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Januar 2010 Das gehirnbesetzende Magazin des AStA der Universität Hannover Bildungsstreik 2010 Wer will nochmal? Wer hat noch nicht? besetzt geräumt freigegeben

Das gehirnbesetzende Magazin des AStA der Universität … · 2013-03-09 · Das gehirnbesetzende Magazin des AStA der Universität Hannover Außerdem im Heft ... (HRG § 41 (1) Satz

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Januar 2010

Das gehirnbesetzende Magazin des AStA der Universität Hannover

Außerdem im Heft: Thema 2: Rassismus in unser Gesellschaft - Elitekonzept - Interview zum Thema „Biologisches Geschlecht - Uni-Wahl Ergebnisse - u.a.

Bildungsstreik 2010

Wer will nochmal?Wer hat noch nicht?

besetzt

geräumt

freigegeben

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ImpressumRedaktion:

Jan Drewitz, Jens Rösemeier, Catharina Peeck, Peter Eisner, Tino Ehlig V.i.S.d.P: Jan Drewitz

Layout: Catharina Peeck, Jan Drewitz (Cover)

Druck: AStA Druckerei, Unidruck (Cover)

Auflage: 2000 Stück

KontrASt ist die Zeitung der Verfassten Studierendenschaft der Universität Hannover. Die Artikel geben die Meinung der Autorin/des Autors wieder und entsprechen nicht notwendig den Auffassungen des AStA-Kollektivs.

Sie dienen auf Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung der Förderung der politischen Bildung, des staatsbürgerlichen Verantwortungbewusstseins und der Bereitschaft zur Toleranz (HRG § 41 (1) Satz 4).

Kontakt:AStA der Uni HannoverWelfengarten 130167 Hannover

[email protected]

Wir verwenden in den Artikeln der KontrASt-Redaktion den Gender-Gap (zum Beispiel Student_innen), um damit auch in der gedruckten Sprache allen Menschen Raum zu geben. Dadurch versuchen wir in die sprachliche Darstellung alle sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, auch jenseits von hege-monialer gesellschaftlicher Zweigeschlechtlichkeit, einzubeziehen. Neben Frauen und Männern schließen wir mit dem Unterstrich explizit auch jene ein, die sich nicht einem dieser beiden Geschlechter zuordnen, beziehungsweise zuordnen lassen möchten, wie Intersexuelle, Transgender oder Transsexuelle.

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,

das neue Jahr hat begonnen und die Besetzung von Europas Univer-sitäten hält bereits drei Monate an. Die Studierenden demonstrieren für bessere Studienbedingungen. Sie kritisieren besonders die Aus-wirkungen der Bologna Reformen, denn statt Verbesserungen haben sie die Situation an den Universitäten verschlimmert. Grund genug, die Proteste auf den Titel unserer Januar Ausgabe zu bringen. Die Karte zeigt welche Unis betroffen sind. Berichte, Kritik und ein Ge-dicht zum Thema findet ihr in dieser KontrASt auch.

Eins der wichtigsten unipolitischen Ereignisse des Jahres sind die studentischen Wahlen, die vom 12. bis zum 14. Januar stattfanden. Wir haben einen Überblick über die Ergebnisse zusammengestellt.

Günter Wallraff hat mit seinem Film „Schwarz auf Weiß“ Ende 2009 einiges Aufsehen erregt. Es folgte eine Diskussion über die Frage, wie man sich mit Rassismus auseiandersetzen sollte, wer für wen sprechen kann und was es bedeutet als Farbige/r in Deutschland zu leben. Wir haben uns die Debatte näher angeschaut und zum Anlass genommen, Leute zu Wort kommen zu lassen, die sich täglich mit dem Thema beschäftigen. So erzählt uns u.a. Abdou Karim Sané von seinen Erfahrungen aus der Antirassimusarbeit beim Freundeskreis Tambacounda e.V., es gibt einen Artikel zur Beziehung von Sklaven-handel und Rassismus. Außerdem veröffentlichen wir den Text von Herrn Wallraff, der bereits in der ZEIT erschienen ist.

Andere Themen in diesem Monat sind u.a.: der Naziaufmarsch in Dresden am 13.Februar, die Vorstellung von Tornike, dem Auslän-derInnenreferenten im AStA und die Erhaltung des Gartenhauses in der Nordstadt.

Viel Spaß beim Lesen wünscht eure KontrASt Redaktion

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InhaltBASTA. . . . . . . . . . . . 4

Uni Hannover

Die Uniwahlen – eine kleine Übersicht. . . . . . . . 6

Selbstverständnis des Autonomen Feministischen Kollektivs . . . . .8

Das Referat Ausländer_innen : Ein integrationsförderndes Instrument . . 11

Bildungsstreik

Erlebnisbericht aus dem Audimax. . . . . . . . 12

Lyrisches von der Besetzung . . . . . . . . 16

Wir wollen doch nur Streik spielen . . . . . . . 22

Schwerpunkt: Rassismus

In fremder Haut . . . . .. . . . . . 24

Die Kritik an Günter Wallraff . . . . .. . . . 30

Interview mit Abdou Karim Sané vom Freundeskreis Tambacounda e.V. . . 32

Der Sklavenhandel und die Entstehung des Rassismus . . . . 35

Rassismus im Alltag. . . . . . . . . . 41

Naziaufmarsch in Dresden . . . . . . . . 44

Politik

Freiräume in der Nordstadt: Das Gartenhaus .. . . . . . 47

„Unter Folter hast du Zeit zum Nachdenken!“ Folter im Iran . . . 49

Von »Leuchttürmen«, »Hochbegabten« – und der »Masse«. . . . 51

Kein Geschlecht oder viele? Interview „Biologisches Geschlecht“. . . 56

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4 01/2010

Basta

AStA Findungsphase

AuchindiesemJahrorga-nisiert der aktuelle AStAwiedereineFindungspha-sefürdennächstenAStA.Diese ist dazu da, die(möglichen) Tätigkeits-bereiche Interessiertenvorzustellen, Fragen zubeantworten und zu ge-währleisten,dass sich in-teressierte Studierende,die Lust haben sich fürdieStudierendenschaftzuengagieren, zusammen-finden können. Das ersteundzweiteTreffenistamDienstag und Donners-tag,den19.01und�1.01.im AStA-Sitzungszimmer.Für weitere Treffen fragteinfachimAStAnach.

AStA warnt vor rechten Umtrieben

Die Buschenschaft „Ghi-belliniaLeibzigzuHanno-ver“kündigtezum14.01.einenVortragzudemge-schichtsrevisionistischenthema „WestalliierteKriegsverbrechen an An-gehörigen der deutschenWehrmacht“ an. Obwohlsie kurzfristrig abgesagtwurde, nimmt der AStAdies zum Anlass, zu er-höhter Aufmerksamkeitgegenüber rechten Um-trieben im Umfeld derUniHannoveraufzurufen.VordemHintergrundderrechten Aktivitäten imZuge des bevorstehen-denJahrestagesderBom-

badierung Dresdens am13.�.,seidasDatumnichtzufälliggewählt.

Die kreativen Kurse im Sommersemester

AuchimSommersemesterbietet der AStA wiederdie kreativen Kurse an.Erstmaligwirdesauchei-nen Gebärdensprachkursgeben. Die Kurse fangenzwei Wochen nach Be-ginn des Semesters, am19.April, an. Ab dem ��.März ist das ProgramminPapierformundaufderAStA-Homepage zu fin-den.

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�01/2010

Basta

AStA-Spieleabend wei-ter erfolgreich

Der AStA-Spieleabendmit Spielerezensent UdoBartsch findet weiterhinwie gewohnt jeden zwei-tenundjedenviertenFrei-tagimMonatab19.30Uhrinder14.EtagedesCon-ti-Hochhauses statt. Udobringt neue Spiele, aberauch Klassiker mit underfüllt auch gerne „Mit-bringwüsche“. Im Mo-mentliegtdieBeteiligungbeica.�0-30Personen.

Bus zur bundesweiten Demo in Frankfurt am 30. Januar

Am Samstag, den 30. Ja-nuar, findet in Frankfurteine bundesweite De-monstration unter demMotto „die uni gehört al-len“ statt. Nähere Infor-mationendazuauf:http://unigehoertallen.tk . DerAStA wird einen Bus or-ganisierenfürdenKartengekauft werden können.Weitere InformationendazuaufderAStA-Home-pageoderdirektimAStA.

Theateraufführung am 25. Januar im SILO

Der kreative Kurs „Inter-kulturelles Theater – mitundohneWorte“hatauchindiesemJahrwiedereinTheaterstück erarbeitet.Die Aufführung fndet amMontag, den ��. Januarum�0Uhr imStudent_in-nenwohnheim SILO (Do-rotheenstr. �-7 statt, derEintrittistfrei!

Wahl der Ausländer_in-nensprecher_innen

Dieses Jahr war geplant,dass die Wahl der Aus-länder_innensprecher_in-nen endlich einmal Sat-zungskonform, nämlichzeitgleich zu den Wahlenzudenstudentischenundakademischen Gremienstattfindensollten.Indenvergangenen Jahren wur-den diese immer bei denVollversammlungen derausländischen Studieren-den durchgeführt, wasursprünglichabernuralsAusnahmeregelung ge-dacht war, sich über dieJahre aber zur regelmä-ßigen Praxis entwickeltehatte.BiszumAbgabeter-min der Wahlvorschlägegab es aber leider keineBewerber_innen. Deshalbwird es aller Voraussichtnach eine Nachwahl ge-benmüssen.

Wahlen

Vom13.-biszum16. Janu-ar fanden wie jedes Jahrdie Uniwahlen statt. DieWahlbeteiligung war aneinigen Fakultäten höher,als in den Vorjahren, wasderAStApositivbewertet.Die Wahlparty hat diesesJahrimElchkellerstattge-funden. Sie war sehr gutvon Mitgliedern fast allerHochschulgruppen undFachschaftenbesucht.

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6 01/2010

Uni Wahlen

Die Uniwahlen in diesem Jahrstanden gefühlt im Zeichen vonRCDS und Junge Union. DerRCDS ist ja bereits bekannt,tratnurimletztenJahrnichtzuden Uniwahlen an. In diesemJahrgabeseinRevival,an�Fa-kultäten trat der RCDS für dieFachschaftsräte an, aber auchfürSenat,StuRaundauchfür3Fakultätsräte.

NeuaufderBühneistaußerdemdieJungeUnionHochschulgrup-pe,diesich indiesemSemesterneugegründethatundbeiihrenersten

Hochschulwahlen auch bei 3Fakultäten für den Fakultätsratantrat, sowie für StuRa, Senatundin4FakultätenfürdenFach-schaftsrat.

Auffällig waren von den beidenCDU-nahen Gruppen der kos-tenintensivgeführteWahlkampf,während die „große Fachschaf-tenliste“ („Eure FSR“), die seitnunmehrdreiJahrenbeideSena-torInnenstellt,sicheherzurück-hieltmitAktionenimWahlkampf.Stets präsent waren da schoneher die Jusos und DIE.LINKE.SDS.

Nur am Rande erfreulich wardie diesjährige Wahlbeteiligung.Erfreulichdeswegen,weiltrotzwidriger Wetterverhältnisse dieWahlbeteiligungum1,1Prozent-punkteimVergleichzumVorjahranstieg.Negativtrotzdem,weilesmit19,7%allerWahlberechtigtenwiedernichtdieBeteiligungwar,diemansicheigentlicherhoffensollte. Ein kontinuierlicher An-stieg ist dennoch seit Jahren zuverzeichnenundwennesindie-sem Tempo weitergehen sollte(ca. 1,�-�% Zuwachs pro Jahr),dannhättenwirzumindestin1�JahreneineWahlbeteiligung,diesogarüberder,derEuropawahlliegen würde. Besonders hochwardieWahlbeteiligungbeidenFakultäten Wirtschaftswissen-schaft (��,6%) und Architektur/Landschaftsarchitektur (��,7%),am geringsten bei der Fakultätfür Maschinenbau (13,4%) undder Philosophischen Fakultät(1�,4%).

Semesterticket

Wie gewohnt gab es auch wie-dereineUrabstimmungzumSe-mesterticket. Hier bleibt auchim WiSe �010/11 und im SoSe�011alleswiegewohnt.DieBe-reichederDeutschenBahnunddesGVHwurdenmit überwälti-gender Mehrheit angenommen,fürdenBereichdesMetronomsstimmten auch immerhin noch87%derWähler_innen.

Die Uniwahlen – eine kleine Übersicht

Sie sind vorbei, die Schlachten in der Mensa. Die Papierteppiche und die Wahlwerbung in den Bah-nen. Es wird wieder ruhig, eine neue Legislaturperidode beginnt.,

von Tino Ehlig und Jan drEwiiTz

Das Ergebnis für den Studen-tischen Rat

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701/2010

Uni Hannover

Senat

Das Ergebnis bestätigte, in ge-wissem Maße, die Arbeit derSenatorInnen von „Eure FSR“,beide SenatorInnenposten ge-hen trotz Verlusten von 17%wiederandieseListe.Garnichtverwunderlich ist der Verlust,wenn einVergleich zum letztenJahr hergestellt wird. Hier tra-tenwederRCDSnochJUan,derStimmenzuwachs der konser-vativen Hochschulgruppen sindabgewanderte „Eure FSR“-Wäh-lerInnen.BemerkenswertistdasGuteErgebnisvonGuidoD.,dersichalsEinzelkandidatbeworbenhatteundweitmehrStimmener-hieltalsderRCDS.

Studentischer Rat

WieschonimletztenJahrgabesimStuRa71Sitzezufüllen(hier-von 3� direkt gewählte und 36aus den Fakultätsfachschaftsrä-ten (FFSR) delegiert). Über dieDelegierten kann natürlich erstentschieden werden wenn sichdie FFSR konstituiert haben,wasüblicherweiseindenerstenbeidenApirlwochenpassiert.DiekonstituierendeSitzungdesStu-Ra wird damit dann mitte Aprilstattfinden.

Einige Listen traten in diesemJahrnichtmehrzurWahlan.ALF(Alternative Liste Fachschaft),diezuvor4Sitzestellten,DieIn-ternationaleMitte(zuvor1Sitz)und Keine Gruppe (ebenfalls 1Sitz) sind damit im StuRa nichtmehrvertreten.Besondersscha-de ist die diesjährige Abstinenzvon Keine Gruppe, da sie denWahlkampf in den vergangenenJahrendurchsehrhumorvollbe-gleiteten (mehrmalige Parodienauf die Juso-Werbespots oderWerbeplakate). Dafür tauchtenindiesemJahrangeblichimSILOund am Conti Campus „Verar-

schungsplakate“derSilotenundSoloten mit dem Titel „SolistenundFaschisten“auf.Werdahin-ter steckte war bis Redaktions-schlussnochnichtbekannt.

Damit ändert eigentlich nichtviel im StuRa. Die Liste NaWi,dievierStimmenverloren,gabenzweiStimmenanMaphyundIn-formatikab,dadieseimvergan-genenJahrnichtangetretenwa-renunddazuaufgerufenhattendieNaWis zuwählen.Statt dendreiobengenanntenHochschul-gruppen-Listen, die nicht mehrzurWahlangetretensind,gibtesmit dem RCDS und der JungenUnionzweineueHochschulgrup-pendiediesePlätzeeinnehmen.Campus Grün und Siloten undSoloten bekamen jeweils zweiSitze mehr, so dass das Kräfte-verhältnis von Hochschulgrup-penlisten und Fachschaftenlis-ten im StuRa gleich gebliebenist. Interessantkönnte trotzdemwerden,wiesichderRCDSunddie Junge Union in den StuRaeinfügenwerden.

Die detaillierten Wahler-

gebnisse, sowie die recht-

lich relevanten Aushänge

sind beim Wahlamt

(www.uni-hannover/wahl-

amt >Aktuelles) zu fin-

den. Die Ergebnisse der

Urabstimmung sind auf

den Seiten des AStA zum

nachlesen abgelegt.

Die Abstimmung über das Se-mesterticket

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8 01/2010

AFK

Das muss sich gefällixxt ändern!!

Deshalb hat sich das AFK (an-fangs noch FrauenLesben- Kol-lektiv) Anfang des Sommerse-mesters �009 neu gegründet:EsbestehtauszehnFrauen,vondenen sechs als Referentinnenvon der Frauen-Vollversamm-lung gewählt wurden. Wir be-kommen Geld durch den AStA,sind aber in unseren AktionenundDiskussionenautonom,d.h.selbstbestimmt. Unsere Organi-sationsformistdasKollektivundEntscheidungenwerdenbeiunsnachdemKonsensprinzip inun-

seren wöchentlichen Sitzungenim Frauenraum gefällt. Wir ar-beiten in AGs zu verschiedenenThemen- und Aufgabenfeldern.Generell sind wir eine offeneGruppe und jede, die unserenGrundsätzenzustimmtisteinge-ladenmitzuarbeiten!

Warum Frauenpolitik?

Wir leben in männlich domi-nierten gesellschaftlichen Ver-hältnissen, die alle, die von derheterosexuellen-männlichenNorm abweichen, benachteili-

gen, indem ihnen z.B. andereHandlungschancen zugeteiltwerden. Wir wollen nicht, dassGeschlechterrollen unser Lebenbestimmen,sondernsieamliebs-ten auflösen. Dies ist aber nurmöglichwennmandieseBenach-teiligungen und unterschied-lichen Wertigkeiten benennt.Frauen müssen zuerst in ihrenPositionen gestärkt werden, dieBelange von ihnen müssen ge-hört und genannt werden. UnddeshalbmüssenwirdennochvonFrauen und Männern sprechenum Ungleichheiten aufdeckenundbekämpfenzukönnen.

Selbstverständnis des

Autonomen Feministischen KolleKtivs der Uni HannoverSommer 2009

auTonomEs fEminisTischEs KollEKTiv

Jahrhunderte lang waren die Hochschulen eine rein männliche Institution – Frauen hatten dort keinen Platz. Erst seit 1900 ist an deutschen Universitäten die Immatrikulation von Frauen er-laubt. Heute herrschen trotz dieser Entwicklung und formal verbesserter Bedingungen für Frauen Ungleichheiten an Universitäten immer noch vor. Aber auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen kommen sexistische Diskriminierungen ebenso häufig vor wie an Hochschulen.

Oder wie viele Professorinnen und wie viele Professoren kennst du? Wie viele Müllfrauen schie-ben morgens die Tonnen durch die Straßen? Wie viele Väter bleiben zu Hause, wenn ihre Kinder krank sind? Wurde dir beigebracht, wie man mit Bohrmaschinen umgeht? Wer kümmert sich in deiner Beziehung um Verhütung? Wen fragst du um Hilfe, wenn du ein Problem mit dem Computer hast?

Diese strukturellen Unterschiede bestimmen unser alltägliches Verhalten und viel zu oft auch, was wir fühlen.

So sitzen wir in Seminaren und trauen uns nicht, was zu sagen. Wir stehen morgens auf und fragen uns, ob wir dieses oder jenes Top auch wirklich tragen können oder ob wir damit blöd angeguckt werden. Wir sind lesbisch oder bisexuell oder wie auch immer und trauen uns nicht, es unseren Eltern zu sagen. Wir haben schlechte Laune und werden gefragt, ob wir schon wieder unsere Tage haben. Wenn uns in der Fußgängerzone ein Mann begegnet weichen wir aus - und nicht er.

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901/2010

Uni Hannover

Frauen sind keine homogeneGruppe, die sich als solche be-schreiben lässt – deshalb weh-ren wir uns gegen die systema-tischeEinteilung vonMenscheninMännerundFrauen.Frauseinist keine naturgegebene Be-stimmung-esgibtkeinGendasfestlegtwieFrauenticken.DassFrauenfürsorglichsind,schlechteinparken,gerneSchuhekaufenund vor Spinnen Angst habensind Klischees. Trotzdem wirdimmer über die Eigenschaftender „Frau an sich“ gesprochen.Bestimmte menschliche Eigen-schaften werden als weiblichbestimmtunddeswegenFrauen

zugeschrieben.UnddiesschlägtsichinunseremVerhaltenundinunserem Alltag, und damit un-sererRealitätnieder.

Menschen, die sich als Männerfühlenund/oderwahrgenommenwerden, teilen unsere Problemenicht und deswegen wollen wirnichtmit ihnenzusammenarbei-ten.WirverstehenunsalsGrup-pe von und für Nicht-Männerund setzen uns darum für alleMenschenein,dievondermänn-lichenHerrschaftinunsererGe-sellschaft diskriminiert werden.WirsprechendeshalbvonNicht-Männern, weil uns bewusst ist,dass wenn wir nur von Frauensprechen,wirQueersundande-reausschließen.Wirhabenaber

denAnspruchanuns,dassdiesin unserer politischen Arbeitnichtpassiert.

Wir wollen dazu beitragen, Un-gleichheitsstrukturen–seiesander Uni oder in anderen Berei-chen – aufzudecken und alltäg-liche wie strukturelle Sexismenzu benennen und andere damitzukonfrontieren.Wirwollenunsnicht vorschreiben lassen, wowirhingehörenoderwiewirseinsollen!

WirhabenauchkeinenBockaufKörpernormierungen, die etwasüber unseren „Wert“ aussagen

sollen. Ob dick ob dünn, ge-schminktodernicht,obbehaartoderrasiert,schickoderschlud-rig, niemand sollte sich einersolchenWerteskalaunterwerfenmüssen!DieZwänge,diedahin-terstehen,sollenunseinpassenin eine Welt, in der es darumgeht, sich „gut zu verkaufen“.Daswollenwirnichtmitunsma-chenlassen!Wirwollenunsmitunsselbstwohlfühlenundwederewig Zwängen hinterherlaufen,die darauf angelegt sind, ihnennievölligentsprechenzukönnen,nochGegenzwängeschaffen,dieuns von wesentlicheren Dingenablenken.Unsistwichtig,unsereigenes Handeln und Auftretenzureflektierenundzuhinterfra-gen,ohnedenZwangzuhaben,

bestimmten Vorgaben entspre-chen oder nicht entsprechen zumüssen.HierfürschaffenwirunseinengemeinsamenFreiraum.

Außerdemwehrenwirunsgegendas Konzept der Heteronorma-tivität das Heterosexualität als„normal“ festlegt und das im-mer noch von vielen Menschenals „natürlich“ angesehen wird.Wir wollen lieben können, wenwir wollen - egal welchen Ge-schlechts! Wir wollen, dass wirals bi- oder homosexuelle oderwie-auch-immerMenschenunse-re Orientierungen frei auslebenkönnen, ohne Angst vor Diskri-minierungen haben zu müssen.AuchdafürwollenwirFreiraumhaben.

Das große beschissene Ganze

Uns ist bewusst dass Sexismusund Heteronormativität nichtfür sich allein betrachtet wer-den können, sondern in unauf-löslichem gesellschaftlichemZusammenhang mit Kapitalis-mus, Rassismus, Nationalis-mus, Kulturalismus, Ethnozen-trismus, Ageism, Ableism usw.steht.DarumwerdeninunsererArbeit diese Verknüpfungen im-merwiederthematisiertwerdenmüssen.ZumBeispielsagenwir,dassHeteronormatvitäteinederKonstruktionen ist, die das be-stehende,kapitalistischeSystemam Laufen hält. Denn MännleinundWeibleinmüssenneueHum-anressourcenranschaffen,derenArbeitskraftdannweiteraufdemArbeitsmarkt verwertet werdenkann. Am Besten funktioniertdasGanzemiteinerklarenAuf-gabenteilung nach Produktionund Reproduktion, in der Frau-en–seienesmigrantischeoderdeutsche–dengrößtenTeilderFürsorge- und Hausarbeit über-nehmen.

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10 01/2010

Action Action Action

Wir wollen mit unserer ArbeitFrauen in ihrer Selbstbestim-mungstärkenundüberalldalautwerdenwowirSexismuserken-nen.

Wir wollen Veranstaltungen,WorkshopsundLesungenanbie-tenzuThemenwieGeschlechter-rollenheuteunddamals,sexuelleOrientierungen, Gleichberechti-gung in allen Lebensbereichen,Gewalt gegen Frauen, Selbst-behauptung und Selbstverteidi-gung,Homophobie,frauenspezi-fische Gesundheitsthemen (wiez.B.VerhütungundAbtreibung),sexuelle Selbstbestimmung, Ge-schlechtsidentität, Feminismus-ansätze usw. Dabei geht es unsumdieLebensrealitätvonFrau-en. Außerdem wollen wir auchVeranstaltungen wie z.B. Kon-zerte oder ein Frauenfrühstückmachen, bei denen Frauen sichabseitsvonorganisiertenZusam-menhängen austauschen undtreffen können. Wir wollen unsausprobieren in verschiednenBereichen und Aktionsformen;sokommtdemnächstunserers-tesHeftchenrausunddieInter-netpräsenzistauchschoninderMache.(http://afk.blogsport.de/)Zudem streben wir die Zusam-menarbeitmitanderenuniversi-tärenoderexternenFrauengrup-peninHannoverundbundesweitan.

Bei unseren Aktionen und Ver-anstaltungen arbeiten wirausschließlich mit Frauen zu-sammen,zumBeispielmitFrau-enbandsaufderBühne,dieTech-nikerinnen und Referentinnenoder Autorinnen. Mit diesemPrinzip wollen wir aktiv Positi-onenvonFrauenstärken.

WeilwiraberauchbeiMännernein Bewusstsein für Ungleich-heitsstrukturen und Sexismusschaffenwollen,sindsieauchan-

gesprochen.BeiVeranstaltungenund Aktionen also bitte daraufachten,obesreineNichtmänner-Veranstaltungensindodernicht.

Frauenraum

ZwarnichtzumAStAgehörend,aber in den Räumen des AStAbefindlich ist der Frauenrauman der Uni Hannover. Dort gibtesTeeundMusik,Bücher,Zeit-schriften zu frauen- und ge-schlechterspezifischen Themenund gemütliche Sofas für alleFrauen.VorAllemaberistereinFreiraum für Frauen um ohneMänner zu diskutieren, sichselbstbestimmt zuorganisierenoder auch einfach nur nett zu-sammen zu sitzen, sich auszu-tauschenundkennenzu lernen.Wir finden es wichtig FraueneinenSchutzraumzubietenumsichausdenalltäglichensexisti-schen Strukturen zurückziehenzukönnen.DerRaumistzudenAStA-Öffnungszeiten offen fürjede,dieRuhezumlesen,redenoderrumhängenbraucht!SolcheFreiräumefürFrauengibteslei-derviel zu selten -Wirnehmensieuns!

FrauenLesben

Das FrauenLesbenKollektivhat sich in Autonomes Feminis-tisches Kollektiv umbenannt.Es scheint uns zu einschrän-kend, uns nur als Frau-enLesben zu definieren.Lesben werden in die-sem Namen besonders her-vorgehoben, weil sie zwarauch Frauen sind, aber wegenihrer sexuellen Orientierungund ihrer Lebensform be-sonderen Unterdrückungs-mechanismen unterliegen,die ungesehen bleiben,wenn Frauen als homogene

Gruppe betrachtet werden.Aber alle Frauen sind multi-plen Unterdrückungsstruktu-ren ausgesetzt, darum findenwir, dass es nicht ausrei-cht, ausschließlich Lesbenzu benennen. Wir müsstenzum Beispiel hetero, les-bisch, bi, trans, migran-tische und/oder Schwarze,Alleinerziehende, körper-lich und geistig beeinträch-tigte Frauen ebenso in un-serem Namen aufnehmen.Deshalb haben wir uns füreinen Namen entschieden,der nicht die Zuschreibungund/oder Identität ausdrückt,sondern unsere Einstel-lung repräsentiert. Uns istwichtig, dass die Umbenen-nung vor dem Hinter-grund dieser Überlegungenverstanden wird und nicht alsAbgrenzung zu den voraus-gegangenen 30 Jahren FLK.Wir verstehen uns nachwie vor in der Traditionall dieser Feministinnen!

Kommt doch einfach bei

uns im Frauenraum oder

bei unseren Veranstaltun-

gen vorbei. Wenn ihr Lust

habt, im Kollektiv mitzu-

arbeiten, meldet euch ein-

fach unter

[email protected].

Das AFK

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1101/2010

Liebe Kommilitoninnen, liebe Kommilitonen,

Ich heiße Tornike Murtskhvaladze, bin �� Jahre alt, komme ausGeorgien,studiere im 9. Semester Germanistik und PolitikwissenschaftundbekleidedasReferatfürAusländer_innenimAStA.DieSchwerpunktemeinerArbeitsindfolgendeThemen:

Antidiskriminierung und Anti-RassismusRassismusundDiskriminierungsindindieserGesellschafterheblichwei-ter verbreitet, alsdiemeistendenken.AußerhalbderBehandlungkon-kreterFällesollendieStudierendenüberdieseThemen,weiteraufgeklärtwerden.IndiesemZusammenhangmöchteichdieZusammenarbeitmitderOffenen-AntifaderUniHannover,derAntifa-SBdesAStAundauße-runiversitärenOrganisation verstärkenundweiterhingemeinsamePro-jekte,wiedasfestivalcontreleracisme(AktionswochegegenRassismus),SeminareüberRassismus,NationalismusundFaschismusorganisieren.AußerdemfindeichdieZusammenarbeitmitderKommissionfürAntidis-kriminierungderUniHannoversehrwichtig.

