und der gehörnte Zych von ihm erwarteten.

Wieder ertönten die dumpfen Trommeln in den Tempelhallen, die zur Opferzeremonie riefen, als der Lavasee erneut seine Dampfwolken ausspuckte. Das Ritual stand kurz bevor. Trachtan, der bereits die schwarze Robe Zychs trug, sprach ein letztes mal mit seiner Frau, be­vor auch er sich zusammen mit Ynkia in den Tempel begab. Sie wuss­te, dass er ihr versprochen hatte, alles zu verhindern und Zych umzu­stimmen. Ynkia selbst hatten sie ein Mittel gegeben, was sie in einen tiefen Schlaf versetzt hatte. Sie würde nicht mitbekommen, was in diesen so entscheidenden Stunden alles geschah. Und sollte Trachtans Plan wirklich noch fehlschlagen - so würde Ynkia keinen Schmerz mehr spüren, wenn Zych sich wirklich nicht gnädig stimmen ließ.

Als die Trommeln verstummten und sich das Volk am Ufer des Sees versammelt hatte, verließ auch Trachtan den Tempel und ging hinaus auf die breite Plattform, die ein großes Stück auf die Oberfläche des Lavasees hinausragte. Es herrschte Stille, die nur von dem Brodeln des Sees durchbrochen wurde. Die Trommeln hatten bereits nach dem allmächtigen Gott gerufen und das unruhige Hin und Her der kochen­den Lava zeigte dem obersten Priester, dass Zych bereits auf dem Weg zur Oberfläche war.

Er breitete beide Arme aus, wie er es jedes mal tat, wenn er eines der Opfer Zych übergab. Aber diesmal tat er es nicht schweigsam, sondern ließ seine Stimme erschallen. So laut, dass es auch viele der Mroni hören konnten, die in den vordersten Reihen am Seeufer stan­den.

»Mächtiger Zych!«, rief Trachtan mit fester Stimme. »Wieder kommst du, um dir ein Opfer zu holen - so wie du es in dem uralten Pakt zwischen dem Volk der Mroni und dir forderst. Aber es ist kein Pakt, sondern eine Qual für unser ganzes Volk. Es ist unrecht, dass Menschen noch weiter sterben müssen. Wir lehnen es ab, dir noch

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mehr Opfer zu bringen. Dies muss aufhören - meine Tochter Ynkia soll leben!«

Bei diesen Worten blickte er auf den reglosen Körper seiner Toch­ter. Ynkia lag bewusstlos auf dem Blutaltar Zychs und trug auch ein Gewand in derselben Farbe. Sie schlief immer noch tief und fest und Trachtan betete im stillen, dass dies auch weiterhin der Fall sein wür­de, falls sein Plan nicht gelingen sollte.

»Schluss mit dem sinnlosen Opfern!«, rief er dann und registrierte mit Genugtuung, dass diese Worte nicht ohne Folgen blieben. Denn als die anderen Mroni dies hörten, wurde die Menschenmenge von einer Unruhe erfasst. Es waren zuerst nur wenige, die den Ruf des obersten Priesters aufgriffen und ihm folgten. Aber schließlich wurde daraus ein gewaltiger Chor, der die Entscheidung Trachtans auch für sich bean­spruchte.

»Schluss mit dem Opfern - Schluss mit dem Sterben unserer Söh­ne und Töchter!«, erklang es vom Ufer des Lavasees her, der jetzt um so mehr zu brodeln und zu wirbeln begann. Doch Trachtans mutige Tat ließ die Mroni jetzt nicht mehr innehalten. Sie hatten in all dieser Zeit zuviel Schlimmes erdulden müssen. Es bedurfte erst der mutigen Tat eines Einzelnen, um ihnen die Augen zu öffnen. Nein, sie wollten sich nicht mehr länger dem Willen Zychs unterwerfen - nicht wenn er ihnen noch weitere Opfer abverlangte! Ein Schrei gellte in der Menge auf, als der Lavasee sich plötzlich teilte und die gigantische Gestalt des mächtigen Zych hervorkam. Es war ein Wesen jenseits menschlichen Ermessens, von einer Größe, die alle Bauten in der Welt der Mroni überragte. Aus seinem Kopf ragten zwei gewaltige Hörner empor, die eine wütende Fratzeumrahmten, die sich nun auf Trachtan und alle anderen Mroni richtete. Ein Gesicht, das Zorn und Tod widerspiegelte!

»Lass ab von diesem Opfer, mächtiger Zych!«, rief ihm Trachtan nun zu, obwohl er spürte, wie seine Knie zu zittern begannen. »Mäch­tiger Zych - wir werden dir auch weiterhin folgen. Aber das Sterben unserer Kinder muss nun ein Ende haben!«

Ein Grollen entrang sich daraufhin der Kehle des gewaltigen Got­tes. Ein Grollen, das die Grundmauern der Häuser am Rand des Sees erzittern ließ. Dann wurde daraus ein ohnmächtiges Brüllen. Die große

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Pranke des Gottes zuckte vor und zerschmetterte einen Teil der Tem­pelplattform, während auch ein Teil der Lava nun über das Ufer schwappte und eine Handvoll Mroni mit in den Tod riss. Trachtan be­merkte das jedoch nicht, denn er sah, wie Zych nun seine Pranke nach dem Opfer auszustrecken begann.

»Nein!«, schrie er laut und stürzte sich nach vorn. »Nimm mich, mächtiger Zych - aber verschone Ynkia. Sei verflucht dafür bis zum Ende deines unseligen Lebens!«

Erneut wurden Trachtans Worte von dem ohrenbetäubenden Ge­brüll Zychs unterbrochen. Eine gewaltige Faust packte den mutigen Priester und zerschmetterte ihn auf der Stelle. Trachtan sah nicht mehr, wie dann der Tempel unter der Zerstörungswut Zychs auseinan­der gerissen wurde. Die schlafende Ynkia wurde unter den einstürzen­den Trümmern begraben, ebenso ein Teil der Priester, die mit schre­ckensbleichen Mienen sahen, was auf sie zukam.

Panik breitete sich im Volk der Mroni aus, als Zych seinen unge­bändigten Zorn an ihnen ausließ. Er schleuderte ihnen hohe Lavawel­len entgegen, die gleich mehrere Häuser zum Einsturz brachten und Menschen töteten. Das Chaos regierte in diesem Augenblick, brachte Tod und Gewalt. Das Volk der Mroni war nun dem Untergang geweiht, als Zych unter den Menschen wütete, weil sie ihm das Opfer verwei­gerten. Jetzt würde er sich nicht nur ein Opfer holen, sondern das ganze Volk!

Die über die Ufer des Sees tretenden Wellen der glühenden Lava rissen diejenigen Mroni in den Tod, die nicht schnell genug die Flucht ergriffen hatten. Aber selbst die, denen das noch gelungen war, star­ben schon wenige Augenblicke später, als die gewaltige Faust des Got­tes Häuser zerschmetterte und Steinbrocken nach den Mroni schleu­derte. In einer einzigen Apokalypse der Vernichtung starb das Volk, das seinem Gott die Treue verweigert hatte - nur weil es gewagt hatte, sich seinem Willen zu widersetzen.

Zych wütete und tobte noch eine Zeit lang, bis die Welt vollkom­men zerstört war, die er mit errichtet hatte. Dann breitete sich eine grauenhafte Stille in der unterirdischen Welt aus. Wo einst Menschen gelebt hatten, gab es nur noch Tod und Vernichtung. Erst jetzt ließ

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Zych in seinem Groll ab und zog sich dann wieder in die Tiefen seines glühenden Reiches zurück - enttäuscht von den Mroni, die sich gegen ihn gestellt hatten. Von da an beschloss der Gott, sein Reich nicht mehr zu verlassen. Er fiel in einen tiefen Schlaf, der viele Jahrhunderte dauern sollte...

*

Irgendwann hatten sie die bizarre Welt der Tropfsteinfelsen hinter sich gelassen und einer Einbuchtung in den Felsen gefolgt, die in einen größer werdenden Tunnel mündete. Vor langer Zeit einmal mussten Unmengen von Wasser diesen natürlichen Gang geschaffen haben, als sich vielleicht ein unterirdischer Fluss hier sein Bett gegraben hatte. Und immer noch führte dieser Weg nach unten, jedoch diesmal sogar noch etwas steiler als zuvor, so dass ein Vorwärtskommen um so be­schwerlicher war.

Die Luft in diesem engen Gang roch alt und irgendwie bitter. Tho­rin hatte sich schon wiederholt bücken müssen, um mit dem Kopf nicht gegen einen Vorsprung in der Decke des Ganges zu stoßen. Lorys kam in dieser Enge besser zurecht, aber auch sie bekam allmählich Platz­angst in diesem engen Gang, der immer weiter in die Tiefe führte.

Thorin hielt inne, als er plötzlich ein leises Grollen hörte, das den Boden unter seinen Füßen ergriff und nur wenige Atemzüge lang an­hielt. Dann jedoch schien sich die Erde jedoch wieder zu beruhigen. Das Grollen ebbte ab und verschwand so schnell wie es aufgetreten war.

»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Lorys von Thorin wissen. »Gibt es wieder ein Beben?«

»Das ist gut möglich«, erwiderte er. »In dieser Tiefe muss man mit allem rechnen. Wir sollten deshalb so schnell wie möglich diesen engen Gang hinter uns bringen. Wenn die Erde erst kräftig zu beben beginnt, dann sind wir hier in einer tödlichen Falle.«

Beide beschleunigten jetzt ihre Schritte. Sie wollten so rasch wie möglich die bedrückende Enge dieses Ganges hinter sich bringen. Egal

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was am Ende dieses Weges auf sie wartete - aber hier konnten sie sich kaum bewegen.

Das rötlich schimmernde Licht, das direkt aus dem Gestein kam und den Gang notdürftig beleuchtete, schien wenige Schritte hinter einer Biegung intensiver zu werden. Gleichzeitig spürte Thorin den leisen Lufthauch. Irgendwo dort vorn musste der Gang zu Ende sein.

Wenig später standen der Nordlandwolf und die Fürstin vor einem dicken Felsbrocken, der ihnen den Weg versperrte. Thorin stieß einen leisen Fluch aus, als er versuchte, sich durch den engen Spalt zu zwängen, der links und rechts von dem Gesteinsbrocken noch klaffte. Aber das war vergebliche Mühe.

Selbst für Lorys mit ihrer grazilen Gestalt wäre es unmöglich ge­wesen, sich hier noch hindurchzuzwängen. Aber es gab nur diesen einen Weg, der sie aus der Enge ihrer augenblicklichen Umgebung befreien konnte und deshalb gab es nur eine einzige Möglichkeit. Tho­rin musste versuchen, unter Aufbietung sämtlicher Kräfte diesen ge­waltigen Brocken beiseite zu schieben.

Er deutete Lorys mit einer unmissverständlichen Geste an, einige Schritte zurück zu gehen. Thorin presste seine linke Schulter gegen den verwitterten Stein und drückte gegen das Gewicht so gut er konn­te. Schweiß trat auf seine Stirn, als er spürte, wie sich der Felsbrocken ganz leicht bewegte. Sofort verstärkte Thorin den Druck an dieser Stel­le, stemmte beide Beine fest in den Boden und stöhnte.

Wieder ging ein Ruck durch den Felsbrocken und löste ihn aus seiner Verankerung. Der gewaltige Stein geriet ins Wanken und Thorin presste erneut seinen Körper dagegen. Der Felsen durfte auf gar kei­nen Fall wieder zurückrollen, sonst würde Thorin es nicht mehr schaf­fen. Aber das Glück war diesmal auf seiner Seite. Der Felsen wankte ein zweites mal und kippte dann über. Erst jetzt konnte Thorin erken­nen, dass der Felsen in einer flachen Mulde gelegen hatte, die nun überwunden worden war. Der Felsen rollte nun von selbst weiter, er­reichte schließlich das Ende des Ganges und stürzte dann jäh in einen Abgrund. Mit einem berstenden Geräusch kam der Gesteinsbrocken wenige Atemzüge später unten auf dem Boden auf, während eine Flut von rötlichem Licht nun den Gang erhellte und dem Nordlandwolf und

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der Frau spätestens jetzt zeigte, dass der Felsen tatsächlich den Aus­gang versperrt hatte. Den Ausgang in die Freiheit? Thorin wusste es nicht, aber er würde es gleich erfahren.

Ein erstaunter Ruf kam über seine Lippen, als er zusammen mit Lorys am Rande einer Klippe stand, die ziemlich steil nach unten führ­te. Aber das war es eigentlich nicht, was sein Erstaunen weckte. Son­dern vielmehr die Reste etlicher Bauten am Fuße der Klippe sowie der schimmernde See, der sich hinter den Trümmern der Bauwerke er­streckte. Der bittere Geruch nach Schwefel war jetzt noch intensiver geworden.

»Eine Stadt«, murmelte Lorys, als sie neben Thorin trat und nun auch erkannte, was er zuvor schon bemerkt hatte. »So tief hier unten in der Erde. Und unser Volk hat das nicht gewusst...«

»Kein Wunder«, erwiderte Thorin daraufhin. »Die Stadt ist schon lange zerstört. Vielleicht ist sie durch ein unterirdisches Beben vernich­tet worden - wir werden es nie erfahren, Lorys. Denn hier lebt nie­mand mehr. Aber wenn hier jemals Menschen fernab der Sonne gelebt haben, dann werden auch wir es können. Ich bin schon sehr neugierig auf die Stadt und ihre Reste - aber noch viel mehr auf die Pflanzen, die dort unten am Fuße der Klippen wachsen. Siehst du sie?«

Lorys beugte sich ein Stück vor und sah nach unten in die Tiefe, nickte dann.

»Vielleicht sind das die Reste der Felder, die die einstigen Bewoh­ner dieser Stadt angelegt haben«, meinte Thorin. »Und Felder bedeu­ten Nahrung...« Er hielt einen Moment inne, sah erneut nach unten in die Tiefe und versuchte, von hier aus zu erkunden, wie man am bes­ten nach unten klettern konnte. Für einen erfahrenen Krieger wie ihn stellte das keine große Mühe dar, denn er entdeckte genügend Risse und Vorsprünge in der Wand, die ihm einen sicheren Halt ermöglich­ten. Aber er war ja nicht allein, sondern mussten auf Lorys Rücksicht nehmen. Auf eine Frau, die sich vor dem Abgrund fürchtete!

»Hab keine Angst, Lorys«, sagte er rasch. »Es ist der einzige Weg, der nach unten führt. Du musst mir nur vertrauen. Ich bringe uns bei­de sicher hinab. Klammere dich ganz fest an mich und sieh nicht in die Tiefe. Du wirst sehen, dass es nicht lange dauern wird.«

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Natürlich war es nicht so einfach, wie er ihr das schilderte. Aber wenn Lorys jetzt unruhig wurde, dann kamen sie niemals nach unten.

