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71 Ralf Reintjes, Ralf Reiche und Antoinette Wenk-Lang Das Gesundheitssystem: Der Markt und/oder staatliche Steuerung 1. Einleitung Sowohl in Nordamerika als auch in Europa wird Ineffizienz als das fuh- rende Problem der Gesundheitssysteme angesehen. Es scheint nicht zu gelingen, bei begrenzten Ressourcen die Gesundheitsgewinne zu maxi- mieren oder deren Kosten zu minimieren. Die Überwindung dieser Pro- blematik ist das primäre Ziel vieler Gesundheitsreformen. Es wird (vor allem von Politikern) oft behauptet, daß ein intensiver Einsatz markt- wirtschaftlicher Strukturen im Gesundheitssystem automatisch zu einer effizienteren Gesundheitsversorgung fuhre. Entsprechend nehmen gesundheitsökonomische Analysen in immer größer werdendem Maße Einfluß auf politische Entscheidungsprozesse. Mainstreamökonomen ignorieren dabei häufig fundamentale Beiträge ihrer Kritiker (siehe z.B. Hirsch 1977). Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über Prinzipien der Steue- rung von Gesundheitssystemen durch den Markt und durch den Staat. Er stellt die Lehrmeinung der Mainstreamökonomie dar und hinterfragt die Anwendung marktwirtschaftlicher Prinzipien auf den Gesundheits- bereich. 2. Ein kurzer Umriß verschiedener Gesundheitssysteme Die Systeme der USA, überwiegend marktwirtschaftlieh gesteuert, des britischen National Health Service (NHS), Paradebeispiel fur ein staat- liches System, und der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutsch- land enthalten allesamt sowohl staatliche als auch private (marktwirt- schaftliche) Anteile. Zwischen Leistungsanbietern (Ärzten, Kranken- häusern etc.), Nachfragern (Patienten, Versicherten) und Finanzierern (privaten oder gesetzlichen Versicherungen) existieren monetäre und nichtmonetäre Beziehungen. Übergeordnete Institutionen (Staat) üben regulierende Einflüsse aus (Abbildung I). JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 27

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71Ralf Reintjes, Ralf Reiche und Antoinette Wenk-Lang

Das Gesundheitssystem:Der Markt und/oder staatliche Steuerung

1. Einleitung

Sowohl in Nordamerika als auch in Europa wird Ineffizienz als das fuh-rende Problem der Gesundheitssysteme angesehen. Es scheint nicht zugelingen, bei begrenzten Ressourcen die Gesundheitsgewinne zu maxi-mieren oder deren Kosten zu minimieren. Die Überwindung dieser Pro-blematik ist das primäre Ziel vieler Gesundheitsreformen. Es wird (vorallem von Politikern) oft behauptet, daß ein intensiver Einsatz markt-wirtschaftlicher Strukturen im Gesundheitssystem automatisch zu einereffizienteren Gesundheitsversorgung fuhre. Entsprechend nehmengesundheitsökonomische Analysen in immer größer werdendem MaßeEinfluß auf politische Entscheidungsprozesse. Mainstreamökonomenignorieren dabei häufig fundamentale Beiträge ihrer Kritiker (siehe z.B.Hirsch 1977).

Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über Prinzipien der Steue-rung von Gesundheitssystemen durch den Markt und durch den Staat.Er stellt die Lehrmeinung der Mainstreamökonomie dar und hinterfragtdie Anwendung marktwirtschaftlicher Prinzipien auf den Gesundheits-bereich.

2. Ein kurzer Umriß verschiedener Gesundheitssysteme

Die Systeme der USA, überwiegend marktwirtschaftlieh gesteuert, desbritischen National Health Service (NHS), Paradebeispiel fur ein staat-liches System, und der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutsch-land enthalten allesamt sowohl staatliche als auch private (marktwirt-schaftliche) Anteile. Zwischen Leistungsanbietern (Ärzten, Kranken-häusern etc.), Nachfragern (Patienten, Versicherten) und Finanzierern(privaten oder gesetzlichen Versicherungen) existieren monetäre undnichtmonetäre Beziehungen. Übergeordnete Institutionen (Staat) übenregulierende Einflüsse aus (Abbildung I).

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Kennzeichen exemplarischer Gesundheitssysteme:

A.Das U.S. amerikanische System - alle Macht der Privatwirtschaft?überwiegend marktwirtschaftliehe Steuerung;sehr hohe Leistungsfähigkeit in Teilbereichen;

- sehr hohes Kostenniveau;etwa ein Drittel der Bevölkerung ist nicht bzw. unterversichert.