Integration der ausländischen StudierendenHierbeistrebeichnachbessererKommunikation,Miteinander,BegegnungenundgegenseitigerAkzeptanzzwischenallenStudierenden(besonderszwischenDeutschenundNicht-DeutschenStudierenden).SieführtmeinerMeinungnachzurinterkulturellenBereicherungundzumErlernenvoninterkulturellenKompetenzenvonSeitenderStudierenden,diebe-sondersnützlichundwichtigfürdieIntegrationausländischerStudierendersind.GruppenbildungenvonausländischenStudierendenmusssowohlaufuniversitärerEbene,alsauch inStudentenwohnheimenvermiedenwerden. Integrationheißtauch,dassdieBetroffenenzuBeteiligtenwerden.Unddasbedeutet,dassdasEngagementvonausländischenStudie-rendenindenstudentischenundakademischenSelbstverwaltungundanderenInstitutionenaufHochschulebeneverstärktwerdenmuss.Umdiesezuerreichenstelleichmirfolgendesvor:

Leider ist durch einen Redaktionsfehler in der letzten KontrASt-Ausgabe die Selbstvorstellung vom Auslän-der_innenreferenten „unter den Tisch“ gefallen. Hier dies deshalb als Nachtrag:

Das Referat Ausländer_innen : Ein integrationsförderndes Instrument

- es sollen vom AStA kostengünstige Vorbereitungskurse für die DSH-Prüfung organisiert werden

- Seminare über interkulturelle Kompetenzen

- ich möchte Fachschaften-Konferenzen unterstützen, die Teilnahme und das Interesse der auslän-dischen Studierenden an Fachschaftsarbeit und Hochschulpolitik steigern

- ich nehme regelmäßig an den Sitzungen der Tutor_innen des Studentenwerks teil

- Info-Veranstaltungen über Stipendiumsmöglichkeiten sollen veranstaltet werden

- der Orientierungstag für ausländische Studierende soll gefördert werden; in Zusammenarbeit mit dem Hochschulbüro für Internationales (HI) sollen noch stärker auf die Veranstaltungen in der Er/Sie-Woche, sowie Beratungsmöglichkeiten, Darlehen, Freitische und den AStA aufmerksam gemacht werden

- mit dem Motto „nicht nur Grenzen, sondern Nationalitäten abschaffen und Toleranz erweitern“, wird der Arbeitskreis für die internationalen Studierenden gestärkt

AußerdemistmirdieallgemeineBeratungüberallgemeineAngelegenheitenausländischerStudierenderunddieUnter-stützungdesAusländer_innenausschussessehrwichtig.

Uni Hannover

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1� 01/2010

Bildungsstreik

Als ich das erste Mal über dieBesetzung in Hannover ge-schriebenhabe,saßichgradbeieinem internationalen Vernet-zungstreffen und die Hambur-gerBesetzer_innenfragtenuns,ob wir einen Bericht für ihreZeitungschreibenkönnten.

An dem Wochenende lief diezweite Woche der BesetzungdesAudimaxderUniHannover.MeinBerichtwarvollvonposi-tivenAssoziationen.Wirhattenin diesen zwei Wochen nachmeinem Empfinden wahnsin-nigvielerreicht.Wirwurdeninder Öffentlichkeit wahrgenom-men und hatten in der Presseein gutes Standing. Beim Ver-

netzungstreffen wurde deut-lich,dasswireineunglaublicheKraftfreigesetzthattenundwirendlich das Gefühl hatten waserreichenzukönnen.

So viele Menschen aus unter-schiedlichenStädten, verschie-dener kaum möglich und docheinteunsdasgemeinsameZielgegen die Bildungspolitik indiesemLandanzugehen.

Dochwieweit sindwirdiesemZiel entgegen gegangen? Wirhabenstundenlangdarüberde-battiertinwelcherSprachewirredenwollen,schließlichwarenwir international, ob wir über-hauptbeschlussfähigsind,wen

wirvertretendürfenundobBierimPlenumeineguteIdeeist.

Am Ende des Wochenendesstand die Erkenntnis, dass wirnochziemlichvielzutunhaben,einen langen Weg gehen müs-senunddieBesetzung inHan-noverdocheigentlichganzgutläuft.

Die Orga in Hannover standendlich. Dinge wie Pressemit-teilungen schreiben, den Info-tisch aktuell halten, Raumver-legungen und der Weckdienstliefen jetzt von ganz alleineundesfühltesichanwieinei-ner großen Familie. Nach zweiintensiven Wochen des Mitein-

Erlebnisbericht aus dem Audimaxvon loTTE schnEidEr

Das Gespräch mit dem Präsidium im Audimax am 25.November vor ca. 700 Studierenden.

Bis zu 1500 Hörer_innen verfolgten den live-Stream im Internet

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Hochschulpolitik

anderskommendirschonzweiStunden Seminar völlig reali-tätsfern vor. In der BesetzungschaffstdudeineeigeneAtmo-sphäre. Viele von uns Beset-zer_innen schliefen jede Nachtda.Der „harteKern“ fand sichschnell und wurde immer wie-dervonneuenLeutenergänzt.InvierWochenBesetzunghabeich die meisten wohl besserkennengelernt,alsichesinei-ner jahrelangen, nebenbei lau-fenden, Freundschaft je hättetunkönnen.

Morgens um � Uhr geht dasLichtanindenFlurenderUni-versität. Nach und nach kom-men die Reinigungsfachkräfte,die wissenschaftlichen Mitar-beiter_innen und irgendwannderWeckdienst,der sicheinenSpaßdrausmachtmitMegafonund vielGebrüll dieLeute auf-zuscheuchen.Nichtseltenistespassiert,dassichnochwachda

lag,wenndasLichtanging.Ob-wohlodergeradetrotzdeswe-nigenSchlafsgabesnurweni-geTage,woichnichtmotiviertwaraufzustehenundindenTagzustarten.Ichkonntemichaufein entspanntes Frühstück mitden anderen freuen, auf einenTag am Infotisch mit Diskus-sionen, Twittern und ganz vielSpaß.DiebreiteUnterstützungvon den Studis unterstütztemichinmeinemDenkenmitderBesetzungdasRichtigezu tun.EskamenimmerneueSolidari-tätsbekundungen oder es wur-den Spenden vorbeigebracht.OftkamenStudisvorbei,disku-tierten mit uns, erklärten ihreKritikpunkte. Wenn du merkst,dass die Leute ihre Meinungüberdenken, du einen ProzessanstößtundsieeinigeTagespä-terimPlenumsitzensiehst,hatsichderTagfürmichschonpo-sitiventwickelt.

KlarstresstdieseZeitunglaub-lich. Ich stand eigentlich stän-digunterStrom.VieleProzessehabenmireinfachvielzulangegedauert, aber ich weiß auch,dass vieles diese Zeit braucht.Menschen, die sich als unpo-litisch bezeichnen und an derBesetzung teilnehmen, habeneinen anderen Zugang dazuals jahrelang politisierte Men-schen. Veganes biologischesEssen kann Leute genauso ab-schrecken,wieanderedasBierimPlenum.Debatten,mitdenenmenschsichauseinandersetzenmusste, die manchmal den En-thusiasmusausgebremsthabenund doch notwendig waren.Außerdem hatten wir ja Zeit.Dachteichzumindest.

FürvielewaresdieersteTeil-nahmeaneinerBesetzungoderüberhaupt an einer politischenAktion. Grundlagen wie Basis-demokratie, Konsensentschei-

Dem Aufruf zum Mitstrei-ken folgten gerade am Anfang viele Studierende

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dungen oder die Verbindungvon Kritik am Bildungssystemund Gesellschaftskritik muss-tengeklärtwerden,dochoftistdabei die Bildungspolitik aufder Strecke geblieben. UnsereForderungenstehenzwar,dochvielenhätteintensiverausgear-beitet werden können und be-sprochenwerden.KlarwirddasdurchvieleFaktorenbeeinflusst,dass viele vor den Winterferienkräftemäßig am Ende waren,ist durchaus nachvollziehbar.Für den nächsten Streik habeich daraus gelernt und werdefrühermehrinhaltlicheArbeits-kreiseanregen.

VieleDiskussionen,diehätten sein müssen,wurden einfach nichtgeführt. Um sich janichtdemVorwurfstel-lenzumüssen,wirseiendochallenurLinksradi-kale, wurden wir ein-fach unpolitisch undklammert alle schwie-rigen Themen aus, umja keine Menschen zuverschrecken. Das hatnichtnurdazugeführt,dassvomrechtenRandderCDUbis indieAn-archieszene alles beiunsvertretenwar,sonderndassdementsprechendauchdieDis-kussionengeführtwurden,oderebennicht.

Das„Kapitalismusabschaffen“–Bannerwurdekurzerhandwie-derabgehängt,schließlichdarfsowasnichthängen,wennwirnicht darüber geredet haben.Geredet wurde darüber nie, eshätte ja eine harte Konfronta-tion werden können und Leu-te abschrecken, die dazu eineandere Meinung haben. Dochdurch solche Nicht-geführtenDebatten geht uns die andereSeiteverloren.RadikalereMen-schen blieben auf der Strecke,weil ihnen die Identifikation

fehlte.DochgeradedieseMen-schen braucht die Besetzung.Sie bringen Potenzial und Er-fahrungen mit die wichtig fürden Prozess sind und auch dieOrganisation der Besetzungkann von ihren Erfahrungenprofitieren.Klar istesanstren-gend Diskussionen immer undimmer wieder zu führen, vorallem wenn du sie vor der Be-setzungschonzwanzigMalge-führthast,dochsoläuftderpo-litisierende Prozess. Zu gehen,nurweileinemdieMeinungan-derergeradenichtpasst, emp-findeichalsunangebracht.Ge-

radedannmussmenschbleibenundversuchendieDebattevoninnenmitzugestalten.Ichweiß,dasssagtsichoftleichteralsesist,aberwennwirwirklichlän-gerfristig als Gemeinschaft fürunsereBildungsidealekämpfenwollen ist dieser Schritt, denjede_r bei sich selber setzenmuss,nötig.

Nach der Räumungsandrohungin der ersten Woche, die dannjadochnichtumgesetztwurde,war ich noch motivierter. Ge-fühlt stand mir die Welt offen.Jede Diskussion, jeder gemein-same Abend mit Film, MusikundvielGelächtermachtemicheuphorischer und begeisterte

mich mehr für die Besetzung.Ich traf Menschen, mit denenichmichsonstvermutlichnichtangefreundet hätte, einfachweil nie die Situation gewesenwäre,inderwirunskennenge-lernt hätten. Grundlegend un-terschiedlicheMenschen,nichtnur vom Alter, dem Studien-gang oder der politischen Aus-richtung her. In den nun mitt-lerweile acht Wochen seit demerstenTagderBesetzunghabeichGefühlefürdieseMenschenentwickeltundessindFreund-schaftenentstanden,aufdieichnichtmehrverzichtenmöchte.

Die Besetzung hatmein Leben be-reichert und mirvieles klarer ge-macht.Ichhabemei-ne Toleranzgrenzenvöllig neu kennengelernt und bin, wievermutlich alle vonuns, mit der Aufga-be und der Situationgewachsen. In derZeit,dieduinderBe-setzung verbringst,bist du praktisch ge-zwungen, dich mitdir selber, deinerUmwelt, der Beset-

zung und der Politik ausein-ander zu setzen. Viele von unshaben, so komisch das klingenmag,einenunglaublichgroßenProzess der Weiterentwicklungmitgemacht, andere haben ge-merkt, dass sie schon ziemlichfestimLebenstehen.Daskannsich auf ganz unterschiedlicheBereiche beziehen. Auf die po-litische Radikalität (in beideExtreme), Drogenkonsum, To-leranz, Sensibilität für gesell-schaftliche Prozesse, ProblemeundDiskriminierungenoderdieEinstellungzu(deinereigenen)Sexualität.

Ich möchte diese Zeit auf kei-nen Fall missen und blicke po-

Bildungsstreik

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Studierende niedersächsischer Hochschulen „besuchen“ Minis-ter Stratmann im Ministerium für Wissenschaft und Kultur

sitivzurück.Trotzdemweißich,dass wir viele Ziele noch nichterreicht haben und noch ei-nenlangenWegvorunshaben.Der Bildungsstreik generellhat sich zu lange mit sich sel-ber beschäftigt und ist mir zuschnell zu brav geworden. WirhabeneingroßesPotenzialda-durchverloren,dasswirunszuschnell auf unseren Lorbeerenausgeruhthaben,anstattweiterSalz in die Wunden der Politikzustreuen.

Bildungspolitik muss im ge-samtgesellschaftlichen Kontextgedacht werden. Die Scherevon Arm und Reich, die Öko-nomiesierung der Gesellschaft,DiskriminierungaufGrundvonGeschlecht, Ethnie, Herkunftoder Religion oder in welchemSystem wir eigentlich Lebenwollen, all das und noch vielmehr hat Auswirkungen aufunserBildungssystemunddarfnichtausgeklammertwerden.

Ich hoffe, dass wir es schaffenwerden, all diese Fragen ge-meinsam zu diskutieren undfür uns selber Ergebnisse fest-zuhalten.Vielleichtkönnenwirden politischen Wandel nichtvollziehenaberwirkönnen ihnanstoßenundmitgestaltenunddas ist schon verdammt vielWert.

Hochschulpolitik

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Liebes Audimax,

Am 18.November, da fing alles an. Ich war bei einer der Demonstrationen für eine gerechtere und bessere Bildung in Hannover mitgelaufen und danach traf man sich zur Vollversammlung. Im Audimax. In dir.

Sofort fiel mir das weihnachtliche Weinrot deiner Inneneinrichtung auf, deine Weite, deine Eleganz, dein einladendes und vor allem auch einnehmendes Wesen...

Wir, die Studierenden, waren trotzdem wütend. Wegen der Studiengebühren, die wir zahlen müssen. Wegen der nach wie vor schlechten Lernbedingungen. Wegen der ganzen überfüllten Hörsäle. Weil unsere Hochschule immer ökonomisierter und immer weniger demokratisch zu sein scheint. Weil wir gezwungen sind, in einem System zu studieren, das selbstbestimmtes Lernen und Leben nicht zulässt. Wir, die Studierenden, wollten auf diese Missstände aufmerksam machen. Wir, die Studierenden, stimmten daher auf unserer Vollversammlung über eine Besetzung der Universität ab.

Nur 13 Gegenstimmen, über 3�0 dafür - liebes Audimax, wir zogen in dir ein.Es bildeten sich Arbeitskreise, Versorgung, Presse, Kultur, Forderungen, Mobilisierung, Vorlesungsverlegung.Ein studentischer Freiraum entstand. Es wurde basisdemokratisch.Es wurde pleniert. Es wurde gefeiert. Es kam zu ersten Richtungsentscheidungen, aus gegebenem Anlass beschlossen wir, dass Sachbeschädigungen nicht Teil von Aktionen sein dürfen, die aus dem Besetzungsplenum hervorgehen.

Erste Menschen gingen, andere kamen dazu. Anwesenheitspflichten wurden ausgesetzt, alternative Veranstaltungen fanden statt.

Wir mobilisierten. Wir erzählten die immer gleichen Witze („Ey, hab‘ im Audimax angerufen - war besetzt!“).Wir ließen Konzerte stattfinden.

Tocotronic, Jusos, Linke, GEW und andere erklärten sich solidarisch mit uns.Herr Barke, Unipräsident, nahm eine Einladung unsererseits an und erschien im Plenum. Das war am 23. November.

Wir versuchten den mittlerweile aufgestellten Forderungskatalog gemeinsam mit ihm und anderen Vertretern des Präsi-diums durchzugehen.

Wir versuchten es ein zweites Mal, am 2�. Nach meinem Gefühl ist dabei, liebes Audimax, nicht viel bei herausgekommen. Ein bisschen wurde unser Protest tot gelobt.

Wir wollten dem entgegen wirken und starteten Aktionen, um unserer Forderungen nach sozialerer und demokratischer Bildung an die Landespolitik heranzutragen. Wir verursachten Bildungsstaus. Wir gaben uns als offizielle Delegation des Präsidiums aus und eröffneten die Jagd auf Creditpoints in Form von Lufballons

LyrischesvonderBesetzung

von anTonia marKEr

Bildungsstreik

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in der Mensa. Wir stellten den Bildungstod durch Bologna nach. Wir ließen uns sogar vom NDR dabei filmen.

Auch außerhalb des Besetzungsplenums formierte sich Widerstand gegen die Bildungspolitik der schwarz-gelben Koaliti-on.

Das Ministerium für Wissenschaft und Kultur erhielt Besuch von Studierenden aus beinahe allen Hochschulen niedersach-senweit.

Der Minister begann mit uns zu sprechen, wenn er uns auch nicht ganz zuzuhören schien.Alternatives Programm in dir, liebes Audimax, fand weiterhin statt.

Am 03.Dezember zum Beispiel, politisches Kabarett. Immer wieder bekamen wir auch Besuch, aus Wien, aus Bielefeld, aus Dortmund, Hildesheim, Göttingen, Holzminden, Paderborn...

Trotzdem wurden Räumungsdrohungen immer akuter, sodass wir dich, liebes Audimax, schließlich verlassen mussten:

Einen Tag nach Nikolaus zogen wir um. Seit dem 07.Dezember sind wir nun im 14.Stock des Contihochhauses zu Hause. Wir taten unser Bestes um den Raum, den wir nun besetzten als Lernraum für Studierende aufrecht zu erhalten.

Die Aussicht war groß, es gab Ruheräume für alle und die Atmosphäre wurde irgendwie familiärer. Inhaltlich arbeiteten wir mittlerweile nicht mehr nur an rein bildungspolitischen Problemfeldern, auch andere gesamtgesellschaftliche Brenn-punkte nahmen wir aufs Korn, unter anderem im Besetzungsworkshop „Antisexismus und Konfliktlösung“.

Am 10.Dezember fand dann die Kultusministerkonferenz statt, auch Besetzende aus Hannover fuhren nach Bonn um zu demonstrieren.

Liebes Audimax, du fragst mich nach Ergebnissen der Konferenz, nach Zugeständnissen von Seiten der Politik? Kaum, kann ich dir sagen. Augenwischerei, behaupte ich.Verwaltung von Missständen, würde ich es gern nennen. Und wie ging es weiter, im Conti-14?Nur einen Tag später fand ein niedersachsenweites Vernetzungsplenum in unseren neuen Räumlichkeiten statt.

Am Samstag den 12.Dezember dann Swingparty, am Montag darauf Kino... Für jeden was dabei?

Es wurde kälter, wir wurden weniger, wir begannen mit einer Analyse des Protestes bis hierhin...Es ging um Perspektiven, um die Zukunft unserer Besetzung. Wir räumten auf, ließen Lyrikfabriken stattfinden, schleppten den ein oder anderen Schlafsack nach Hause.

Und jetzt?Wir haben uns entschieden:

Der Protest funktioniert über Weihnachten und den Prüfungszeitraum vielleicht nur auf Sparflamme, aber wir möchten ihn langfristig aufrecht erhalten - lieber mit dem Kopf durch die Wand als gar kein Fenster.Neue Aktionen im neuen Jahr und liebes Audimax, vielleicht kommen wir sogar zurück zu dir...

Hochschulpolitik

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„Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklich-keit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verfloch-ten ist sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie.“

RobertMusil:GesammelteWerke1,DerMannohneEigenschaften,RowohltVerlag,Hamburg1978,S.�46

Der Bildungsstreik 2009So etwas wie eine Rückschau, Versuch einer Zusammenfassung und Analyse, Kommentar, sowie Prognose und Ausblick zum Bildungsstreik in Hannover

von sTEffi sTrEiK und Jan drEwiTz

InHannoverfingalleserstinder„GlobalActionWeekforEducation“an.WährendinvielenanderenStädtenÖsterreichsundDeutschlandsdieStudierendenschonlängstHörsäleinihrenUniversitätenbesetzthielten,sprangderFunkeinHannoverrechtspätüber,dannallerdingsineinernichterwartetenIntensität:Beiei-nerVollversammlung stimmten ca. �00 Studierendefür eine Besetzung des Audimax, lediglich 13 dage-gen.Viele,dieseitJahreninderHochschulpolitikinHannoveraktivsind,hattenmitdeutlichschlechterenZahlengerechnet,vorallem,weildiebeidenDemons-trationszügederamTagzuvorstattfindendenDemomit ca. �000-��00 Teilnehmer_innen deutlich unterdemlagwaserwartetwordenwar.

Da auch viele politisch Unerfahrenere dabei warenund sind,was in jedemFall alspositiv zubewertenist,brauchtengeradedieerstenProzesseeinigesanZeit. Zeit, die eigentlich nicht zur Verfügung stand,hättesichdochvielfrüherumalternativeVeranstal-tungen gekümmert und Kritik am bestehenden Sys-tem artikuliert werden müssen. Das zeigt aber nur,wiewichtigderzurVerfügungstehendeFreiraumist,dasseigentlichvielhäufigerStudierendezumdisku-tierenzusammenkommenmüssen,wassichnahtlosindiegrundlegendeKritikamBachelor/MasterSys-temeinreiht.

ImLaufedesNovembersundDezemberswurdenzu-nehmenddieUnzulänglichkeitendesAudimaxdeut-lich,einUmzugwurdegeradeauchmiteinerneuer-lichenRäumungsdrohungdurchdasPräsidiumnötig.AufderSuchenachneuenRäumenwurdendieBeset-zendendanninder14.EtagedesConti-Hochhauses

fündig. Die Zahl der Besetzenden hatte inzwischenstarkabgenommen,waszumeinenaufdielangeZeit,ErwerbsarbeitoderauchSchlafmangelzurückzufüh-renist,andererseitsdurchausauchaufdieProblemeund das Verhalten einiger Besetzer_innen. Schonzu Beginn wurde z.B. schnell deutlich, dass es einegroße Diskrepanz gab, zwischen denen, die schonlänger in Protestformen aktiv waren und denen fürdiedieseherNeulandwar.DabeiwurdemitSicher-heit von beiden Seiten Fehler gemacht, die sich je-denfallssoauswirkten,dassvonbeidenSeitenLeutekeineLustmehrhattensichamProtestzubeteiligen.DieeinenfühltensichvordenKopfgestoßen,dasssiesichplötzlichmitPersonenauseinandersetzenmuss-ten,denenmanvermeintlichnochdie„Basics“erklä-renmussteunddiedanntrotzdemhinterhernochdiePolizei wegen durchgeschnittener Stromkabel derillegalen Überwachungskameras rufen wollten, dieandereSeitewargenervtvondenLeutendie ihnenscheinbarirgendwiezuradikalerschienen.Einbiss-chenmehrGeduldundVerständnisvonbeidenSeitenwärejedenfallsnichtschlechtgewesen.

EigentlichwarendiePläneandersangelegt:DieBe-setzendenwolltennebendem14.OGeinenanderenRaumfürdieArbeitskreisenutzen.GeradeüberdieFeiertageerschiendiessinnvoll.DasPräsidiumhatteeinensolchenRaumzuerst inAussichtgestellt.DerZwangunbedingterAnwesenheitzujederTages-undNachtzeitschiendamitumgangen.DievorhandenenKapazitäten sollten mehr für die inhaltliche Arbeitund einzelne Medienwirksame Aktionen eingesetztwerden,imAprilwolltendieBesetzendenErreichtesmitGefordertemvergleichen.Leiderstelltessichmo-

Bildungsstreik

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mentansodar,dassdieseStrategienichtwirklichauf-gegangenist,diePlenawurdenimJanuarimmernurnochvonca.10-�0Personenbesucht.

Was hat das alles gebracht?

Es gab diverse Gespräche mit dem Präsidium, mitdemWissenschaftsministerundetlichenanderenVer-antwortlichen. Die Kultusministerkonferenz (KMK)hatauf ihrerSitzungimDezemberkonkretStellungzudenProblemengenommenundMaßnahmenver-abschiedet.

Glaubt man der Presse, wird jetzt alles besser. DerLeistungsdruckfällt,Prüfungenwerdenreduziert,dieArbeitsbelastungwirdüberprüftundgegebenenfallsderAufwandimStudiumnach unten korrigiert.Kurzum: Jetzt soll allesendlich studierbar wer-den.

Soeinfachwirdesjedochnicht werden. Die KMKhat immerhin über Pro-blemegesprochen,aberbeschlossen wurdenminimale Änderungen,dienichteinmaldirekteAuswirkungen habenwerden. Es sind Zuge-ständnisse die nichtskostenunddasgewollteLeistungssystem nichtuntergraben. Von die-serSeiteistalsonichts,kurzfristiges erst rechtnicht,zuerwarten.

Von Seiten des Wissen-schaftsministeriums(MWK) gibt es lediglichSchuldzuweisungandieHochschulen.Diesehät-tendasjetzigeChaoszuverantworten,dasMinis-teriumhatlediglichein7-seitigesPapierdazuverfasstunddarindieVorgabenfürdieHochschulenfestgehal-ten,sodieAussagevonJosefLange,1.StaatssekretärimMWK.DiesesSchwarze-Peter-Spiel,welchesHerrLangealssolchesnichtbezeichnethabenmöchte,istbestensgeeignetumKritikabblockenzulassen.Da-beihatdasMWKdurchausMaßnahmeninderHandetwaszuändern:denHochschulenmehrFreiheiteneinzuräumen.AndersalsinderSelbstwahrnehmung

desMinistersLutzStratmann(InterviewinderZEIT1)mischtsichdasMWKsehrwohlundauchnichtselteninBelangederUniversitätenein.SeiesbeiderMas-terzulassung, bei der Fächerstruktur oder Prestige-projektenwiedieNiedersächsischeTechnischeHoch-schole(NTH),ganzzuschweigenvonderfinanziellenAusstattung.DieGesprächehabenundwerdenauchandieserSituationnichtsändern.Versprechungengabesnatürlichauchhier,aberbereitsbeiderBologna-Kommission,diedasMWKEnde�009eingesetzthat,wurdewiederaufdieForderung,Studierendeendlichan den Prozessen zu beteiligen, nicht eingegangen.HierwurdendiealtenFehlerwiederholt,dieBetrof-fenendürfenzwarStellungnehmen,eineBeteiligungsiehtaberdefinitivandersaus.Sonstwerdenbeije-derGelegenheitExpert_innenzuThemenangefragt,

nurbeimStudiumsinddie, die sich indemSystembefindenundsichdamitauskennen,nichtgefragt.

Trotz der vielen negativen Erfahrungen in der Ver-gangenheit,gehendieStudierendendenPolitiker_in-nenaberauchimmerwiederaufdenLeim.WirdzuGesprächen eingeladen, gibt es jedes mal kritischeStimmen, die betonen, dass diese Gespräche nur

1 „DiePolitikmussdieZügelanziehen“ZEITvom11.09.�009

Infotisch vor dem Audimax im November

Hochschulpolitik

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organisierterUnverantwortlichkeitzustehen.

Viele Schattenseiten des Bildungsstreiks sind auch in Hannover sichtbar (gewesen):

BeialldemProtestunddermedialenAufmerksamkeitistetwaspassiert,wasnichthättepassierendürfen:VomThema„bessereBildung“istzumgroßenTeilnurdasBa/MaSystemübriggeblieben.Malganz abge-sehendavon,dasseinBildungssystemnicht im luft-leerenRaumeinerGesellschafthängt,sondernebenmaßgeblichvon ihrgeprägtundgesteuertwird.Daüberraschtesebendoch,wennaufdenBesetzungenLandauf,LandabzwardasBildungssystemkritisiertwird, dann aber eben nicht die notwendig nachfol-gende Frage gestellt wird: Warum ist denn das Bil-dungssystem so wie es ist und ist es vielleicht garkeinZufall,dassesebenunterdiesenBedingungen

so istwiees ist?EsmangeltamBezugzudenderzeit ab-laufenden gesellschaftlichenProzessen. Dieses ProblemistanvielenbestreiktenUni-versitäten ein Ähnliches:Bildungsprotest habe dochnichts mit der neoliberalenPolitik zu tun, Exzellenziniti-ativen finden viele gut, Kon-takte zur Wirtschaft könnenan einer Universität kaumschädlichsein,esseienjanurdie Studienbedingungen dieeinProblemdarstellen.

Tatsache aber war, dass alldiejenigen, die doch in dieseRichtungdachtenschonbeimAndeuten dieser Gedankenmit einem offensichtlichemKopfschütteln bedacht wur-

den: Da gerieten schon diejenigen in Erklärungs-zwang,dienurmiteinem„Kapitalismusabschaffen“-Transparent gesichtet wurden. Das erinnerte schonfastandenlateinamerikanischenPriesterDomHelderCamara:„WennichdenArmenBrotgebe,werdeichHeiligergenannt.Wennichfrage,warumdieArmenarmsind,werdeichalsKommunistbeschimpft.“

EswurdesichalsosehrschnellaufdasBa/MaSystemeingeschossen.DienochimJunibeimBildungsstreikam Schneiderberg präsenten Schüler_innen warenbeidiesemProtestfastgarnichtanwesend.NatürlichistdieKritikandiesemSystemberechtigt,dochmussaberauchangemerktwerden,dassdieForderungen,

als Legitimation und zur Selbstdarstellung der Poli-tikmissbrauchtwerden,jedesMalgibtesaberauchStimmendienichtmüdewerdenzubetonen,dassderDialogdochdasentscheidendeMittelseiumendlichdie Forderungen auch umzusetzen. Die Liste dererdiediesversuchtunddamitaufdieNasegefallensindistlang.ZuletztergingessodenProtestierendendesBerlinerBildungsstreik, alsdiesevonFrauSchavaneingeladen wurden. Zugehört hat sie nicht, aber inderMedieninszenierungdieaufdasGesprächfolgte,war von den Forderungen der Studierenden nichtmehrvielzusehen:EineMinisterinmachtebeneinbesseresBildalsprotestierendeStudierende.