»Ich vertraue dir, Thorin«, sagte Lorys. »Also bringen wir es hin­ter uns.«

Er trat vor, beugte sich nieder und versuchte mit den Beinen einen Halt unterhalb der Klippe zu finden. Erst als er ganz sicher stand, sah er zu Lorys und streckte ihr seinen rechten Arm entgegen.

»Und jetzt du!«, rief er. »Komm hierher und vergiss die Tiefe - ich halte dich ganz fest!«

Lorys war tapfer, als sie ebenfalls ganz vorsichtig denselben Halt wie Thorin fand. Sie klammerte sich anschließend ganz fest an ihn, während er bereits nach einer weiteren Stelle in den Klippen suchte, die sein und Lorys Gewicht tragen würde. Er fand den Vorsprung we­nig später und erreichte ihn ohne große Probleme, obwohl er jetzt ein zusätzliches Gewicht zu tragen hatte.

Auf diese Weise kamen sie langsam, aber stetig nach unten, wa­ren bereits jetzt schon mehr als zwei Mannslängen vom oberen Rand der Klippe entfernt. Zu weit, um jetzt wieder hinaufsteigen zu können ­aber ebenfalls noch zu hoch, um jetzt schon auf ein sicheres Ankom­men am Fuße der Klippe hoffen zu können.

Ausgerechnet jetzt erzitterten die Felsen unter einem weiteren Beben und Thorin spürte, wie das Gestein unter seinen Füßen zu brö­ckeln begann. Im letzten Moment schaffte er es noch, einen anderen Halt zu finden, während Lorys Todesängste ausstand. Dann aber stand er wieder sicher.

Trotzdem wartete er noch eine Zeit lang ab. Auch wenn das Be­ben bereits schon abgeflaut war, so wollte er lieber ganz sicher sein, bevor er nicht doch noch abstürzte. Die Erde lebte und pochte hier unten. Thorin spürte ihren schwefligen Atem, je näher er sich dem Fuße der Klippe näherte. Und hier unten hatten einmal Menschen ge­lebt! Wie war das überhaupt möglich gewesen?

»Gleich haben wir es geschafft«, murmelte Thorin leise. »Es ist nicht mehr weit...«

Trotzdem schien für Lorys noch eine halbe Ewigkeit zu verstrei­chen, bis Thorin endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte

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und fest auf beiden Beinen stand. Erst jetzt löste sie sich von ihm und atmete erleichtert auf. Sie blickte noch einmal hinauf zu der Stelle in den Klippen, von wo aus sie diesen Abstieg begonnen hatten und konnte es jetzt gar nicht glauben, dass sie sich auf dieses Wagnis ü­berhaupt eingelassen hatten. Denn von hier unten aus erschien ihr die Felswand glatt und unüberwindlich. Thorins Entschlossenheit hatte ihr jedoch deutlich gezeigt, dass man auch solch ein Hindernis überwin­den konnte, wenn man es nur wollte...

Thorin und Lorys gingen nun hinüber zu den Pflanzen, die direkt aus den Felsen zu wachsen schienen. Sie waren von einer eigenartig gelblich-grünen Farbe und trugen an den Stauden hülsenähnliche Früchte. Thorin riss einige Schoten auf, roch kurz daran und sah dann zu Lorys.

»Ich glaube, wir können das essen«, meinte er zu ihr. Um seinen Worten den nötigen Nachhalt zu geben, tat er das auch schon wenig später. Lorys blickte ihn gespannt an und sah dann, wie ein Lächeln der Erleichterung über seine markanten Züge glitt.

»Hier«, sagte er und drückte ihr einige Schoten in die Hand. »Du hast bestimmt genau so großen Hunger wie ich...«

Die beiden spürten, wie sehr sie Nahrung benötigten und waren sehr froh darüber, dass sie jetzt endlich etwas gefunden hatten. Die Hülsenfrüchte hatten zwar einen eigenartigen etwas ranzigen Ge­schmack, aber sie stillten den Hunger und halfen ihnen, zu neuen Kräf­ten zu kommen.

»Und jetzt werden wir uns die Stadt einmal ansehen«, schlug Tho­rin vor. »Unser Weg führt ohnehin in diese Richtung...«

*

Zwischenspiel III Er hörte die eindringliche Stimme von ganz weit weg. Zuerst glaubte er, sie gehöre zu seinen seit Äonen währenden Träumen, aber dann erkannte er, dass es diesmal anders war. Es war eine Stimme, die zu­erst sehr leise klang, aber schon bald fühlte er ihre Botschaft immer intensiver.

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DAS OPFER IST BEREIT FÜR DICH, hörte er die Stimme und große Verwirrung überkam ihn im ersten Moment, denn Opfer und Ehrerbie­tung - all dies waren Dinge, die unendlich weit zurück lagen. In einer Zeit, in der Zych noch über ein ganzes Reich geherrscht hatte.

HOL DIR DEIN OPFER, forderte ihn die Stimme jetzt ganz deutlich auf. ERWACHE AUS DEINEM SCHLAF - DIE ZEIT DER RUHE IST VOR­BEI. NUN IST EINE NEUE ZEIT ANGEBROCHEN - EINE ZEIT, IN DER DU WIEDER HERRSCHEN WIRST!

Etwas regte sich in Zych - es waren eigenartige Empfindungen, die er erst wieder lernen und begreifen musste, denn sie waren ihm fremd geworden. Erneut lauschte er auf die Worte der fremden Stim­me in seinem Inneren und versuchte den Sinn der neuen Worte zu begreifen, bemühte sich zu verstehen, was dies nun für ihn bedeutete.

Die tiefen Schleier der Träume zerrissen allmählich. Schleier der Erinnerungen kamen wieder, trugen ihr übriges dazu bei, dass der mächtige Gott immer mehr aus dem tiefen Schlaf erwachte, in den er sich selbst geflüchtet hatte.

ZWEI OPFER SIND ES, DIE DU BEKOMMEN WIRST, klang die ver­lockende Stimme erneut in seinem Inneren. DU MUSST SIE DIR NUR NOCH HOLEN. KOMM HERAUS AUS DER TIEFE DES FEURIGEN SEES UND ZEIGE DICH...

Zych wälzte sich noch unruhig auf seinem Lager inmitten des La­vasees. Aber er spürte die Hitze überhaupt nicht, die in dieser uner­gründlichen Tiefe herrschte. Sie war ein Element des Lebens, das er so sehr brauchte wie das Volk der Sterblichen die Luft zum Atmen.

Gedanken an eine vergangene Zeit überkamen den gehörnten Gott erneut. Wem gehörte diese Stimme, die ihn gerufen hatte? War es ein Priester des Volkes, das er einmal beschützt hatte? Aber er hat­te die Mroni doch vor so langer Zeit vernichtet! Gab es trotzdem noch Überlebende, die sich an die alten Zeiten erinnerten und jetzt wieder seinen Beistand und seinen Schutz erflehten? Zych wollte es nicht glauben, aber erneut hörte er die eindringliche Stimme, die ihn mit immer stärker werdender Intensität aus seinen Träumen riss und ihn aufforderte, zu den Ruinen des alten Tempels zu kommen.

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Zych wusste nicht, dass es außer ihm noch andere Wesen gab, die über starke Kräfte verfügten und die sich ebenfalls auf dieser Welt vor langen Zeiten niedergelassen hatten. Der gehörnte Gott war ein Ein­zelgänger, der fast nur an seine animalischen Instinkte dachte - und an die ihm zustehenden Opfer, mit denen er den Hunger stillen konn­te. Er wusste nichts von den Mächten der Finsternis.

Und genau diese Mächte waren es, die ihn jetzt wieder ins Leben zurückriefen und ihm Opfer versprachen. Opfer, nach denen er nun dürstete. Denn es war zuviel Zeit vergangen, seit man ihm zum letzten mal solch eine Ehre erwiesen hatte. Eine Ehre, die längst schon fällig geworden war. Und Zych merkte nicht, wie die Stimme jetzt trium­phierte...

*

Orcon Drac zog sich langsam zurück, als er mit Genugtuung registrier­te, dass sein Plan aufgegangen war. Das Wesen aus den Tiefen des Lavasees war erwacht und würde nun seinen Weg nach oben suchen, während Thorin und die Frau völlig ahnungslos waren und in den Rui­nen der untergegangenen Stadt umherstreiften und sich allmählich den Ruinen des einst mächtigen Tempels näherten. Auch wenn die Knochenhöhle von dieser Stelle des dunklen Reichs noch ein gutes Stück entfernt war, so glaubte er dennoch das leichte Zittern zu spü­ren, das die Erde mittlerweile erfasst hatte. Ein Zittern, das die An­kunft des Wesens aus dem Lavasee ankündigte und den Tod der bei­den Sterblichen bedeutete. Zych würde den Götterkrieger und die Frau mit seinen gewaltigen Pranken zerreißen, bevor sie begriffen, wie ih­nen geschah.

Orcon Dracs Gedanken brachen ab, als er plötzlich dumpfe Schrit­te vor dem Eingang der Knochenhöhle hörte. Er wandte seine Blicke von den Flammen des Feuers ab und sah in diesem Moment, wie vier Echsenkrieger die Höhle betraten und sich sofort vor dem Ritter der Finsternis zu Füßen warfen. Orcon Drac deutete den Geschöpfen mit einer kurzen, aber umso deutlichen Geste an, sich wieder zu erheben,

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denn ihn interessierte jetzt nicht ihre Unterwerfung, sondern das, was sie ihm jetzt zu berichten hatten.

»Samara ist gefallen!«, erklang nun die gutturale Stimme eines der Wesen. Die Worte aus der Kehle des Echsenkriegers waren unge­wohnt für ein Geschöpf, das sonst kaum die Sprache beherrschte, sondern sich nur durch Laute in verschiedenen Tonlagen verständigen konnte. Aber es bedurfte nicht vieler Worte. Kraft seines Geistes konn­te der Ritter der Finsternis aus den Erinnerungen der Echsenkrieger all das herausholen, was er wissen wollte.

»Ist das Heer aus Kh'an Sor zerschlagen?«, fragte Orcon Drac dennoch und veranlasste die Echsenkrieger dadurch, ihm ihre Erinne­rungen zu öffnen. Orcon Drac sah ein flüchtendes Heer, das sich schon als Sieger gefühlt hatte. Er sah eine in Flammen stehende Stadt, die dem Untergang geweiht war. Rauch und hoch empor lodernde Flam­men verdeckten die Leichen von vielen Toten. Die Schreie der Ster­benden waren längst verstummt und eine furchtbare Stille war in die verkohlten Mauern von Samara eingekehrt. Eine Stille, die etwas End­gültiges an sich hatte.

»Ihr habt gut gekämpft!«, lobte Orcon Drac nun die Geschöpfe, deren Heimat die Sümpfe von Cardhor waren. »Die Götter sind stolz auf euch und sie werden euch schon bald dafür belohnen. Geht jetzt wieder hinauf und bereitet die Stadt für die Heere der Finsternis vor. Sie werden schon sehr bald hier sein - und jetzt lasst mich allein!«

Die Krieger verbeugten sich kurz vor Orcon Drac und zogen sich dann wieder zurück. Sie verschwanden wieder so plötzlich wie sie ge­kommen waren, gingen auf verschlungenen Pfaden, die nur sie kann­ten, wieder zurück an die Oberfläche, um in den Ruinen der Stadt Sa­mara ein neues Reich errichten zu helfen. Ein Reich, das nun unter dem Einfluss der dunklen Mächte stand!

*

Thorin spürte den beißenden Schwefelgeruch, je näher er und Lorys den Ruinen der Stadt kamen. Es schien direkt vom See her zu kom­men, über dessen Oberfläche Dampfwolken zogen, während ein leich­

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tes Grollen zu hören war. Irgendwo tief unter der Oberfläche arbeitete es und Thorin hatte das Gefühl, als wenn dieses Brodeln der heißen Flut zugenommen hatte, seit er und Lorys die Ruinen der Stadt betre­ten hatten. Es war auch heißer geworden - das merkte man sofort. Nicht gerade ein gutes Zeichen, denn das bedeutete, dass der Vulkan unter der Oberfläche des Sees immer noch gefährlich war und womög­lich kurz vor einem erneuten Ausbruch stand.

Der Nordlandwolf wusste um die Gefahren ausströmender Lava, denn in seiner Heimat, in den Eisländern des Nordens, gab es auch Feuer speiende Vulkane, die von Zeit zu Zeit glühende Lava hoch em­por schleuderten und somit eine tödliche Gefahr darstellten. Aber sol­che Ausbrüche kündigten sich immer vorher an - dafür gab es untrüg­liche Zeichen, die die Bewohner der Eisländer zu deuten wussten. Und deshalb trafen sie immer rechtzeitig vorher entsprechende Vorkehrun­gen, um sich selbst und ihre Familien vor der Vernichtung durch aus­strömende Lava in Sicherheit zu bringen.

Allerdings war dieser unterirdische Vulkan heimtückischer und ge­fährlicher. Denn niemand wusste, was unter der Oberfläche der erkal­teten Lavamasse brodelte. Einst musste dies hier einmal ein ganzer See aus Feuer gewesen sein und Thorin fragte sich, wie es die Men­schen überhaupt geschafft hatten, in dieser Hitze überhaupt leben zu können. Fragen, auf die er wohl niemals eine Antwort erhalten wür­de...

»Ob es ein plötzlicher Ausbruch war, der die Stadt vernichtet hat?«, riss ihn Lorys Stimme aus seinen Gedanken. »Sieh doch«, sagte sie und wies auf einige erkaltete Lavabrocken, die einen Teil der ehe­mals gepflasterten Straße verschlungen hatten. »Die Lava ist bis hier­her vorgedrungen. Bestimmt geschah alles so schnell, dass niemand mehr Zeit hatte, um sich...«

»Wer weiß?«, erwiderte er mit einem viel sagenden Blick und spähte misstrauisch nach allen Seiten. Die Ruinen der Stadt und die intensive Stille beunruhigten ihn zusehends. Er spürte die wachsende Gefahr, die unsichtbar über der Stadt hing und fand keine Erklärung dafür. Denn wo er auch hinblickte - er sah nichts, das auf die Anwe­senheit von Gegnern hindeutete, die eventuell im Hinterhalt lauerten,

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um dort nur noch den richtigen Moment abzuwarten, um dann über Thorin und Lorys herzufallen und ihnen den Garaus zu machen. Die Bewohner dieser unterirdischen Stadt mussten von kleiner Gestalt ge­wesen sein. Thorin erkannte es an den Resten der Bauten und an den wenigen Türöffnungen, die von den Urgewalten der ausbrechenden Lava durch eine unergründliche Laune des Schicksals verschont geblieben waren. Vielleicht waren das auch schon gar keine Menschen mehr, dachte er im stillen. Denn wer kann schon am Ufer eines großen Lavasees leben und solch eine Hitze aushalten?