InHannoverhatsichdasPräsidiumhatsichdenStu-dierendengestelltundhatsichzweimalinlangeDis-kussionbegeben.DieseArtundWeiseistjedochstell-tesichalsnichtallzuförderlichheraus,eineGruppevonüber700MenschenkannnichtmitdemPräsidiumdiskutieren,zuunterschiedlichsinddieKenntnisstän-

de,zuunterschiedlichauchdieAnsichten.Konkreteserreichtwurdenicht,lediglichbeidenAnwesenheits-listengabesBewegung,allerdingsistdieForderungnach einer generellen Abschaffung (z.B. durch Se-natsbeschluss)verhallt,esgablediglichHinweiseandieDozierenden.

BeianderenVerhandlungspunktensahesähnlichaus,oftglänztedasPräsidiummitdemgleichenSchwar-zer-Peter-Spiel,mitdemsichauchdasMWKhervor-getanhat.ÜberhaupthattemanindenletztenMona-tendasGefühlimBildungsbereichvoreinerStruktur

Transpi-Malen

Bildungsstreik

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dieandenHochschulenartikuliertwurdensichgröß-tenteilsaufdieHochschulenbeziehen(dieBesetzungder Universität Frankfurt am Main bildete da einederAusnahmen.EswarkeinZufall,sondernsymbol-haft,dassdieBesetzer_innen,alseszurgewaltsamenRäumungdurchdiePolizeikamgeradeeine„Kapital-lese-Veranstaltung“ durchführten). Die Selektion imSchulsystemundbereitsdavorwurdesogutwiegarnichtthematisiert:Esstehtdalediglichlapidar„Ab-schaffungderStudiengebühren“aufderForderungs-liste. Natürlich gab es auch von Schüler_innenver-tretungen Unterstützung, aber ein breit angelegterStreik, bei dem möglichst viele protestieren hättenwesentlichmehrAussichtaufErfolggehabt.Derzeitversuchtwiedernur jedeGruppeihreInteressenal-leindurchzusetzen,allemiteinemähnlichenErgeb-nis:ManisteinkurzaufleuchtenderKometamHim-mel,derebensoschnellwiedervergangenistwieerzuleuchtenbegonnenhatte.DamitsollendieErfolgenichtkleingeredetwerden,eswareineLeistung,dassdieStudierendenÖsterreichsundDeutschlandsvom��.OktoberanbisWeihnachtendieMedienmitdemBildungsthema dominierten. Sogar derartig domi-nierten,dasseseinigenzuKopfsteigenschien:ManseinuneinesozialeBewegung,hießesda.Undwennman sich schon vergleichen wollte, dann doch bittemindestensmitder68erGeneration.Zugegeben,dasschmeichelte schon dann und wann die arg gebeu-telteStudierendenseele,aberschonbeider jetzigen„Scherbenanalyse“ des Zerdepperten wird deutlich,dassAnspruchundWirklichkeiteinandererwarundist.DasBegannmitdemrapidenAbbröckelnderBe-setzer_innenanzahlnachca.zweieinhalbWochenundendete spätestens dann, als die Studierenden sichwiederandieSchreibtischeund indieBibliothekensetzenmusstenumihrePrüfungenundHausarbeitennicht zu versemmeln. Während die Erreignisse der68erGenerationunsereganzeGesellschaftnochheu-temaßgeblichprägenundzumindestvondemletztengroßenStudierendenprotest1998nochimJahre�00�einige letzte autonome Seminarstrukturen, wie z.B.Lesekreise,beidenGeisteswissenschaftlernzufindenwaren,istvondemBildungsstreik�009nurdasWis-senübrig,dassesnuneineHandvollStudierendeanjederUniversitätgibt,dieüberProtesterfahrungver-fügenunddieseweitergebenundwiederanwendenkönnen.

Wie geht es weiter?

Bisher war die Presse auf Seiten der StudierendenundselbstdieAdressatendesProtestesmachtenoftgute Miene zum Bösen Spiel und drückten auf die„Verständnistube“.Esistdavonauszugehen,dasses

inZukunftzunehmendindieRichtung„Ihrhabtdochwasihrwolltet,wasistdennjetztnoch?“gehenunddie Presse diesen Tenor dann auch zunehmend auf-greifenwird.DieHRKhataufihrerDezembersitzunggenauindieseKerbegeschlagen:„Kultusministerkon-ferenzundHochschulrektorenkonferenzhabendamitKritikpunktederStudierendenzumBologna-Prozessaufgenommen und Entscheidungen getroffen. SiesindderAuffassung,dassesanderZeitist,wiederzueinem geregelten Studienbetrieb überzugehen.“� IstdamitderProtestbeendet?

Nein.DieseBesetzungauchnureinAnfangsein.DieStudierendenmüssenMöglichkeitenfindendenDruckaufdiePolitikaufrechtzuerhalten,andereStudieren-de,diesichbishernichthervorgetanhabenoderdenProtestennegativgegenüberstanden,anzusprechenundmitzuziehen.HierliegtauchdasgrößteProblemderProteste:DieStudierenden zeichnen sichdurcheinegrundlegendeGleichgültigkeitaus,dastypische„Die erreichen doch sowieso nichts“ ist zwar keineErfindung des Bildungsstreiks, aber dennoch allge-genwärtig.Und fürviele isteseinfachersichdurchdrei oder fünf Jahre Studium zu quälen, anstatt dieeigeneSituationzureflektierenundsichdagegenzuwehren.

DieZukunftdesProtestskannnur ineinerwenigerpragmatischenHaltungliegen,wenigerKompromisse,mehrfordernundnichtnurweichgespülteWorteandiePolitikrichten.ZusammenmiteinergrößerenBe-reitschaftderStudierendensichzubeteiligen,kannetwaserreichtwerden–abernurmitAusdauerundeinemgeschlossenenAuftreten.

An dieser Stelle sei ein deutliches Wort an die Stu-dierendengerichtet:Solidarisierteuch!GreiftForde-rungen anderer Gruppen auf oder verweist wenigs-tensaufdiese.BildetNetzwerke,gehtdasRechtaufBildunggemeinsamanundstecktauchmalzurück.NichtmitdenForderungen,wohlabermitderSelbst-darstellung,denndieistnichtalles!

� http://www.hrk.de/de/presse/9�_��3�.php

Der Umzug zum Conti

Hochschulpolitik

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Jenabrennt,dieFUBerlinbrennt,Göttingen brennt. Überall brenntes,wennmandenWebsitesderStu-dierendenGlaubenschenkendarf.Immerhinsindderzeitanüber70Hochschulen in Deutschland Ge-bäudeundHörsälebesetzt.AndieDemonstrationenmitüber�00000TeilnehmernimJunikonntediesogenannte Herbstoffensive jedochnicht anschließen. Und was fürAußenstehendewieeineVerschär-fung der Proteste anmuten mag–»brennende«Universitäten,Beset-zungen,Blockaden–,istvielerortsein Rückzug in den symbolischenRaum, der niemandem wirklichweh tut. Dementsprechend großist das Verständnis von PolitikernundBildungsakteurenfürdieFor-derungen der Protestbewegung,diemittlerweilekaummehrdarü-berhinausgehen,diedurchPisa-Berichte und wissenschaftlicheStudien festgestellten Mängel imbundesrepublikanischen Bildungs-systembehebenzuwollen.

Jeder anderen Protestbewegungwürdees zudenkengeben,wenndieAdressatendesProtestes–unddamitauchdiefürdieUnzufrieden-heitVerantwortlichen–diesembe-geistert zustimmen. Nicht jedochdenStudierenden.DurchRundeTi-scheundPodiumsdiskussionenmitVertretern aus Politik und Hoch-schule erhofft man, sich GehörundimnächstenSchrittVerbesse-rungzuverschaffen.GemeinsameLösungsansätze statt Konflikteschüren lautet das realpolitischeMotto. Als vergangene Woche 30Protestierende den PräsidentenderGöttingerUniversität,KurtvonFigura,anseinertraditionellenUni-versitätsrede hinderten, obwohlmanihnengroßzügigfünfMinuten

Redezeiteingeräumthatte, führtedieses »undemokratische«Verhal-ten zu Unmut. Unter dem Motto»Wirwollenmit insBoot« forder-ten Studierende in Hannover, anden Gesprächen im niedersäch-sischen Wissenschaftsministerium»zur Neujustierung des Bologna-Prozesses« teilnehmen zu dürfen.Von Skepsis gegenüber Leuten,die durch die Besetzung von Uni-versitätseinrichtungengezwungenwerden mussten, überhaupt mitStudierenden zu reden, ist keineSpurmehr.Stattdessenwirduner-müdlichbetont,wie»konstruktiv«mansei.

Viele der so genannten Be-setzungen sind bei näherer Betrachtung gar keine.

Dieerkämpften»Freiräume«wer-den von Studierenden genutzt,umAusweichpläne fürdie verhin-dertenVeranstaltungenindenbe-setzten Gebäude zu erstellen, inmanchen Städten wurde der Uni-versitätsleitung angeboten, dassman sich während der Besetzungauf die hinteren Ränge des Hör-saaleszurückziehenkönne.InJenawurden Hörsäle kurz nach ihrerBesetzungwiederzurückgegeben,um»Bildungmöglichzumachen«.

Nurvereinzeltklingenindenoffi-ziellenMitteilungennochkritischeStimmen durch, wenn ein Endeder faktischen Diskriminierungvon Akademikerinnen in Gremienund in der Lehre gefordert oderdie geschlechtsneutrale Spracheverwendetwird.DerWiderspruch,Presseerklärungen mit »sehr ge-ehrte Damen und Herren« zu be-ginnenundimAnschlussvon»Stu-dent_innen«zusprechen,zeigtdie

Feigenblattfunktionderletztenlin-ken Studierenden. Nun stellt sichdie die Frage: Ist der »Bildungs-streik« noch zu retten, oder warerschonvonAnfanganverloren?VielerortsverschärfensichdieDis-kussionen,wieesnunweitergehensoll, linke und kritische Gruppenund Ansichten werden von denje-nigen verdrängt, die das Studiumals »berufsqualifizierende Ausbil-dungsmaßnahme« ansehen undkeine Kritik an den Inhalten undder Funktion dieser Ausbildungzulassen.Studierende,diedie»Ku-schelkampagne« und die damitverbundeneinhaltlicheLeerekriti-sieren,stehenoftalleineda.

Die Bildungsproblematik in einengrößeren gesellschaftlichen Kon-textstellenzuwollen,giltvielerortsunterdenStudierendenbereitsals»ideologisch«. In den Medien istvom »missbrauchten Protest« dieRede, von »Berufsrevolutionären«und »linken, teils sektiererischenGruppen«. Gottfried Ludewig,Bundesvorsitzender des RCDS,sprachvon»bequemerFundamen-talkritik«.DieseMeinungscheinennicht wenige Studierende zu tei-len.InGöttingenwurdenwährendeinesStreikplenumsdieunabhän-gigen Basisgruppen des Raumesverwiesen, weil deren allgemein-politischen Forderungen nicht imSinnederProtestbewegungseien.EinTransparentmitderAufschrift»No Border, No Nation, Free Ed-ucation« durfte in der FreiburgerUninurhängenbleiben,nachdemein Plenumsteilnehmer argumen-tiert hatte, dass der Spruch sichauf die Durchsetzung des in derBologna-Erklärung festgelegteneuropäischen Hochschulrahmensbeziehe.

Wir wollen doch nur Streik spielenFür die Proteste der Studierenden zeigen alle Verständnis, auch Politiker und Hochschulrektoren. Das sollte skeptisch machen.

von ThorsTEn mEnsE

Bildungsstreik

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Die Proteste stehen nicht in der Tradition der 68er, sondern sind vielmehr die Antithese dazu.

UndsiezeigendieVeränderungeninnerhalb der gesellschaftlichenDiskurse auf. »Ideologisch« seibereits derVerweis auf eineÖko-nomisierungderHochschulen,be-schmierte Wände gelten als »Ge-walt«unddienenalsRechtfertigungfür gewalttätige Räumungen wiezuletzt auf demFrankfurterCam-pus.DieStudierendenschaft stehtdabei nicht außerhalb dieser Ent-wicklung.Die farblicheUmgestal-tung eines Treppenhauses in denbesetztenRäumenderUniversitätinBremenführtezurEinberufungeines nächtlichen Notfallplenums,da man den Einsatz der Polizeifürchtete. In Hannover beschlossdas Streikplenum, Geld für einneues Kabel der Überwachungs-kamera im besetzten Audimax zusammeln, das Protestierende zu-vordurchgetrennthatten.

Soisteskaumverwunderlich,dasssich die Bildungsproteste hier imLande– und im Gegensatz zu an-deren Ländern– kaum mit ande-ren sozialen Kämpfen oder linkenBewegungenverbinden.Selbstdiehochschulübergreifende Solidari-tät nimmt ab, wie Streikende ausverschiedenenStädtenbemängeln.Forderungen würden immer häu-figernurfürdieeigeneHochschu-leformuliert.InBochumwurdedieBesetzungderFachhochschulebe-reits »erfolgreich« beendet. »AlleBedingungen sind erfüllt«, ist aufder Protestseite efhbrennt.de zulesen. An die Stelle von Diskussi-onskulturundinhaltlichenAusein-andersetzungen tritt die Gleich-berechtigung aller Meinungenund die Betonung vermeintlicher»Ideologiefreiheit« der eigenenInhalte– mit der dafür notwen-

digen Ausblendung der Verhält-nisse. Sehen sich Protestierendeals Vertreter aller Studierenden,wirddasnichterstdannzumPro-blem,wennsichherausstellt,dassdieMehrheitForderungenwiedieAbschaffungderStudiengebührengarnichtteilt.UmsichderenUn-terstützung trotzdem zu sichern,wirdselbstvonstudentischerSei-te mit neoliberaler Standortlogikargumentiert: »Angesichts desherrschenden Fachkräftemangelshalten wir es für äußerst kon-traproduktiv, talentierte jungeMenschenvoneinemStudiumab-zuhalten«, soder landesweiteZu-sammenschlussderStudierenden-vertretungenBayern.

WährenddaskritischeSpektruminBedrängnis gerät, öffnet die Wei-gerung vieler Studierender, dengesellschaftlichenKontextmitein-zubeziehen,reaktionärenGruppendieTür.DasBerlinerStreikplenumhatte im März beschlossen, dass»Verbindungen jeglicher Coleur«nichterwünschtseien,dadiePro-testbewegung »Nationalismus,SexismusundRassismus«ablehne.Man könnte meinen, dass elitäreundkonservativeGruppenohnehinkein Interesse an den »sozialen«Protesten hätten. Die Diskussion

auf Bildungsstreik.net zeigt je-doch, dass die Abgrenzung nötigundkeineswegsselbstverständlichist. Die große Mehrheit der Teil-nehmeräußertihrUnverständnis:»Dadurch wird eine große Grup-peanStudentenausgegrenzt,ausGründendienichtsmitdenZielendes Bildungsstreiks zu tun habenkönnen«, schreibt ein Burschen-schafter, der eigentlich vor hatte,mit seinen Bundesbrüdern »mitBandauf’neDemozugehen«.DieInhaltederProtestbewegungsindso allgemeingültig und frei vongrundsätzlicher Kritik, dass sichauch ein Burschenschafter damitidentifizierenkann.

InBerlinhabensichunterdemNa-men»IdentitärerStudentenblock«erstmalig »Autonome Nationa-listen« mit den Protesten solida-risiert, auch wenn sie die Forde-rungen nur für »Volksgenossen«umsetzenwollen.MankannesderProtestbewegung kaum zum Vor-wurf machen, dass nun auch dieNazisindieProtesteintervenierenwollen. Dass sie es nicht schafft,alleinedurchihreInhaltedafürzusorgen, dass weder studentischeVerbindungennochNeonazisLusthaben, Teil der Proteste zu wer-den,jedochschon.

Kurz nach dem Um-zug in die 14. Etage des Conti-Hoch-hauses werden Transpa-rente auf-gehängt

Dieser Artikel erschien am 10.12.2009 in der Jungle World Nr. 50. Wir danken für die

Möglichkeit des Abdrucks.

Hochschulpolitik

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DerGondelkapitänimFürstenparkWörlitz empfängt uns freundlichauf seinem Ruderkahn: „Ich be-grüße Sie ganz herzlich hier beiuns an Bord.“ Ich nehme als ei-ner der Ersten auf dem kleinen,flachen Boot Platz, das ringsummitBänkenversehenist.Ichsitzehinten bei dieser Umrundung desSchlossgartens von Wörlitz, ne-benmirbleibtallesfrei,obwohlesnach und nach eng wird auf demBoot.EinerderGäste,einaufdenersten Blick nicht unsympathischwirkenderZeitgenosse–TypGym-nasiallehrerfürPhysikundMathe-matik–,schiebtsichvorsichtigaufderLängsbankzumirhin, schautmichanundgibtseineBestellungauf:„ZweiBier,bitte.“

Wie kommt er darauf, dass ich die Bedienung bin?

IchtragewederKellnerkluft,nochsteheich,sondernsitzewieer,ichhabe auch keine Bierflaschen inder Hand, keine Gläser, kein Ge-schirrtuch–abermeineHautfarbeist Schwarz. Deshalb muss ich inseinerLogikwohlderDienersein.„Kein Service“, antworte ich ihm,underfragtenttäuscht:„NixSer-vice?“ Also wiederhole ich wort-gleich: „Nix Service“, und habeersteinmalRuhe.

Der Mann hält Abstand. Als derBootsführer seine Gäste auffor-dert, bitte auszurücken, wendeterein:„Obwirdaswollen,istdieFrage. Ich will meine Bootsfahrtgenießen.“DochderKapitänlässt

keineAusredegeltenundwieder-holt seine Aufforderung. Schließ-lich setzt sich der Mann nebenmich–„rutschmaleinStückhin“,sagterzumir.

Auch Roland Koch, Ministerpräsi-dentvonHessen,hatmitVorliebefremdenfeindlicheAffektebedient,wie zum Beispiel mit seiner Un-terschriftensammlung gegen diedoppelte Staatsbürgerschaft; andenStändenderCDUfragtendieLeute: „Wo kann man hier gegenAusländer unterschreiben?“ Mitder Kampagne hat er 1999 dieWahlen in Hessen gewonnen. ImJanuar�008haternachgelegtundvorgeschlagen, „ausländische kri-minelleJugendliche“entgegendengesetzlichen Vorschriften sofortabzuschieben.AuchTeilederCDUkritisiertendamals,dassKoch fürseinen Wahlkampf eine derartigeStimmungsmachebetrieb.

Vor Jahren hatte ich einen erstenAnlauf gemacht, das Vorhabenaber wieder abgebrochen. Nichtweil diese Rolle anmaßend wäregegenüber schwarzen Migrantenoder schwarzen Deutschen. Jedemeiner Rollen ist auf eine be-stimmteArtanmaßend–aberohnediesenSchrittauffremdesTerrainwürde ich viel weniger über dieLebenswirklichkeit der Menschenerfahren,inderenHautichschlüp-fe.Nein, ich zögerte,weil ichbe-fürchtete,dassmanmichzuraschenttarnenkönnte.EsgibtnämlichdurchauseintechnischesProblem,wennmansichalsWeißerineinen

Schwarzen verwandeln will. The-aterschminke reicht da nicht. Voreiniger Zeit machte ich dann dieBekanntschaft einer Maskenbild-nerin,diemiteinemSprühverfah-renarbeitet,mitdemWeiße„um-gefärbt“ werden können, sodasseseinigermaßenlebensechtwirkt.Endlich konnte ich meinen langgehegten Plan in die Tat umset-zen. Parallel zu dieser Rechercheentstand ein Dokumentarfilm. EinKamerateam begleitete mich un-auffälligaufdenmeistenStationenmeinerReise.

In Wörlitz gleitet der Kahn übersWasserundgondeltdurchdieKa-näle. Manchmal nahe dem Ufer,sodasseineDamedieGelegenheitnutzt,einenFarnabzupflücken.AlsunserRudererwiedereinmaldemUfer ganz nahe kommt, streckeauch ich die Hand aus und rupfeeineBrennnesselaus.

Eine der Damen schwingt sich zur Wächterin der deutschen Fauna auf: „Das machen wir hier nicht! Wir reißen hier nichts ab, sonst sieht das so schlimm aus.“

Das kategorische „Wir“ soll wohlbedeuten:„Dugehörstnichtdazu.“Die Frau, die zuvor den Farn ge-pflückthat,istvonniemandemge-maßregelt worden. Ich aber habeoffensichtlich die Regeln verletzt,ihrOrdnungsprinzip.

AlsdieBootsfahrtbeendetistundich mich erhebe, sieht sich mein

In fremder Hautvon günTEr wallraff

Ein Jahr lang war Günter Wallraff immer wieder als Schwarzer unterwegs: bei einem Fussballspiel in Cottbus, auf Wohnungssuche in Köln, in einer Rosenheimer Kneipe und bei einer Behörde in Berlin-Marzahn

Rassismus

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Nachbar veranlasst, mich wie einKind zu behandeln: „Gemach, ge-mach!WirsinddieLetzten.“Dannwill er wissen: „Woher sprichstdusogutDeutsch?“Wirsindunszwar,wasdieDistanzaufderSitz-fläche betrifft, näher gekommen,aberwarumredetermichmitDuan? Immerhin stellt er eine per-sönliche Frage, und das habe ichalsSchwarzer inalldenMonatenselten erlebt. Ich antworte, dassichdreiJahreimGoethe-InstitutinDaressalamDeutschgelernthabe.–ObichArbeithabe?–Nein,ant-worteich.Daschlägtermirvor,ichsolle es doch als Kuli versuchen,am besten gleich hier: „Rudern,rudern!“,rufterundzeigtaufdasBoot,daswirgeradeverlassenha-ben.

Dass die Abneigung gegen Schwarze keine Altersfrage ist, erlebe ich später in einer Fuß-gängerzone in Cottbus.

Ich komme an einem Juwelier-geschäft vorbei und erkundigemich nach einer Armbanduhr mitStoppfunktion. Die junge Verkäu-ferin behauptet, so etwas führe

sienicht.Ichweisesiedaraufhin,dassdieUhrimSchaufenstersehrwohl eine Stoppfunktion hat. DieFrau lässt sichdanndochaufeinVerkaufsgespräch ein und ziehtschließlicheineteuregoldeneUhrhervor.AlsichsieindieHandneh-men will, hält die Verkäuferin dieArmbanduhrmitverkniffenemLä-chelnkrampfhaftfest.

Ichkannmirnichtvorstellen,dassdieFrauschoneinmalErfahrungen– gar schlechte – mit schwarzenKunden gemacht hat. Aber Frem-denfurcht, genau wie Antisemitis-mus,hatjaauchnichtsmitrealenErfahrungen zu tun, tritt sogarumsohäufigerauf,jeseltenerMen-schenFremdenbegegnen.

Ein Kollege aus unserem Film-team, der den Laden betritt, alsich ihn gerade frustriert verlas-se, bittet die junge Frau eben-fallsdarum,ihmdieUhrüberdenTresen zu reichen, und bekommtsie ganz selbstverständlich aus-gehändigt. Dann fragt er sie mit-fühlend, ob sie gerade Angst ge-habt habe um das gute Stück.IhreAntwort: „Ja,Sie sehennoch

denAngstschweiß.“

Wenn ich, selten genug, danachgefragtwerde,woher ichkomme,dannbehaupte ich, einFlüchtlingausSomaliazusein,derkeinflüs-siges Deutsch spricht. VielleichtergingeesmiralsperfektDeutschsprechendemschwarzemArzt,alsschwarzem Musiker besser. Soaber erlebe ich, dass mich meineUmgebung nur über meine Haut-farbedefiniert.UndalsicheinmaleinebegüterteFamilieanihrenUr-laub in Afrika erinnere, führt daszuherablassenderHeiterkeit.DasandereimmerwiederkehrendeEx-trem: Mein Erscheinen löst eineunnatürliche,verklemmteFürsorg-lichkeitaus.

Für ein paar Wochen siedle ichwiedermalüberindenWesten.

Während die Aversion im Osten direkter und manchmal aggres-siv daherkommt, scheint sie mir im Westen oft latenter und verdruckster zu sein.

Manche sind auch zu feige, umeinem ins Gesicht zu sagen, was

Vor ...

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siewirklichdenken.EinCamping-platz in der Nähe von Minden imTeutoburger Wald: Ich kreuzedort mit Mercedes und Wohnwa-gen auf, und ich bin nicht allein,sondern trete in Begleitung einerkomplettenschwarzenFamilieauf:Papa,Mama,zweiTöchter,dieeineschon fast erwachsen, die anderesüßundklein,allehübschangezo-gen.Diedreisindwirklichschwarz,undsieglauben,dassauchicheinSchwarzer sei; die kleine Tochter„meiner“ Frau adoptiert mich so-gargleichalsErsatzpapa.

Vor der Rezeption des Camping-platzeshockeneinpaarDauercam-per,Menschenalso,diefast jedesfreieWochenendeundihreUrlaubeandiesemOrtverbringen.UndhiersteheichnunundfragenacheinemDauerplatzfürmichundmeineFa-milie.DenCampern,dieanihremTischbeimBiersitzen,fälltfastdieKinnlade herunter. Der Platzwartund Eigentümer, der am Eingangsitzt,verrenktsichgehörig.„ObdieSieakzeptieren...“,versuchtermirdie Idee auszureden, einen Stell-platz zu mieten. „Ich sage das jabloß,weildaseinkleinerPlatzist.“Ichgebevor,ihnnichtzuverstehen,undfrage,wodenndasProblemsei.„Ja, Problem... Der Mensch, woderwegkommt,würdeichsagen.“Ichhabejagarnichtgesagt,woherwirkommen,obausWanne-Eickel,Hoyerswerda oder Timbuktu, undmeinenPasshaternichtsehenwol-len. Also frage ich, was er meint.Endlich ringt sich der Platzwartdurch:„Ja,wiesollichsagen.Dasist die Hautfarbe, ob man ebenschwarzistoderweiß.DiewerdenimmereinenBogenumSiemachen.“Ichlenkeeinundschlagevor,dasswir uns erst mal für eine Nachteinquartieren. Der Campingplatz-leiter stimmt zu – offensichtlichschwerenHerzens.

EinemvonunseremTeaminsRen-nen geschickten weiteren Stell-platzinteressenten klagt er dannsein Leid: „Alle sind Deutsche,

Luxemburger, Holländer – aberichsagmal:Weiße.Miristesegal,wo ichmeinGeldherkriege,aberdie anderen laufen weg. Die ha-ben ganz klar gesagt: Die Zigeu-ner, lässt du die hier rein, dannpacken wir.“ Eine sonderbare Be-griffsverwirrung, aber irgendwoim Unterbewusstsein muss es daeineVerbindungzwischenSchwar-zen und „Zigeunern“ geben.AmnächstenMorgenversucheichnoch mal mein Glück. Aber derHerrderStellplätzedrehtunsdenRücken zu und unterhält sich mitden Kollegen des Filmteams. Wirgebenaufundpackenein.

Herablassende Behandlung, das erleben viele Migranten auch bei Behördengängen.

Im Berliner Stadtteil Marzahn er-kundigeichmichnachderMöglich-keit,einenSchrebergartenzumie-ten.DiejovialeAngestellteaufeinerNebenstelledesBezirksamtesduztmich, korrigiert ihreAnredenacheinpaarSätzenaber,wohlweilsiemerkt, dass ich doch gut genugDeutschspreche,umein„du“voneinem„Sie“zuunterscheiden.Der

Rest ist Abwimmeln. Weder willsiemirsagen,obGärtenfreisind,nochmagsieAuskunftgeben,wieviele Menschen in einem Garten-hausPlatzfänden.Siebeendetun-sere kurze Unterredung mit demSatz:„Soeinfachgehtdasnicht.“Ichsollemicherstmaloffiziellbe-werben,mitPassundausgefülltemFormular.DashältsiemirvordieNase,mitnehmendarfichesnicht.„IchwürdedasFormulargernemitmeinerFrauzusammenausfüllen“,sageich.„Oderistdasetwageheim?“Ja, das ist geheim“, erwidert sietrotzig. In der folgenden Wochekönne ich ja wiederkommen,dannseiAnmeldetermin.

Als ichdenRaumverlassenhabe,geht die Diskussion drinnen wei-ter,denndieganzeSzenehatsichvorPublikumabgespielt:sechsbisacht Interessenten, die auch ei-nen Garten mieten wollen. Unterihnen eine potenzielle Pächterin,die zu unserem Team gehört. Esentwickelt sich folgender Dialog:Empfangsdame: „Das ist ein an-derer Lebensstil, eine andereMentalität. Wollen wir eigent-lichnicht.Machenwirnicht,weil

... und nach dem Schminken

Rassismus

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die wirklich nur feiern wollen.“Interessent 1: „Die bauen janichts an. Da hast du nur Ärger.Rasen mähen tun sie nicht...“Interessent �:„Anderer Kultur-kreis.“Empfangsdame:„Dahab ichauchnichtsdagegen,aberdaswarwohleindeutig, dass der überhauptnicht hier reinpasst, wie wir unsdas vorstellen. Also den wimmelnwirvonvornhereinab.“Nach einer Untersuchung desBielefelder Soziologen WilhelmHeitmeyer pflegt rund ein Drittelder Deutschen rassistische Vor-urteile. Wie viele Menschen inDeutschland hingegen aggressivrassistisch sind, ist umstritten.Feststeht,dassnichtunerheblicheTeile der Gesellschaft den Rassis-mus als ideologisches Klebemittelbrauchen, um sich ihrer natio-nalen Identität zu versichern. Siegehören zu der unangenehmstenSorte Mensch, die mir auf mei-ner Reise begegnet ist. Entspre-chendeBerichtesindinjederZei-tung nachzulesen; zu Zeiten desFußball-Sommermärchens �006wurde auch über „No-go-Areas“für Schwarze besonders in Ost-deutschlandberichtet.