Lorys stieß einen Schreckensschrei aus, als sie plötzlich ein ver­modertes Skelett neben einem Mauerrest liegen sah. Sie wandte ganz schnell den Blick zur Seite und suchte Schutz bei Thorin. Er zog Lorys hastig mit sich, um ihr noch mehr zu ersparen. Denn wie er jetzt sah, lagen unweit davon entfernt noch weitere Knochenhaufen. Reste von Menschen, die der Tod ganz plötzlich heimgesucht hatte. Ein schlim­mer und heimtückischer Tod!

Vorsichtig gingen sie weiter, folgten den zerstörten Resten einer ehemals prächtigen Straße, die genau durch das Zentrum der Stadt führte. Zu einer Ruine, deren Reste wuchtiger und gewaltiger wirkten als die anderen Bauten ringsherum. Und genau das weckte Thorins Neugier, denn er entdeckte in diesem Moment eine Art Plattform vor den verwitterten Steinen des eingestürzten Bauwerks, die ziemlich weit hinaus auf den See führte. Fast wie eine kleine Brücke. Ob das ein heiliger Platz gewesen war, wo sich das Volk und dessen Priester einst versammelt hatten, um längst vergessenen Göttern zu huldigen? Tho­rin konnte in diesem Augenblick allerdings nicht ahnen, wie nahe er den Tatsachen mit dieser Vermutung lag und dass die Götter dieses Volkes noch längst nicht vergessen waren. Im Gegenteil!

Hin und wieder sahen sie die Skelettreste einiger Stadtbewohner, die vom Zahn der Zeit noch nicht verschlungen worden waren. Aber Lorys hatte nun die Schrecken des ersten Anblicks überwunden und fuhr nicht mehr zusammen. Jedoch vermied sie es nach wie vor, län­ger als unbedingt nötig dorthin zu sehen.

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»Das muss ein Tempel oder irgend eine andere Kultstätte gewe­sen sein«, ergriff Lorys nun das Wort, als sie sich einigen heil geblie­benen Stufen näherten. »Willst du dich dort umsehen, Thorin?«

»Ja«, nickte er. »Vielleicht erfahren wir so etwas darüber, was für ein Unglück sich hier vor langer Zeit abgespielt haben muss. Willst du hier warten oder mitgehen?«

»Allein bleibe ich hier auf gar keinen Fall«, versicherte ihm Lorys rasch und beschleunigte nun ihre Schritte. Gemeinsam näherten sie sich dann den Resten des eingestürzten Tempels, während jetzt ein erneutes Beben einsetzte und den Boden unter ihren Füßen ins Wan­ken brachte. Dieses Beben endete aber wieder rasch.

»Der Vulkan«, meinte Thorin. »Er arbeitet noch immer. Vielleicht wird er schon bald wieder ausbrechen. Deshalb sollten wir keine Zeit verlieren. Denn irgendwie müssen wir auf die andere Seite des Lava­sees gelangen.«

Und das war es auch, worüber sich Thorin ganz besonders den Kopf zerbrach. Denn schon in dem Moment, als er die Klippe hinunter­geklettert war, hatte er einen Eindruck von der Größe des Lavasees bekommen. Vielleicht blieb ihm und Lorys wirklich keine andere Mög­lichkeit, als einfach zu versuchen, zu Fuß die erkaltete Oberfläche des Sees zu überqueren. Und wenn ausgerechnet in diesem Augenblick der Vulkan ausbrach und den See wieder mit Lava füllte? Dann endete hier sein Weg...

Sie suchten sich einen Weg zwischen den Trümmern und erreich­ten wenig später die Reste der Plattform. Thorin entdeckte einen schwärzlich gefärbten Stein, der zu regelmäßig geformt war, als dass es sich um einen Lavabrocken handeln konnte. Deshalb ging er rasch darauf zu, um ihn zu untersuchen. Auch wenn dieser Stein ziemliche Verwitterung angesetzt hatte, so konnte man doch noch Reste von Einkerbungen darin erkennen.

»Ein Opferstein«, murmelte Thorin, als er die Einkerbungen richtig deutete. Auch wenn sie von ungelenker Hand angefertigt worden wa­ren, so konnte man trotzdem den Sinn und Zweck dieses Steins erken­nen. Thorin sah ein primitives Bild eines Menschen, der sich über den Stein gebeugt hatte, auf dem ein zweiter lag. Und im Hintergrund

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konnte man die Umrisse einer weiteren Gestalt erkennen, die aber weitaus größer als der Priester und das offensichtliche Opfer zu sein schienen. Eine Gestalt, aus deren wuchtigen Schädel zwei gewaltige Hörner herausragten. Das war kein menschliches Wesen, sondern ein Ungeheuer!

»Du hattest recht, Lorys«, sagte er und überlegte sich die nächs­ten Worte ganz genau, bevor er sie aussprach. »Das hier war einmal ein Tempel - und auf diesem Stein wurden Opfer dargebracht.«

»Und wem?«, wollte Lorys wissen. »Etwa diesem Wesen hinter dem Altar? Was bei allen Göttern ist das, Thorin?«

Noch bevor Thorin darauf etwas erwidern konnte, wurde der Erd­boden von einem erneuten Grollen heimgesucht. Und diesmal war es bedeutend kräftiger als vorhin!

*

Er bahnte sich seinen Weg aus der Tiefe der kochenden Lava und drang an die Oberfläche des erkalteten Sees vor - in eine Welt, die er vor Ewigkeiten verlassen hatte, um nie wieder dorthin zurückzukehren.

Die Erde begann zu beben, als Zych mit seinen gewaltigen Pran­ken Erde und Steine beiseite schob. Gleichzeitig floss die glühende Lava hinterher und folgte dem gehörnten Gott an die Oberfläche.

Ein schweres Beben erfüllte die Erde, das immer stärker wurde, je schneller Zych aus den Tiefen seiner Welt nach oben kam. Die Träume hatten ein Ende gefunden und nun erfüllte den gehörnten Gott der Wunsch nach Opfern, die er zerreißen und deren Blut er trinken konn­te. Ein Gefühl, das er schon fast vergessen hatte, überkam ihn wieder.

Die unbekannte Stimme hatte ihm gesagt, dass diesmal zwei Op­fer auf ihn warteten. Hieß das nicht, dass man ihn damit wieder als Herrscher des dunklen Reiches anerkannte und ihm wieder den nöti­gen Respekt zollte? Zych spürte eine wilde animalische Freude in sich, während er im Strom der glühenden Lava badete und weiter nach o­ben stieß.

ES IST EINE NEUE ZEIT GEKOMMEN, hatte ihm die Stimme ge­sagt und Zych hatte das nicht vergessen. Er würde wieder teilhaben an

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dieser neuen Epoche und den Platz innehaben, der einem Geschöpf wie ihm auch zustand.

Zych genoss die heiße Lava, die seinen Körper umspülte. Er bade­te in der unvorstellbaren Hitze, deren Temperaturen jedes andere menschliche Leben sofort innerhalb weniger Sekundenbruchteile ver­nichtet hätte. Zych kam der dunklen Welt immer näher, spürte schon ihre Nähe. Mit seinen Pranken stieß er weitere Felsbrocken beiseite und diese Hohlräume wurden von der nach fließenden Lava sofort ausgefüllt.

Erneut grollte die Erde, geriet vollkommen in Unruhe und zitterte jetzt unaufhörlich, als sich Zychs Rückkehr an die Oberfläche des tie­fen Sees ankündigte. Bereits jetzt schon besaß die glühende Lava ei­nen solch unbeschreiblichen Druck, dass sie hervor schießen würde wie eine große Fontäne. Genau wie damals, als Zych das Reich der Mroni hatte untergehen lassen. Vielleicht würde es heute wieder neu entstehen - sicher mit anderen Sterblichen, die erkannt hatten, dass man dem gewaltigen Zych weiterhin opfern musste.

Aber als Zych schon fast die Oberfläche des Sees erreicht hatte, spürte er auch etwas anderes. Da war eine Kraft, die er erst jetzt wahrnahm. Eine Kraft, die er als solche noch nicht gekannt hatte. Wut und Entschlossenheit ergriff den gehörnten Gott. Er würde sich von nichts und niemanden mehr aufhalten lassen. Erst recht nicht jetzt, wo seine triumphale Rückkehr kurz bevorstand. Zerschmettern würde er jeden, der es jetzt noch wagte, ihn aufzuhalten...

*

Zwischenspiel IV »Die entscheidende Schlacht wird schon bald stattfinden«, murmelte Odan, der Weltenzerstörer, als er und seine beiden Götterbrüder Thu­nor, der Donnerer und Einar, der Allwissende von Odans Kristallpalast hoch über den Wolken der menschlichen Welt verfolgten, wie die Wüs­tenstadt Samara unterging und ihre Bewohner einen schrecklichen Tod starben.

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»Modor, dieser Teufel, wird sein Reich nun auf Samara und Kh'an Sor ausdehnen«, fügte Thunor mit zorniger Stimme hinzu. »Es wäre besser gewesen, wenn wir das erst gar nicht zugelassen hätten.«

»Zum Eingriff ist es immer noch Zeit genug, Bruder«, ergriff nun der einäugige Gott im Kapuzengewand das Wort, weil er spürte, wie ungeduldig Thunor und Odan angesichts dieser verhängnisvollen Er­eignisse waren. »Es gehört doch mit zu unserem Plan, dass wir Modor in Sicherheit wiegen. Soll er sich diese beiden Reiche ruhig einverlei­ben. Aber die Stunde wird kommen, wo er erkennen wird, dass wir die Stärkeren sind...«

»Du vertraust wieder auf Thorin und Sternfeuer«, sagte Thunor mit tiefer Stimme. »Ich weiß wirklich nicht, ob es ein Sterblicher schafft, die Horden der Finsternis aufzuhalten, Einar. Vergiss nicht, dass die dunklen Götter in Orcon Drac einen Vasallen haben, der Tho­rin mindestens ebenbürtig ist.«

»Glaubt ihr, das hätte ich vergessen?«, antwortete der Gott im Kapuzengewand, dessen blindes Auge milchig schimmerte. »Aber ihr habt anscheinend die Schriften von Ushar vergessen, in denen genau aufgezeichnet ist, wie die letzte entscheidende Schlacht stattfinden wird - nämlich mit der Hilfe eines Sterblichen und der Klinge des Lichts! Deshalb vertraue ich Thorin - auch wenn ich jetzt die Verbin­dung zu ihm verloren habe...«

»Und warum hast du sie verloren, Allwissender?«, warf ihm Odan mit leicht spöttischer Stimme vor und betonte das letzte Wort sehr verächtlich. »Du bist doch derjenige von uns, der am meisten über diese Dinge weißt und bisher sind wir deinem Rat gefolgt. Ich sage ausdrücklich bis jetzt - aber ich denke auch daran, andere Wege zu gehen. Wenn die Götter der Finsternis ihr Heer zum Kampf bereit hal­ten, dann dürfen auch wir nicht länger zögern. Wann soll ich sie rufen, Einar? Unsere Kämpfer warten schon in Thunors Götterschmiede auf den Befehl zum Angriff...«

»Der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen«, antwortete Einar rasch, weil er nicht wollte, dass ihm Thunor und Odan ansahen, dass er selbst ziemlich unsicher war. Denn seit Thorin in die beginnende Schlacht von Samara eingegriffen hatte, war er aus dem Einflussbe­

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reich Einars ganz plötzlich verschwunden. Von einem Augenblick zum anderen und dafür hatte der einäugige Gott bisher noch keine Erklä­rung gefunden. Sicherlich hing es damit zusammen, dass auch die Gegenseite nicht untätig geblieben war und wahrscheinlich waren sie längst dabei, etwas gegen den Krieger des Lichts zu unternehmen, der auf der Suche nach dem Ritter der Finsternis war. Einar erinnerte sich jetzt wieder an das letzte Gespräch mit Thorin am Vorabend der Schlacht um die Wüstenstadt. Da hatte Thorin zum ersten mal einiges über die wahren Hintergründe erfahren, die die Mächte des Lichts und der Finsternis auf die alles entscheidende Auseinandersetzung zu trie­ben. Und Thorin hatte Einar versprochen, für die Mächte des Lichts zu kämpfen und den Ritter der Finsternis zu stellen und zu besiegen. Aber was war in der Zwischenzeit geschehen?

Es war, als würde ihn eine undurchdringliche Mauer von Thorin und Sternfeuer trennen. Eine Mauer, die vorher nicht da gewesen war und deshalb eine Gefahr für den Nordlandwolf darstellte.

»Ich verlange, dass du uns die Wahrheit sagst, Einar!«, forderte Odan den einäugigen Gott in einem Tonfall auf, der keinen Wider­spruch duldete. »Was ist mit Thorin?«

Einar spürte, dass er einen Fehler begangen hatte, weil er zum ersten mal an die Grenzen seiner eigenen Macht gestoßen war und dies die ganze Zeit über nicht hatte wahrhaben wollen. Stattdessen hatte er dieses Wissen einfach verdrängt und darauf gehofft, sehr bald wieder Kontakt zu Thorin zu bekommen. Er hatte sich dabei auf die Kräfte des Götterschwertes verlassen, die ihm den Weg zu dem Krie­ger des Lichts zeigen würden. Aber das war ihm bis jetzt nicht gelun­gen.

»Es ist eine Art Barriere«, erwiderte Einar wahrheitsgemäß und konnte nun den Blicken der beiden Götterbrüder nicht länger standhal­ten. »Ich kann sie nicht durchdringen. Sie lässt es nicht zu und...«

»Jede Mauer kann man bezwingen!«, schnitt ihm Thunor, der Donnerer das Wort ab. »Erst recht, wenn sie von den dunklen Mächten errichtet wurde. Lass es uns gemeinsam versuchen, Bruder. Mit mei­ner und Odans Hilfe ist das sicher möglich.«

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Einar nickte stumm. Natürlich hatte Thunor recht mit dem was er sagte und der einäugige Gott verfluchte im stillen die Tatsache, dass er so eitel gewesen war, um seine Schwäche vor seinen Brüdern so lange zurückzuhalten. Vielleicht hatte dies Thorin in der Zwischenzeit in große Schwierigkeiten gebracht.