In Cottbus sind bei Fußball-spielen des lokalen Vereins im-mer wieder Schmährufe gegen schwarze Spieler zu hören.

Pöbeleien sind an der Tagesord-nung – und die Vereinsführunggibt sich machtlos. Ich will eswissen und mache mich auf denWeg zum Fußballstadion des FCEnergie Cottbus, heute ist Dyna-mo Dresden zu Gast. Ins Stadi-on selbst will ich nicht. Ich haltemir lieber Fluchtwege offen, spa-ziere ein wenig herum wie ande-reauch–undängstigemich.Diesist wirklich Feindesland. Glatzen.Wütende Blicke. Gespannte At-mosphäre, angespannte Bizepse.Trotz des mulmigen Gefühlsversuche ich, mit den Fansins Gespräch zu kommen.

„Wer gewinnt heute?“, fra-ge ich ein paar junge Männer.„Du nicht“, presst einerdie knappe Antwort zwi-schen den Zähnen hervor.Ich lasse mich nicht einschüch-tern: „Können wir wetten?“„Lauf weiter“, sagt ein anderermitaggressiverVerachtunginderStimme,seinBlickistsofeindselig,dass ich fürchte,erkönntegleichhandgreiflichwerden.AbererwilljanochinsStadion.Undimmerhinhalten sich auch Polizisten, wennauchunauffällig,inSichtweiteauf.

NachdemSpielbesteigendieFansvon Dynamo Dresden ihre Busse.Ich frage, ob ich mitfahren kann.„Du willst nach Dresden? Dannfährst du über die Elfenbeinküs-te, über Afghanistan, musst umMosambik einen großen Bogenmachen, dannbist duda. In zweiTagen.“ Großes Gelächter seinerClique.EinandererFanweistaufdie geöffneten GepäckraumtürendesBussesundmeint:„Daunten,dabeidenKästen, istnochPlatz,legdichrein.“

Ich spüre, wie sich was zusam-menbraut, einige heben die HandzumHitlergruß,undichgehezumEinsatzleiter der Polizei, der läs-sig an seinem Wagen lehnt. „Diesind alle hart drauf“, sage ich zuihm, „die sind alle unheimlich,Faschos.“ Seine Antwort: „Ist mirbis jetzt noch nicht aufgefallen.“IndiesemAugenblickspieleichVa-banque,ichwillwissen,wieweitdi-eseTypengehen.UndichvertraueaufmeineFähigkeit,einenanderendurch meine Körpersprache oderauch nur durch ein einziges Wortoder eine Geste zu entwaffnen.EineBegabung,diemiroftgehol-fenhat.Alsosteigeichindenvollbesetzten Fanzug nach Dresdenein, den die Bahn bereitgestellthat. Drinnen sitzen größtenteilsjunge Männer, aber auch einigejungeFrauen.Esistengundlaut,die Atmosphäre alkoholgeschwän-gert. Einige fangen an, mich zu

stoßen, nach mir zu grapschen.JetzthabeichdasGefühl,dassichmich wehren muss, wenigstensmit Worten. Ich muss in die Of-fensivegehen.AlsderWortführerunflätigwirdundsagt:„Dukannstmireinenrunterholen!“,antworteich: „Kannst du selber machen.“„Was?“, sagt er. „Kannst duselber machen, wenn du esüberhaupt noch schaffst.“„Dir zieh ich gleich die Haut ab!Ziehaus,Alter!DiesesLandwirdweiß!(...)Weißistdeutsch,Junge.“„Was ist denn deutsch? Erkläres mir.“ „Hier, mein Arsch.“Er streckt mir demonstra-tiv das Hinterteil entgegen.„Dasglaubichdir,dubistamArsch.“JetzthältihnseineTruppezurück.Um ihn zu verunsichern, sageich, dass er einen schwar-zen Deutschen vor sich hat.

„Du deutsch? Ha!“ Seine Freundin springt ihm zur Seite: „Hab ich noch nie gesehen, einen schwarzen Deutschen!“

EinandererderstolzenDeutschenhatsichunterdessenerhobenundstelltsichmirindenWeg.Wiedereskaliert die Situation, wir ste-hen dicht voreinander. Da mischtsich eine junge Polizeibeamtinein. Mutig, denn sie schlägt sichauf meine Seite. Sehr bestimmtund mit lauter Stimme: „Lass ihndurch!Verstehstdumichnicht!?“Gegröle, Gelächter – sie gebennach.

Es ist reiner Zufall, ob man im entscheidenden Moment am falschen Ort ist – ob man unbe-schadet davonkommt.

Wir halten in Ruhland, und ichkomme ohne äußere VerletzungausdemZugheraus,einerArt„na-tionalbefreiterZone“aufRädern.DraußenaufdemBahnsteigskan-dieren sie: „Bambule! Randale!

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SiegHeil!Randale!“MirzitterndieGlieder. Diese Verachtung, dieserHass! IchbinkeinSchwarzer, ichkannausmeinerHautwiederraus.Trotzdem fühle ich mich gedemü-tigt.DiemutigePolizistinundwohlauchihreKollegenimHintergrundhabenmich vorSchlimmerembe-wahrt.Ichmusszugeben,dassichnochniesoinnigeGefühlefürPo-lizeibeamtegehegthabe.Nurgut,dass der Einsatzleiter, der keineNeonazis gesehen haben wollte,nicht zum Begleitschutz diesesFanzugesgehörthat.

ZuDDR-ZeitenstudiertenSchwarzeaus „befreundeten“ afrikanischenStaaten dort oder wurden in denBetrieben ausgebildet. AllerdingsverhindertedieStaatsführungeingleichberechtigtes Zusammenle-bendieser„Gäste“mitderBevöl-kerung genauso, wie es die west-deutsche Politik in den fünfzigerundsechzigerJahrenmitdensoge-nanntenGastarbeiterntat.Hierwiedort wurden die Ausländer in ge-sonderten Unterkünften unterge-bracht.WährendimWestenschonallein durch die stetig wachsendeZahl von ausländischen ArbeiterndiesePolitiknichtaufrechtzuerhal-tenwar,dauertedieAusgrenzungim Osten Deutschlands bis zumEndederDDRan.Nach1989wur-den zahlreiche Afrikaner aus dendann „neuen“ Bundesländern ab-geschoben.EinwirklicherKontaktzurBevölkerungkamniezustande.Im Gegenteil, offener Rassismusbrach sich hier noch mehr Bahnals in den alten Bundesländern.EsgibtinOstdeutschlanddeutlichmehr Übergriffe gegen SchwarzeundMigrantenalsimWesten–beieiner erheblich geringeren ZahlvonAusländern.

DieAmadeuAntonioStiftungzählt138 Morde aus rechtsextremisti-schen und rassistischen Motiven,die seit 1990 in Deutschland be-gangen wurden. ReachOut, eineBerlinerBeratungsstellefürOpferrechter, rassistischer und antise-

mitischer Gewalt, verzeichnet fürdas Jahr �008 insgesamt 140 tät-liche oder verbale Angriffe alleininBerlin.

Aber ich mache auch positive Erfahrungen in meinen Mona-ten als Schwarzer, wenn auch selten.

IneinerKneipeimbayerischenRo-senheim schiebe ich mich in denüberfüllten, verqualmten Raum.Zunächst einmal geht es los wiemeist–ichwerdeangepöbelt.„DubisteinNeger“,brabbelteinerander Theke. Er hat schon ziemlichglasige Augen und will mich an-packen. Ich schrecke kurz zurückundschaueihndannärgerlichan.DasscheintihnzurRäsonzubrin-gen, und er stammelt: „Ich tu dirnichts.“

Zwei andere Gäste nehmen dieVorlage auf und pöbeln ebenfallslos.Mit„Ramba-Zamba“-Schlacht-ruf schubst mich einer zur Seite,ein anderer holt zum Schlag aus.Jetzt geschieht etwas, womit ichnicht mehr gerechnet habe: EinKneipenbesucherweistdenSchub-ser zurecht, und ein zweiter GastblafftdenanderenKrakeeleran,ersollejetztRuhegeben,„aberganzschnell!“ – und dann ist tatsäch-lichRuhe.ZivilcourageamTresen.„Woherkommsdu?“,fragtermich.„Aus Somalia“, antwor-tete ich, „aus dem Krieg. Ichkann nicht mehr zurück.“DasagtmeinNebenmann,einru-higer, aber, wie sich gezeigt hat,auch entschlossener Mann inden Dreißigern: „Bleib nur hier.“Ich bin gerührt, weil jemand soeindeutig für mich Partei ergreiftundmichwillkommenheißt.Soet-waserlebe ich indiesem Jahrge-liehener schwarzer Identität nurganzselten.

Wir trinken dann einen Schnapszusammen. Eine Unterhaltung istin der lauten Kneipe zwar kaummöglich, aber ich erfahre von

meinem neuen Bekannten immer-hin, dass er sich als Zugereistereinwenigeinsam fühleunterdenbayerischen Einheimischen. Wirlächelnunshinundwiederfreund-lich an, und schließlich verab-schiede ichmichmitdenWorten:„Freund!AllesGute!“Ergibtmirviele Grüße an meine Familie inSomaliamitaufdenWeg.

Zurück inKöln.Wenn ichvonOs-ten her über eine der Rheinbrü-ckenfahre,mitdemAutoodermitdem Zug, überkommen mich hei-matlicheGefühle:diegroßeStadtam großen Fluss, das toleranteKöln. Eine Stadt mit �000 JahrenEinwanderungsgeschichte – dieGelassenheit,mitderzumBeispielinmeinemStadtteilEhrenfelddieMenschenunterschiedlichsterKul-turen nebeneinander und mitein-anderleben,wirktaufmichaußer-ordentlichberuhigend.

Dass es mit der Aufgeschlos-senheit auch in Köln nicht allzu weit her ist, muss ich allerdings an einem sonnigen Morgen er-fahren, an dem ich mich im Stadtteil Nippes auf Wohnungs-suche begebe.

Ein citynahes Viertel nicht weitvonmirzuHause.DieVermieterinöffnetmir.Eineadrettangezogeneältere Frau, die gleich zur Sachekommt. Sie nennt die Miethöhe,die Nebenkosten, den Einzugs-termin, führtmichdurchdieklei-ne, leergeräumteWohnung,zeigtmirdiezweiZimmer,dasBad,denBlicknachdraußen.

Eine ganz normale Wohnungsbe-sichtigung. Ich habe bereits eingutes Dutzend hinter mir, aberkeine einzige Zusage bekommen–halt,nein!EinmalhabeichechteChancen gehabt; der überfreund-licheVermieterhattemeinemTeambeieinemspäterenBesuchbedeu-tet:MitdiesemSchwarzenstimmewas nicht, der habe eine gewisseÄhnlichkeit mit einem Schriftstel-

Rassismus

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ler, der die Angewohnheit habe,sichzuverkleiden.

Nun, in dieser Zweizimmerwoh-nung, spüre ich eine gewisseReserviertheit bei meiner po-tenziellen Vermieterin, eine dis-tanzierte Höflichkeit. Diskri-minierung? Nicht wirklich. Ichverabschiedemichunddanke ihr.„Bittesehr,gerngeschehen“,höreich noch hinter mir ihre Stimme.Dann tritt „Familie Hildebrandt“auf, auch aus unserem Team,ebenfalls auf Wohnungssuche.Wir bitten die Vermieterin vordem Schnitt des Films um ihreZustimmung.Sie findetnichtsda-bei, dass ich den Dialog aus derWohnung wörtlich wiedergebe:Frau Hildebrandt: „Wirsind ein bisschen zu früh...“Vermieterin: „Macht ja nichts.Ich war eben grad so erschro-cken, da kommt so ein Mieter,den kann ich nicht so ins Hausnehmen, so einen Schwarzen.“Herr Hildebrandt: „Ach so, der

war das doch, der da grad ging.“Vermieterin: „Der passt nicht darein,derwolltsichdasmalansehen.Ich kann das ja nicht am Telefonsehen,wiederaussieht.ErsprachjaeingutesDeutsch,aberichkommda gar nicht drüber hinweg. Derwarganzschwarz,ganzschlimm...unddanndieHaare...derwarsoschwarzwiederHeidiKlumihrer.Deswegen war ich so entsetzt.“HeidiKlum ist alsModelbekanntaus den Medien, und auch ihremMannSeal,einemMusikernigeria-nisch-brasilianischerAbstammung,istdiehiesigePressewohlgesinnt.Aber das hat die Hausbesitzerinkeineswegs zu mehr Toleranz be-wogen, höchstens vielleicht ver-hindert,dasssiemir,demschwar-zen Mann, die Tür vor der Nasezuschlug.

Meine Reise durch Deutschlandist zu Ende. Ich habe mich in allden Monaten, in denen ich alsSchwarzer unterwegs war, nichtselten um meine Würde gebracht

gefühlt. Schwer zu entscheiden,wasschlimmerwar:offeneAggres-sivität zuerfahren, kaltesAbwim-meln oder verlogene Freundlich-keitvonobenherab.Nunlegeichmein schwarzes Alter Ego wiederab. Aber all die anderen erlebendie Verachtung weiter, jeden Tag.

Bei dem Artikel handelt es

sich um einen Nachdruck

des am 12.11.2009 in der

ZEIT erschienenen Artikels

Die Fotos stammen von: X-

Verleih; Hervorhebungen:

Red. KontrASt

Wallraff allein unterwegs

Schwerpunkt

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KurzeZeit später tauchtedannaberdieKritikderjenigen in unerwartet starker Weise in denMedienauf,vondenenmaneszuerstamwenigs-ten erwartet hatte: von schwarzen Deutschen.AllenvorandieAutorinNoahSow(Vorsitzendeder Media-Watch-Initiative „Der braune Mob“)kritisierteWallraffscharf,drehtezuHalloweengar den Spieß um und verkleidete sich mit ei-nerGummimaskealsGünterWallraff1.Wallraff„stellt seine Neugier über die Forschungser-gebnisse, Gefühle, Wissensproduktion und Re-präsentationsrechte Schwarzer. Damit bedientersichweißerPrivilegien:EräfftunterdrückteMinderheitennachunderntetdamitGeld,Auf-merksamkeitundsogarRespekt“�.FürdieIniti-ativeSchwarzeMenscheninDeutschland(ISD)ist seine Dokumentation „von Weißen für Wei-ße“3,„wiesooftsprichtjemandfürstattmitunsSchwarzen“4.

Die Kritikpunkte an Wallraffs Film sind folgende:

1. In Wallraffs Film ginge es um weiße De-finitionsmacht und Repräsentation. Wallraffs Film blende aus, dass es seit Jahren Arbeiten, Abhandlungen und Materialien von Selbstorga-nisationen und schwarzen Deutschen zu diesem Thema gibt. Statt Schwarze über ihre Situation zu Wort kommen zu lassen, würden sie auch bei 1 http://www.noahsow.de/blog/?p=1743� Sow in einem Interview mit Tagesschau.de: www.tagesschau.de/inland/rassismusinterview100.html3 „SchwarzaufWeiß“:GünterWallraffwieder „ganzunten“, in:LoNam,S.64 „EinfachnurderFremde“,inSpiegelonline:www.spiegel.de/kul-tur/kino/0,1�18,6��9�9,00.html

Wallraff an den Rand gedrängt werden. Erfah-rungsberichte von Schwarzen würden nur zu-sammengefasst, eigenständige Interviewpartne-rInnen kämen nicht zu Wort.

2. Er könne als „angemalter Weißer schwar-ze Erfahrungen nicht machen und auch nicht in einen Zusammenhang stellen, auch wenn er das glaubt oder versucht“. Vielmehr mache er vor allem auf sich selbst aufmerksam�.

3. Wallraff stelle Schwarze als wirtschaft-lich Marginalisierte dar (ohne Jacke, mit einer Plastiktüte und in gebrochenem deutsch). Da-mit bediene er Vorurteile und Stereotype. Er „beschränke die Problematik zudem fast aus-schließlich auf Schwarze Migranten und blen-det somit von Rassismus betroffene Schwarze Deutsch weitestgehend aus, was wiederum die weiße deutsche Unvereinbarkeit von Deutsch-sein und Schwarzsein reproduziert“�.

4. Wallraff greife auf die rassistische Tra-dition des „Blackface“ zurück (Weißer wird als Schwarzer geschminkt).

198�hattesichGünterWallraffindieRolledestürkischen Migranten Levent Ali Sigirlioğlu hin-ein begeben, damals schrieb er im Vorwort zu„Ganz unten“: „Sicher, ich war nicht wirklicheinTürke.Abermanmuss sichverkleiden,umdieGesellschaftzudemaskieren,musstäuschenundsichverstellen,umdieWahrheitherauszu-� Sow in einem Interview mit Tagesschau.de: www.tagesschau.de/inland/rassismusinterview100.html6 „SchwarzaufWeiß“:GünterWallraffwieder „ganzunten“, in:LoNam,S.6

Die Kritik an Günter Wallraff

von Jan drEwiTz

Günter Wallraff ist in Deutschland fast so etwas wie eine Instanz. In skandinavischen Wörterbü-chern steht „wallraffen“ für das Aufdecken von Misständen durch Journalisten, die getarnt arbei-ten. Mitte Oktober 2009 erschien sein neues Buch „Aus der schönen neuen Welt“, wenig später der Undercover-Film „Schwarz auf Weiß“. Wallraff beschreibt und dokumentiert darin den alltäglichen Rassismus und die Schikanen, denen Schwarze, schwarze Migranten und schwarze Deutsche ausge-liefert sind. Zunächst schienen Buch und Film ein positives Medienecho zu erfahren. Die Süddeut-sche Zeitung schrieb, „kein deutscher Journalist, Rudolf Augstein ausgenommen, hat die Nach-kriegsgesellschaft so verändert wie Wallraff“. Er würde einmal mehr sein Talent als Schauspieler beweisen und wäre der „Ausgegrenzte, der denen da drinnen den Spiegel vorhält“(Süddeutsche Zeitung, 15.Oktober 2009). Nur vereinzelt hieß es in Blogs, Wallraff sollte sich darüber Gedanken machen, ob nicht auch sein „penetrant nerviger Charakterzug“ dazu beitrage, ablehnende Hal-tungen der Gegenüber zu provozieren.

Rassismus

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finden.Ichweißimmernochnicht,wieeinAus-länder die täglichen Demütigungen, die Feind-seligkeitenunddenHassverarbeitet.Aber ichweißjetzt,waserzuertragenhatundwieweitdieMenschenverachtungindiesemLandgehenkann.“

Zumindest stellte er schon damals fest, dassesfürihnnichtmöglichist,sicheinszueinsindieRolleeinesAnderenzubegebenunddessenErfahrungen zu machen. Trotzdem wurde ihmschon damals vorgeworfen, dass er ein undif-ferenziertes Bild türkischer Migrant_innen inseinerRolleAusdruckverleihenundsiealsein-förmigundwenigintellektuelldarstellenwürde.Ein Vorwurf, der inhaltlich sehr der aktuellenKritikähnelt.

Wallraff äußerte gegenüber Spiegelonline aufdieVorwürfe:„WieinallenmeinenRollengehtes mir darum, eine Situation am eigenen Lei-be zu erfahren.“ „Mein Vorgehen macht dengewöhnlichen Rassismus nachvollziehbarer fürDeutsche“7 (auchhier vergisstWallraff schein-bar,dassesweißeundschwarzeDeutschegibt).Lydia Reicherlt kommentiert abschließend:„GünterWallraffsFilmdokumentisteingutge-meinterVersuch,alsmaskierterschwarzerMig-rant deutschen Alltagsrassismus aufzudecken.DochdasGegenteilvongutistgutgemeintundbeleidigtWallraffmitseinerMaskeradegeradediejenigen,denener„Gutes“wollte.“8

7 „EinfachnurderFremde“,inSpiegelonline:www.spiegel.de/kul-tur/kino/0,1�18,6��9�9,00.html8 „SchwarzaufWeiß“:GünterWallraffwieder „ganzunten“, in:LoNam,S.6

Noah Sow verkleidet sich zu Halloween als Günter Wallraff

© the scarow

Schwerpunkt

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K.: Wie ist es zur Gründung des Vereins gekom-men?

A.S.:Ichbinseit1988inverschiedenenInitiativenpolitischaktivgewesen.IchwareinerderMitgrün-derdesInternationalenKulturzentrums(IIK)undichwarbeteiligtamAufbaudeserstengewähltenAusländerbeiratesinHannover.DerAusländerbei-rat war das einzige demokratische Gremium fürMigranten.199�binichindenAusländerbeiratge-wähltwordenundwarbis�00�Mitglied.IchwarderletzteVorsitzendedesBeirats.1989wurde ich ineinemhannoverschen Jugend-zentrum von Skinheads angegriffen. An diesemTaghatsichmeinLebenverändertundesistmirklargeworden,dassdieseStadtnichtfreivonRas-sismusist.VieleInitiativenhabenmichzwarunter-stützt,z.B.das3.WeltForum.Ichhabeaberauchgemerkt,dassvieleihreigenesSüppchenkochen.AlsMigrantwaricheinAlibifürsie.IchsolltedasOpferbleiben,nichtselbstaktivwerden,sondernmirhelfenlassen.Ichhabegemerkt,dassmirdie-seRollenichtgefälltundmirdahervorgenommennichtzujammern,sondernmichaktivgegenRas-sismuszuengagieren.Die Gründung des Freundeskreis Tambacoundafand199�statt,nachdemmirklargewordenwar,dass ich mich sowohl hier in Hannover, als auchinmeinerHeimatimSenegalengagierenwill.IchhabebeidesimmeralsentwicklungspolitischeAr-beitgesehen.HiergiltesetwaszuentwickelnundzuverändernundimSenegalgenauso.

K.: Sie haben eben erwähnt, dass Sie im Auslän-derbeirat der Stadt aktiv waren. Was genau hat der gemacht?

A.S.:EshandeltesichumeinstädtischesGremium,dasberatendtätigwar.DerBeirathateigeneVer-anstaltungen durchgeführt wie z.B. zum mutter-sprachlichen Unterricht. Er hat Stellungnahmenabgegeben, wie z.B. zur Lage der Flüchtlinge inHannover,dieKampagnezurEinbürgerungsowieverschiedene Initiativen unterstützt. Der Auslän-derbeirat,derohnehinnichtvieleBefugnissehat-te,wurdevondenParteiennichternstundseineAktivitäten kaum wahr genommen.. Als 1994 dieEU-BürgerdasKommunalwahlrechterhielten,littderBeiratzunehmendanmangelnderAkzeptanz.�00�habendieGrünen,dieSPDunddieCDUdenBeiratzugunsteneinesMigrationsausschussesab-geschafft.Dieserwarjedochnichtmehreigenstän-dig,sonderneinGremiumdesRatesderStadt.

K.: Wie hat sich die Arbeit für sie nach der Grün-dung des Vereins Freundeskreis Tambacounda 1992 verändert?

A.S.:IchhabeimmeraufverschiedenenEbenenge-arbeitet.DerFreundeskreisTambacoundawareineBrücke. Ich habe angefangen zu der GeschichtemeinesAngriffs,diemichzurAntirassismusarbeitgeführthat,zuarbeiten.DaherkommtunserEn-gagementindenSchulen.DieParolen,dieichvondenAngreiferngehörthabe,waren„Negerraus“,„Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“.DeshalbbeginnenwirmitunsererAnti-Rassismus-arbeit indenSchulen. DemVereingingesaberauchimmerdarum,denMenschenunddemLand,ausdemichkomme,etwaszurückzugebenundzuzeigen,dassEuropanichtdasEldoradoist.NichtmitGeld,sondernmitInhalten.Obdortoderhier:Jederkanndazubeitragen,dieSituationinseiner

Interview mit Abdou Karim Sané vom Freundeskreis Tambacounda e.V.

von caTharina PEEcK

Der Freundeskreis Tambacounda e.V. wurde 1992 von dem Sene-galesen Abdou Sané gegründet. Die Ziele der Arbeit des Vereins bestehen laut Selbstdarstellung in der „Vermittlung afrikanischen Kulturgutes und (...) Förderung von Entwicklungsprojekten in Afrika“. Dazu gehört u.a. die Bildungsarbeit im Rahmen von Schulprojekten und die Unterstützung von Projekten im Senegal, die die Eigenständigkeit der Menschen dort befördern sollen. Wir sprachen mit Abdou Sané über seine Motivationen und Erfah-rungen.

Rassismus

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Gesellschaft zuverbessern.AufdiesenzweiEbe-nen habe ich gearbeitet und das sind auch dieSäulendesFreundeskreisTambacounda:Entwick-lungszusammenarbeit, Hilfe zur Selbsthilfe stattAlmosen, Antirassismusarbeit. Die VermittlungeinesdifferenziertenAfrika-undEuropabildesinden Schulen betrachten wir als essentiell in derArbeit gegen Rassismus und Diskriminierung inDeutschland,aberauchgegenBraindrainundLe-thargieinSenegal.

K.: Heißt das der Fokus liegt momentan auf der Arbeit in den Schulen?

A.S.:Daswarimmerso.EsistnatürlicheinProzess,aberimGrundeistdas,waswirheutemachen,das,wasichschon1991angefangenhabe:indenSchu-lenübermeinLandundmeineKulturzuerzählenundüberdieArbeit desVereins.DieZielgruppe,diemichangegriffenhat,warenJugendliche.WieschaffeichesalsoeineVeränderungzuerzielenindenKöpfendieserJugendlichen,diemichangegrif-fenhaben?Wosindsie?Wasmachensieundwaswissensieüberandere?DieseÜberlegungenha-bendazubeigetragen,dieArbeitimmerweiterzuentwickeln,nachneuenWegenzusuchen.Wichtigistunsauch immergewesen,ausFehlernzu ler-nenundunszuverbessern.ZuBeginnhabenvielemeineMotivationnichtverstanden,wasmichfrus-trierthat.„WarumgründetereinenneuenVerein,wennesdochsovieleanderehiergibt?“Ichhabemichnichternstgenommengefühlt.IndieserZeitwardieArbeitmitMigrantenimmerso,dassmanfürsiearbeitet,fürsieredet,fürsieDingeerledigt,abernichtmitihnen.Dasnunjemandselberaktivwurde,warfürvieleersteinmaleinAffront

K.: Worin besteht der konkrete Unterschied zu ih-

rer Herangehensweise?

A.S.:Heutez.B.warichimBüro,dortbinichderChef, auch wenn das Miteinander kollegial undinteraktiv ist. Wir reden miteinander und keinerredet für mich. Ich bin der Ansprechpartner. Ichbin InitiatorundMotorundsuchenachMitstrei-terInnen.

K.: Woher kommt der Name Freundeskreis Tamba-counda?

A.S.:IchkommeausTambacounda,einerStadtimOstenSenegals.DieStadtliegt�00kmvonDakarentferntimSenegal.DieMenschendortwerdensoähnlichgesehenwiehierdieOstfriesen.DerNameist für mich zudem ein Symbol der vergessenenStädte.WennmaninderEntwicklungszusammen-arbeit indenLänderndesSüdens tätigseinwill,muss man in die Regionen gehen, in denen dieLandfluchtihrenAusgangspunktnimmt.Mankannnicht nur in den Hauptstädten arbeiten und vondort Änderungen für das ganze Land bewirken.Man muss sehen, wo die Arbeitssuchenden oderStudierenden herkommen und dort Perspektivenschaffen.OrtewieTambacoundafindensichüber-all im Senegal oder anderen afrikanischen Län-dern.ÜberallgibtesvergesseneStädte,indenenmanmitkleinemEinsatzvielerreichenkann.UmetwaszuverändernmussmanmitderBildungderMenschenanfangen,dashabenwirschonzuAn-fangunsererArbeitfestgestellt.VorherhattenwirversuchtetwasmitSpendenzuerreichen.Bildungerwiessichaberalsnachhaltiger.

K.: Sie haben von „vergessenen Städten“ gespro-chen. Meinen sie damit „vergessen“ aus dem Blick-winkel der Europäer oder gilt es auch für den Se-negal, dass diese Orte keine große Rolle spielen und alles auf Dakar zentriert ist?

A.S. :Du weißt, dass die Strukturen der afrika-nischenLänderdurchdieGrenzziehungenausderZeitderKolonialherrschaftverändertwurden.DieHauptstädte waren immer im Vorteil. Innerhalbdes Senegals gab es früher nur vier Kommunen.Die waren von den Franzosen stark privilegiert.AlleanderenwarenProvinzen,diebisheuterück-ständig geblieben sind. Das findet man im Fal-levonTambacounda,aberauch inBurkinaFaso:WennmandieHauptstadtverlässt,bietetsicheinvölliganderesBild.Deshalbversuchenwirinun-serer Bildungsarbeit ein differenziertes Bild vonAfrikazuzeigen:esgibtHauptstädteundDörfer.MankannnichtalleübereinenKammscherenund

Schwerpunkt

Das Team des Freundeskreis Tambacounda e.V.

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sagen,alleafrikanischenLänderseiendörflich.Esistsehrwichtig,welchesBildimKopfderKinderbleibt.DadurchhabenwirunsauchThemenindenBereichen, Jugendarbeit, Bildung, Ökologie undEntwicklungszusammenarbeit gesucht. Aber dieAntirassismusarbeit war für mich eine Reaktionauf den Angriff, den ich körperlich gespürt habeundbeidemichdasVerhaltenderPolizeibemerkthabe–siehabenmichkaumwahrgenommen.Wasabernochschlimmerist,sinddieanderenFormenderDiskriminierung:vonBehörden,Politiker_ in-nen,PolizeiundParteien,GewerkschaftenundKir-che,dieimAlltagvorkommen.DurchsogenannteStellvertreter. Wenn man nicht der oder die lei-dende Migrant oder Migrantin ist, dem geholfenwerdenmuss,sonderndiegleichenAnsprüchehatwieanderewirdeslangsamunbequem.Dasistes,was unsichtbar ist. Es ist nicht beweisbar, aberman spürt es. 199� wurde ich mit dem Vorwurfdes Terrorismus festgenommen, weil ich angeb-lichvordemtürkischenKonsulatFlugblätterver-teilthätte.SiehabenmichanderBürgerschule,inderichgearbeitethabe,festgenommen.Eswarensieben Polizeiwagen: drei mit uniformierten Poli-zisten und vier waren in Zivil. Dann gab es eineKonfrontation mit dem Wachmann vom Konsulat,der aussaget, dass ich es nicht gewesen sei undsiehabenmichfreigelassen.Ichwarweiterhinak-tiv,habeparallelzumFreundeskreisTambacoundaimAusländerbeiratgearbeitet.IchhabeaufvielenEbenen gemerkt, dass Diskriminierung nicht nuranderebetrifft,sondernauchichnichtfreiwarvondieserPraxis.AuchdahatdieArbeitimFreundes-kreis Tambacounda etwas bewirkt. Deshalb sinddie InhaltedieserArbeitgrundsätzlichgleichge-blieben.DieArbeitsteckttiefinmirdrin.Ichhabeimmerdarangeglaubt,dassmanetwasgegenRas-sismus und Diskriminierung unternehmen muss.Esgehtnichtnurummich,sondernmeineÜber-zeugung, dass jedeR einen Beitrag leisten muss,egalwoer/sieist,obimSenegaloderhier.Deshalbhabe ichVeranstaltungenundandereAktivitätenorganisiert,z.B.zumThemaSklaverei.Außerdemhabe ich fürdenFreundeskreisTambacoundaanderKonferenzgegenRassismusinDurbanteilge-nommen.Daswar im Juni�001.WirhabendazuaucheinegroßeVeranstaltungamMaschseeorga-nisiert.

K.: Erleben sie Rassismus durch Lehrer_innen oder Schüler_innen im Rahmen ihrer Arbeit? Sind da Veränderungen im Gegensatz zu früher merkbar?

A.S.:EsgibtnatürlichkeinenfreienBereich,dennes reicht nicht zu sagen: “Ich bin kein Rassist.“Wichtigist,dassmansichmitsichselbstauseinan-

dersetztundsichfragt,inwieweitmanfreidavonist.DieAuszeichnung„SchulemitCourage.SchuleohneRassismus“reichtnicht.EsmussjedesJahrgeprüft werden, ob diese Auszeichnung noch zu-trifft.AußerdemmussmandieLehrer_innenstär-kermiteinbeziehenunddieMethodenundBücherüberprüfen,diesiebenutzen.IndenBüchernvon1996oder�00�findetmanimmernochdasLied„ZehnkleineNegerlein“.Auchdarübermussge-sprochenwerden.

K.: Erlebt man rassistische Äußerungen von den Schülern und Schülerinnen?

A.S. :Ich wurde noch nicht offen beschimpft, er-inneremichaberanfolgendenVorfall:wirhatteneine Ausstellung im „Freizeitheim Vahrenwald“organisiert.Siehieß„WerhatAngstvormschwar-zen Mann?“ und wurde von Marianne Bechhaus-Gerst,einerAfrikanistinderUniKöln,konzipiert.Wir machten eine Führung mit einer Schulklas-se.DieDiskussionwarsehrlebhaft,eswurdeso-gardarübergesprochen,dasseineSchülerinvoneinemLehrerdiskriminiertwurde.AmSchlussdie-serVeranstaltungwarenwirerstauntindemGäs-tebuchvonFrauBechhaus-GerstdenKommentar„HeilHitler!Ausländerraus!“zulesen.DieArbeitimFreundeskreisTambacoundaisteineKnochen-arbeit.WirkriegenvonderStadtHannoverkeineöffentliche Förderung für Miete oder Nebenkos-ten. Das wird alles aus eigener Kraft finanziert.ZwischenzeitlichbinichimVereinangestellt.Dashängtdavonab,welcheProjektewirüberProjekt-mittel finanziert bekommen. Alle fragen wie ichlebeundwieichdasdurchhalte.Ichbinvielleichtverrückt,abermeineVisionhatmichimmerdarinbestärkt,dassichaufdemrichtigenWegbin.DieZahlderMenschen,denenwirgeholfenhabenoderdiewirindenSchulenerreichenunddieProjekte,diewirinitiiertunterstützthaben,bestätigendas.WirmachenBasisarbeitundversuchenimmer,mitMenschen und Organisationen auf allen Ebenenzusammenzuarbeiten.

Vielen Dank für das Interview

Die Mitarbeiter_innen des Freundeskreises Tambacounda freuen sich immer über Un-terstützung. Informationen über aktuelle Projekte findet ihr unter:

http://www.africa-info.de/

Rassismus

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Nachdem ich in einem vorherigen Artikel die allgemeine Präsenz AfrikanerInnen in Europa während der Antike und Mittelalter darge-stellt habe [1], wird in dem folgenden Text ein anderer Aspekt dieser Migration behandelt, und zwar der Sklavenhandel und wie dieser die Entstehung des Rassismus im damaligen Welt gefördert hat.

SeitderAntikeexistierteten inundzwischenEu-ropa, Afrika und Asien (bei den alten Griechen,Ägypter,Karthager,Römer,Perserusw.)SklavereiundSklavenhandel inverschiedenenFormenundAusprägungen.ClaudeMeillassoux,französischerSchriftstellerschriebdazu:„DieSklavereiisteinePeriodederuniversellenGeschichte,diealleKon-tinentemanchmalgleichzeitigodernacheinandergetroffenbzw.erschütterthat“[2]. MeistenswarenesKriegsgefangeneoderGefangeneninerobertenGebieten,dieversklavtwurden.Der griechischePhilosoph Aristoteles behauptete schon in derAntike, dass einige Menschen einfach von Natur

ausSklavenseienundesbesserfürsiesei,über-legenenMenschenalsSklavenzudienen[3].VorallemdieAnsichtenvonAristoteleswurdenauchspätervonvielenNationenbenutzt,umderSkla-verei eine ideologische Begründung und Recht-fertigung zu geben. Tidiane N´Diaye, berühmterForscherundHistorikerausdemSenegal, fasstediese Situationen folgendermaßen zusammen:„Das ewige Gesetz der Stärksten machte immerdenBesiegtezumSklavenderSieger,lautdesal-tenSinnspruchesVaevictis“[4].

MitdenarabischenundmuslimischenEroberungenabdem7.JahrhundertverstärkesichderSklaven-handelinAfrika.NachderExpansiondesIslamsinOberägyptenimJahr64�,griffenislamisierteundarabisierteÄgypterNubienimSüdendesLandesan. Nach heftigen Gefechten mit den nubischenArmeen,schlossAbdallahBenSaydSeranmitdemKönig Kalidurat von Nubien ein Waffenruhe-Ab-kommen, unter der Bedingung, Moscheen zu er-reichtenund jährlich360SklavenausNubienan

Afrikanischer Eunuch in einem Harem - Darstellung von Jean-Leon Gé-rôme (1824-1904)

Der Sklavenhandel und die Entstehung des Rassismus

von sTEvE KommognE

Schwerpunkt

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Ägyptenzuliefern.DiesesAbkommenistindieGe-schichte als die sogenannte „Baqt“ eingegangen[5]. Einige Jahren später griffen weitere musli-mischeArmeenausÄgyptenmehrereKönigreicheimFezzan(SüdendesheutigenLibyen)unddasKö-nigreichvonKawar(NördlichdesTchadsee)anundzwangenihnenaucheinähnlichesFriedensabkom-menauf(Bedingung:JährlichenLieferungvon360Sklaven).DieseAbkommenbliebenüberfünfJahr-hundertebestehen.EineandereMethode,umsichSklavenzuverschaffen,warendiedurcharabischeundpersischeBrigantenundMilizendurchgeführ-ten Überfälle aus Stützpunkten, die an GrenzenafrikanischerStaatendesHinterlandeslagen(wiez.B.amHornundOstküstedesafrikanischenKon-tinentes)[6].AndenOrten,andenenmuslimischeArmeen komplett scheiterten oder nicht weitervorrücken konnten (wie z.B. beim Ghanareich inWestafrikaoderAbessinieninOstafrika)[7], wur-dedannvondenarabischenKriegsherreneherdiefriedlichealsdiemilitärischeOptionenbevorzugt.SowurdenlokalenElitenundHerrscherInnendie-ser unabhängigen afrikanischen Staaten durcharabischen Reisende und Geschäftsleute kontak-tiert.ZwischendiesenStaatenunddemOrientent-wickeltensichsomitGeschäftsbeziehungen(inderPeriodezwischendem8.und1�.Jahrhundert,wiez.B.beimTranssahara-HandeloderHandelsbezie-hungen zwischen Ostafrika und Persien, Indien,ChinaamIndischenOzean).

DerSklavenhandelgehörtleidermitzudiesenGe-schäften. Dies hatte aber für die damaligen afri-kanischen Staaten und Völker kaum eine Bedeu-tung für deren Volkswirtschaften, die wesentlichvonGold,Baumwolle,ElfenbeinundanderenPro-dukten mit den orientalischen Staaten abhängigundgeprägtwaren.DurchdieseKontaktewurdenauch viele aus den lokalen afrikanischen Elitenzum Islam bekehrt und somit die ersten afrika-nischenmuslimischenStaatenundReichegegrün-det (Reich der Almoraviden und der Almohaden,das Malireich und Songhaireich in Westafrika,das Bornoureich in Zentralafrika usw.). DabeientwickeltensichaufdemKontinentneueMacht-verhältnisse. Die (neuen) afrikanischen MuslimehieltendienichtmuslimischenVölkerausbenach-barten Regionen für „Kouffar“ (Ungläubige) undfür „minderwertig“. Deshalb wurden sie ständigangegriffen.EinerseitsumdieReligionzuverbrei-ten,andererseitsumsichSklavenzuverschaffen.Sklaven,diespäterbisindenOrienthineinausge-tauschtwurden.DiesgaltbesondersfürdasReichder Almoraviden und das Songhaireich. Das Ma-lireich unter der Herrschaft von Soundiata KeitastellteeinederwenigenAusnahmendar[8].

Die Mehrheit der damaligen afrikanischen Skla-ven,diesogenannte„Zanj“oder„Zendj“(aufAra-bischundPersisch)kamenausdemOstenAfrikas(Völker der Küste Somalias, Kenias, Tanzaniens,Mozambiks bis Süd Afrikas)[9]. Aus der Begeg-nungdieserVölkermitdenArabernentstanddieSwahili-Sprache (Ein Mix aus Bantu, arabischenund indischenSprachen).DieZanj, die auchvondenArabernundPersiernals„minderwertig“an-gesehenwaren,wurdenhauptsächlichindenSü-dendesheutigen Irakund Irangebracht,wo siegroße angelegte Plantagen unter sehr schwerenundhartenBedingungenbewirtschaftenmussten.DieseSituationführtezumehrerenAufständenderafrikanischenSklavenindenJahren689,694und868,dochdieRevoltenscheiterten.DerletzteAuf-stand(imJahr868)wurdederwichtigste,blutigs-teundwirkungsvollsteundgingalsder„AufstandderZanj“indieGeschichteein[10]. Dabeiwurdentausende afrikanische Sklaven befreit, bildeteneineArmee underobertendengesamtenSüdendesheutigenIrak(u.adieStadtBasraundderHa-fenvonAl-UbullahampersischenGolf).

DieafrikanischeSklaven,diesichinzwischenSkla-ven anderer Herkunft und einigen vom Kalif un-terdrückten arabischen Bauern anschlossen, ero-bertenmitdenJahrenweitereGebietebisindenSüden des heutigen Iran (Chuzestan) und grün-deten dort einen unabhängigen Staat mit einerHauptstadt(Al-MukhtarahoderMuchtara).DieserStaatbestandnoch1� Jahre lang,biser im Jahr883vondenTruppendesabbasidischenKalifsun-ter Mithilfe von Soldaten aus Ägypten endgültigzerstörtwurde.DieNiederschlagungderZanjwarsoblutig,dasssiedasLebenvoneinerhalbenbiszweiMillionenMenschen[11]kostete.NachfahrenderZanj sindnochheutezu finden,diedieafro-iranischeGemeinschaftbildeten[12].Die(befrei-ten)ZanjundderenNachfahrenwarenauchinderGeschichtePersiensundderislamischenWeltalsKünstler, Schriftsteller, Wissenschaftler usw. prä-sent.DerwohlberühmtesteZanjwarZyriabAliIbnNafi,SchöpferderarabischenundandalusischenMusik und derjenige, der das wissenschaftlicheundkulturelleLebendesmuslimischenSpaniens,Portugals(Al-Andalus)undEuropasim9.Jahrhun-dertrevolutionierte[13].

EinähnlicherAufstand,wiederjenigederZanjimIrakfandauchzwischen1487und1493imOstendes damaligen Indien (Königreich von Bengalen)statt,woafrikanischeSklavenausAbessinien(dasheutigeÄthiopien)nacheinemAufstanddieMachtüberdasKönigreichübernahmenundeineDynas-tiegründeten[14].

Rassismus

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DerAufstandderZanj(868bis883)trugdazubei,dassgrößerePlantageninderislamischenWeltab-geschafftwurdenunddassdieafrikanischenSkla-veninmanchenOrtendurcheuropäischeSklavenersetztwurden.DieafrikanischenSklavenstelltenindenPalästen,alsSoldaten indenArmeenundbei den Eunuchen in den Harems trotzdem dasgrößteKontingent[15].

DerErwerbeuropäischerSklavenwurdewährenddermuslimischenEroberungenEuropas imMit-telalter(8.bis1�.Jahrhundert)massivforciert.Zudiesem Zweck machten die muslimischen Streit-kräfte zahlreiche europäische Kriegsgefangene,die sie dann versklavten. Sie führten auch Raz-zien in den eroberten europäischen Gebiete undden benachbarten Regionen (wie z.B. im Südendes heutigen Frankreichs und der Schweiz, imNorden Italiens und im ganzen Mittelmeerraum)durch. Aber dies war nicht der einzige Weg, umsichSklaveninEuropazuverschaffen.ImMittelal-terbekriegtensichdiemuslimischeundchristlicheWeltnichtnurmilitärisch,sonderntauschtensichauchkulturell,wissenschaftlichundwirtschaftlichaus [16]. Zu diesem wirtschaftlichen Austauschgehörte,genausowieinAfrika,derSklavenhandel,durchdeneuropäischeZivilisten(Frauen,Männerund Kinder) von europäischen Zwischenhändlernchristlichenund jüdischenGlaubensaufSklaven-märktenanMuslime(Araber_innen,Persier_innenoderAfrikaner_innen)verkauftwurden[17].

DerorientalischeSklavenhandelförderteingroß-em Maße den inneren afrikanischen Sklavenhan-del.AfrikaundderOrientwarenjedochnichtdieeinzigenKontinente,dievonderSklavereibetrof-fenwaren,diestrafauchaufEuropazu.

DasThemaführtunsbiszuAristoteles(384–3��vor Chr.) und die griechische Antike zurück, wosich schon früh ein europäischer SklavenhandelundErscheinungenvonrassistischenDiskriminie-rungen entwickelte. Durch die Theorie von Aris-toteles,teiltendiealtenGriechendieMenschheitin Griechen und Barbaren (Menschen, die nichtGriechisch sprechen) ein, und es war für sie ge-rechtfertigt, Barbaren zu Sklaven zu machen.Aristoteles definierte Sklaven von Natur aus alsBesitzstück.SiewürdennurbedingtüberVernunftverfügenundseienauchinihrengeistigenFähig-keiteneingeschränkt,sodasssievonderSklavereiprofitierten,indemihrBesitzerfürsiedenke[18].BarbarenwerdenmeistensmitnordeuropäischenVölkern (Germanier, Gallier, Slawen, Kaukasier,usw) inVerbindunggebracht.DiealtenGriechenentwickelteneineArtKlimatheorie,durchdiesiedieMenschenimheißenSüden(Italien,Griechen-landundsogarAlt-Ägypten,wovielegriechischeWissenschaftler studierten[19]) als intelligenterunddieBevölkerungimkaltenNordenalsminder-wertigbetrachteten[20].

DieseTheorienbeeinflusstendasspätererassisti-scheDenkenmehrerereuropäischerundandererKönigreicheunddientenzurLegitimierungvonim-perialistischenAggressionenundderVersklavungsogenannter „minderwertiger“ Völker. BegonnenwurdediesschonimRömischenReich.DazusagtRosaAmeliaPlumelle-UribeinihremBuch„TraitedesNoirs,Traitedesblancs“:„DieSklaverei,ge-nauso wie der Sklavenhandel und die Mentalitätwurde imaltenGriechenlandentwickeltundvondemkaiserlichenRominEuropaverbreitet“[21].Tidiane N´Diaye, berichtet über die alten Römerfolgendes: „Sie zwangen eine große Anzahl vonGefangenen […] in ihren entfernten Kolonien zuSklaven. Sie waren meistens „weiß“. […] Es gabbis zudreiMillionenSklaven in Italien,diesent-spricht30%derdamaligenBevölkerung“[22].

NachdemFalldesRömischenReichesundimMit-telalterzwischendem8.und1�.JahrhundertwirddereuropäischeSklavenhandeleinenAufschwungerleben.IndieserZeit,besondersimFrühmittelal-ter,hatten (christliche)normannische, fränkischeund germanische [23] Königreiche und Völker(imWestenEuropas),unteranderemwährendderHerrschaftvonKönigenwieHeinrichI.,OttoI.oder

Orientalischer Sklavenmarkt– Darstellung von Jean-Leon Gérôme (1824-1904)

Schwerpunkt

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KarlderGröße,ständigekriegerischeAuseinandersetzungenmit slawischenKönigreichen(imOstenEuropas).Sla-wen, die damals von den Westeuro-päern als „Ungläubige“ und minder-wertigbetrachtetwurden.AusdiesenFeldzügen machten westeuropäischeStreitkräfte zahlreiche Kriegsgefan-gene, die sie später versklavten. Op-fergabtesauchunterderslawischenZivilbevölkerung,diebeiRazzienver-schleppt wurden. Das Wort „Sklave“(aufDeutsch),seineBedeutung„Escla-ve“(aufFranzösisch)und„Slave“(aufEnglisch)wurdevondemWort„Slawe“(aufDeutsch)oderausdemWort„Sla-ve“ (jeweilsaufFranzösischundEng-lisch)hergeleitet,weilsie(dieSlawen)meistensOpfervondiesemHandelwa-ren.Die (versklavten)Slawenwurdenmeistens nach den Feldzügen, an dieNordseeküste, indieRegionenanderDonau,andieElbeoderandenRheingebrachtundvondortinSklavenmärk-tefürdieLeibeigenschaftverkauft.FürdiesesGeschäftbegleitetenvieleeuro-päischeSklavenhändlerdiewestlicheneuropäischenStreitkräfteindenOstenEuropas.IndiesenHandelwarenauchSkandinavier des baltischen Raumesverwickelt, deren Seefahrer (WarägerundWikinger)AngriffeaufKüstenundLänder des osteuropäischen Raumsdurchführten und so zahlreiche Sla-wen,aberauchandereEuropäerent-führtenundversklavten.

Mit der muslimischen Eroberung Südeuropas imMittelalter[24],fandendieeuropäischenSklaven-händlereinsehrgutesKlientelbzw.KundschaftimOrient.DerOrient,woeseinegroßeNachfrageanSklaven in diesem Zeitraum gab, besonders wasSklavensoldaten („Mameluken“ für die Europäerund„Abid“fürdieAfrikaner),Eunuchen,undFrau-enfürdieHaremsanbelangt(europäischeSklavenbzw.Slawen,dieallgemeinvondenArabern„Saqa-liba“ genannt wurden [26]). Die orientalischenHerrschermochtenbesondersdieMameluken,diesie in ihren Leibgarden einsetzten: „Sie kauftendiefürgoldenePreise“[27].ÜberdieMamelukenschrieb der iranische Schriftsteller Ibn Hawkal:“SiewarendieteuerstenSklavenderWelt“[28].

Durch diesen Handel entwickelten sich in meh-reren europäischen Städten (nördlich der Alpen)riesigeSklavenmärkte,wiez.B.inVerdun(imheu-

tigenOstenvonFrankreich)undPrag(imheutigenTschechien). Beide Städte wurden im Mittelalterbesonders als Kastrationszentren bekannt, woviele jungeSlawenundandereeuropäischeSkla-venzuEunuchengemachtwurden.

CharlesVerlinden,einberühmterbelgischerHis-toriker, erwähnt zwei orientalischen Quellen im10.Jahrhundert,diediesenHandel immittelalter-lichenEuropabeschreiben[29]:IbnHawkalsagte,dass„dasmuslimischeSpanienvieleSklavenvonFrankreichbekommeunddiemeistenvondenensindEunuchen[...].IbrahimalQarawi,fügtehinzu:„DieFrankensindNachbarnmitdenSlawen.SiemachensiebeimKrieg(dieSlawen)zuGefangenenundverkaufensie inSpanien,wosievielankom-men[…].DieseKastraten(Eunuchen)werdennachSpanienundandereLänderdermuslimischenWeltexportiert“.Undsowerdensichzahlreicheeuropä-ische Geschäftsmänner (christliche und jüdische)auf den Sklavenhandel zwischen der christlichen

Darstellung eines afri-kanischen Sklavensol-dats („Abid“) - Darstellung von Jean-Leon Gérôme (1824-1904)

Rassismus

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und muslimischen Weltspezialisieren und sichdaran bereichern. Nach-dem die europäischenSklaven aus dem Ostenund Norden Europa ent-führtodereingekauftwa-ren,brachtemansiewei-terübermehrereRouten(überdenLandwegoderper Schiff über das Mit-telmeer)insmuslimischeSpanien, in den NordenAfrikasoderindenNah-enOsten[30].

ImSpätmittelalter,durchdie Verbreitung desChristentums und diezunehmende Missionie-rungvonslawischenVöl-kern und Königreichenging der Sklavenhandelim Baltischem Raum, inNord-,sowie inWest-Eu-ropa zurück und begannzu verschwinden. Durchdie Lehre des Christen-tums wurden den Chris-ten verboten, andereChristenzuversklaven.DagegengewannderHan-del, trotzmehrererVerboteausdenKirchenstaa-ten, imSüdenEuropas(ImMittelmeerbereichandenKüstenSpaniens,FrankreichsundItaliens,aufdem Balkan und im Schwarzmeerraum) größereBedeutung.Unddiesauch,trotzder„Reconquista“und der Zurückeroberung von großen Teilen desmuslimischenSüdensEuropasdurchdieChristen.Besonders betroffen waren italienische und spa-nische(katalanische)SeeleuteundGeschäftsmän-ner,diesichSklavenu.a.imOst-Mittelmeerraum,imKaukasusoderimBereichderKrimholtenoderkauften.DieHerkunftderSklavenwurdedadurchimmer vielfältiger: Sie bestanden aus Bulgaren,Russen, Serben, aber auch Albanern, Griechen,Türken, Kaukasiern usw. Gebracht wurden siemeist nach Italien und weiterhin in den Orient.Städte wie Genua, Venedig, Florenz, Neapel undPalermo (imheutigen Italien),wurdenzugroßenSklavenmärkten und der Sklavenhandel trug zuderenBlüte indiesemZeitraummitbei[31]. ImOrientwirdNordafrikaundinsbesondereÄgyptenindieserZeitdasHauptzieldieserSklavenwerden.InÄgyptenwarendieMameluken(besondersausderheutigenTürkeiunddemKaukasus)ingroßenMengengefragtundsowurdedieStadtKairozum

Zentrum diesen Marktes.Jean Paul Roux, franzö-sischer Historiker, sagtdazu: „Ihre Anzahl (vonMameluken) vergrößertesich in erheblichen Pro-portionenundsiebildeteneine gut organisierte Eli-teneinheit“[32], sodasssieinderLagewaren,dieMacht über Ägypten abdem Jahr 1��0 zu über-nehmen und eine Dynas-tie zu gründen [33]. DieMamelukenherrscher inÄgypten bzw. dem Nah-en Osten förderten auchnach ihrer Aneignungder Macht weiterhin deneuropäischenbzw. afrika-nischen Sklavenhandel.Sie regierten mehrereJahrhunderte über dasLand oder übten Macht-einfluss aus, bis sie An-fang des 19. Jahrhundertendgültig gestützt wur-den und die wenigenÜberlebenden flohen inden Raum des heutigen

Sudans.

DieserHandeltruginNordafrikadazubei,dassimLaufedesMittelaltersdieBevölkerunginderRegi-onmiteuropäischemHintergrund(wieschoninderAntikemitdenGriechenundRömern)immergrö-ßerwurde.„700Jahrelang,währenddieMaurenüberdieiberischeHalbinselherrschten[…]brach-tenMuslimeMillioneneuropäischerSklavenindienordafrikanischenHandelshäfenvonMarrakesch,Fes,Tanger,Alger,Tunis,TripoliunddemNordenÄgyptens.EswarendieseEuropäer,diedurchVer-mischung begannen, die schwarze BevölkerungNordafrikaszuverändern“schreibtVanSertimainseinemBuch„GoldenageoftheMoor“[34]. Spu-ren von europäischen Sklaven sind auch im mit-telalterlichen Westafrika zu finden. Dorthin wur-densievonHerrschernundreichenAristokratengebracht, die die Sklaven bei nordafrikanischenSklavenmärktenoderwährendihrerPilgerfahrtinArabiengekaufthatten.Soweißman,dassKankanMoussa[35],„HerrscherdesMalireiches(…)undreiche Mitglieder seiner Gefolgschaft währendihrer Pilgerfahrt nach Mekka in Kairo mehrereeuropäischeSklavinnenkauften. IbnBattutaara-bischerReisender,sagtedazu:“DieMenschenaus

Darstellung eines europäischen Sklavensoldats („Mamluk“) von Carle Vernet (1758-1835)

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Maliwarenstolzdarauf,solcheSklavinnenzube-sitzen“.KankanMoussaverfügteauchanseinemHofübereinWachbataillonvonMameluken[36].DiesgaltauchfürAskiaMohamed,HerrscherdesSonghaireichs(inWestafrikaim1�.Jahrhundert),derübermehrereeuropäischeKonkubinnenbzw.SklavinneninseinemHaremundmehrereMame-lukenverfügte [37]. ImMalireichoder imSong-haireich,sowieimWestafrika,wardieVersklavungvonEuropäernmarginalbzw.vongeringeremAus-maß,imVergleichzuderarabischenWelt,aberesgehörtezurNormalität.AhmedBaba,derberühm-testeWissenschaftlervonTimbuktusagtedazuim16.Jahrhundert: „DieSklaverei hägtnicht anderHautfarbe, sondern am Unglauben. Alle Ungläu-bigen, die Weiß oder Schwarz sein mögen, kön-nenSklavenwerden,aberkeinMuslim,WeißoderSchwarz,darfeineRwerden“[38].DieserSatzver-deutlichtdieDenkweisevonMuslimen,aberauchvonChristenimMittelalter(inEuropa,AfrikaundimOrient),diedadurchdenSklavenhandelerheb-lichfördernwerden.

Neben der Tatsache, dass der europäische undafrikanischebzw.orientalischeSklavenhandelzwi-schendem8.und1�. Jahrhundertmehr religiös,als von Rassentheorien geprägt war, ist auch zuerwähnen,dassdieWirtschafteneuropäischerundafrikanischerStaatennichtdavonabhängigwaren,denn: „In Afrika, genauso wie in Europa, ist derSklavenhandel weder die einzige, noch die wich-tigstewirtschaftlicheAktivitätwährendderselbenPeriode;dieserHandelbliebeinesekundäreAkti-vität…“[39]. AbernachundnachverändertesichdieseSituation.ImJahr14�3erobertendieOsma-nenKonstantinopel.Sowaresfürdiechristlicheneuropäischen Sklavenhändler nicht mehr mög-lich, ihreGeschäfte imöstlichenMittelmeer-undSchwarzmeerraum durchzuführen. Dies führtezumEndedesinnereuropäischenSklavenhandels.Am Ende desselben Jahrhunderts wurden durchdie Vollendung der „Reconquita“ bzw. die kom-plette Zurückeroberung Süd-Europas durch dieChristendieMöglichkeitenfürdenOrient immergeringer, Sklaven aus Europa zu bekommen. Abdem16.JahrhundertstellteAfrikagleichzeitigfürdie orientalischen und europäischen KönigreichedieHaupt-undeinzigeQuelle fürdieSklavenbe-schaffungdar.DerSklavenhandelwurdedadurchzur hauptwirtschaftlichen Aktivität Afrikas. UmdiesenHandelzurechtfertigen,werdendieeuro-päischen und orientalischen Mächten die erstenRassentheorienentwickeln.