»Gut«, sagte Einar schließlich, nachdem er seinen falschen Stolz überwunden hatte. »Wir werden es gemeinsam tun. Vertraut mir eu­ren Geist an, Brüder - ich werde euch führen zu dieser schwarzen Bar­riere und dann werden wir sie überwinden...«

Odan und Thunor waren mächtige Götter und sie besaßen gewal­tige Kräfte, die in der letzten Schlacht um die Welt der Sterblichen sicherlich von entscheidender Bedeutung sein würden. Aber trotzdem unterwarfen sie sich jetzt Einars Willen, ordneten ihm ihre geistigen Kräfte unter, ließen es zu, dass er Odans und Thunors Auren über­nahm und diese Kräfte nun sammelte, sie auf einen bestimmten Punkt konzentrierte.

Aus den drei Göttern wurde eine geistige Kraft, die nun den Kris­tallpalast verließ und hinunter zur Welt der Sterblichen stieß. Berge, Flüsse und Wüsten waren kein Hindernis für die geballte Kraft des Lichts und so erreichte diese Kraft nur wenige Augenblicke nachdem sie sich geformt hatte, den Ort ihrer Bestimmung. Odan und Thunor sahen mit Einars Augen das Bild der gewaltigen Zerstörung. Samara war eine verkohlte Ruinenstadt geworden und hoch über den einge­stürzten Zinnen des Fürstenpalastes kreisten Dutzende von Aasvögeln, die sich auf die vielen Leichen stürzten. Die einzigen Überlebenden in den Mauern der Stadt waren die Echsenkrieger. Aber konnte man hier wirklich noch von Leben sprechen?

Nun spürten sie die Aura der unsichtbaren Barriere, als Einar ver­suchte, seine und die geistige Kraft seiner Götterbrüder auf die Kata­komben der verbrannten Wüstenstadt zu konzentrieren. Beim ersten mal gelang es ihm überhaupt nicht. Aber trotzdem spürte Einar, dass auf der anderen Seite der Barriere Dinge geschahen, die von weit rei­chender Bedeutung waren. Dinge, die besser im Reich des Vergessens hätten versinken sollen! Jetzt wusste er, dass es richtig gewesen war,

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mit Thunor und Odan eine Einheit zu bilden und zu versuchen, die Barriere zu durchdringen.

Der undurchdringliche Vorhang, der die Ereignisse auf der ande­ren Seite der Barriere vor den Blicken der Götter des Lichts verborgen gehalten hatte, wurde für Sekunden durchsichtig und enthüllte die schreckliche Wahrheit. Odan, Thunor und Einar sahen Thorin in den Ruinen eines einst stolzen Palastes. Er hatte eine Frau bei sich und stand am Ufer eines erkalteten Lavasees, in dessen Tiefen das unbe­schreibliche Grauen sich anschickte, an die Oberfläche vorzudringen.

Die drei Götter des Lichts konzentrierten ihre geistigen Kräfte auf einen bestimmten Punkt und erreichten somit, dass sich in der Barriere für Sekunden ein winziger Riss bildete, den sie jetzt durchstießen. Ih­nen blieb deshalb nur wenig Zeit, um in die Geschehnisse einzugrei­fen...

*

Das Beben, das direkt aus den Tiefen des erkalteten Lavasees zu kommen schien, wurde mit jeder verstreichenden Sekunde immer stärker. Dampfschwaden stiegen empor und verbreiteten einen bei­ßenden Schwefelgeruch, während die Erde noch mehr zu zittern be­gann. Bereits jetzt schon gerieten die Steine einiger zusammengefalle­ner Häuser erneut ins Wanken.

»Komm, wir müssen weg von hier!«, rief der Nordlandwolf Lorys hastig zu, weil er spürte, dass ihm und der Fürstin eine tödliche Gefahr drohte. Auch Sternfeuer, das Götterschwert, schien die Anwesenheit des Bösen zu fühlen, denn die Klinge erstrahlte auf einmal in einem hellen Licht, wandelte sich in ein Gleißen, das den Augen wehtat.

Das war der Augenblick, wo etwas die Oberfläche des erstarrten Sees mit einer solchen Wucht durchstieß, dass etliche Lavabrocken hoch geschleudert wurden. Dampfwolken zogen auf und mit ihnen kamen Wellen glühender heißer Lava. Aber das war nicht das Schlimmste. Denn aus den Tiefen des Sees entstieg nun eine alp­traumhafte Gestalt, die es eigentlich gar nicht geben durfte.

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Thorin hörte den gellenden Angstschrei von Lorys, die beim An­blick dieses Monsters einige Schritte zurücktaumelte. Es war ein We­sen, das eine gewaltige Größe hatte. Der muskelbepackte riesenhafte Körper war ganz bräunlich und aus dem Kopf des Wesens ragten zwei gigantische Hörner.

Das Monster brüllte so laut, dass erneut die Erde zitterte und sich Felsbrocken aus der Decke der großen Höhle lösten, die hinunter in den Lavasee stürzten, dessen bereits erkaltete Oberfläche sich lang­sam aber sicher wieder in ein Meer aus Feuer zu verwandeln begann.

»Ihr Götter«, murmelte Thorin. Im ersten Augenblick war auch er gelähmt von dieser alptraumhaften Gestalt. Aber dies hielt nur für Bruchteile von Sekunden an - dann hatte auch Thorin begriffen, was auf dem Spiel stand. Mit einer geschmeidigen Bewegung riss er Stern­feuer aus der Scheide auf seinem Rücken und reckte dem Ungeheuer die gleißende Götterklinge entgegen. Als das furcht erregende Monster den hellen Strahl der Klinge sah, brüllte es zornig auf und griff mit seinen krallenbesetzten Pranken nach den beiden Sterblichen, die es wagten, sich zu wehren.

Bevor die Pranke Lorys fassen konnte, war Thorin auch schon vorgesprungen, holte mit Sternfeuer aus. Die Klinge sang ihr tödliches Lied, als die scharfe Spitze die Krallenhand des Monsters traf. Das ge­hörnte Wesen schrie so laut, dass Thorin glaubte, das Trommelfell müsse ihm platzen und zog die Pranke ganz schnell wieder zurück.

Gleichzeitig drohte Thorin und Lorys aber noch eine zweite Gefahr. Die glühende Lava war jetzt nämlich bedrohlich nahe gekommen und strahlte jetzt solch eine fürchterliche Hitze aus, dass sie ihnen buch­stäblich die Luft zum Atmen raubte.

»Zurück!«, schrie Thorin Lorys zu. »Nun los, lauf doch endlich!« Er konnte in diesen Sekunden nicht genau erkennen, ob Lorys das

auch tat, denn jetzt begann der zweite Angriff des Monsters. Und das grauenhafte Wesen tat noch ein übriges, in dem es mit seinen Pranken heiße Lavabrocken aus dem gewaltigen Loch holte und sie den Sterbli­chen entgegenschleuderte.

Jedoch richteten die glühenden Steine keinen Schaden an, denn in diesem Moment erfüllte ein lautes Rauschen die große Höhle. Thorin,

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der bereits die Götterklinge hoch empor gerissen hatte, um den zwei­ten Angriff des Monsters so gut wie möglich abzuwehren, wurde plötz­lich Zeuge, wie ein weißlicher Nebelschleier von einem Augenblick zum anderen auftauchte und ihn und Lorys umhüllte wie ein ganz feines Tuch aus hauchdünnem Gespinst. Gleichzeitig ebbte die furchtbare Hitze, die in den letzten Sekunden immer schlimmer geworden war, auf einmal ab. Die Lavabrocken und das glühende Magma aus den unergründlichen Tiefen der Erde hatten zwar schon einen Teil der Plattform bedeckt, aber eigenartigerweise schienen Thorin und Lorys von einer unsichtbaren Mauer jetzt beschützt zu werden.

Das Monster sah, dass die Lavastrudel plötzlich am weiteren Vor­dringen gehindert wurden und schüttelte erneut beide Pranken vor Zorn. Thorin wusste zwar nicht, warum er die Hitze der glühenden Lava nicht mehr spürte. Er begriff nur, dass sich ihm nun eine Chance bot, die er unbedingt nutzen musste, denn das gewaltige Ungeheuer war vom plötzlichen Auftauchen des nebelähnlichen Gespinstes für kurze Zeit abgelenkt.

»Stirb, du Bestie!«, schrie Thorin und holte mit der Götterklinge zu einem gezielten Hieb aus. Sternfeuer traf die Brust des Monsters, ver­sank bis zur Hälfte in dem Körper des Ungeheuers und hinterließ dort eine schreckliche Wunde, aus der schwarzes Blut in großen Strömen floss.

Noch während er die Klinge wieder hastig herausriss und einen Satz zur Seite machte, um einem vernichtenden Prankenhieb des Un­geheuers ausweichen zu können, hörte er auf einmal eine seltsam vertraute Stimme. Genauer gesagt nahm er sie nur in seinem Inneren wahr und es war eine Stimme, die er nur zu gut kannte. Sie gehörte Einar, dem Allwissenden!

»Töte ihn, Thorin!«, hörte er die drängende Stimme des einäugi­gen Gottes. »Odan, Thunor und ich werden die Kraft deiner Klinge lenken!«

Irgendwie spürte er, wie Sternfeuer noch heller zu leuchten be­gann und gleichzeitig erfüllte ihn eine Stärke von bisher noch nie ge­kanntem Ausmaß.

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Erneut drang er vor, holte mit Sternfeuer aus und traf das brül­lende Ungeheuer mit der scharfen Klinge in die Kehle. Eine schwarze Blutfontäne stieg hoch empor, während das grauenhafte Wesen jetzt erzitterte und mit einem grauenhaften Brüllen ins Wanken geriet. Nochmals setzte Thorin hinterher und landete einen zweiten Treffer dort. Das gehörnte Wesen schrie immer noch, denn sein Todeskampf hatte jetzt begonnen. Es nahm seinen Gegner nur noch verschwom­men wahr, denn sein Hirn badete jetzt in einem Meer von unbe­schreiblichen Schmerzen. Sternfeuers magische Kräfte hatten nun das Werk der Vernichtung begonnen und das Ende des gigantischen Mons­ters begann. Es zuckte und schleuderte Lavabrocken nach allen Seiten.

Trotzdem hatte Sternfeuer eine tödliche Wunde gerissen und der Todeskampf des Monsters hatte begonnen.

»Beeilt euch!«, hörte Thorin erneut Einars Stimme. »Wir können euch nicht mehr lange beistehen. Ihr müsst so schnell wie möglich das andere Ufer erreichen, bevor die Lava euch einholt! Lauft, die schüt­zende Aura um euch beginnt sich schon aufzulösen!«

Thorin eilte zu Lorys, riss sie mit sich und rannte dann los, wäh­rend hinter ihm das sterbende Monster ein Gebrüll ausstieß, dass die Erde erneut ins Wanken geriet. Allmählich spürte Thorin wieder die Hitze der glühenden Lava, die die erkaltete Oberfläche des Sees mit Feuermassen überzog. Ein Meer aus rotgelben Schwefelflammen wälz­te sich unaufhörlich auf Thorin und Lorys zu, während diese versuch­ten, so rasch wie möglich das andere Ufer zu erreichen, bevor die La­vamassen ihnen den Weg versperrten. Die Oberfläche des Sees, die aus erkalteten Lavakrusten bestanden hatte, wurde jetzt zusehends weicher und gab nach. Und noch war das rettende Ufer so weit ent­fernt.

Aber auch wenn sich das nebelähnliche Gespinst der geistigen Mächte der Götter des Lichts immer mehr aufzulösen begann, so hielt es doch stand, bis Thorin und Lorys nur noch wenige Schritte vom anderen Ufer entfernt waren. Und als sich die Schleier dann schließlich ganz verzogen, hatten der Nordlandwolf und die Fürstin wieder siche­ren Boden unter den Füßen, während drüben auf der anderen Seite des Sees die Ruinen der untergegangenen Stadt endgültig von den

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Lavamassen verschlungen wurden. Die Todesschreie des Monsters aus der Tiefe waren zwischenzeitlich verstummt und das gewaltige Unge­heuer war wieder in den Lavamassen verschwunden. So plötzlich als habe es nie existiert. Aber Thorin und Lorys wussten es besser, denn sie waren um Haaresbreite einem furchtbaren Schicksal entronnen.

Auch wenn sie bereits auf festem Boden standen, so wollte Thorin ganz sicher gehen. Er zog deshalb die atemlose Lorys noch ein Stück mit sich. So weit, dass ihnen die Hitze aus der Mitte des Sees nichts mehr anhaben konnte. Denn seit das Monster wieder in der Tiefe versunken war, schienen sich auch die unbeschreiblichen Naturgewal­ten allmählich wieder zu beruhigen. Das Ganze hatte nur wenige A­temzüge lang gedauert und doch war das Werk der Vernichtung ge­waltig. Hätten sich Thorin und Lorys jetzt noch auf der eingefallenen Plattform des alten Tempels aufgehalten, so wäre dies ihr sicherer Tod gewesen!

Drüben in den alten Ruinen züngelten Flammen im dichten Schwe­felrauch empor. Die letzten Reste der Stadt wurden von den Lavamas­sen begraben. Man konnte nur noch ahnen, was sich an dieser Stelle einmal befunden hatte.

»Den Göttern sei Dank«, murmelte Thorin, kniete nieder und um­fasste mit beiden Händen die Klinge seines Schwertes. Er murmelte ein stilles Dankesgebet, weil ihn die Mächte des Lichts erneut be­schützt hatten. Sonst wäre hier sein Weg zu Ende gewesen.

»Waren das... die Götter, auf deren Seite du stehst?«, fragte ihn Lorys, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. »Diese Nebelschleier... ich habe so etwas noch nie zuvor erlebt...«

»Odan, Thunor und Einar sind mächtige Geschöpfe, Lorys«, nickte Thorin schließlich. »Wir haben ihnen unser Leben zu verdanken. Du solltest ihnen ebenfalls deinen Dank erweisen.«

Lorys kniete hastig nieder und sandte ebenfalls ein stilles Gebet zu den Göttern, die sie vor dem Fall Samaras noch nicht einmal gekannt hatte. Aber seitdem war ohnehin alles anders geworden.

»Wir müssen weiter, Lorys!«, riss sie Thorins Stimme aus ihren Gedanken. »Was gerade geschehen ist, das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Mächte der Finsternis in Unruhe geraten sind. Und ich

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werde dafür sorgen, dass dies auch so bleibt - bis ich diesem Orcon Drac endlich gegenüberstehe!«

*

Ohnmächtige Wut ergriff den Ritter der Finsternis, als er auf einmal das Eindringen von Mächten spürte, mit denen er nicht gerechnet hat­te. Ausgerechnet in dem Augenblick, wo der gewaltige Zych aus den Tiefen des Lavasees hervorkam, um den Götterkrieger und seine Begleiterin zu zerreißen! Orcon Drac versuchte kraft seines Geistes gegen diese Mächte anzukämpfen. Aber es vergingen entscheidende Augenblicke, bis er mit Hilfe der Mächte der Finsternis diese Kräfte wieder zurückdrängen konnte.