AnmerkungenundQuellen:

[1]sieheKontrAStNovember�007.Download:www.asta-hannover.de[�]ClaudeMessailloux,Anthropologiedel´esclavage,Paris,Quadrige,1998,Seite�0[3]Aristoteles,inseinemstaatsphilosophischeWerk,«Politik»[4].www.grioo.comInterviewmitTidianeNDiayeüberseinBuch„legéno-cidevoilé“´,[�].www.piankhy.combeimArtikel«Esclavageenterred´Islam,3èmepar-tie–Al´assautdel´Afrique»[6]JacquesHeersimBuch«Les Négriers en Terre d’Islam »,Seite�8-3�.[7]sieheAfrica-positive,AusgabevonJanuar-März�009,beimArtikel„Mit-telalterunddiemuslimischenEroberungenEuropas“[8] siehe Africa-positive, aktuelle Ausgabe �009, beim Artikel „SoundiataKeitaunddasMalireich“[9]AlexandrePopovicimBuch«LaRévoltedesesclavesenIraqauIIIe,IXesiècle»,VerlagP.Geuthner(1976)[10]sieheauchdasBuch„Legénocidevoilé“vonTidianeN´Diaye,Galli-mard-Verlag,oderdasBuch„HistoiremilénairedesafricainsenAsie“,Ver-lagMondeGlobal.[11,1�]www.piankhy.combeimArtikel«Esclavageenterred´Islam,�èmepartie–Leracismeanti-noiruneréalitéordinaire»[13] siehe Africa-positive, Ausgabe von Juli-Sepember �009, beim Artikel„dieReconquistaundRenaissanceEuropas,�.Teil“[14]JacquesHeersimBuch«Les Négriers en Terre d’Islam »,Seite137.[1�]www.piankhy.com,beimArtikel«Esclavageenterred´Islam,�èmepar-tie–L´esclavagesexuel,6èmepartie–Esclavesmilitaires,chasseauxnègreetrazzias»[16] siehe Africa-positive, Ausgabe von Juli-Sepember �009, beim Artikel„dieReconquistaundRenaissanceEuropas,�.Teil“[17]RosaAmeliaPlumelle-Uribe, imBuch«Traitedesblancs, traitesdesnoirs,aspectsméconnusetconséquencesactuelles»,Verlagl´Harmattan.[18,�0]:Siehe,Aristoteles,inseinemstaatsphilosophischeWerk,«Politik»,Benjamin Isaac, The invention of racism in classical antiquity, PrincetonUniv.Press�004undChristianDelacampagne,DieGeschichtedesRassis-mus,ArtemisundWinkler�00�[19]: Theophile Obenga, L´Egypte, la Grèce et l´école d´Alexandrie,l´Harmattan[�1,�3,�6,30,31,39]: Rosa Amelia Plumelle-Uribe, im Buch «Traite desblancs,traitesdesnoirs,aspectsméconnusetconséquencesactuelles»,Ver-lagl´Harmattan.[��]:www.grioo.comInterviewmitTidianeN´DiayeüberseinBuch„legéno-cidevoilé“´,[�4]: siehe Africa-positive, Ausgabe von Januar-März �009, beim Artikel„MittelalterunddiemuslimischenEroberungenEuropas“[�7,�8,3�,36,38]:SieheSergeBilé imBuch«Quand lesnoirsavaientdesesclavesblancs»,VerlagPascalGalodé

[33]:sieheAfrica-positive,AusgabevonOktober-Dezember�009,beimArti-kel„SklavenhandelunddieEntstehungdesRassismus-1.Teil“

[34]:siehe„GoldenageoftheMoor“vonProf.VanSertima.

[3�]: siehe Africa-positive, Ausgabe von Januar-März �010, beim Artikel„KankanMoussaunddieBlüteZeitdesMalireiches“

Steve Kommogne studiert Bauingenieurswesen an der Universität Hannover und schreibt nebenbei für die Zeitschrift Africa positive. In der Novem-ber Ausgabe 2007 der KontrASt schrieb er bereits über die Geschichte der farbigen Europäer. Als Download auf

www.asta-hannover.de

unter Publikationen zu finden!

Rassismus

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Kontrast: Beschreibt doch zuerst kurz, wer ihr seid und was ihr macht.

MOB:Also,wirsindeinTeamvonsiebenPersonen,dievondreiAnlaufstellen inHalle/Saale,Magde-burgundSalzwedelausarbeiten.

Wirunterstützendiejenigen,dierechteGewalter-lebt haben oder erleben und/oder Freund_innen,AngehörigeundZeug_innen.Wirberatenkosten-losvorOrtundwenngewünschtauchanonym.WirbegleitenBetroffenezuPolizeiundanderenBehör-

denoderzuGerichtsverfahren.BeiBedarforgani-sieren wir Dolmetscher_innen, Therapeut_innenundhelfenbeiderAnwaltssuche.DieParteilichkeitundUnabhängigkeitunsererArbeit istunsdabeisehrwichtig.WeitereBereicheunsererArbeitsinddieRecherchenachrechten,rassistischenundan-tisemitischenAngriffen,Informationüberdiespe-zifischeSituationvonBetroffenenundDokumenta-tiondesAusmaßesrechterGewalt.

UnserTrägervereinistMiteinandere.V.,woauchandereProjektewiedieArbeitsstelleRechtsextre-

Knapp 25.000 Einwohner_innen hat die Klein-stadt Burg bei Magdeburg noch; weniger als 2 Prozent von ihnen sind offiziell nicht-deut-scher Herkunft. Sie sind Flüchtlinge und Mig-rant_innen aus dem Irak, aus Ländern der Sub-Sahara-Zone, aus dem Nahen Osten oder Indien und Pakistan. Einige sind Geschäfts-leute, die ein Lebensmittelgeschäft oder einen Imbiss betreiben; einige sind Kulturschaffen-de und Pädagog_innen. Einige Migrant_innen wohnen in eigenen Wohnungen; viele Flücht-linge leben in einem baufälligen Heim am Rande der Stadt. Wegziehen dürfen sie nicht, ihre Bewegungsfreiheit ist u.a. durch die Re-sidenzpflicht eingeschränkt, eine Arbeitsauf-nahme meist verboten oder eine Teilnahme an Sprachkursen nicht möglich.

Unabhängig vom ausländerrechtlichen Status und der Herkunft gibt es eine Gemeinsamkeit: Die Erfahrung von Rassismus und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Zugespitzt in Form von rassisti-scher und rechter Gewalt; im Alltag häufig durch beleidigende Sprüche auf der Straße, im Klas-senzimmer oder am Arbeitsplatz. Im Supermarkt werden Ladendetektiv_innen aktiv, sobald eine schwarze Person durch die Tür tritt, an der Wursttheke wird man als Letzte_r bedient oder „ein-fach“ übersehen.

Der Film befragt junge und ältere Flüchtlinge und Migrant_innen, Behördenvertreter_innen sowie zivilgesellschaftliche Akteur_innen und weitere Einwohner_innen der Stadt: Wie sieht Integration im Alltag einer proletarisch geprägten Kleinstadt wirklich aus? Welche Stereotype werden weiter-getragen? Welche Überlebens- und Vermeidungsstrategien haben die Betroffenen entwickelt?

Burg steht beispielhaft für viele Kleinstädte, besonders – aber nicht nur! - im Osten. Der im Film gezeigte alltägliche Rassismus ist auch Gegenstand der Arbeit des Projektes „Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt“ des Vereins Miteinander e.V. in Sachsen-Anhalt, die den Film initiierten.Wir kennen das Projekt bereits länger und finden es notwendig und unterstützenswert. Im folgenden Interview stellt sich das Projekt kurz vor:

Rassismus im Alltag:

Schwerpunkt

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mismus,BeratungsteamsfürGemeinden/Schulen/Initiativen gegen rechts/ Bildungsrefis, Bildungs-arbeits- und theaterpädagische Projekte angesie-deltsind.

K: Was unterscheidet die Situation von Betroffenen rechter Gewalt von anderen Gewaltopfern?

MOB: Im Gegensatz zur allgemeinen Gewaltkri-minalitätwerdenBetroffenerechter,rassistischerundantisemitischerGewalthäufigaufgrundihrerZugehörigkeitoderauchderZuschreibungzube-stimmten Gruppen angegriffen. Der Angriff giltdamitinderRegelnichtihnenpersönlich(Entper-sonalisierung), sondern soll eine, vondenTäternkonstruierte,konstituierteundabgelehnteGruppewie „die Antifas“, „die Punks“, „die Ausländer“,„dieSchwulen“usw.treffen.ZielistesdiesePer-sonengruppeneinzuschüchtern,auszugrenzenundausdemöffentlichenRaumzuverdrängen.Rech-teGewaltentfaltetdamitaufdreiEbenenKonse-quenzen: Zunächst auf das Opfer der Tat selbst,dasdurchdieTatphysischund/oderpsychischver-letztwird.

Auf dieGruppe,welcherder oderdieBetroffeneangehörtbzw.dieihmzugeschriebenwird,daansiedieAppellwirkungdes„Unerwünschtseins“er-geht.UndaufdiedemokratischeGesellschaft,dadurcheinesolcheTatdieGrundprinzipienderVer-fassung und damit des Zusammenlebens Aller inFragegestelltwerden.

Die meisten Betroffenen, die wir erreichen oderdie uns erreichen, wurden geschlagen oder ha-ben andere Formen körperlicher Gewalt erfah-ren.WirhabenaberauchandereBeratungsfälle,beispielsweise Ladenbesitzer_innen, deren Lädenwiederholt beschädigt oder angezündet wurden,Menschen, die wiederholt bedroht wurden. BeieinigenBetroffenenkommenErfahrungenvonall-täglichemRassismusundDiskriminierungenhinzu-angefangenbeiabfälligenBlickenundGestenbishinzuverbalenAttacken.VonbesondererBedeu-tung sind institutionelle Diskriminierungen, diesichu.a.ausderAusländer-undAsylgesetzgebungergebenundeinewirksameUnterstützungz.T.er-heblicherschweren.SoistderWunschnacheinemOrtswechselausAngstvorweiterenAngriffenoderwegen eines besseren Zugangs zu medizinischerund psychosozialer Versorgung aufgrund restrik-tiver Gesetze oder mangelnder materieller Res-sourcenfürAsylsuchendeseltenrealisierbar.Auchunter ��-jährigen jugendlichen Alternativen, dieauf Leistungen des Jobcenters angewiesen sind,werdenunterstützendeMaßnahmenerschwert,in

einigenFällenauchunmöglichgemacht.

NatürlichgibtesaberauchFormenderDiskrimi-nierung, die von Nicht-Betroffenen als „subtiler“angesehenwerden:Blicke,freiePlätzeinderStra-ßenbahn,Fragenwie„Wokommstduher?“oder„Sprichst Du deutsch?“. Ereignisse, die klar ma-chen, dass „man“ nicht davon ausgeht, dass dieGesprächspartnerin hier geboren ist oder jetzt„dazugehört“. Darum arbeiten wir auch jenseitsderkonkretenBeratung.ZumBeispielhabenwirletztenMärzdiesimultanübersetzteKonferenz„...lets talk about Rassismus“ initiiert, in der nichtvorrangigweißeDeutscheamRednerpultgestan-denhaben,sondernLeutemitRassismuserfahrungihre Erfahrungen schildern und Forderungen ananwesende Politiker_innen stellen konnten. Auchsonst ist Öffentlichkeitsarbeit wichtiger Teil un-seresArbeitsalltags.

K: Das heißt, Öffentlichkeit herzustellen ist ein Teil eures Unterstützungsangebotes?

MOB:Ja,aberauchnureinTeil.Wirunterstützenso,wiedieBetroffeneneswünschen.Siebestim-men, ob, wann und wo ein Gespräch stattfindetund welche Form von Unterstützung sie in An-spruch nehmen möchten. Für einige stehen zeit-lichdrängendeDingewieeinStrafverfahrenunddieeigeneRolledarinimVordergrund.WirbietenBegleitungen zu polizeilichen Vernehmungen anundunterstützenbeiderSuchenachFachanwäl-ten. Für andere steht die Frage des UmgangesmitderGewalt-undEntmündigungserfahrungimVordergrund.Vielefragensich,obsie„unnormal“reagieren, wenn sie danach Angst haben, sichständigumsehenoderabendsnichtdasHausver-lassen oder belebte Orte meiden. Je nach Dauerdieses Zustandes und Möglichkeit, ihn zu verän-dern,wirddasvonBetroffenenganzunterschied-licheingeschätzt.AufWunschvermittelnwirauchtherapeutischeHilfe.

Öffentlichkeitsarbeit ist dann wichtig, wenn Be-troffeneaufdenAngriffundoftauchauf„rechtenMainstream“ oder weitere vorangegangene An-griffe hinweisen wollen. Damit haben die Betrof-fenenGelegenheitihreSichtderDingemitzuteilen.Wennmanbedenkt,dasssichrechteGewaltgegenGruppenundPersonenrichten,dieauchsonst indenMedien–undbeiPolizeiundGericht-zuwe-nigLobbyhaben,istdasnatürlichumsowichtiger.

K: Wie macht Ihr Euch erreichbar und bekannt?

WirhabenJahrevorOrt-alsodort,woBetroffene

Rassismus

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4301/2010

undpotentiellBetroffenesichaufhalten-darange-arbeitet,präsentunddamiterreichbarzuseinunduns auch bei Multiplikator_innen bekanntzuma-chen.ManchmalbekommenwirAnrufevonBetrof-fenen,derenFreundeskreissieanunsverwiesenhat,weilesdortpositiveErfahrungenmitunsgab.WirsuchendenKontaktzuBetroffenenauchvonunsaus,wennwirz.B.ausderPressevonAngrif-fenerfahren.

Die große Nachfrage an unserer Arbeit und dieZahlenrechterGewaltdelikteauchinNiedersach-senzeigen,dasshierundüberall inDeutschlandProjektewiewirmassivwichtigwären.

K: Gibt es in Niedersachsen eine vergleichbare Ins-titution?

MOB: Nein, so direkt nicht. Es gibt den WeißenRing,dessenMitarbeiter_innensichumGewaltop-ferkümmern,undhierinHannovereineClearing-stelle Rechtsextremismus, aber der Weiße Ringarbeitetehrenamtlichundistnichtaufrechte/ras-sistischeGewaltspezialisiertunddieClearingstelleistnichtunabhängig.SiegehörtzumJustizministe-riumundistineinemGebäudemituniformiertemPförtner untergebracht. Das kann für Betroffeneund potentiell Betroffene eine sehr hohe Hemm-schwelledarstellen–z.B.aufgrund ihrereigenenErfahrungenmitBehördenoderweilsieohnePa-piere inDeutschland leben.Bisher tritt sie –wiederNamejaauchsagt-eheralsBeratungsinstanzfürz.B.Kommunen,dieProblememitRechtenha-benauf,odergibtInfoszurechtenStrukturenwei-ter,sowassindihreSchwerpunkte.ZurOpferbera-tungistunsbishernichtskonkretesbekannt,auchwenndieKurzbeschreibungsienichtausschließt.

K.: Könntet Ihr euch vorstellen, nach Niedersach-sen zu expandieren?

MOB:WirsindjaeinProjektaufLandesebene.DieFrage ist daher eher, ob ein Projekt wie unseresin Niedersachsen analog zu uns neu entstehenkönnte.Daswirdaber leiderkaummöglich sein,denn dafür müsste das Land entsprechende Mit-telzurVerfügungstellenoderbeantragenundsichhinterdasKonzeptdernicht-behördlichorganisier-tenOpferberatung stellen.Momentan sieht es inNiedersachsennichtdanachaus.AußerdemdenktmanaufBundesebenedarübernach,dieArbeitge-genrechtsineineArbeitgegenExtremismusum-zuwidmen. Dies setzt voraus, dass „Rechts“ und„Links“dasgleicheist,weilbeidedenStaatkriti-sieren/ablehnen,wasungefährsosinnvollist,wiezu behaupten, gelb und blau wären das gleiche,weilsiebeidenichtgrünsind.DashießedannzumBeispiel,dasseineradikaleKritikamrassistischenAusländerrecht in Deutschland unter Umständenebenso als Extremismus geführt würde wie einrassistischerAngriff.DasmachtfürunsüberhauptkeinenSinn.Vielmehrwertenwirdasalseineun-glaublich fahrlässige Verharmlosung menschen-verachtenderEinstellungenundGewalt.

K: Dann wünschen wir Euch trotz der schwierigen Bedingungen alles Gute und bedanken uns für das Interview!

Die DVD „Geschlossene Gesellschaft -

Integration in Burg?“ ist im AStA für 5€

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Am 13. Februar 2010 soll in Dresden, nachdem Wil-len der Nazis erneut, einer der grössten Naziauf-märsche in Europa stattfinden. Von 1998 bis 2007 ist die Zahl der AufmarschteilnehmerInnen fast ste-tig gestiegen. Während der Aufmarsch immer schon eine verbindende Funktion innerhalb der deutschen extremen Rechten hatte, ist in den letzten Jahren auch verstärkte Teilnahme von Nazis aus dem euro-päischen Ausland zu beobachten.

30 bis 40 Nazis aus dem Umfeld der NPD waren es, die 1998 unangemeldet zur Frauenkirche marschie-ren wollten und von der Polizei gestoppt und stun-denlang gekesselt wurden. 2009 waren es an die 7000, die mit ihrem Protest gegen den „alliierten Bombenterror“ in Dresden Täter_innen zu Opfern verklärten und den Nationalsozialismus verherrli-chten.

Ausgangspunkt sind die Bombenangriffe der bri-

tischen Luftstreitkräfte vom 13. und 14. Februar 1945 auf die Innenstadt von Dresden. Ein Großteil der Innenstadt wird zerstört und 18.000 bis 25.000 Menschen kommen ums Leben. Es war Weltkrieg. Dresden war ein strategisch wichtiger Ort für die näher rückende Ostfront und militärische Industrie-stadt mit großen Rüstungsbetrieben und Kasernen in den Vorstädten, aber gleichzeitig auch Lazarett-stadt.

Durch die Angriffe starben auch 400 deutsche und tschechische Widerstandskämpfer_innen im Ge-fängnis in der Mathildenstraße, sowie 40 Jüdinnen und Juden, die hier inhaftiert waren. Außerdem gelang politischen Gefangenen die Flucht, als das Gestapo-Gefängnis am Münchener Platz getroffen wurde. Viele der noch lebenden Jüdinnen und Juden können in den Wirren der Bombardierung unter-tauchen und so ihrer bevorstehenden Deportation entgehen. Bekannteste Beispiele sind Viktor Klem-

ab nach DresdenRück- und Ausblick auf die Aktionen gegen den Naziaufmarsch in Dresden

von dEr anTifaschisTischEn aKTion hannovEr

Dresden nach der Bombadierung

Rassismus

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perer, Henny Brenner und die Großcousine Kurt Tu-cholskys Brigitte Rothert.

In der NS-Propaganda wurden die Angriffe ausge-schlachtet. Der „Mythos einer unschuldigen Stadt“ wurde geschaffen. Das Propagandaministerium verbreitete falsche Zahlen von mehreren hundert-tausend Toten.

Auch nach Kriegsende war das Gedenken um-stritten und politisch unterschiedlich aufgeladen: Den ersten Stellungnahmen der kommunistischen Stadtverwaltung lag eine antifaschistische Auffas-sung zu Grunde und machte allein die Nazis für die Bombardierung verantwortlich. Bereits 1946 legte eine vom sowjetischen Stadtkommandanten einbe-rufene Kommission die Zahl von 35.000 Toten fest. Trotzdem wurden immer wieder höhere Opferzah-len verbreitet und trugen zur Verfestigung des My-thos bei.

In der offiziellen Geschichtsschreibung der DDR wurde Dresden zum Symbol des „angloamerika-nischen Luftterrors“ und der mit Korea und Viet-namkrieg genannt. So hieß es im Appell der Bevöl-kerung Dresdens an die friedliebenden Menschen der Welt vom 13. Februar 1960: „Die zehntausen-den Toten unserer Stadt, Millionen Kriegsopfer aller Länder mahnen uns: Nicht zum dritten Mal darf es den westdeutschen Militaristen gelingen, das Leben von vielen Millionen Menschen zu vernichten.“

Im Westen hingegen gab es konkurrierende Deu-tungen über die Bombardierung. Hier gelang es dem englischen Laienhistoriker David Irving die Ge-schichtsschreibung zu beeinflussen. Er übernahm bewusst die Zahlen der NS-Propaganda. 1988 wur-de Irving als Holocaustleugner bekannt und ist noch heute Symbolfigur der Nazis.

Seine Zahlen fanden aber auch Eingang in den Dis-kurs der (radikalen) Linken so z.B. in einem Artikel von Ulrike Meinhof in der „konkret“ von 1965.

Im Zuge der politischen Entspannung zwischen Ost und West gab es ab den 70er Jahren keine Groß-kundgebungen anlässlich der Bombardierung mehr. Seitdem gab es ein stilles Gedenken in Dresden.

In den 80er Jahren belebt die oppositionelle Frie-densbewegung in der DDR die Großkundgebungen wieder. Dresden wurde zum Symbol gegen Krieg und Zerstörung und für den Frieden.

Nach 1989/90 versuchten vor allem die Kirchen das Gedenken in den historischen Kontext einzuordnen

und auf die Verbrechen Nazideutschlands hinzu-weisen und weiterhin an Frieden und Versöhnung als Themen festzuhalten. Doch auch hier tauchten immer wieder Forderungen wie „Die Verbrecher am deutschen Volk gehören auf die Anklagebank“ auf und David Irving, mittlerweile bekannter Holo-caustleugner, wurde bei einer Veranstaltung von 500 DresdnerInnen mit standing ovations für seine „Fundierung“ des Mythos gefeiert. 1995 störten An-tifas die zentrale Gedenkstunde zum 50. Jahrestag mit „Nie wieder Deutschland“ Rufen.

Ab Mitte der 1990er Jahre erschienen verschiedene Publikationen, die eine differenziertere Sicht der Dinge aufwarfen und es kam langsam zu einer Ver-änderung des bürgerlichen Gedenken. 2000 wurde der Historiker Helmut Schnatz noch von Dresdne-rInnen aufgebracht kritisiert, da sich Auswärtige

nicht in die Stadtgeschichte einmischen dürften, wenn sie nicht den bisherigen Diskurs bestätigen würden. Er hatte nachgewiesen, dass es keine Tiefflieger gegeben haben kann, die so der Mythos Jagd auf Menschen machten und Massaker anrich-teten. 2004 wurde Schnatz in die Historikerkom-mission einberufen, die sich endgültig und offiziell mit den Geschehnissen am 13./14. Februar 1945 in Dresden auseinander setzen sollte. Die Kommission bestimmte die Todeszahlen von Dresden auf min-destens 18.000 und maximal 25.000.

Auf der anderen Seite rückte z.B. Jörg Friedrich die Bombenangriffe in seinem Buch „Der Brand“ in die Nähe der Shoa und rundet allgemein die Opferzah-len großzügig nach oben. Es kam zum vermeint-lichen Tabubruch, dass auch „mal über die deut-schen Opfer geredet werden müsse“. Im offiziellen Diskurs um den Zweiten Weltkrieg und die Shoa wurde davon ausgegangen, dass hier allen Täte-rInnen wie Opfern gleichermaßen Leid widerfahren sei.

Schwerpunkt

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Andererseits wurde versucht durch einen zuneh-mend differenzierten Opfer-Täter-Diskurs um die Entwicklung einer neuen deutschen Identität, in der auch der offizielle kritische Umgang mit der eige-nen Geschichte zur kollektiven Identität der Nation beitragen kann, zu forcieren.

Die Dresden-Mobilisierung der Nazis profitiert von diesen Diskursen. Jahr für Jahr stehen mehr Alt- und Jungnazis neben ParteifunktionärInnen von NPD, DVU und Republikaner und Aktivist_innen der „Frei-en Kameradschaften“ bis hin zu Burschenschaf-tern und Mitglieder von Vertriebenenverbänden. Ab 2004 fand der zentrale Aufmarsch nicht mehr am Jahrestag der Bombardierung statt, sondern am nachfolgenden Samstag. Mit diesem Schritt wurde der Grundstein für ein bundesweites Großereignis gelegt. Nach Wunsiedel sollte auch Dresden zu einem alljährlich festen Symbol der organisierten Naziszene werden.

Nachdem 2004 das „Nationale Bündnis“ in den Stadtrat und die NPD in das Landesparlament ge-wählt wurde, nahmen diese auch hoch offiziell am Gedenken auf dem Heidefriedhof teil. Deshalb be-schloss die jüdische Gemeinde 2008 nicht mehr an der offiziellen Veranstaltung teilzunehmen und legte erst am Nachmittag einen Kranz ab. Um die Nazis vom Gedenken auszuschliessen, dürfen seit 2009 nur noch Landesregierung, Oberbürgermeis-ter_innen und geladene Gäste am Gedenken teil-nehmen.

Und Wir ...?In der Vergangenheit wurde der Widerstand gegen den Naziaufmarsch in Dresden vor allem von Grup-pen aus dem antideutschen Spektrum organisiert. Sie waren die einzigen, die den Anlass nutzten um die Anschlussfähigkeit der Nazis an Diskurse der bürgerlichen Mitte zu kritisieren. Auf der anderen Seite gibt es die berechtigte Kritik am „entkontex-tualisierten Verwenden von Nationalfahnen, das für Antimilitarist_innen unerträgliche Abfeiern von Krieg und Kriegsmaterial in Layout und Texten, die undifferenzierte Gleichsetzung von Bürger_innen und Neonazis sowie das Diffamieren von zivilgesell-schaftlichen Versuchen, den Neonazi-Aufmarsch zu stoppen“ (so die Antifaschistische Linke Berlin in ei-ner Auswertung zu Dresden 2009). Denn wo nichts anderes mehr bleibt als Dresdner_innen und Nazis gleichermaßen an „alles Gute kommt von oben“ zu erinnern oder den Luftmarschall der britischen Ar-mee Sir Arthur T. Harris aufzufordern „Bomber Har-ris – do it again!“, ist keine Basis für antifaschisti-sche Bündnisarbeit.

Dieser Trend wurde spätestens 2009 mit der Mobi-lisierung durch das no pasaran!-Bündnis aus Dres-den verändert. Doch wo scheinbar allein in der Ver-bindung von Bürger_Innen und Nazis sahen, wurde hier das Hauptaugenmerk zu sehr auf die alleinige Thematisierung des Naziaufmarsches als Grosse-vent gelegt ohne dabei die potenziellen Bündnis-partner_innen kritisch unter die Lupe zu nehmen.

… In Hannover?Die [AAH] mobilisiert dieses Jahr zu den Aktivitäten gegen den Naziaufmarsch in Dresden. Inhaltlich verortet sie sich dabei jenseits der Positionen vom mittlerweile bundesweiten no pasaran!-Bündnis auf der einen und den antideutschen Gruppen um den „AK Keine Versöhnung mit Deutschland“ auf der an-deren Seite. Ohne dem Aufmarsch in Dresden seine besondere Bedeutung als einer der wichtigsten Na-ziaufmärsche in Europa absprechen zu wollen, kann es für eine radikale Linke keine Option sein, die ei-genen Positionen gegenüber bürgerlichen Bündnis-partnerInnen außen vor zu lassen. Deutlich wurde uns dies schon bei der Mobilisierung gegen den ge-planten Naziaufmarsch am 1. Mai in Hannover.

Zusammen mit Gruppen aus Niedersachsen, Bremen und Hamburg, werden Busse organi-siert um möglichst vielen Antifaschist_innen den Weg nach Dresden möglich zu machen. Die Mobilisierung soll zudem durch Veranstal-tungen ergänzt werden. So unterschiedlich die Ansprüche der verschiedenen Mobilisie-rungen an Inhalt und Praxis sind, so klar muss sein, dass der Naziaufmarsch in Dresden nicht ohne Widerstand bleiben darf!

Buskarten für den Bus aus Hannover gibt es unter anderem im Infoladen Korn und dem Annabee Buchladen. Im Rahmen des Antifa Info Abends wird es am 21. Januar noch eine Mobilisierungsveranstaltung mit der [AAH] und Avanti Hannover (no pasaran!) geben.

Der Text erschien bereits in der Zeitschrift

Angriffsfläche, Nr. 1

Rassismus

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Das seit 1978 unter Denkmal-schutz stehende Fachwerkhaus– Gartenhaus – am Judenkirch-hof11c,zweiMinutennebenderUniversität,wurdevonNachbar_innen und parteiunabhängigenLinken 1976 instand gesetzt.Seit1918wurdediesesHausvonStudierenden der Uni bewohnt,seit 194� von Flüchtlingen, seit196� wieder von Studierenden.DieUniverwaltungließdasHausverrotten, umes1976abreißenzu können. Dank des Architek-turprofessors Kokkelink (emeri-tiert) konnte der Abriss verhin-dertwerden.DanachwurdedasHaus von zwei Fakultäten fürLehreundForschungmitdenda-maligen Instandbesetzern_innengenutzt, nämlich der FakultätfürArchitekturunddemFachbe-reichErwachsenenbildung.Auch

der damalige AStA sowie fort-schrittliche Professoren (Prof.Vester,Prof.Negt,Prof.Riechers,etc.)verhinderteneineRäumungmitAbrissfolgen.

DerStreitumdieseshistorischeGartenhaus (18��) besteht seit34 Jahren weiterhin. NachdemsichimAugust�009einZusam-menschluss von etwa 30 Per-sonenausunterschiedlichenSo-zialorganisationen und Vereinenzu einem Netzwerk zusammen-gefunden haben, um an einergemeinsamen Lösung mit demLand Niedersachsen als Eigen-tümer für die Zukunft des Bau-denkmalszuarbeiten,istdieSi-tuationnachwievorungeklärt.