Orcon Drac wusste, dass er einen Fehler begangen hatte. Nur ei­nen winzigen Moment hatte er sich zu sehr auf Zych konzentriert, als er ihn mit seiner geistigen Stimme an die Oberfläche des Sees gelockt hatte. Deswegen war die Barriere, die er errichtet hatte, für entschei­dende Sekunden durchlässig geworden und das hatte die Gegenseite natürlich sofort genutzt und war eingedrungen, um dem Kämpfer des Lichts in dieser gefährlichen Situation beizustehen.

Der Ritter der Finsternis sah, wie Thorin sich dem Ungeheuer aus der Tiefe stellte und selbst von dem nebelähnlichen Gespinst beschützt wurde. Weder die unvorstellbare Hitze noch die glühende Lava konn­ten ihm jetzt schaden, als er mit dem Schwert auf Zych eindrang und ihm einen entscheidenden Stoß versetzte.

Orcon Drac fühlte die Anwesenheit der Kräfte des Lichts. Odan, Thunor und Einar, die verhassten Götter, hatten es gewagt, ihm eine entscheidende Schlappe zu versetzen und darum wehrte sich jetzt Orcon Drac so gut er nur konnte. Er durfte nicht zulassen, dass die Mächte des Lichts hier unten weiter Fuß fassen konnten, sonst würde sein weiterer Plan fehlschlagen.

Erneut beschwor er die Kräfte des Buches von Vharya und schleu­derte diese den Mächten des Lichts entgegen. Und diesmal wirkte es! Der feine nebelähnliche Schleier, der den Krieger des Lichts und die Frau umhüllt hatte, zog sich allmählich zurück, musste den uralten

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Kräften weichen, die sich Orcon Drac mit seinen Beschwörungen Un­tertan gemacht hatte.

Trotzdem war es aber Thorin in der Zwischenzeit gelungen, Zych den entscheidenden Todesstoß zu versetzen. Orcon Drac hörte den qualvollen Schrei des gehörnten Wesens, als es durch die Macht der Götterklinge vernichtet wurde.

Der Ritter der Finsternis sah, wie Zych in den Tiefen der Lava un­terging und erkannte, dass Thorin und die Frau in der Zwischenzeit das rettende Ufer erreichten, ohne dass sie von der glühenden Lava noch eingeholt werden konnten. Jetzt war der Götterkrieger seinem Ziel entscheidend näher gekommen, denn bereits jetzt schon spürte Orcon Drac die Macht des Schwertes, das Thorin bei sich trug und vor dem er sich insgeheim fürchtete. Denn auch er kannte die Prophezei­ungen der Schriften von Ushar und wusste, dass er sich in selbst in eine sehr gefährliche Lage gebracht hatte. In eine Lage, aus der er sich mit eigenen Mitteln kaum retten konnte, wenn er nicht jetzt Hilfe von den Mächten der Finsternis erflehte. Und eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht mehr!

Aber gleichzeitig dachte er auch an den Zorn des mächtigen Got­tes der Sümpfe, wenn er nun gleich erfahren würde, dass es Orcon Drac doch nicht gelungen war, den Götterkrieger durch die Pranken des gehörnten Zych zu vernichten.

Orcon Drac blickte in die Flammen des kalten Feuers und versetz­te sich selbst in Trance, während er sich an die Mächte der Finsternis wandte, um ihren Schutz zu erflehen. Es vergingen nur wenige Augen­blicke, bis er die dunkle Stimme Modors hörte, die die gewaltige Ent­fernung zwischen der Knochenhöhle und den Sümpfen von Cardhor sofort überbrückt hatte.

»Mächtiger Modor«, murmelte Orcon Drac mit einer Spur Furcht in der Stimme. »Es ist alles fehlgeschlagen. Die Mächte des Lichts haben eingegriffen und...«

SCHWEIG, ORCON DRAC, unterbrach ihn nun der Gott der Sümp­fe. WIR WISSEN BEREITS, WAS GESCHEHEN IST. DU HAST VERSAGT - UND DAS, OBWOHL DU ES UNS VERSPROCHEN HAST, DEN KRIEGER DER MÄCHTE DES LICHTS ENDLICH ZU VERNICHTEN!

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Der Ritter der Finsternis spürte den Zorn des Gottes der Sümpfe und wurde bleich. Warum ihn Modor nicht im selben Atemzug schreck­lich bestrafte, blieb Orcon Drac ein Rätsel, denn es stand in Modors Macht, ihn jederzeit durch einen anderen Vasallen zu ersetzen, wenn der Gott der Sümpfe seiner überdrüssig wurde. Und dieser Augenblick schien gekommen zu sein!

WIR WISSEN, WELCHE KRÄFTE DAS GÖTTERSCHWERT BESITZT, fuhr Modors grausame Stimme fort. DESHALB VEREINEN WIR JETZT UNSERE MACHT, UM DEN SIEG ZU ERRINGEN. AZACH UND R'LYEH STEHEN MIR ZUR SEITE, UM DEN KRIEGER ZU BESIEGEN. ER WIRD IN DIE FALLE TAPPEN!

»Was für eine Falle?«, wollte Orcon Drac nun wissen. »Die Ech­senkrieger kommen gegen die Kräfte des Götterschwertes nicht an. Mir stehen nicht mehr viele dieser Geschöpfe zur Verfügung. Sie sind alle in der brennenden Stadt und kämpfen gegen die kümmerliche Handvoll Überlebender, um auch sie zu töten, mächtiger Modor.«

DU BIST DIE FALLE, ORCON DRAC, erwiderte nun die grausame Stimme. DENN DU BIST DAS ZIEL, DAS DER KRIEGER DER GÖTTER VOR AUGEN HAT. ER WILL MIT DIR KÄMPFEN - ALSO WIRD ER SCHON BALD DIE KNOCHENHÖHLE ERREICHEN. STELL DICH ZUM KAMPF UND WARTE AB, WAS DANN GESCHEHEN WIRD. DENN DANN WERDEN IHN SELBST DIE MÄCHTE DES LICHTS NICHT MEHR RET­TEN KÖNNEN.

Orcon Drac begriff zwar nicht alles, was Modor geplant hatte, aber es stand ihm als Vasall der Mächte der Finsternis nicht zu, in diesem Moment Fragen zu stellen. Schließlich hatte er kläglich versagt und konnte froh sein, wenn ihn Modor nicht für diesen Fehler streng be­strafte.

»Ich werde alles tun, um Thorin zu vernichten«, gelobte der Ritter der Finsternis. »Denn eure Mächte sind stärker als die des Lichts.«

DU WIRST DAS BALD SEHEN, ORCON DRAC, erwiderte Modors dunkle Stimme. UND SOBALD DER GÖTTERKRIEGER BESIEGT IST, SCHLÄGT DIE STUNDE DES DUNKLEN HEERES. DU WIRST ES DANN ANFÜHREN UND MIT IHM DIE WELT DER STERBLICHEN EROBERN.

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UND DANN HERRSCHEN NUR NOCH DIE MÄCHTE DER FINSTERNIS! DER SIEG IST UNSER, ORCON DRAC...

*

Sie spürten die gewaltigen Kräfte, die durch ihr Eindringen nun freige­setzt wurden. Aber sie fühlten auch die Macht der anderen Seite, die sich nun mit allen Mitteln dagegen wehrte, dass die Mächte des Lichts hier weiter Fuß fassen konnten. Zwar gelang es Einar, Odan und Thu­nor noch, Thorin und seine Begleiterin in einen Nebel zu hüllen, um ihn so vor den Gewalten der glühenden Lava zu schützen - aber das war auch schon fast alles, was sie tun konnten. Denn die geheimnis­vollen Kräfte, die hier unten am Werk waren, begannen sich mit jeder verstreichenden Sekunde immer stärker zu formieren, um die eindrin­genden Götter zurückzudrängen.

Was ihnen schließlich auch gelang, als Einar und seine beiden Göt­terbrüder Sternfeuers Klinge lenkten und somit dem grauenhaften We­sen aus der Tiefe den Todesstoß versetzten. Dann aber mussten sie weichen - auch wenn das bedeutete, dass sie Thorin nicht mehr bei­stehen konnten. Sie fühlten die immer stärker werdende Barriere und mussten sich zurückziehen auf die andere Seite. Einar zürnte ange­sichts dieser augenblicklichen Ohnmacht und Thunor und Odan erging es jetzt nicht anders.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten - und das war eine bittere Niederlage für die Mächte des Lichts. Es war ihnen zwar gelungen, Thorin vor den Klauen des gehörnten Ungeheu­ers zu retten, aber von nun an würde es ihnen nicht noch einmal ge­lingen, ihm beizustehen, falls er erneut in eine ausweglose Situation geraten sollte. Einar spürte es, als er wieder einen Versuch unter­nahm, um die Barriere zu durchdringen. Diesmal allerdings wurde sein Geist und der seiner Brüder zurückgeschleudert. Die Barriere war jetzt undurchdringlich geworden, denn jetzt hatten die Mächte der Finster­nis selbst eingegriffen.

»Ich spüre die Konzentration der dunklen Kräfte, Brüder«, wandte sich Einars geistige Stimme nun an Odan und Thunor, als sie vor der

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Barriere verharrten und weitere Schritte überlegten. »Wir müssen zu­rückkehren in den Kristallpalast. Hier können wir jetzt gar nichts mehr bewirken...«

Auch Thunor und Odan sahen ein, dass Einar recht hatte, Sie ver­ließen die Katakomben und die Welt der Sterblichen und erreichten auf die gleiche, für Menschen unvorstellbare Weise wieder ihre Körper im Reich des Lichts. Thunor war dann der erste, der wieder das Wort er­griff.

»Der Zeitpunkt der Schlacht ist nicht mehr fern«, vollendete er nun die Gedankengänge seines Götterbruders. »Die Welt der Sterbli­chen droht unterzugehen, wenn wir nicht eingreifen. Wir sollten es nicht der anderen Seite überlassen, die Schlacht zu eröffnen.«

»Und doch müssen wir es tun, Thunor«, antwortete Einar. »In den Schriften von Ushar ist es so aufgezeichnet, dass die Heere der Fins­ternis die Schlacht eröffnen werden...«

»Langsam frage ich mich, ob wir uns nicht zu sehr auf diese alten Prophezeiungen verlassen, Einar«, gab Odan zu bedenken. »Wir soll­ten unsere Streitmacht losschicken.«

Einar erkannte die Ungeduld, die seine Brüder ergriffen hatte und konnte sie verstehen. Aber er kannte wie kein anderer die Bedeutung der alten Prophezeiungen und versuchte, ihnen das jetzt deutlich zu machen.

»Wir müssen noch abwarten, Brüder«, riet er ihnen zur Beson­nenheit. »Es hängt nicht zuletzt auch von Thorin ab, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden. Er ist jetzt völlig auf sich allein gestellt. Falls er diese Gefahr nicht meistern sollte, bin ich einverstanden, dass wir unsere Streitmächte in die Schlacht schicken. Aber nur dann! Vergesst nicht, dass Sternfeuer eine entscheidende Rolle in diesen Auseinander­setzungen spielt...«

Auch wenn er das vor seinen Götterbrüdern niemals zugegeben hätte, so fühlte Einar die ersten Zweifel, ob es wirklich richtig war, dass die Mächte des Lichts so sehr auf die Kräfte eines einzelnen Sterblichen vertrauten. Denn Thorin war jetzt völlig auf sich selbst ge­stellt und die Verbindung zu den Göttern des Kristallpalastes war ab­gebrochen. Zumindest so lange, wie es die Barriere gab. Was würde

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sein, wenn Thorin erneut in eine Falle geriet? Würde er das rechtzeitig ahnen und sich wehren? Oder würden dann selbst Sternfeuers magi­sche Kräfte versagen? Einar wusste es selbst nicht - ihm blieb nur der Glaube und die Hoffnung an das, was in den alten Schriften von Ushar geschrieben stand...

*

Zwischenspiel V Der RUF Modors, des Schrecklichen, des Herrschers der Sümpfe von Cardhor, erging an die anderen Götter der Finsternis. Auf seinem Thron aus schwarzen Blutstein saß der gewaltige Gott der Finsternis und trat in Verbindung mit Azach und R'Lyeh, denn nun war der Zeit­punkt gekommen, wo sie ihre Kräfte vereinen mussten. Denn es waren Dinge geschehen, die sie so nicht vorhergesehen hatten. Es war die Schuld von Orcon Drac und er würde irgendwann seine Strafe dafür bekommen, dass es ihm nicht gelungen war, den Götterkrieger zu ver­nichten - so wie er es Modor versprochen hatte. Aber noch brauchten die Götter der Finsternis ihren Vasallen, denn er sollte die dunklen Heere in die Schlacht führen, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Und dieser Zeitpunkt war sehr nahe!

Der RUF des dunklen Gottes verließ das Gebiet der Fiebersümpfe und der dichten Wurzelbäume, die das Licht der trüben Sonne nur selten bis auf den schlammigen Boden durchkommen ließen. In Mo­dors Reich herrschten andere Gesetze als in der Welt der Menschen. Sein Reich war schrecklich, ein Ort der Verwesung und des Nieder­gangs - und doch gab es Leben in den Sümpfen von Cardhor. Leben, das der finstere Gott als solches aber nicht anerkannte, sonst hätte er es ganz sicher schon längst vernichtet.

Der RUF erreichte die südliche Hemisphäre der Welt und riss R'Ly­eh aus seinen blutigen Träumen. In seinem Wasserreich der endlosen Meere und vergessenen Inseln des Grauens hörte er den RUF des Got­tes der Sümpfe und verstand die Botschaft. R'Lyeh, der unaussprechli­che Schrecken der südlichen Wasserwelt, vereinigte seine Kräfte wenig später mit denen Modors. Gemeinsam sandten sie nun ihre Botschaft

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weit nach Norden - in ein Reich, in dem der ewige Winter herrschte. Eine Welt des ewigen Eises, in der es nichts gab außer Schnee und Kälte. Dort herrschte der dritte der finsteren Götter - Azach, der Ge­waltige, der Beherrscher der Winde und des ewigen Eises.

Auch er vereinigte sich nun mit den beiden anderen Göttern. Und sie wussten sofort, was zu tun war. Viel zu lange hatten sie schon dar­auf gewartet, dass die Götterdämmerung ihren Anfang nahm. Schon bald würde feststehen, wer in Wirklichkeit diese Welt regierte. Nämlich die Mächte der Finsternis! Und die Stunde der Entscheidung rückte immer näher heran.