In seiner 34jährigen Traditionist das Gartenhausprojekt für

Soziales, Stadtteilkultur, Mig-ration und Ökologie Dreh- undAngelpunktentsprechenderVer-eine und Initiativen. Bis heutedient das historische GebäudealsTreffpunkt fürPersonen,dievon Armut betroffen und da-durchvonsozialerAusgrenzungbedroht sind, ähnlich wie seit194� bis 196�, als Flüchtlingeaus Ostpreußen und Schlesienihre Armutssituation erträglichselbst organisieren mussten. InEigeninitiative bemüht sich dasderzeitige Netzwerk-GartenhausdasBaudenkmalalsAnlaufstellefür Personen mit extrem nied-rigem Einkommen weiterhin zuerhalten und darüber hinauseinSozialzentrumzuetablieren,welches Personen, die das So-zialzentrum für sich brauchen,vom Frühstück bis zum Abend-

Freiräume in der Nordstadt des Gartenhausgeländes bleiben umkämpft

- ohne wenn und aber -

Das Gartenhaus in der Nordstadt

Hannover

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brotauffängtunddiesenwiedergemeinschaftliche Perspektiven,beispielsweise durch den Ver-ein GRUPPE-SOZIALE-SELBST-SORGE bietet. Diese GruppewirdseiteinigenMonatensogarvonderFachhochschuleHanno-verfürSozialwesenmitRatundTatbegleitet.

MittlerweilegibtesimZugedie-serEntwicklungeinerealistischeZukunftsoption des Netzwerks,indem unter anderem der AStAder Universität Hannover per-spektivisch, sowie Dozierendeder Universität und Fachhoch-schuleHannoverinvolviertsind.Mit dieser Zukunftsoption sollder Niedersächsischen Landes-regierung Vorschläge im Bezugauf Nutzung, Mieter und Inves-toren unterbreitet werden, umden geplanten Verkauf an Pri-vatpersonenodergardenAbrissdes einzigartigen BaudenkmalsimökologischanmutendenGrün-gelände („Grüne Insel“) zu ver-hindern. Diese Option wird seitdem 10.08.09 von Politiker_in-nen aller Parteien des Bezirks-rats-Nord sowie des StadtratsHannover (Rathaus) durch einegemeinsame Erklärung an dieLandespolitikalsErgebniseines„Runden-Tisch-Gesprächs“ mitfolgenden Forderungen unter-stützt:

1. Das Gartenhaus mussweiterhin für öffentliche sozialeund kulturelle Zwecke genutztwerden.

�. DasGartenhausmussalsBaudenkmal zur Denkmalpflegeweiterhinvonaußennachinneninstandgesetztbleiben,wozudienötigen Kosten zu investierensind. Die Grundstatik ist nachÜberprüfungvonFachleutenso-lide,bedarfaberfürdieweiterenJahre adäquater Gefahrenab-wehr.

3. Die Räumungsklage desLandes Niedersachsen gegen-über den Nutzerinitiativen istdurch politische Verhandlungenabzuwehren.

Nun ist einer Räumungsklagezum 31.03.�010 vom Landge-richt stattgegeben worden. DieInitiativen des Netzwerkes Gar-tenhaus sowie der �0jährigeFörderverein für NordstädterSozial- und Kulturinitiativen be-finden sich zur Zeit in weiterenVerhandlungenmitdenParteiendes Landtages, um eine poli-tische Lösung zu erreichen, dieallen Interessengruppen sowiedemLandzugutekommenkann.Esistnämlichdamitzurechnen,dassnachdem31.03.10dasGar-tenhausimungenutztenZustandseinwird,weilsichkeineKäufer_innenwegendenerheblichenSa-nierungskosten finden werden,auchwennderKaufpreisfürdasumliegende Gelände (160 000€) lukrativ erscheint. Durch den ungenutztenZustandkannnachAussagen von Fachleuten dieBestimmungendesDenkmalpfle-gegesetzes umgangen werden(„Nichtwirtschaftlichkeit“), umdennächstenAbrissrechtlichzulegitimieren.

Wieesweitergehtbleibtderzeitunklar. Fest steht nur, dass imFalle einerSchließungdesBau-denkmalsimFalleeinStücksozi-

alerArbeitinSelbstbestimmunginHannoveraufderStreckeblei-benwürde.AberauchFreiräumeim Sinne von Bürger_innenen-gagement,sozialerGerechtigkeit,Migrationsarbeit, ökologischerPflege und Stadtteilgeschichtewerden eliminiert. Die Erhal-tungderartigerFreiräumedurchBürger_innenengagement sowiesozialer Gerechtigkeit steht inParteiprogrammen sämtlicherParteien des Landtages (CDU,SPD, FDP, Grüne/Bündnis 90,DIELINKE)undsolltenachAuf-fassung des Fördervereins fürdasGartenhaus vonsämtlichenParteivertreter_innen aber auchderVerwaltungdesLandesernstgenommenwerden.

Wie überall in der Politik sol-len verschiedene politische Lö-sungsmöglichkeitengesuchtundgefunden werden. Zum einendurchVerhandlungen,zumande-rendurchfantasievolleAktionenderjenigen Personenkreise imStadtteilNordstadt,diedieFrei-räume des Gartenhausgeländesfür sich benötigen. Dies würdeeinschließen: Denkmalerhaltungdurch Nutzung der Räume, öf-fentlicheNutzungwieseit1918(von Studierenden, Nachbar_in-nen, Personen mit niedrigemEinkommen)ÖkologisierungzurErhaltung der „Grünen Insel“und Ökonomisierung durch ge-nossenschaftliche Vernetzungs-leistungen.

Tor zum Grundstück

Gartenhaus

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„Unter Folter hast du Zeit zum Nachdenken!“

Ehemalige politische Häftlinge des Iran kämpfen im Exil um Anerkennung alten und neuen Unrechts.

von hErwig lEwy

„Eine junge Frau mit schönen Augen, studier-te Medizin, hatte überlebt - sie wurde aus-gepeitscht. Ihre Schreie waren so schlimm, man hörte sie auch in einer anderen Abteilung, einer überfüllten Zelle, in der ihr Kind saß. Es konzentrierte sich ununterbrochen auf seinen Nuckel, die Augen auf die Mutter gerichtet, deren Brüste gaben keine Milch mehr“ - bei-nahe hastig richtet Shala Talebi in bildhaft beschreibender Sprache ihre Eindrücke von der Gefangenschaft als politischer Häftling in einem Gefängnis der Islamischen Republik Iran aus den 80er Jahren an das Publikum. Ihr Thema: Kinder der Gewalt und politische Unterdrückung. Talebi, die heute in den USA lebt, reiste in den letzten Jahren wiederholt in den Iran. Sie interviewte die Kinder der poli-tischen Gefangenen und wollte hören, inwie-weit sich die frühen Eindrücke nach zwanzig Jahren auf das Leben dieser neuen Generation ausgewirkt haben.

TalebiwarzurdreitägigenKonferenz„WiderstandoderAufgeben?Eingeladen.ImKulturhausFaust-Kargah in Hannover trafen sich vom 18. bis �0.September ehemalige iranische politische Häft-linge und politische Aktivistinnen. An allen dreiTagenwardasThemenspektrumvonVielseitigkeitgeprägt. Neben der Ausstellung „Innovative Me-thoden?“ (Bildende KünstlerInnen: Minoo KhajehAldin,ManuchehrShahabi,Mahtab),Filmen(wie„Ein Augenblick Freiheit“, Regie: Arash Riah),MusikundTheaterginges indenVorträgenwieTalebisauchimmerwiederumdasBenennendeserlittenenUnrechts.

Zur „Psychologie der Folter“ äußert sich NasserParmian in seinem Einleitungsvortrag. Der großgewachseneMann,sportlichinGangartundKlei-dung,sprichtmitzurückhaltendemTon.AlsOpfervon Khomeinis Repressionspolitik hat er Folterselbsterlebt.Undmansieht imdieSpuren jenerZeitan.ZUdenAnwesendenäußertersichüber

dieMethodenderFolter,überdenEntzugvonEs-sen und Trinken, überfüllte Zellen und über Wa-terboarding:„Mankanndas�0oder30Sekundendurchhalten,danachglaubtmanzuertrinken.Wersogefoltertwird,derhatseineSinnenichtmehrunterKontrolle.“HeutelebtParmianinNorwegenundarbeitetalspraktischerTherapeutfürdieOp-fervonFolter,dieausallenTeilenderWeltzuihmkommen.BringterdieSpracheaufdieFolgenvonHiebenaufdenKopf,dieSeiten,Nieren,Fußsohlenoder auf dieGeschlechtsteile, löst er sich immerwiedervonseinemSkript:„JemandderPeitschen-hiebe auf die Fußsohlen bekommt, versucht aufden Fußspitzen oder den Außenseiten zu laufen.ErverliertsodasGleichgewicht.“

Die einzigen zwei deutschsprachigen Referentenan jenem Nachmittag sind Markus Brunner undHans-Henning Haake. Wie zuvor Parmian spre-chenauchsiedavon,dassFolterdemZerbrechender Persönlichkeit dient. „Folter“, sagt Brunner,„dient der inneren Abschreckung. Ein Folterkel-ler istkeinSchauplatzderVernehmung,sondernHerrschaftsinstrument des Regimes.“ Womit erkenntlichmacht,dassFolteralspolitischesMittezumZweckederMachtsicherungdenneinesInfor-mationsgewinneszumEinsatzkommtDassFolte-ropferdurchwiederkehrendeErinnerungenstetsaufsNeueunterDepressionen,Angstschüben,Ein-schlaf-oderKonzentrationsproblemenleidenkön-nen, an die sich Arbeitslosigkeit (0oft verbundenmitObdachlosigkeitoderdemVerlustderFamilie)nicht selten anschließt, betont Haake in seinemVortrag „Re-Traumatisierung bei Folteropfern inDeutschland“.AusdrücklichklagterdieIgnoranzvonBehördenan,wennsiedurchdasVerschlep-penvonAsylanträgenoderdurchAndrohungvon

Einige der Referent_innen während der Tagung

Politik

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Abschiebung den Krankheitszustand des Opfersoftnochverschlimmern.

DaszentraleThemaderKonferenzistdasMas-saker von 1988. Nachdem das Khomeini-Regimedie Un-Resolution �98 anerkannt hatte, kam eszumWaffenstillstandmitdemIrakunddie inhaf-tiertenOppositionellenwurdenfürdasislamischeRegime zu einer „Gefahr“. Khomeini veranlasstedieHinrichtungall jener,dieeralsseineGegneransah.BetroffenwarendieGruppederlinkenOp-position,dieGottnichtanerkannte,unddieGrup-pe der Volksmodjahedin, deren Mitglieder, Mus-lime, bewaffnet gegen die islamische Regierungkämpf(t)en. Fragebogenartig wurde Gericht überdieInhaftiertengehalten:(1)BistduMuslim?(ja/nein), (�) Betest du? (ja/nein), (3) Glaubst du andie islamische Regierung? (ja/nein). Wer dreimalneinsagteodersichderStimmeenthielt,dener-warteten:(a)sofortigesErhängen,(b)10x�Kabel-schläge am Tag (Männer) bzw. �x� Kabelschläge(Frauen). Ob (a) oder (b) ausgesprochen wurde,hing vom Gusto des Gerichts ab. Ebenso, ob dieZusatzfragenausgesrochenwurden: (4)WarstduschoneinmalMuslim?(�)Wiealtwarstdu,alsdunichtmehrzuGottgebetethast?-Schließlichwur-dehingerichtet,werimAlterderVolljährigkeitsei-ne Handlungen nicht mehr an den muslimischenGlaubenspraxen ausrichtete. Volljährig sind nachislamischenRechtFrauenimAltervon9undMän-nerimAltervon1�Jahren.

ImGesprächüberdasMassakersagtMojdehAras-si: „Die Wächter haben uns nicht mitgeteilt, wassievorhaben.Wirhabenunssolidarisiert,wieha-benversuchtzuwiderstehen.ÜberMorsezeichenhabenwirunsverständigt.DiesmalhabensiedieGefangenen nicht erschossen, sondern gehängt,damitwirnichtmitzählenkonnten.DieVolksmodja-hedin-Frauenwurdenbisaufvieralleumgebracht.VondenPolitischenhabenimEvin-GefängniszweiFrauentrotzFolter��TageausProtesteinenHun-gerstreikgemacht.Manmusswissen,dassnicht-muslimischeFrauenwiehalbeMännerbehandeltwurden.Siebekamen��PeitschenhiebeproTag.Von beiden hat jede ��0 Peitschenhiebe bekom-menunddabei ihrenHungerstreikgemacht.DaszynischeMottoderWächterwar:UnterderFolterhastduZeitzumNachdenken!Warumsiedannaufeinmalaufgehörthaben,wissenwirnicht.Wirver-muten,dasswiresdeminternationalenDruckzuverdankenhaben.“

Wie viele StudentInnen, ArbeiterInnen, Schrift-stellerInnen, AktivistInnen, HochschullehrInnenoderanderewillkührlichInhaftierteMenschentat-

sächlichumsLebenkamen,istnochimmerunge-wiss. Die Gruppe hat bislang �.000 Namen allerAltersgruppen und Einkommensstufensammelnkönnen.EineZahl,diesichdurchMitteilungenBe-wohnerInnengroßerStädteergibt.Weltweit zumInbegrifffürdenHöhepunktdersystematischbe-triebenenMassenhinrichtungeninhaftierterOppo-sitionellerwurdederKhavaran-FriedhofimSüdos-tenTeherans.WievieleGetöteteesallein1988indenkleinerenStädtenundaufdemLandgab,weißdieGruppenochnicht.

Bereits 1984 verabschiedete die UN eine Anti-folterkonvention. Als alle Kulturen umfassendesGremiumistsiewieauchdie InternationaleLigafür Menschenrechte einer der wichtigsten Be-zugspunktefürdieGruppeehemaligerpolitischerHäftlinge des Iran. Mit Blick auf die universelleGültigkeitvonMenschenrechtenfordertsiedieAn-erkennungderVerbrechengegendieMenschlich-keitdurchdieinternationaleGemeinschaft.UnterdemMotto„Nichtvergessenundnichtverzeihen!“macht sie die Gründung eines Dokumentations-zentrums sowie die juristische Aufarbeitung derVerbrechenalsnächsteZielegeltend.ImKampfuAnerkennung wird dabei immer wieder auch aufLateinamerika verwiesen, darunter insbesondereaufChileundArgentinien.

Mit ihrem Engagement in Hannover reagiert dieGruppeauchaufdiejüngstenErscheinungenhar-ter Repression des islamischen Regimes. SohrabErabi, Yaghob Mirnahad, Ebrahim Lotfullah oderNedaAghaSoltansinddieNameneinigerjungerMenschen, die erst in diesem Sommer gefoltert,vergewaltigtoderhingerichtetwurden.

Literatur zum ThemaAliAbani(Hg.):„LivingintheAntechamberofDeath“-Compiledshortsto-riesofpoliticalprisoners in IslamicRepublicof Iran.USA�007(Kontakt: [email protected])RalfStreck(Hg.):Tondar–GeschichteundWiderstandpolitischerGefange-ner:Türkei,Kurdistan,Baskenland, Iran.Bonn�003. (Kontakt: [email protected])Prison´sDialogue–ehemaligeiranischepolitischeGefangene:http://www.dialogt.org(Kontakt:[email protected])www.kanoon-zendanian.org

Dieser Artikel erschien in der November Ausgabe 2009 von Al-Ain – Die Zeitschrift der Leipziger Ara-bistik. Unter http://www.dialogt.org/deutsch/index.html sind auch einige der Tagungsbeiträge (z.B. von Markus Brunner und Hans-Henning Haake) als Video-Stream anschaubar.

Folter im Iran

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Elite und Selektion

WorumesimKernbeiderneuenElitedebattegeht,hatschon199�ein,wiemanheutesagt,»brain-trust«,nämlichderzentralederCDU, die Konrad-Adenauer-Stif-tung, auf den Punkt gebracht:„Wer Qualität sagt, der muss... Selektion hinzudenken.“3

Elite und Selektion gehörenschon insofern zusammen, alssie beide denselben Wortstammhaben – es geht formal schlichtum eine Auswahl, worauf, auchumdenElitebegriffzuverharm-losen, gerne verwiesen wird.Bleiben wir zunächst bei dieserBeschreibungsebene: Hier un-terscheidetdieSoziologieElitennachdenKriterienderAuswahl:z.B. Geburtseliten (etwa denAdel), Werteliten (etwa Bundes-präsidenten), Machteliten (inPolitik, Militär und Ökonomie)oder Funktionseliten, die überberuflich-fachliche Leistungen

definiertwerden.Esistwohlda-vonauszugehen,dassfürdenBe-reich,mitdemwirunszubeschäf-tigenhaben,einZusammenhangvonLeistung,MachtundWerten,also von Funktions- und Macht-undWertelitenrelevantist.EineProfessorin,dieBundespräsiden-tinwerdenwill,repräsentiertsoein crossover vonFunktions- zuWertelite, obwohl manche Pro-fessoren ohnehin einen HangzurWerteliteverspürendürften.

Esistallerdingsüberhauptnichtzwingend,über»Leistung«unterNutzungdesTerminus»Elite«zureden. Sachlich lässt sich das,was neuerdings unter »Elite«verhandelt wird, präziser unterBegriffen wie »Fachleute« odereben »Vizepräsident eine Land-gerichts« oder »Bundespräsi-dent« abhandeln. Die Rede von»Eliten« hat gegenüber sachbe-zogenenÜberlegungeninersterLinie bestimmte gesellschafts-politische Funktionen, die ich

hierkritischanalysierenmöchte.

Wenn die designierte Verlie-rerin der Bundespräsident-schaftswahlenvon�004,GesineSchwan, meint, die „historischeErfahrung“ zeige, „dass sichbisher in jederGesellschaftundunter jedem politischen Systemfunktionale Eliten herausgebil-dethaben“4,trifftdaszwarnichtauf die erst seit �00 Jahren ge-bräuchlicheVokabel»Elite«zu�;esistaberindemSinnerichtig,dass es schon in der 4-Klassen-Gesellschaft des antiken Spar-ta so etwas wie eine Elite gab.AmunterenEndevegetierteninSpartadie»Heloten«,dieNach-kommen unterworfener Bevöl-kerungsgruppen, die – quasiStaatseigentum – auf dem Feldschufteten,mindestensdieHälf-tedesdabeierwirtschaftetenEr-tragesabzuliefernhattenundzuKriegszeiten als Waffenknechtebenutzt wurden. »Elite« machtnur Sinn, wenn der historisch

Von »Leuchttürmen«, »Hochbegabten« – und der »Masse«

Peter Gaethgens, früherer Präsident der FU Berlin, seit dem Sommersemester 2003 Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, wurde am 4. Februar 2004 vom Berliner Tagesspiegel gefragt: „Woran erkennen Sie einen zukünftigen Spitzenstudenten?“ „Daran“, antwortete er, „dass er ein ziemlich klares Konzept von seiner universitären Ausbildung und seiner Berufsorientierung hat und gut in-formiert ist über die Universitäten, an denen sein Wunschfach angeboten wird. Und er sollte die Wahl des Fachs gut auf seine eigenen Talente abgestimmt haben.“ Danach ist der Spitzenstudent mit sich schon fertig, bevor er überhaupt angefangen hat. Ein Studium verunsichert ihn nicht, er orientiert sich nicht um, er entwickelt sich nicht, er greift nicht in das Hochschulgeschehen ein, er sucht sich die Hochschule nur aus, und er hat Talente, die zu einem historisch vorfindlichen Fach passen wie Pott zum Deckel (zum Beispiel ein Geologie- oder Kleintierveterinär-Talent). Zusammengefasst ist der Spitzenstudent erstens männlich und zweitens der Prototyp des angepassten Strebers. Horkhei-mer hat das folgendermaßen ausgedrückt: „Auch heutige Gesellschaft beruht auf einem Abhängig-keits-Verhältnis, das auch die privaten Beziehungen durchdringt. Das sich selbst frei fühlende, die gesellschaftlichen Tatsachen als notwendig anerkennende, die eigenen Interessen auf dem Boden der Wirklichkeit verfolgende Individuum ist ihr Produkt“. Mit dieser Haltung hat der »Spitzenstu-dent« gute Chancen, von Hochschulen, die in Gaethgens‘ Sinne die Studierenden selber aussuchen sollen („Gebt uns Entscheidungsfreiheit“, deklamiert er gar), ausgewählt zu werden – ein erster Schritt zur Elitezugehörigkeit? Tolle Berufsaussichten: Denn als Elite „im weiteren Sinne“ gilt z.B. „Vizepräsident eines Landgerichts“ oder „Oberbürgermeister einer bedeutenden Großstadt“2.

Hochschulpolitik

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konkreteGegenbegriffderNicht-Elitemitgedachtwird.InSpartaalsokeine»Elite«ohneHeloten.Dieser eindeutige Unterwer-fungs- und Unterdrückungszu-sammenhang zwischen den Eli-ten (die – wie Gesine Schwansich einbildet – „sich herausge-bildet“haben)unddemRestderGesellschaftgeht inGeschichts-schreibung und Sozial-theorie allerdings leichtunter, wie Marx an dervon ihm so bezeichnetenmythologischen Fassungder ursprünglichen Akku-mulationdesKapitalsfest-stellte: Die „ursprünglicheAkkumulationspielt inderpolitischen Ökonomie un-gefähr dieselbe Rolle wiederSündenfall inderThe-ologie. Adam biss in denApfel,unddamitkamüberdas Menschengeschlechtdie Sünde. Ihr Ursprungwird erklärt, indem er alsAnekdote der Vergangen-heit erzählt wird. In einerlängstverfloßnenZeitgabesaufdereinenSeiteeinefleißige, intelligente undvor allem sparsame Elite[vgl.auchBolz,s.u.,M.M.]undaufderanderenfaulen-zende, ihr alles und mehrverjubelnde Lumpen ... Inder wirklichen Geschich-te spielen bekanntlich Er-oberung, Unterjochung,Raubmord,kurzGewaltdiegroßeRolle.Indersanftenpolitischen ÖkonomieherrschtevonjeherdieIdylle.“6

IndieservonMarxpersifliertenMythologie löst sich also derstrukturelleUnterwerfungs-undUnterdrückungszusammenhanginPersonalisierungenauf:Herr-schaft verschwindet in unter-schiedlichen Eigenschaften vonMenschen; das Vorhandenseinvon Oben und Unten, von Eli-te und Lumpen, soll verständ-

lich werden aus unterschied-lichen, entgegengesetztenEigenschaften – nicht bloß alsTatsache, sondern als eine qua-si sachlogische Notwendigkeit.Sofernnundiedaunten,alsodieLumpen,gegendiedaoben,dieElite, aufbegehren, stellt diesdie natürliche, sachgerechteund insofern eben auch gesell-

schaftlichgerechteOrdnungderDingeinFrage.DiesepraktischeInfragestellung systematisiertesich z.B. im Zuge organisiertersozialistischer Bestrebungenund Umtriebe im 19. Jahrhun-dert. Die Rechtfertigung undAufrechterhaltung der natür-lichen Gerechtigkeit der kapi-talistischen Ordnung der Dingeoblag (und obliegt) den empi-rischen Sozialwissenschaften

bzw. der Psychologie, welche –offenkundignichtzufällig–auchzu dieser Zeit entstanden unddas Konzept der social controlerdachten, womit uns eine denMachteliten besonders gefal-lende,weilihnengefälligsicher-weisendeVerbindungvonFunk-tions- und Wertelite begegnet.FürunserenZusammenhangder

Funktionskritik des Elite-begriffs ist nun wesentlich:DerBegriffdersocialcont-rolistsokonzipiert,dassdieschon Mächtigen (Machte-liten)dasSteuerkeinesfallsausderHandgebenmüssen.Diesog.»Masse«,dieMehr-heit der Bevölkerung, istnicht als Subjekt, sondernalsObjektderKontrollevor-gesehen,einObjekt,dessenBefindlichkeit aber nun in-sofern ernster genommenwurde, als diese ins Herr-schaftskalkül einbezogenwird–zumBeispielübersog.Meinungsumfragen stattüberpraktischesEingreifen.IndieserTradition liegtes,gegenwärtig im Hochschul-bereich Mitbestimmungdurch Meinungsumfragenund Rankings zu ersetzen.Dieses Konzept entsprichtdem Interesse, die »Mas-sen«–hierdieStudierenden– zwar »irgendwie« in dieRegelung universitärer An-gelegenheiten einzubezie-hen,ihnenabergleichzeitigrealenEinflusszuentziehen

bzw.diesenEinflussvölligkont-rollieren zu können. InsoferngehörtdieAbfrageeinflusslosenMeinens und Dafürhaltens zumideologischen Ensemble der de-mokratieförmigen AbsicherungbürgerlicherHerrschaft,auchindenHochschulen.

Die KontrASt Oktoberausgabe 2008: Exzellenz-initiative NTH als Titelthema. Als Download auf www.asta-hannover.de verfügbar!

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Legitimierung der Ungleichheit

Warschongenerell,wiederSo-ziologie Martindale das einmalformulierte, die Entstehung derSoziologie eine „konservativeAntwort“aufdenSozialismusalsBewegung, gilt das allemal fürdieEntstehungeinerdezidierten»Massenpsychologie«,derenwe-sentlicher Beitrag zum werteli-tären Überbau darin bestand,die Auf- und Widerständigkeitder »Lumpen« zu irrationalisie-renundzupathologisieren–undeben den Lumpen im Plural,vor allem organisierte Lumpen,als »Masse« abzuqualifizieren.1899 schon hatte ein gewisserEllwood die Sozialpsychologiein direkte Konkurrenz zum So-zialismus gestellt: „Wenn dieSozialpsychologie die Vollkom-menheitsstufe erreicht hat, inder sie eine Doktrin sozialerVerbesserung oder einer ‚sozi-alen Teleologie‘ hervorbringenkann, tritt möglicherweise eineandere Person neben den Sozi-alisten,diegenauweiß,wassiefürdieVerbesserungderGesell-schafttunwill;diesePersonwirdder Sozialpsychologe sein.“7Dieser Sozialpsychologie reprä-sentierte dann auch das, wasman unter Elite verstehen darf– eine Art Führer der Massen.Elite ist eben kein bloßer Be-schreibungsbegriff, sondern einhistorischgewordenesundhisto-rischbelastetesKonzept,dessensystematische Verwendung heu-te wohl kalkuliert ist, auf jedenFall den gezeigten Abwertungs-Effektder»anderen«hat,einEf-fekt,dersichaufdenBegriffdesAnti-Egalitarismusbringenlässt:DieRedevonderElitedientderLegitimierung systematischergesellschaftlicher und sozialerUngleichheit. Schon in der Zeitvom 14. September �000 hatteErnstTugendhatangesichtsder

Nietzsche-Renaissance vor der„Verharmlosung“ der anti-egali-taristischenTraditionvonNietz-sche bis Hitler gewarnt. FürNietzsche,daraufwiederumhatSafranski in seiner Nietzsche-Biographie (�000) hingewiesen,warKulturnuraufderBasiseinerausgebeuteten und selber vonKultur ausgeschlossenen Massemöglich:Nietzsche,soSafranski(ebd.,70),„erblickteimsozialenFortschritt eine Bedrohung fürdieKunst“,wennerschrieb,die„Auflehnung der unterdrücktenMassen gegen drohnenartigeEinzelne“ werde die „MauernderKultur“umreißen.Nietzschescheute sich allerdings nicht,dieEliteals–allerdingsvonihmals kultur-notwendig erachte-te – »Drohnen« zu bezeichnen.Die Frage, warum gerade jetztdieElite-Diskussion(mal)wiederauftaucht,hatOskarNegtsobe-antwortet: Es sei der „Zustandkultureller und sozialer Selbst-zerrissenheit,indemdiesprung-haft angewachsenen Orientie-rungsbedürfnisse auf schnellbeschreitbare Auswege drän-gen“. JeaussichtsloserdieLageerscheine,indermanabernicht„bestehenden Macht- und Herr-schaftsverhältnisse antasten“wolle,destolautererschallederRufnachEliten8.InderTat:Die-serRufistdieetwasvornehmereVariante der Stammtischforde-rungnachdem»starkenMann«9.Mansolltenichtübersehen,dassdamit gleichzeitig, wie Negt esformuliert,dieVorstellungeiner„Blockadehaltung der Durch-schnittsmenschen“ einher geht,diesichnachAuffassungderanti-demokratischen Elitetheoretikerz.B.immernochzumassenhaftinGewerkschaftenalsderzeit zen-tralergesellschaftlicherBlockad-einstanzenverschanzen–gegeneineangeblichegesellschaftlicheVernunft,diebspw.Glotzmitsei-nemElite-Fimmelals„Ein-Mann-Vernunft gegen das Dunkel des

sozialistischen Ressentiments“repräsentiert, wie Norbert Bolzmeint10. »Leuchtturm« und»Armleuchter«scheinenmirhiernichtweitvoneinanderentfernt.Oder wieder etwas vornehmermitHorkheimersKollegenAdor-no:DieserhatdenElitebegriffals„Phrase“bezeichnet,deren„Un-wahrhaftigkeit“ darin bestehe,„dassdiePrivilegienbestimmterGruppenteleologischfürdasRe-sultateineswieimmergeartetenobjektivenAusleseprozessesaus-gegeben werden, während nie-mand die Eliten ausgelesen hatals etwa diese sich selber“11.