Azach und R'Lyeh ordneten sich in diesen Augenblicken Modors Führung unter und ließen ihre Kräfte von ihm leiten. An den Ort der Bestimmung, wo sie sich dann auf ganz schreckliche Weise entfalten und ihr völlig ahnungsloses Opfer in eine Welt reißen sollten, aus der es kein Zurück mehr gab. Auch nicht für den Götterkrieger Thorin...

Die Gelegenheit war günstiger wie jemals zuvor, denn die Mächte des Lichts wurden von der Barriere gehindert, ein zweites mal hin­durch zu dringen und zu versuchen, ihrem Schützling beizustehen. Jetzt wachte nicht nur Orcon Drac über diese Barriere, sondern die schrecklichen Götter der Finsternis selbst. Mit Hilfe des Buches von Vharya hatten sie ihren Widersachen ein für allemal den Zugang ver­sperrt. Und jetzt, wo die drei dunklen Götter für längere Zeit ihre geis­tigen Kräfte vereint hatten, stellte dies ein unbeschreibliches Machtpo­tential dar. Eine Macht, die die Eroberung der Welt der Sterblichen zum Ziel hatte!

*

Der brodelnde Lavasee und die von den glühenden Feuermassen ver­schlungene Stadt lagen mittlerweile irgendwo hinter ihnen. Weder Thorin noch Lorys wussten, wie viel Zeit vergangen war, seit es ihnen in buchstäblich letzter Sekunde gelungen war, den Klauen des schreck­lichen Wesens aus der Tiefe zu entrinnen und schließlich das rettende Ufer zu erreichen.

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Lorys angespannte Miene spiegelte noch die Angst und Schrecken wider, als die gehörnte Gestalt aus den Tiefen des Lavasees aufge­taucht war, um Thorin zu vernichten. Aber der blonde Krieger besaß wirklich eine ganz besondere Waffe, die selbst solch eine Kreatur ver­nichtet hatte. Auch wenn sie es Thorin noch nicht direkt gesagt hatte - aber im stillen begann sie den Nordlandwolf wegen seines Mutes und der Entschlossenheit zu bewundern, die er jetzt ausstrahlte. Und das trotz dieser gefährlichen Lage, in der sie sich nach wie vor noch be­fanden.

Erneut hatte er ihr von Odan, Thunor und Einar, den Göttern des Lichts, berichtet und welche Macht sie besaßen. Nun, da ihm selbst klar geworden war, dass auch er seiner Bestimmung folgen musste -und zwar seit dem Tag, seit er Sternfeuer besaß - schreckte er nicht davor zurück, den Kampf mit dem Ritter der Finsternis zu suchen.

Allein dieser Gedanke an die bevorstehende Auseinandersetzung bereitete Lorys ziemliche Sorgen. Denn der Vasall der dunklen Götter, der schon seit einiger Zeit die Schicksale von Kh'an Sor und Samara bestimmt und gelenkt hatte, ohne dass auch nur irgend jemand davon gewusst hatte, besaß bestimmt unvorstellbare Macht - und diese Macht würde er ganz gewiss gegen seine Feinde einsetzen, wenn die Stunde gekommen war. Würde Sternfeuer diesen Kräften trotzen kön­nen? Lorys wäre froh gewesen, wenn sie darauf eine Antwort gewusst hätte.

»Der Schwefelgeruch lässt endlich nach«, riss sie Thorins Stimme aus ihren trüben Gedanken. »Den Göttern sei Dank.«

Tatsächlich - Lorys spürte es jetzt auch. Sie: war so sehr in ihre eigenen Gedanken versunken gewesen, dass sie wirklich nur auf den unmittelbaren Weg vor ihren Füßen geachtet und deshalb gar nicht wahrgenommen hatte, dass der Pfad, dem sie und Thorin schon seit einiger Zeit folgten, nun allmählich anzusteigen begann. Ob das be­deutete, dass der Weg allmählich wieder nach oben führte? Aber wenn dem so war - was würde sie dann auf dem Weg nach oben erwarten?

Thorin blieb plötzlich stehen und lauschte. »Was ist?«, wollte Lorys wissen, aber er deutete ihr mit einer kur­

zen Handbewegung an, zu schweigen. Erneut bemühte er sich, jedes

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verdächtige Geräusch wahrzunehmen. Gerade eben hatte er noch ge­glaubt, ein leises Tappen gehört zu haben. Jetzt aber war wieder alles still.

»Ich könnte schwören, dass ich etwas gehört habe«, murmelte Thorin und umfasste unwillkürlich den Knauf des Götterschwertes et­was fester. Er blickte auf die Klinge, aber sie leuchtete diesmal nicht auf. Und das war eigentlich der beste Beweis dafür, dass zumindest im Moment keine Gefahr drohte. Denn Sternfeuer spürte die Mächte der Finsternis und hatte Thorin so bisher immer rechtzeitig warnen kön­nen.

Vorsichtig gingen der Nordlandwolf und die blonde Frau weiter. Sie folgten dem steinigen Pfad, der allmählich immer mehr anstieg. Nun war auch schon ein leiser Luftzug zu spüren, der von weiter oben kam. Zwar vermutete Thorin, dass sie sich noch zu tief unter der Stadt befanden, um jetzt schon hoffen zu können, dass sie bald wieder die Oberfläche erreicht hatten. Aber von irgendwoher musste dieser fri­sche Wind ja kommen. Vielleicht gab es hier irgendwo einen großen natürlichen Luftschacht, der sich bis hier unten hin erstreckte und selbst diese engen Schächte mit frischer Luft versorgte. Nach dem, was der Nordlandwolf hier bisher alles erlebt hatte, hielt er selbst das für möglich.

Augenblicke später erkannte er dann, woher die frische Luft ihren Ursprung hatte. Der steile Pfad endete tatsächlich am Fuße eines brei­ten Schachtes. Wahrscheinlich hatte sich hier vor Äonen einmal ein Wasserfall in die Tiefe ergossen - aber davon war jetzt nichts mehr zu erkennen außer einigen Tropfen, die sich von den Felsen lösten und mit einem in der Stille unnatürlich lautem Geräusch auf die Steine klatschten.

Thorin näherte sich vorsichtig dem Schacht und deutete Lorys an, noch so lange abzuwarten, bis er sicher war, dass keine Gefahr drohte. Er trat in die Mitte des Schachtes und blickte dann nach oben. Weiter nach oben hin verjüngte sich der Schacht zusehends und er konnte auch keinen hellen Lichtschimmer oder etwas ähnliches erkennen, was darauf schließen ließ, dass dieser Schacht geradewegs nach oben führ­

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te. Auch dort oben war alles dunkel und Thorin konnte nur ahnen, wie weit dieser Schacht nach oben führte.

»Komm her!«, rief er dann Lorys zu. »Hier kommen wir sowieso nicht weiter. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als wieder umzukeh­ren und einen anderen Weg zu suchen. Wir hätten wohl besser dem anderen Pfad folgen sollen...«

Lorys seufzte. Wieder eine Enttäuschung. Sie ging zu Thorin und sah ebenfalls nach oben, spürte die frische Luft, die wahrscheinlich irgendwo weiter oben durch unzählige Ritze in den Felsen drang und sich so ihren Weg bis hier unten hin bahnen konnte. Hier an der un­tersten Stelle des Schachtes war sogar ein leises Pfeifen zu hören, eine Art Echo, ausgelöst von den vielen Spalten und Ritzen, durch die der Wind drang.

Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das Thorin erst jetzt be­merkte. Der leise Wind war auf einmal etwas heftiger geworden. Aus dem leisen Pfeifen wurde jetzt ein stetiger Wind, der an Thorins und Lorys Haaren zu zerren begann. Im selben Moment begann auch die Götterklinge kurz aufzuglühen.

»Weg hier!«, rief Thorin und griff rasch nach Lorys Hand, weil er ahnte, dass es ein großer Fehler gewesen war, den Schacht zu betre­ten. Aber jetzt war es bereits zu spät. Der Wind wurde immer heftiger und entwickelte sich auf einmal zu einem handfesten Sturm, der ihnen mit voller Härte entgegen blies und sie ins Taumeln brachte. Und der Wind kam nicht nur von vorn, sondern erfasste Thorin und Lorys selt­samerweise auch von unten. Als wenn sich im Schacht plötzlich eine Öffnung aufgetan hätte und ihnen von dort einen Orkan entgegen­schickte, der sie packte und wie in einem gewaltigen Sog nach oben riss!

*

Der Nordlandwolf und die blonde Frau wurden zum hilflosen Spielball eines unvorstellbaren Sturms. Thorin hörte Lorys schreien, aber er konnte nichts tun, um die Ängste der Frau zu beseitigen. Denn um ihn herum drehte sich alles. Schwindel ergriffen ihn, peinigten seine ge­

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samte Welt der Sinne, ließen ihn nur noch ein Meer aus Farben und verwaschenen Umrissen erkennen. Denn die Felswände des gewalti­gen Schachtes huschten förmlich an ihm vorbei. Trotzdem schaffte er es dennoch, die Klinge des Götterschwertes nicht loszulassen. Ein letz­ter Rest klarer Gedanken schrie ihm eine Warnung zu, Sternfeuer fest­zuhalten. Und genau das tat er auch!

Das Heulen des Windes war jetzt so laut geworden, dass es sogar Lorys Hilferufe übertönte. Irgendwo unter sich sah Thorin den Körper der blonden Frau, deren Haare der Sturm wild durcheinander wirbelte. Mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen trieb der Sturm Lorys immer weiter nach oben und bereits jetzt hatten die beiden eine solch große Höhe erreicht, dass der Fuß des endlosen Schachtes nichts an­deres mehr war als ein großer schwarzer Fleck.

Die bestehenden Gesetze des menschlichen Verstandes galten nicht mehr in diesen Augenblicken. Die Zeit war unbedeutend gewor­den, verstrich quälend langsam, während Thorin und Lorys weiter nach oben gerissen wurden und das Heulen des Sturmes jetzt so laut geworden war, dass der Nordlandwolf glaubte, sein Trommelfell müsse jeden Moment platzen. Sein Schädel dröhnte, weil er immer wieder herumgewirbelt und teilweise sogar recht unsanft gegen die harten Felswände gestoßen wurde. Mehr als einmal hätte er die Klinge ange­sichts des harten Aufpralls beinahe doch losgelassen, aber immer wie­der schaffte er es dann doch, sie wieder fest zu umschließen. Weiter ging der Sog, der die beiden Menschen mit sich riss und er schien im­mer noch kein Ende zu nehmen. Wie hoch war dieser Schacht? Er musste doch irgendwann einmal ein Ende haben?

Genau in diesem Moment fühlte Thorin, wie der Wind plötzlich mehr von der Seite kam und ihn in Richtung der Wände schob. Alles in ihm spannte sich an, weil er einen erneuten harten Aufprall befürchte­te. Aber seltsamerweise blieb dieser aus. Stattdessen landete der Nordlandwolf recht unsanft auf einem Plateau und blieb dort etliche Sekunden ziemlich entkräftet liegen. Gleichzeitig erlosch auch das fürchterliche Heulen des Orkans - so als habe es nie einen solch hefti­gen Sturm gegeben.

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Thorin stöhnte leise, als er den Kopf hob und sich mühsam um­schaute. In seinem Schädel tanzte ein ganzes Heer von kleinen Teu­feln und plagte ihn. Bunte Kreise schwebten noch vor seinen Augen, die erst langsam wichen und ihn die nähere Umgebung wieder klarer sehen ließen. Erst dann entdeckte er Lorys, die nur wenige Schritte von ihm reglos lag.

Der Nordlandwolf versuchte sich zu erheben, aber das gelang ihm erst beim zweiten Versuch. Seine Knie fühlten sich seltsam schwach an, so als wenn er sie lange Zeit nicht bewegt hatte. Er wankte hin­über zu Lorys, beugte sich über sie und atmete erleichtert auf, als er ebenfalls hörte, wie ein leises Stöhnen über die Lippen der Frau ka­men. Nur wenige Sekunden später schlug sie dann die Augen auf und blickte Thorin mit nacktem Entsetzen an, weil sie noch gar nicht be­merkt hatte, dass das Chaos, in dem sie sich befunden hatte, nun ein Ende gefunden hatte.

»Es ist vorbei«, sagte Thorin sofort, als er die aufkommende Panik bei Lorys bemerkte.

Ein heftiges Zittern durchfuhr Lorys. Dann neigte sie hastig den Kopf zur Seite und übergab sich würgend, bis ihr Magen alles von sich gegeben hatte. Erst dann fühlte sie sich wieder besser.

»Bei allen Göttern«, murmelte sie mit schwacher Stimme. »Das war kein Sturm, wie ich ihn bisher erlebt habe.«

»Du hast recht«, pflichtete ihr Thorin bei. »Da waren andere Kräf­te im Spiel - und ich befürchte, dass wir ihnen sehr bald gegenüber­stehen werden...«

Mit diesen Worten griff er nach der Götterklinge, die dicht neben Lorys lag und spürte auf einmal, dass der Knauf wieder Hitze ver­strömte. Noch im selben Augenblick leuchtete auch die Klinge wieder auf und pulsierte schließlich regelmäßig in gleißendem Licht. Ein Licht, das so hell war, dass es in Thorins Augen schmerzte, wenn er länger als nötig genau dorthin blickte. Nun wusste Thorin, dass die Stunde der Entscheidung unmittelbar bevorstand!

»Komm!«, sagte er mit rauer Stimme und reichte Lorys seine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. »Es nützt nichts, wenn wir unsere Augen vor der Wahrheit verschließen. Die feindlichen Mächte

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waren die ganze Zeit über gegenwärtig - und diesmal sind sie sehr nahe...«

Lorys nahm seine Hand, zog sich daran hoch. Einen Weg zurück gab es nicht mehr, denn nur wenige Schritte hinter ihr gähnte bereits der tiefe Abgrund des gewaltigen Schachtes. Das kleine Plateau, wo sie der Orkan abgesetzt hatte, mündete weiter vorn in einen Felsen­gang, der ins sprichwörtliche Ungewisse führte. Aber sie mussten die­sen Weg trotzdem einschlagen, wenn sie von hier wegkommen wollten - eine andere Lösung gab es nicht und das musste nun auch Lorys akzeptieren. Selbst wenn ihr das noch so schwer fiel.

Sie folgte Thorin, hielt sich ganz dicht hinter ihm. Der Nordland­wolf hielt die Götterklinge in seiner Rechten und es erschien ihr, als wenn das gleißende Leuchten des Schwertes immer intensiver wurde, je näher sie dem Felsengang kamen.