Kapitalistische Konkurrenz

In der kapitalistischen Gesell-schaft zur (sich eben selbst sonennenden)Elitezugehören,ist,wieschonangedeutet,gleichbe-deutend damit, Erfolg zu reprä-sentieren.Nunist»Erfolg«inderbürgerlichen Gesellschaft aberdamitbelastet,nichteinerSachezu dienen, sondern im Wesent-lichen im konkurrenziellen Aus-stechen, Ruinieren oder Über-tölpeln Anderer zu bestehen.„Diesen Vorgang als Leistungdarzustellen und die Gewinnerals Elite und nicht als Gauner,istdieAufgabederbürgerlichenMoral.“1� Eine selbstreferen-zielle Aufgabe der Wertelite.Elite-Unisunddiedamitverbun-denenSelektionsprozessesollenauf eben diese Moral, vorberei-ten,indemsie–Kernforderung–sichdieStudierendenselberaus-suchenkönnen(s.o.),die,weitereKernforderung,Gebührenzahlensollen.DieHebungderQualitätderHochschulenwirdsoalleininFormderKonkurrenzgedacht.Esgeht weniger darum bestimmteinhaltlicheKriterienzudiskutie-renundzuerfüllen,sondernaus-schließlichdarum,dassdieeineHochschule besser sein soll als

Hochschulpolitik

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die andere – anders formuliert,dassviele – sozusagendieMas-seder–Hochschulenschlechtersein sollen als einige wenige.Wie gesagt: Von gesellschaft-lichen Leistungen zu reden, de-ren Sinn jeweils zu explizierenwäre impliziertkeineswegs,vonElite reden zu müssen. EherdeutetdieRedevon»Elite«aufgesellschaftliche Zustände hin,in denen Leistungen von derFragenachderNützlichkeit fürwelche gesellschaftliche Grup-pe abgekoppelt gedacht wer-den.LeistendeElitenhabenaufLumpen und Massen und derenNützlichkeitserwägungen keineRücksichtzunehmen.Daswäredann durchaus das, was Nietz-sche mit der erwähnten Droh-nenhaftigkeit der Eliten meinte.In diesem Zusammenhang istbemerkenswert, wie HerfriedMünkler, der in letzter Zeit dieFeuilletonsbereichert,meint,dieEliten(vorstellung) „resozialisie-ren“(sic!)zukönnenundzumüs-sen.Ersteinmalaberwerdensie,wasDeutschlandangeht,einwe-nigentschuldet: „DiedeutschenEliten hatten nicht nur zweiKriegeverloren,sondernsichzu-letzt auch mit Verbrechern ein-gelassen und gemein gemacht“.Eigentlichalso»anständig«undselberkeineVerbrecher,dieEli-ten hatten nur schlechten Um-gang, so dass die Ablehnungvon Eliten letztlich ungerechtist. „Askese“, „Leistungsbereit-schaft“, „Verpflichtungsbewusst-sein“ machen die Elite aus (dieMassenatürlichnicht;vgl.Marx,s.o.). Eine, wie Münkler meint,„demokratische Elitetheorie“müsseallerdingsdarüberhinaus„nachderLeistungderElitenfürdieGesellschaftfragenunddabeidaraufbestehen,dassdieDefini-tiondererwartetenLeistungunddie Überprüfung ihrer Erbrin-gungindenHändenderGesell-schaft liegt“13.DasProblem ist

allerdings,dassinderRedevonder Gesellschaft „die prekäreund irrationale Selbsterhaltungder Gesellschaft umgefälscht(wird) zu einer Leistung ihrerimmanenten Gerechtigkeit oder‚Vernünftigkeit‘“,wie es Adornokritisch gegen den Elitegedan-ken (a.a.O., 3�) formulierte. Danungerade,wieskizziert,ElitendieReproduktionsystematischerUngleichheit markieren, bedeu-

tete eine Demokratie in einerPerspektive,inder–mitMarx&Engels – die freie Entwicklungeines jeden die freie Entwick-lung aller ist, gerade nicht dieÜberprüfungvonEliten,sondernderengesellschaftlicheÜberflüs-sigkeit.DieKonzepte»Elite«und»geistig-moralische Führung«,wie Helmut Kohl das nannte,sind nicht demokratisierbar,sondern antidemokratisch. Diegrundsätzliche Problematisie-

rung des Elitediskurses ist keinirrationales Ressentiment (Bolz,a.a.O.),keine„pauschale ...Ver-dammung“(Schwan,a.a.O.)ver-wirrter68er,wiegerneinsinuiertwird, sondern die Verbindungvon historischer Erfahrung undpolitischerAnalyse.

Natürlich(e) Eliten?

Die bildungspolitische Debatte,die vor allem auf »Funktionse-liten«fokussiert,enthälteineBe-sonderheit,aufdie ichabschlie-ßend kurz eingehen will: DieseEliten werden nicht nur als dasResultat von Förderung angese-hen,sondernauchalsderenGe-genstand. Ihre Elitenhaftigkeitmuss diesen Eliten schon vorden Resultaten der Förderunganhaften, diese Eliten müssenalso eigentlich auch schon eineArtGeburtseliteseininderWei-se,dasssie–undzwarimUnter-schiedzumRest–vonGeburtanzuelitenhafterLeistungbefähigtwiebestimmtsind,womitwiralsneuesoziologischeKategoriedieGeburts-Funktions-Kombi-Eliteanbieten könnten. Das müssenwir aber deswegen nicht, weiles für diesen Gedanken schonein sprachlich einfacheres undallgemein bekanntes Kons-trukt gibt: das der Begabung.Ichgehealsodavonaus,dassderBegriff der »Begabung«, insbe-sondere der gegenwärtige nochbeliebtere Begriff der »Hochbe-gabung«, in seiner populären,dispositionsorientierten Verwen-dung das individualpsycholo-gischePendantzumgruppenbezo-genenBegriffderElitedarstellt,zumindest im Bildungsbereich.Die Elite bestünde, so gesehen,alsovorallemausdenBegabten,so dass die Elitenförderung so-zusagennurnatürliche,ohnehinbestehendeUnterschiede repro-duziert. Anders formuliert: Ge-

Das „Konzept Elite“ ist mit den Exellenzinitiativen der deutschen Universitäten wieder in die öffentliche Diskussion gekommen. Das Studentenwerk Han-nover zeigt passend zum Thema vom 27. Januar bis zum 4. März im Café Snob in der Hauptmensa die besten eingereichten Beiträge des Plakatwett-bewerbs „Elite! Für alle?“ des deutschen Studenten-werkes 2009.

Der AStA wird zu Beginn des Sommersemesters 2010 das Thema eben-falls aufgreifen und ei-nige Veranstaltungen or-ganisieren, u.a. ist DER Eliteexperte in Deutsch-land, Michael Hartmann angefragt. Genauere In-formationen dazu auf der AStA-Homepage.

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sellschaftliche Ungleichheit istsonatürlichwiederSozialdarwi-nismus vernünftig ist. (InsofernfälltderneueElitediskurshinterdie PISA-Debatte zurück: Dassfinnische Kinder begabter seienalsMigrantenkinderinDeutsch-land hat in diesem Zusammen-hang m. W. keiner behauptet.)In Alltagsvorstellung und jenerPsychologie, die Alltagsvorstel-lungen bedient und verdoppelt,ist»Begabung«einenichtweiterrückführbare, natürliche, alsoangeborene Disposition, die zurEntäußerung besonderer Leis-tungenbefähigt.ImUnterschiedzuLeistungenallerdings,dieaufder Beobachtungsebene liegen,ist »Begabung« ein Konstrukt,daszurErklärungvonbeobach-teten Leistungen herangezogenwird14. Begabung ist nicht et-was,dasmanbeobachtenkann,sondern etwas, mit dem manBeobachtetes deutet, interpre-tiert, erklärt. Das Zirkuläre derBegabungsvorstellung liegt dar-in, dass von beobachteter Leis-tungunvermitteltaufBegabunggeschlossenwird,dieseaberalsUrsache der Leistung herhaltensoll. Andersherum: Den Bega-bungsbegriff zu problematisie-ren,schließtkeineswegsnotwen-digein,Leistungsunterschiedezuleugnen.ProblematisiertwerdendamitalleindiewissenschaftlicheDignität und die gesellschaft-liche Funktionalität einer bio-logisch-genetischen Erklärungvon Leistungsunterschieden.Formalgesehen,istdasProblemübrigens dasselbe wie bei derDenkfigur,VerhaltensweisenvonMännern und Frauen auf derenangeblichenatürlicheMännlich-keit und Weiblichkeit zurück-zuführen, also die »gender«-Konstitution auszuklammern.AllenUntersuchungenzumTrotzist es bis heute nicht gelungen,»Begabung« (oder mit Gaeth-

gens:„Talente“,s.o.)unabhängigvon beobachtbaren Leistungenbzw. Leistungsunterschieden(etwa in Abschlüssen in Klein-tiermedizin) empirisch zu veri-fizieren. Allerdings: Auch wenndas Problem unentscheidbarist, ist die Art und Weise, wis-senschaftlich damit umzugehen,keineswegs gleichwertig, wieHolzkamp gezeigt hat: „Wissen-schaft hat ja allgemein die Auf-gabe, die untersuchten Phäno-menejeweilssoweitwiemöglichinihrenBedingungenundihremZustandekommen aufzuklären.IndemRückgriffaufBegabungs-unterschiede als Ursache vonLeistungsunterschieden liegtnunabergeradeeinVerzichtaufeineweitereAufhellungderBe-dingungen für ihre Entstehung.Anders: Wenn es mir in einembestimmten Falle nicht gelun-gen ist, das ZustandekommendesUnterschiedszwischeneinerHochleistung und der üblichenLeistungshöhe hinreichend ver-ständlich zu machen, so kannich zwar grundsätzlich einmalBegabungsunterschiede dafürins Feld führen, zum anderenkann ich annehmen, dass auchdafür bestimmte fördernde undbehindernde Lebensverhältnissesamt ihrer subjektiven Verar-beitungverantwortlich sind,dieich – aufgrund mangelnder Dif-ferenziertheit meiner Begriff-lichkeitundMethodik–nurbis-her nicht gefunden habe. Dabeiergeben sich aber nur aus die-ser zweiten Alternative weiterewissenschaftliche Forschungs-fragen. Mit dem Rückgriff aufBegabungsunterschiede hinge-gen wird das wissenschaftlicheWeiterfragen aufgrund einerdogmatischen, d.h. selbst nichtwissenschaftlich begründbaren,Vorentscheidungabgeschnitten.“1�Insofern enthält die AussageCharles Bukowskis, der gesagthaben soll: „Die meisten Men-schen werden als Genies gebo-

ren, aber als Idioten beerdigt“,eine wissenschaftlich frucht-barereundgesellschaftlich fort-schrittlichere Fragestellung alsdie Rede von der »Begabung«.Begabung ist – wie Elite – keinwissenschaftlich tragfähigesKonzept,sondernbeidesindnot-wendiger Gegenstand von Ideo-logiekritik.

Prof. Dr. Morus Markard ist Privat-dozent für Psychologie an der FU Berlin

Fußnoten1 Autorität und Familie, GS 3, 381�MichaelHartmann:EliteninDeutschland,DasParlament, Beilage vom 01.03. �004, S. 193Zit.nach:TorstenBultmann:DieElitenunddieMassen.KritikeinesbildungspolitischenStereo-typs. In: Butterwegge/Hentges (Hg.): Alte undNeueRechteandenHochschulen,Münster19994FrankfurterRundschauvom16.0�.�004,S.8�vgl.etwaBernhardSchäfersinDasParlament,Beilage vom 01.03.�004, S. 36DasKapital,Bd.1,Marx-Engels-WerkeBd.�3,741f7 Am.J.Soc., 1898-89, 4, 6648FrankfurterRundschauvom�6.01.�004,S.89Vgl.TorstenBultmanninuni-konkretWS96/9710FrankfurterRundschauvom�0.01.�004,S.1711„DasBewusstseinderWissenssoziologie“,GS10 a, 331�Scharang,M.:DasGeschwätzvonderIdenti-tät.In:Bittermann,K.(Hg.),IdentitätundWahn.Über einen nationalen Minderwertigkeitskom-plex.Berlin:EditionTIAMAT,1994,31-41,hier:S.3813Scharang,M.:DasGeschwätzvonderIdenti-tät.In:Bittermann,K.(Hg.),IdentitätundWahn.Über einen nationalen Minderwertigkeitskom-plex.Berlin:EditionTIAMAT,1994,31-41,hier:S.3814 Vgl. Holzkamp, K. 199�. „Hochbegabung“:Wissenschaftlich verantwortbares Konzept oderAlltagsvorstellung? Forum Kritische Psychologie�9, �-��1�a.a.O.,S.14

DieserText erschienalsHinter-grundtext zum Bildungsstreikauf www.studis-online.de . DortwerdenauchweitereTextezumThema empfohlen. Wir dankenfürMöglichkeitdenTextabdru-ckenzukönnen.

Hochschulpolitik

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KontrASt: Stell dich am besten erstmal kurz vor.

H.-J. Voß: Hallo, ich bin Heinz-Jürgen Voß. Ich studierte Dipl.-Biologie inLeipzigundDresdenund schloss dann einige Se-mester Geschlechterforschung,Philosophie und Sozialpolitik inGöttingen an. Interessiert undengagiert bin ich feministisch,gender-,queer-politisch,antiras-sistisch.Von�00�bis�009arbei-tete ich an meiner Dissertation,dieAnfang�010unterdemTitel„MakingSexRevisited:Dekons-truktiondesGeschlechtsausbio-logisch-medizinischer Perspekti-vegalsBucherscheinenwird.

KontrASt: Warum hast du ange-fangen dich für das Thema „Bi-ologisches Geschlecht“ zu inter-essieren?

H.-J. Voß: Das ist ein recht lan-gerWeg.Anfang�000warmeinComing Out, im Anschluss dar-an begann ich mich auch mitGender- und Queer-Theorien zubeschäftigen. Eigentlich weitge-hende Geschlechter-Egalität inmeiner Familie gewohnt, stießichbeimeinemBiologie-StudiumaufvielzugeschlechterdifferenteundsimpleErklärungen.Beson-ders im Gedächtnis ist mir eineVorlesung von Prof. Naumann

„Sexualität des Menschen g ge-blieben,inderer,obwohldasSe-minarwöchentlichstattfandundüber ein ganzes Semester ging,ausschließlich über Heterosexu-alitätsprachundwarumFrauendiesbesserkönntenundMännerjenes... So simpel können nichteinmalbiologischeTheorienvonGeschlecht sein – und es wur-debeimirderGedankestärker,mich stärker mit solchen Theo-rien zu beschäftigen. Der Wegindes war nicht so leicht: IchschriebeinExposé,dasauchim-merbesserwurde,abereineBe-treuungfürdieDissertationwarschwierigzufinden.

KontrASt: Du sagst, dass eine bi-ologische Einteilung in zwei Ge-schlechter („Mann“ und „Frau“) nicht sinnvoll ist und an der Rea-lität vorbei geht. Wie kommst du zu dieser These?

H.-J. Voß: Ich empfinde dieseThesealsselbstverständlich.MitderAufklärungundeineraufge-klärten Wissenschaft um 1800ging man von Erklärungen ab,dassallesirgendwieschondurcheinen Schöpfer-Gott vorgeformtsein sollte. Man ging zu ent-wicklungsgeschichtlichen Theo-rien über: Diese zeigten sich inTheorien der Erdentstehung, inTheorienderNeuentstehungvon

Arten, aber auch in Philosophieund Gesellschaftstheorien. FürGeschlecht relevant ist hiervon,dassvonGedankenabgegangenwurde, dass der Mensch – soauchdasGeschlecht–inEioderSamenvorgeprägtsei.Vielmehrging man dazu über Entwick-lungs- und Differenzierungspro-zesse zentral zu setzen, d.h. eswurdenunbeschrieben,dassauszunächst ungeformter MaterieüberEntwicklungs-undDifferen-zierungsprozesse geformte Ma-terie, der Organismus entstehe.Interessantistnunaneinemsol-chenProzessgedanken,dassderAusgang als offen angenommenwerden kann, dass vielfältigeEinflussfaktorenindenBlickrü-cken,dieaneinemsolchenPro-zess mitwirken. So ergibt sichals wahrscheinlichste Annahme,dasseinesolcheEntwicklungin-dividuell,variabelerfolgt.

DieGenetikistvoneinersolchenSicht abgegangen: Hier werdenfeste Strukturen angenommen(DNA,„Geneg),dieschondieIn-formationen fürMerkmalebein-halteten.DieMerkmalemüsstensichnurnochausbilden.Daswirdnicht der bisher beschriebenenKomplexitätgerecht:EswerdenvieleFaktorenderZelle,desOr-ganismus,derUmweltalsanderAusprägung von Genitalien be-teiligtbeschrieben.DNA,„Geneg „tragen g also keine Informa-tionen, sondern solche Informa-

Kein Geschlecht oder viele?Interview mit Heinz-Jürgen Voß zum Thema „Biologisches Geschlecht“

von JEns rösEmEiEr

Biologisches Geschlecht

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tionen entstehen erst innerhalbder Zelle, innerhalb des Orga-nismus,eingebundeninUmwelt,durchkomplexeProzesse!Das waren jetzt nur Argumentezu biologischen Theorien. Ichgehe davon aus, dass ohnehinweithin geteilt wird, dass „Ge-schlechtgeigentlicheinesozialeKategorie ist.So laufenaufdenStraßenMenschenmeistbeklei-det rum, die Kleidung, Gesten,„sich-Zurechtmacheng istdeut-lich geschlechtlich – „Frau goder „Mann g. Stets muss mansich geschlechtlich „weiblichg oder „männlich g zuordnen:so in Kaufhäusern, an Toilettenetc., in Ausweispapieren undFragebögen. Diskriminierungenfinden geschlechtlich ebensostatt:Wohldiedeutlichstensindunterschiedliche Bezahlungenund unterschiedliche beruflicheAufstiegschancen von „Fraueng und „Männern g, so sind aufden höchst dotierten Positionenin Politik, Wirtschaft und Wis-senschaft jeweils weniger als10% „Frauen g, hingegen mehrals90%„Männergzufinden.IneinerGesellschaftdiedermaßengeschlechtlich unterteilt ist esklar, dass auch biologisch-medi-zinischeTheoriengeschlechtlichunterteilen und ist es einleuch-tend,dasssichauchihreEintei-lungindiegesellschaftlichdomi-nant vorgenommene in „Frauengund„Männerg,„weiblichgund„männlichgfügt.Allerdingsfin-denzunehmendVerflüssigungenund Veruneindeutigungen statt:Menschen leben und lieben zu-nehmend geschlechtlich wie siees wollen, setzen sich bewusstvon Zweigeschlechtlichkeit ab.Das wird u.a. aus reicher wer-denden Subkulturen in Groß-städtendeutlich.

KontrASt: Gibt es unterschied-liche Definitionen und Mermale von Geschlecht in Biologie und

Medizin? Wenn ja, was sind diese Unterschiede?

H.-J. Voß: Biologie und Medizinerkennen vielfältige Merkmalevon Geschlecht. Am deutlichs-ten wird dies wohl dabei, dassmit so genannten Geschlechts-tests, bei denen das Geschlechteines Menschen bestimmt wer-den soll, Humangenetikerinnen,Endokrinologinnen, Internistin-nen, Gynäkologinnen, Psycho-loginnen, ggf. Gender-„Exper-tinnen g beschäftigt werden.Diesebestimmenlangwierigdasüberwiegende Geschlecht eines

Menschen. Ja, es geht stets umüberwiegendesGeschlecht–beijedemMenschen.Biologisch-medizinische Ge-schlechtertheorien waren histo-risch wechselhaft, gleichzeitiggabesstetsunterschiedlicheThe-orienvonGeschlecht,diemitein-ander„rangeng.AktuellwerdenChromosomen, Gene, Keimdrü-sen,Hormone,innereGenitalien,äußere Genitalien, soziale Ge-schlechterrolle und die eigent-liche Identität eines Menschenuntersucht. Je nach gewähltemMerkmalkommtmanbeiunter-schiedlichem Geschlecht raus.Mal istderMensch„weiblichg,bei Fokussierung eines anderenMerkmals„männlichg.

KontrASt: Gibt es in Medizin und Biologie auch Theorien, die nicht auf eine Zweigeschlechtlichkeit ausgerichtet sind?

H.-J. Voß: Die gesamten derzei-tigenForschungsergebnissesindnichtmitZweigeschlechtlichkeitvereinbar.VielmehrbemerktmaninAufsätzen,wiemühsamesfürBiologinnenundMedizinerinnenist,diegewonnenenErgebnisseindas Modell der Zweigeschlecht-lichkeit zu pressen. So gibt esnachäußeremErscheinungsbild„Männergmitalstypischweib-lich betrachtetem Chromoso-mensatz;diemeistenderalsbeider Geschlechtsentwicklung alsbedeutsambeschriebenen„Genegfindensichnichtaufdenoftpo-puläralsbedeutsamangesehenen„Geschlechtschromosomen g XoderY,sondernaufdenübrigenChromosomen, z.B. 1, 3, 9, 11,17; auch oft als „typisch weib-lich g und „typisch männlich gbeschriebeneHormonekommenbei allen Individuen vor, schei-nen insbesondere Funktionenbei Wachstum und Organent-wicklung vielfältiger Organe zuerfüllen. Hohe Konzentrationenbspw.anals„typischweiblichgbetrachteten Hormonen könnenbei Menschen vorkommen mitals „typisch weiblich g betrach-tetenErscheinungsbildoderbeisolchenmitals„typischmännlichg betrachteten Erscheinungs-bild. Nur in einem Fall werdendieKonzentrationenals„normalg beschrieben, in dem anderenals „unnormal g, pathologisch.In diesem Sinne sollte man aufjedenFallvonsolchenPathologi-sierungenweg–mitdiesenwirdMenschen eingeredet, sie seienkrankundauchfürwissenschaft-liche Betrachtungen ist solchschlichtes,unkomplexesDenkenhinderlich.

Antisexismus

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KontrASt: Du stellst des weiteren die These auf, dass nicht nur die Theorien über Geschlecht, son-dern auch die Körper selber in ihrer Materialität sozial konstru-iert sind. Könntest du dies näher erläutern?

H.-J.Voß:Daswirdvielleichtaneinem sportlichen Beispiel sehrdeutlich. Wir alle wissen, wieunterschiedlichnochdasderzei-tigeInteresseanFrauen-undanMännerfußball ist. Frauenfuß-ball – selbst die gerade vergan-geneEM–kommtzuschlechtenSendezeiten und dass obwohldie Frauen-NationalmannschaftderBundesrepublikDeutschlandseitJahrenweiterfolgreicherist,alsdiejenigederMänner.Sieisterfolgreicher,obwohlFrauenfuß-ballgesellschaftlichwenigeran-gesehenist,entsprechendkaumProfi-Fußballerinnen in dieserspielen(unddasimGegensatzzudemMännerfußball).Auseinemgeringen Ansehen eines Sportsund weiteren gesellschaft-lichen Vorannahmen, die zu ge-schlechtlich unterschiedlicherBehandlung führen, resultiert,dass Mädchen oft später mitFußball-Trainings beginnen, alses Jungen tun. Aus solchen Un-terschiedensozialerBehandlungsindauchUnterschiedeimSporterklärbar. Dass es solche Un-terschiede sozialer Behandlunggibt, wurde aus soziologischenUntersuchungendeutlich, inde-nen ein und dasselbe Kind dengleichenErwachseneneinmalalsJunge einmal als Mädchen vor-gestelltwurde.WurdedurchdieErwachsenenwenndasKindalsMädchen vorgestellt wurde, dieZartheitundHübschheitbetont,wurdedasselbeKindvondensel-ben Erwachsenen als Junge alsgroßundstrammbeschrieben.Anne Fausto-Sterling arbeite-te für Marathon die BedeutungvonTrainingsheraus:Seit auchFrauen zu Weltmeisterschaften

amMarathonteilnehmendurften(Jahr1964)hatsichderAbstandzwischendenBestleistungenvon„Männerngund„Frauengstarkverkürzt. Waren es 1964 nochknapp 1 1/� Stunden Abstand,sind es heute 10 Minuten. BeigleichersozialerErziehung,glei-chen Bewegungsspielräumen,die Mädchen schon von früherKindheit an zur Verfügung ste-hen,werden sichdieZeitenan-gleichen.Interessantauch:Auchein„Manngheutebenötigtdeut-lichwenigerZeitalsein„ManngvoreinigenJahren,Jahrzehnten.Insgesamt: Leistungen sind in-dividuell unterschiedlich, esgibt Menschen die dieses oderjenes besser können, der Leis-tungssport fasst nur für eineDisziplin sehr gute Menschen.Unterschiede indenLeistungenverschiedener sozialer Gruppenerscheinennur „natürlichg, sieunterliegen vielen sozialen Fak-toren,hieru.a.schonderEintei-lunginzweiGeschlechter.

KontrASt: Welche gesellschaft-lichen Möglichkeiten bietet deiner Ansicht nach die De-konstruktion von biologischen Geschlecht?

H.-J. Voß: Es gilt wahrzuneh-men, dass auch biologischesGeschlecht gesellschaftlich ge-macht wird. Biologisches Ge-schlecht resultiert aus den Be-schreibungen von Biologie undMedizin, die Bestandteile vonGesellschaft sind. Insofern istselbstverständlich, dass auchbiologisches Geschlecht nicht„natürlich g, im Sinne von un-hintergehbar, unabänderlich ist,sondern, dass sich jede Gesell-schaft ein eigenes Konzept vonbiologischem Geschlecht entwi-ckelnkann–odersieverzichtetganzaufeinsolchesKonzept.

KontrASt: Und als letzte Frage: Wozu tendierst du? Kein Ge-schlecht oder viele?

H.-J. Voß: Am Anfang des Inter-views verwies ich auf Prozesse,Entwicklungen die bedeutsamsind. Merkmale prägen sich in-dividuellunterschiedlichaus. IndiesemSinnelandenwirbeivie-len,individuellenGeschlechtern.Aber:WennwirmiteinemsolcheinfachenBegriffwie„GeschlechtggarnichtmehrdieseIndividu-alität von Merkmalen bezeich-nen können, sondern viel mehr,spezifischereBegriffebenötigen,um uns und ggf. einen anderenMenschenzubeschreiben,dannkann der Begriff „Geschlechtg entfallen. Er ist dann einfachgegenüberderVielfaltdieeszusagengiltnichtmehrzweckdien-lich,weilervielzuungenauist.Dann kann man einfach sagen,was, auch welche physischenMerkmale man mag, wen undwasmanbegehrt.Damitwerdensichauchmehr,differenziertere,reichere Wahrnehmungen jedesMenschenergebenkönnen–undmussmansichnichtmehrhintervermeintlichen sicheren Institu-tionenundKategorien–wie„Ge-schlechtg–verstecken.

Biologisches Geschlecht

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�901/2010

Antisexismus

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Wir möchten gerne, dass die KontrASt weiterhin reglemäßig erscheint und ne-benbei auch noch besser wird. Wie bisher werden wir dabei auf die freie Mitarbeit von euch, den talentierten, motivierten und kritischen Studierenden der Uni Han-nover angewiesen sein.Dafür müssen wir uns alle allerdings an eine gewisse Arbeitsteilung halten – denn bisher verwenden wir bei der Erstellung der KontrASt mehr Zeit und Energie als eigentlich nötig wäre, da wir uns immer wieder zeitraubend um Dinge kümmern müssen, die eigentlich noch Sache der Au-torInnen sind. In der Grafi k seht ihr unge-fähr, wie wir uns das vorstellen. Darüber hinaus bitten wir euch noch Folgendes zu beachten:

FormatWie ihr sehen könnt, hat die KontrASt ein eigenes Layout. Das heißt, dass eure eige-nen Formatierungen (Schriftarten, Absatz-formate, etc.) von uns sowieso geplättet werden – ihr könnt sie euch also sparen. Sucht euch ein Schreibprogramm aus und speichert die Sachen am besten im Rich-Text-Format (*.RTF). Eher ungeeignet sind *.DOC und das allseits beliebte *.PDF (Por-table Document Format: es ist dazu da, um formatierte Dokumente auszutauschen, ohne dass sich die Formatierung ändert – genau das brauchen wir hier nicht).

Zeichensetzung und AbsätzeViele Leute wissen gar nicht, dass sie mit dem Schreibprogramm ihrer Wahl mehr er-zeugen, als die Buchstaben auf dem Bild-schirm. Und doch ist es so. Drückt mensch zum Beispiel einmal auf die Leertaste, so erzeugt dies ein [Space]. Drückt mensch öfter hintereinander auf die Leertaste, so erzeugt dies viele [Spaces], die hinterher wieder in mühevoller Handarbeit beim Layout gelöscht werden müssen.

Das Drücken der [Return]-Taste erzeugt im Normalfall einen neuen Absatz – die meis-ten Leute drücken sie allerdings zwei mal und erzeugen so zwei neue Absätze, wo-durch auch wieder Nacharbeit nötig wird.

OrthographieOder vielleicht doch „Ortografi e?“ – Daran soll es nicht scheitern. Wünschenswert ist aber, dass ihr eure Artikel vor der Abgabe mit maschineller Hilfe korrigiert und von jemandem gegenlesen lasst. Es ist wirklich sehr zeitraubend, wenn wir das für euch machen müssen. Vor allem bei Copy-and-Paste-Orgien gestorbene Sätze sind nur schwer bis gar nicht wiederzubeleben.

Und das wichtigste zum Schluss

BilderZwar ist die KontrASt kein buntes Heft, dennoch aber irgendwie illustriert. Des-wegen hätten wir gerne zusammen mit eurem Artikel Bilder als Illustration oder einfach nur als Layoutmaterial. Am besten wären fünf bis zehn Bilder pro Artikel, da-mit wir auch ein bischen Auswahl haben. Die Bilder dürfen nicht zu klein sein, da die Aufl ösung beim Druck um einiges höher ist als z.B. auf dem Computerbildschirm. Wenn ihr das Bild auf dem Bildschirm auf ca. 25 % verkleinert, habt ihr ungefähr die maximale akzeptable Druckgröße vor euch – vergesst also die Bildersuche im Netz und holt eure Kamera raus. Falls ge-wünscht, könnt ihr auch Formulierungen für die Bildkommentare mitliefern – sonst lassen wir das weg oder denken uns ein-fach was aus...

Writing for KontrASt

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