Kein verräterischer Laut erklang in der Stille, die nur von dem At­men der beiden Menschen unterbrochen wurde. Thorin fühlte immer noch eine ziemliche Schwäche in sich, weil der Orkan sehr an seinen Kräften und Sinnen gezehrt hatte und er betete im stillen zu den Mächten des Lichts, dass es nicht gleich jetzt zu einer Begegnung mit seinen Feinden kam. Denn einen Kampf ums nackte Überleben - und das womöglich noch mit einem Gegner, der Zauberkräfte mit ins Spiel brachte - konnte er kaum durchstehen. Aber da war noch Lorys, die auf seinen Schutz hoffte - also musste er sämtliche, noch vorhandenen Kräfte aufbieten. Zeit und Ruhe hätte er jetzt gebraucht, aber die be­kam er nicht...

Ihre Schritte klangen seltsam dumpf in dem Felsengang. Auf ein­mal erschallte ein höhnisches Gelächter, dessen Echo sich an den Felswänden brach und zu einer Symphonie des Wahnsinns wurde. Sofort hielt Thorin inne, riss Lorys ganz dicht an sich und reckte sein Schwert vor.

»Wer du auch sein magst!«, schrie er mit lauter Stimme. »Zeig dich endlich, wenn du Mut hast!«

Erneut erfüllte das dröhnende Gelächter den Felsengang und zeig­te Thorin damit, was seine Herausforderung zum Kampf in den Augen des geheimnisvollen Gegners galt. Nämlich überhaupt nichts!

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»Orcon Drac!«, rief Thorin jetzt, nachdem das Gelächter zum zweiten mal verstummt war. »Ich weiß, dass du hier bist! Wie lange willst du den Kampf noch hinauszögern?«

Falls Thorin gehofft hatte, wenigstens eine Antwort oder sonst ir­gend eine Reaktion auf seine Herausforderung zu bekommen, so sah er sich getäuscht. Der Ritter der Finsternis schwieg - und doch wusste Thorin, dass er hier war.

Der Felsengang mündete schließlich wenige Minuten später in ei­ner weiteren Höhle, die ebenfalls von gewaltigen Ausmaßen war. Bi­zarre Kalktropfsteine hingen von der Decke oder wuchsen aus dem Boden, wirkten wie Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Aber das war es nicht, was Thorins Aufmerksamkeit sofort erregte. Denn zwi­schen den Kalkgebilden, die die Laune der Natur so geformt hatte, wie sie sich jetzt den Blicken der beiden Menschen boten, gab es noch etwas anderes. Nämlich die Knochen eines geradezu riesigen Wesens, die sich über den gesamten Boden der Höhle verstreut hatten. Thorin konnte nur ahnen, was dies für ein Geschöpf gewesen sein musste, das hier einmal gelebt hatte und auch hier verendet war. Ein Wesen aus einer Zeit, in der es vielleicht noch mehr solcher riesenhaften Kre­aturen gegeben haben musste - und allein bei diesem Gedanken erfüll­te ihn ein kalter Schauder.

»Hier bin ich, Thorin!«, erklang auf einmal eine Stimme, die den Nordlandwolf zusammenzucken ließ. »Du hast den Kampf mit den Mächten der Finsternis herausgefordert - und nun wirst du dafür ster­ben!«

Im ersten Moment hatte Thorin nicht lokalisieren können, von wo die Stimme gekommen war. Erst als ihn Lorys anstieß, hefteten sich seine Blicke auf einen Felsvorsprung weiter oben in der Höhle. Dort stand eine große, ganz in eine schwarz schimmernde Rüstung geklei­dete Gestalt, deren Antlitz von einem Helm verborgen gehalten wurde. In der Rechten hielt der schwarze Ritter eine rötlich schimmernde Klinge und die Spitze deutete genau in die Richtung, wo Thorin und Lorys standen.

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»Ich bin Orcon Drac!«, dröhnte jetzt die Stimme des dunklen Rit­ters. »Ihr habt es gewagt, in mein Reich einzudringen - und dafür gibt es nur eine Strafe. Nämlich den Tod!«

*

Der Ritter der Finsternis blickte verächtlich hinunter zu dem blonden Krieger und seiner Begleiterin, während er selbst sein Flammenschwert zornig emporreckte. Mitleidlose dunkle Augen richteten sich durch das Visier des Helmes auf den Krieger, der sein bisher größter Widersacher unter den Sterblichen war und dem es trotz aller Hindernisse doch noch gelungen war, bis in die Knochenhöhle vorzudringen.

Er genoss das Entsetzen, das sich in den Augen der Frau wider­spiegelte und fühlte die Furcht, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Denn er war der Ritter der Finsternis und er besaß eine gewaltige Macht, die er nun den beiden Sterblichen entgegenschleudern würde. Ein Macht, die selbst den Träger der Götterklinge vernichten würde, denn gegen die Kräfte der Finsternis gab es kein Bollwerk - auch wenn Thorin das vielleicht jetzt noch hoffte. Aber er würde schon sehr bald die Wahr­heit erkennen - nämlich dass die Mächte der Finsternis die wirklichen Herrscher dieser Welt waren und dass es absolut nichts nützte, sich ihnen entgegenzustellen. Denn Azach, Modor und R'Lyeh aufzuhalten - das wäre absoluter Wahnsinn gewesen!

Jetzt stand Orcon Drac zum ersten mal dem Krieger der Götter persönlich gegenüber. Es war ein hünenhafter Krieger mit einem star­ken Körper. Sicherlich war er ein erfahrener Schwertkämpfer, der sein Handwerk kannte.

Aber was war diese Fähigkeit gegen die geballten Kräfte der drei Götter der Finsternis, auf deren Hilfe Orcon Drac in diesen so ent­scheidenden Augenblicken zählen konnte? Dieser Thorin war doch nur ein Staubkorn im Sand, das vom Wüstenwind weggeblasen wurde!

»Stell dich zum Kampf, Orcon Drac!«, hörte der Ritter der Finster­nis die wütende Stimme des blonden Kriegers und er sah, dass Thorin entschlossen war, diesmal keinen einzigen Schritt zu weichen. Erneut lachte der dunkle Ritter über den Mut des Sterblichen. Dann brach sein

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Lachen ab und er murmelte eine leise Beschwörung. Noch bevor die letzten Silben der längst vergessenen Sprache verklungen waren, formte sich auf einmal ein greller Blitz inmitten der Höhle und traf das bleiche Gebein des riesigen Wesens. Die Stelle, an der eben noch eini­ge Knochen gelegen hatten, war jetzt blank und leer.

Orcon Drac sah, wie der blonde Krieger nun zusammenzuckte, a­ber schon wenig später sein Schwert hoch riss.

»Deine Zauberei kann mich nicht mehr beeindrucken, Orcon Drac!«, bekam der dunkle Ritter dann zu hören. »Versuch mich zu vernichten und du wirst sehen, wer von uns beiden als Sieger aus die­sem Kampf hervorgehen wird!«

»Das sind mutige Worte, Sterblicher!«, kam es über Orcon Dracs Lippen. Wobei er das Wort ›Sterblicher‹ ganz besonders abfällig beton­te. Was natürlich auch Thorin nicht entging. »Nun gut«, fuhr der dunk­le Ritter fort. »Du hast diesen Kampf gewollt - also sollst du ihn auch bekommen. Aber vorher will ich dir noch sagen, was mit dieser Welt geschehen wird, wenn deine Knochen schon längst zu Staub zerfallen sind. Samara war nur der Anfang. Dieses Fürstentum und das König­reich von Kh'an Sor bilden nur weitere Stützpunkte des Reiches der drei Herrscher der Finsternis. Die dunklen Heere warten nur noch auf das Zeichen zum Angriff!«

Orcon Drac bemerkte das überraschte Aufflackern in Thorins Au­gen und deutete dies als Zeichen, dass die Verbündeten des blonden Kriegers ihn offensichtlich nicht über alle Zusammenhänge eingeweiht hatten. Um so mehr genoss er diesen Moment.

»Hast du schon jemals von den Sümpfen von Cardhor gehört, Thorin?«, wandte er sich nun wieder an seinen Todfeind, während er mit einem geschickten Satz von einem Felsvorsprung zum anderen gelangte, als handele es sich hier um etwas ganz leichtes. »Das ist das Reich eines Gottes, dessen Kräfte in mir wohnen und die dich jetzt gleich zerschmettern werden. Und dort warten auch die Heere der Finsternis auf das Zeichen zum Angriff. Deine dummen Götter ahnen noch nichts davon, wie entschlossen wir sind, uns diese Welt Untertan zu machen, Thorin. Sie werden auch unwissend sein, wenn wir unsere Eroberung beendet und sie von ihrem Thron gestoßen haben. Du hast

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dich den falschen Mächten verschworen, Thorin. Vielleicht hättest du dich besser auf unsere Seite schlagen sollen - dann würde dir nämlich dein Schicksal erspart geblieben sein!«

Erneut kam ein verächtliches Lachen über seine Lippen, während er erneut die Stellung wechselte und gleichzeitig mit derselben Be­schwörung von vorhin einen weiteren Flammenblitz auslöste, der wie­derum einige Gebeine zu Staub zermahlte. Ein penetranter Geruch nach verbrannten Knochen breitete sich in der Höhle aus, der sich all­mählich schwer auf Thorins und Lorys Atemwege legte. Der Geruch des Todes!

»Und nun stirb, du Hund!«, schrie Orcon Drac voller Zorn. Und diesmal schleuderte er den Flammenblitz in die Richtung, wo Lorys und Thorin standen!

*

Im letzten Moment ahnte Thorin die Absicht seines Gegners und wich mit einem raschen Sprung zur Seite aus. Geistesgegenwärtig hatte er Lorys sogar noch einen Stoß versetzt und sie dadurch mitgerissen. Das kam so plötzlich für die blonde Frau, dass sie ihr Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Sie stieß einen Schmerzlaut aus und blickte dann hinauf zu der Stelle, wo der Ritter der Finsternis stand. Jedoch verharrte die dunkle Gestalt in der bedrohlichen Rüstung dort nicht mehr lange. Orcon Drac hatte erneut seine Stellung gewechselt und befand sich nun auf gleicher Höhe mit Thorin, war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.

Jetzt aus dieser Nähe spürte Thorin den Atem des Todes, der von Orcon Drac ausging. Selbst Arian, der Nachtherzog, war gegen diesen Feind ein Nichts - auch wenn Arian ebenfalls dämonische Kräfte beses­sen hatte. Aber hinter Orcon Drac standen die Götter der Finsternis selbst und diese würden alles tun, um ihren Vasallen in diesem Kampf zu unterstützen.

Thorin hoffte das gleiche von den Mächten des Lichts. Allerdings wusste der Nordlandwolf nichts von der Barriere, die die Götter der Dunkelheit errichtet hatten und die es jetzt nicht mehr zuließ, dass

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irgend jemand dem blonden Krieger nun zu Hilfe kam. Er war völlig auf sich allein gestellt und hatte als einzige Waffe nur Sternfeuer bei sich - sowie seinen Willen, Orcon Drac für all das bestrafen, was er angerich­tet hatte. Denn der Ritter der Finsternis war nicht nur schuld am Fall der Stadt Samara und am Tode vieler Freunde und Kampfgefährten, sondern trug indirekt auch die Verantwortung dafür, dass König Ke­rons Schwester Dania ein unbegreifliches Schicksal ereilt hatte.

Hätte Orcon Drac nicht seinen Helfershelfer Loon nach Cor'can ge­schickt, so wäre Dania vielleicht jetzt noch in der Stadt geblieben. Stattdessen hatte eine uralte Bestimmung die Prinzessin ereilt und Thorin hatte nur ahnen können, in welch unbegreiflichen Sphären Da­nia jetzt verweilte.

All dies schoss ihm in diesem entscheidenden Moment durch den Kopf, während er mit der Götterklinge den ersten harten Hieb seines Gegners abzuwehren versuchte. Die Klinge des Lichts und das Flam­menschwert Orcon Dracs prallten zum ersten mal aufeinander und dabei entstand ein singendes Klirren, das nicht von dieser Welt war. Funken stoben auf und das gleißende Leuchten Sternfeuers nahm nun sogar noch an Intensität zu. Auch Orcon Dracs Flammenklinge leuchte­te rot auf und der Ritter der Finsternis stieß einen grässlichen Fluch aus, als er erkannte, dass die Klinge seinem ersten Hieb ohne Proble­me standgehalten hatte.

Nun war es an Thorin, sich zu wehren und das tat er mit solcher Verbissenheit, dass es ihm sogar gelang, Orcon Drac mit einigen ge­schickten Schlägen zurückzudrängen. Aber so sehr er sich auch be­mühte - er schaffte es einfach nicht, den dunklen Ritter zu verwunden oder ihn mit der Klinge zu berühren. Auch Orcon Drac war ein hervor­ragender Schwertkämpfer und wusste sein Schwert vortrefflich zu handhaben.

Es wurde ein stummer, ein verbissener Kampf, den Lorys mit weit aufgerissenen Augen jetzt verfolgte. Mehr als einmal schlug sie ent­setzt beide Hände vor den Mund, als sie befürchtete, dass Orcon Drac jetzt einen vernichtenden Hieb austeilte. Aber jedes mal gelang es Thorin, diesen Todesstreich noch abzuwehren.

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Es war nicht nur ein Kampf zwischen Thorin und dem Ritter der Finsternis, sondern vielmehr ein Aufeinandertreffen der Mächte des Lichts und der Dunkelheit, die jeweils ihren besten Kämpfer geschickt hatten. Allerdings hatte Orcon Drac das Glück, auf einem Territorium zu kämpfen, das noch so manche böse Überraschung für den Nord­landwolf bereit hielt. Nur ahnte das Thorin nicht und dies sollte ihm schon sehr bald zum Verhängnis werden...

Erneut prallten die beiden Klingen aufeinander und diesmal war Thorin so nahe an seinem Gegner, dass er für einen winzigen Moment dessen tödliche Aura spürte. Sternfeuer und das Flammenschwert -beide Mächte trafen zusammen und das wiederum löste erneut das helle Singen aus.

Diesmal musste Orcon Drac zurückweichen, weil er dem Druck der Götterklinge nicht mehr länger standhalten konnte. Der Ritter der Fins­ternis machte einen Satz nach hinten und erreichte einen Felsvor­sprung, an dem er sich geschmeidig hochzog, bevor ihn Sternfeuer erreichte. Thorins Klinge traf nur noch den rötlichen Felsen und schlug dort Funken. Mehr aber nicht!

Orcon Drac lachte höhnisch und stieß nun mit seinem Schwert nach Thorin. Der Nordlandwolf hatte für einen winzigen Moment nicht auf seine Blöße geachtet und wurde deshalb nun von der Flammen­klinge ganz leicht am linken Oberarm gestreift. Auch wenn es nur ein Kratzer war, so brannte es höllisch und ließ Thorin aufstöhnen.

Eigentlich hätte Orcon Drac jetzt eine gute Chance gehabt, sofort nachzusetzen und Thorin einen zweiten Hieb zu verpassen. Aber er hielt sich stattdessen zurück und suchte erneut eine andere Deckung auf, die wieder etwas höher lag. Thorin blieb somit nichts anderes üb­rig, als auf das Spiel seines Gegners einzugehen - auch wenn er nicht begriff, worauf das Ganze hinauslief. Denn eins war völlig klar - dieser Kampf würde erst dann ein Ende finden, wenn entweder er oder Orcon Drac nicht mehr lebte!

Mit geschmeidigen Sätzen folgte Thorin seinem Gegner. Er hörte Lorys warnende Rufe, nahm das aber nur am Rande wahr. Denn er benötigte seine volle Konzentration für das, was ihn noch erwartete.

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Mittlerweile hatte Orcon Drac eine Stelle in der Knochenhöhle er­reicht, von der aus ein unscheinbarer Gang weiter in den Fels hinein­führte. Von unten aus hatte man das gar nicht sehen können. Ob dies der Zugang zu Orcon Dracs Versteck war? Thorin war fest entschlos­sen, das herauszufinden und deshalb drang er mit einer solchen Hef­tigkeit auf seinen Gegner ein, dass dieser Mühe hatte, die Schwerthie­be des Nordlandwolfs zu parieren und abzuwehren.

»Thorin, folge ihm nicht!«, erklang Lorys Stimme von weiter un­ten. »Du weißt nicht, was dich dort oben erwartet!«

Er antwortete ihr nicht, sondern stieß einen zornigen Schrei aus, weil es ihm trotz aller Mühen immer noch nicht gelungen war, seinen Gegner ernsthaft zu treffen. Selbst ohne seine dunkle Rüstung wäre Orcon Drac niemals in Gefahr gewesen, denn sein Schwert schützte ihn immer wieder vor jeglichen Angriffen des Nordlandwolfs.

Doch auch ein guter Schwertarm musste irgendwann einmal er­lahmen und auf diesen Moment wartete Thorin. Er setzte seine ganzen Hoffnungen darauf. Er schickte ein stummes Stoßgebet zu Odan, dem Weltenzerstörer, während er weiter auf Orcon Drac eindrang und nun ebenfalls den Vorsprung erreicht hatte, wo ein Pfad entlang führte.

Orcon Drac zog sich immer weiter dorthin zurück und ließ es zu, dass er mehr als einmal gefährlich von Thorin bedrängt wurde.

Aber das gehörte mit zu dem heimtückischen Plan, den die Mächte der Finsternis gefasst hatten. Es war eine Falle, in die Thorin ohne sein Wissen tappte und sie öffnete sich in dem Moment, als er den Pfad erreicht hatte und dem zurückweichenden Orcon Drac in eine Stelle der Knochenhöhle folgte, in der ein dunkel schimmernder Altar stand. Dahinter erhob sich ein seltsam geformter Thron und Thorin wusste nun, dass dies der Ort war, nach dem er so lange gesucht hatte.

»Das also ist dein Versteck, Orcon Drac!«, rief er und holte erneut zu einem Hieb aus. Er hörte Lorys besorgte Rufe nicht mehr. Es war fast so, als wenn die Felsen die Stimme der Frau verschluckt hätten. Jetzt gab es nur noch ihn und Orcon Drac!

Aber dann wurde alles ganz anders. Denn in diesem Moment quoll unter dem Altarstein ein gelblich grüner Rauch empor. Ein beißender Geruch erfüllte die Knochenhöhle, als die Rauchschwaden Thorins Fü­

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ße erreichten und den Boden der Höhle bereits seinen Blicken entzo­gen. Das war auch der Augenblick, wo er plötzlich die lähmende Schwäche spürte, die seinen Körper von einem Atemzug zum anderen ergriff und seinen starken Arm fast willenlos machte.

»Du hinterlistiger Hund!«, keuchte Thorin, als ihm bewusst wurde, was das bedeutete. Verzweifelt versuchte er erneut, seinen Arm zu heben und einen Hieb zu landen. Aber seine Muskeln wollten ihm nicht mehr gehorchen. Die Götterklinge entglitt seinen kraftlosen Fingern und fiel zu Boden.

Dumpfes Dröhnen erfüllte die Knochenhöhle und auf einmal hörte Thorin eine Stimme, die das personifizierte Grauen widerspiegelte, gefolgt vom höhnischen Lachen des dunklen Ritters. Die unmittelbare Umgebung vor Thorin wurde seltsam unscharf. Er blinzelte unwillkür­lich mit den Augen, weil die bleierne Schwere nun auch seine Sinne ergriffen hatte. Die drohende Gestalt des dunklen Ritters, der nur we­nige Schritte von ihm entfernt stand, wurde undeutlich. Thorin erwar­tete jetzt den tödlichen Hieb seines Gegners, denn er hatte Sternfeuer verloren und konnte sich nicht wehren. Jedoch geschah eigenartiger­weise überhaupt nichts. Orcon Drac sah stattdessen zu, wie Thorin in den stinkenden Rauch eingehüllt wurde, bis die Gestalt des Nordland­wolfs schließlich seinen Blicken entschwand.

»Odan!«, schrie Thorin, als er immer deutlicher seine eigene Hilf­losigkeit spürte. »Wo bist du, Weltenzerstörer?«

Auch wenn er immer noch gehofft hatte, dass einer der Götter buchstäblich im letzten Augenblick eingriff, um das Unvermeidliche zu verhindern, so geschah diesmal nichts.

DEINE GÖTTER HELFEN DIR NICHT MEHR, KRIEGER, hörte Thorin die grauenvolle Stimme in seinem Kopf. DU BIST UNS AUSGELIEFERT - NIEMAND WIRD DICH MEHR SCHÜTZEN KÖNNEN!

Gedanken voller Hass und Vernichtung drangen nun auf Thorin ein und verwirrten seine eigenen Sinne immer mehr. Er geriet in einen unvorstellbaren Strudel aus wirren Bildern und Ereignissen, von denen er nicht wusste, ob sie wirklich waren oder der stinkende Rauch ihm sie nur vorspielte. Er wusste nicht mehr, wo er sich jetzt befand. Sein

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Körper trieb im Nebel umher und die Klinge der Götter, war seinem Zugriff entzogen.

»Das ist dein Tod, Thorin!«, hörte er aus weiter Ferne Orcon Dracs gehässige Stimme. Aber dann schwieg die Stimme des dunklen Ritters und Thorin tauchte ein in einen Strudel voller Farben und blut­roter Eindrücke, die sein Bewusstsein schließlich auslöschten.

*

Lorys war vor Schreck wie gelähmt, als sie Thorin weiter oben bei den Felsen ihren Blicken entschwinden sah. Sie hörte aber noch das klir­rende Aufeinandertreffen der beiden Klingen und wusste, dass der Kampf zwischen den beiden Gegnern unerbittlich weitergeführt wurde. So lange, bis einer der Sieger war!

Sie hörte Orcon Dracs zornige Stimme, aber Lorys konnte die Wor­te nicht verstehen, weil sie zu weit entfernt war. Kurz darauf folgte ein wütender Schrei von Thorin und erneut wurde der Kampf fortgesetzt. Dann aber waren keine weiteren Kampfesgeräusche mehr zu verneh­men. Natürlich lag es daran, dass Thorin und Orcon Drac mittlerweile das Versteck des dunklen Ritters erreicht hatten und man von dort unten aus, wo sich Lorys befand, nichts mehr hören konnte, was dort oben geschah.

Deshalb machte sich die blonde Frau große Sorgen und zitterte bei dem bloßen Gedanken daran, dass sie womöglich allein in dieser ent­setzlichen Knochenhöhle auf ihr weiteres Schicksal warten musste, falls es Thorin nicht gelang, den Ritter der Finsternis zu besiegen. Ein schrecklicher Gedanke war das, der sie so sehr beunruhigte, dass sie kurz entschlossen Thorins Warnung, hier unten zu bleiben und das Ende des Kampfes abzuwarten, einfach ignorierte. Lorys hatte zuviel durchgemacht, um jetzt einfach tatenlos zuzusehen, was weiter ge­schah. Nein, inmitten dieser bleichen, vermoderten Gebeine wollte sie keine Sekunde länger bleiben. Deshalb kletterte sie ebenfalls die Fel­sen hinauf und erreichte so den Pfad, der weiter nach hinten führte. Das war der Moment, wo auch sie plötzlich den stinkenden Rauch spürte, der weiter drüben aus dem Boden zu quellen schien.

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Als sie dann wieder den Kampfeslärm hörte, wusste sie, dass die Entscheidung immer noch nicht gefallen war. Und dann vernahm sie auf einmal Thorins verzweifelte Stimme. Der blonde Krieger rief nach seinem Schutzgott, flehte ihn um Hilfe an und in seiner Stimme klang Verzweiflung an.

Nun beeilte sich Lorys, den Ort des Kampfes zu erreichen und ig­norierte die Gefahr, die ihr in diesem Moment drohte. Denn wenn der Krieger Hilfe brauchte, weil er in Not war, dann würde sie nicht einfach zusehen wie ein willenloses Lamm, das man zur Opferstätte führte. Nein, sie würde ihm helfen so gut es ihr überhaupt möglich war!

Augenblicke später erreichte sie dann die nischenartige Öffnung in den Felsen und kam so in einen rötlich schimmernden Raum, dessen Mittelpunkt ein Altar bildete, wo von allen Seiten gelblich-grüner Rauch hervorquoll und sich auch auf Lorys Atemwege legte. Sie sah, dass Thorin verzweifelt mit beiden Händen winkte. Sein Schwert schien er verloren zu haben und er wirkte eigenartig hilflos und müde.

»Thorin!«, schrie Lorys, als sie mit Entsetzen bemerkte, wie die muskulöse Gestalt des Nordlandwolfs immer mehr von dem beißenden Rauch eingehüllt wurde. Aber der blonde Krieger bemerkte überhaupt nicht, dass ihm Lorys gefolgt war. Stattdessen wurde seine Gestalt allmählich immer blasser und undeutlicher, bevor der Rauch sie schließlich ganz verhüllte und Lorys Blicken entzog.

Dann war plötzlich die furcht erregende Gestalt in der dunklen Rüstung neben Lorys und ergriff sie unsanft am Arm. Sie versuchte sich zwar gegen diesen Zugriff zu wehren, aber gegen Orcon Dracs Kräfte kam Lorys nicht an.

»Du willst wissen, was mit ihm geschieht?«, hörte sie dann eine hasserfüllte Stimme dicht an ihrem Ohr. »Dann warte ab - du wirst es gleich selbst erleben können! Folge ihm in den Tod, neugieriges Weib!«

Eine gewaltige Faust stieß sie mitleidlos hinein in den empor quel­lenden Rauch, in dem Thorin wenige Augenblicke zuvor auf geheim­nisvolle Weise verschwunden war.

»Thorin!«, rief Lorys - in der Hoffnung, dass der Krieger jetzt be­merkte, dass sie ganz in seiner Nähe war. »Thorin, wo bist du?«

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Seltsamerweise spürte Lorys aber keinen Halt, als sie stolperte, fiel und jeden Augenblick mit einem schmerzhaften Aufprall auf dem steinigen Boden der Höhle rechnete. Sie fiel jedoch immer weiter, in ein tiefes Loch hinein, das kein Ende zu haben schien. Große Angst ergriff Lorys, als ihr bewusst wurde, dass hier irgend etwas nicht stimmte. Etwas, das sie mit ihren eigenen Sinnen noch gar nicht fas­sen konnte, weil es schwer war, zu verstehen, dass die Realität auf einmal keine Gültigkeit mehr hatte.

Auch sie hörte jetzt die dröhnenden Schläge, die ihre Ohren schmerzen ließen, während sie sich in einem Strudel immer schneller zu drehen begann. Es war eine furcht erregende Stimme, die nun di­rekt in ihrem Kopf auftauchte und sie mit grausigem Gelächter ver­höhnte. Lorys Schreie verhallten ungehört, als sie der Strudel aus bun­ten Farben und eigenartigen Eindrücken immer schneller mitriss. Aber das bekam sie schon nicht mehr mit, denn mittlerweile hatte sie eine gnädige Ohnmacht erfasst...

*

Orcon Drac spürte einen wilden Triumph in sich, nachdem nun auch die Frau in den gelblich-grünen Rauchschwaden verschwunden war. Der geschickte Plan der finsteren Götter war aufgegangen und der blonde Krieger besiegt. Blind war er in die Falle getappt und hatte sich so einfach überrumpeln lassen! Der Ritter der Finsternis konnte es immer noch nicht glauben, dass alles im Grunde doch so einfach ge­wesen war. Bei allem, was er bisher über den Götterkrieger erfahren hatte, hatte er eigentlich angenommen, in Thorin auf einen ernstzu­nehmenden Gegner zu treffen. Aber es war eben doch nur ein Barbar, der gehofft hatte, den dunklen Mächten trotzen zu können!

»Er wird tausend Tode sterben«, murmelte der Ritter der Finster­nis. »Keiner ist bisher aus den Sümpfen von Cardhor zurückgekom­men...«

Für Orcon Drac war dieses Problem damit aus der Welt geschaf­fen. Er dachte nicht mehr an Thorin und die Frau, die schon bald in einer Welt des Grauens ankommen und von Modor selbst hingerichtet

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werden würden. Der Gott der Sümpfe hatte das so entschieden und Orcon Drac war das mehr als recht. So konnte er sich auf die bevor­stehende große Schlacht zwischen Licht und Finsternis konzentrieren.

Auch er trat nun in den stinkenden Rauch und murmelte dabei ei­ne leise Beschwörung mit geschlossenen Augen. Nur wenige Sekunden später wurde auch er von den geheimnisvollen Strudeln erfasst und mitgerissen. Aber nicht als wehrloses Opfer, sondern als einer, der diese Art der zeitlosen Versetzung perfekt beherrschte. Orcon Drac war schließlich der Vasall der dunklen Mächte und es war nicht das erste mal, dass er auf diese Weise große Entfernungen zurücklegte. Diesmal in eine Region jenseits der bekannten Welt der Sterblichen. Auch sein Ziel waren die Sümpfe von Cardhor - das finstere Reich des mächtigen Modor! Und vielleicht würde er ja zusehen, wie Thorin starb...

Ende

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