B. Das englische System (der NHS) - alle Macht dem Staat?Staatssteuerung, Finanzierung aus Steuermitteln;

- alle Bürger sind über den NHS abgedeckt, aber großer Zusatz-versicherungsmarkt (momentan ea. 13%), Wartezeiten, Leistungs-ausschlüsse;

- niedriges Kostenniveau;durch Reform seit 1991 gestiegener Verhandlungsspielraum undmehr Markt (Dixon 1994).

C. Das deutsche System - alle Macht den Verbänden?- verbandliehe Steuerung über öffentlich-rechtliche Institutionen,

Beitragsfinanzierung;- fur 90% der Bürger ist das Risiko über die gesetzliche Krankenver-

sicherung abgedeckt;mittleres Kostenniveau;

- durch Reformen GRG (1988) und GSG (1992) mehr Markt(Kassenwahlrecht), aber auch mehr staatliche Eingriffe (Budgets).

Regulierende InstttutlonenAbbildung IAufbau eines beliebigenGesundheitssystems

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Obwohl die Amerikaner weit mehr für die Krankenversorgung ausgebenals die Europäer, bleibt ein Großteil der amerikanischen Bevölkerungunversichert. Zwischen quantitativem Leistungsumfang und Qualitätder Versorgungssysteme gibt es kein festes Verhältnis.

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3. Was ist der Markt und warum erscheint er so wunderbar?

Wettbewerb ist unter marktwirtschaftliehen Bedingungen der (stetseinzelwirtschaftliche, -privatec) Versuch, Kapital, das in Sachanlagen,Arbeitskräften, Wissen usw. gebunden ist, in Geld zu verwandeln, umdie in der Produktion angeeignete Arbeit als Gewinn zu realisieren.Anbieter versuchen, durch verbesserte Qualität ihrer Leistungen unddurch kostengünstigere Produktionsweisen ihre Absatzchancen zu ver-bessern. Neue Wettbewerber drängen solange in ein Marktsegment, bishier keine größeren Gewinne mehr erzielbar sind als auf anderen Märk-ten. Durch Selektionsprozesse scheiden leistungsschwache Anbieteraus. Der Wettbewerb steuert im theoretischen Modell diese Prozesse so,daß daraus eine bestmögliche Versorgung mit Dienstleistungen bzw.Gütern resultiert. Er führt zugleich zur Erschließung von vorhandenenWirtschaftlichkeitsreserven. Entsprechend dem Konstrukt des »homooeconornicus«, einem stets nach einzelwirtschaftlich rationalen Moti-ven handelnden Individuum, sollen Menschen grundsätzlich egoistischund nicht altruistisch handeln. Der Markt bietet dabei ein adäquates An-reizsystem fur alle Beteiligten. Bei Nichtanpassung drohen Sanktionen.Die Individuen sollen dabei über maximale Entscheidungsfreiheit undHandlungsspielräume verfügen. Da sich das Wissen der Individuennicht zentralisieren läßt und der Einzelne seine Bedürfnisse am bestenkennt, soll der Wettbewerb als Such- und Entdeckungsverfahren dergeeignetste Mechanismus zur Bedürfnisbefriedigung darstellen. Eineeffiziente Güterverteilung ergibt sich hiernach also zwangsläufig dar-aus, daß alle auf dem Markt ihre jeweiligen Interessen verfolgen. DieseVerteilung gilt dann als perfekt oder »Pareto-optirnal«, wenn sich nie-mand verbessern kann, ohne daß die Situation für einen anderen ver-schlechtert wird (McGuire et al. 1994).

In einem »perfekten Markt« soll sich dieses Optimum von selbst ein-stellen. Der Markt erscheint somit als ein einfacher, perfekter Weg zurVerteilung von Ressourcen. Von seiten der Ökonomen wird behauptet,daß eine wettbewerbliehe Marktorganisation bei richtig gesetzten staat-lichen Rahrnenbedingungen alle Beteiligten zu sparsamem Umgang mitknappen Gütern zwingt, für Preisdruck sorgt und voc dem Mißbrauchwirtschaftlicher Macht schützt. Sie führe zu Effizienzsteigerungen,durch die alle beteiligten Parteien gewinnen könnten. Es gibt jedocheine Anzahl von teilweise nur sehr schwer vereinbaren Voraussetzun-gen, die erfüllt werden müssen, damit die »unsichtbare Hand« desMarktes (Smith 1776) arbeiten kann. Die wichtigsten Voraussetzungenfur einen »perfekten Markt« sind:

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I. Perfekte Information bzw. vollkommene Markttransparenz, d.h. um-fassendes Wissen über Preise, Produkte und Einflußfaktoren auf denKonsum oder Nicht-Konsum eines Produktes.

2. Perfekter Wettbewerb mit freiem Zutritt zum Markt für Produzentenund Verbraucher, so daß keine Monopolkräfte entstehen können. Dasheißt, daß keine Barrieren wie zum Beispiel lange Ausbildungs- oderQualifikationszeiten sowie hohe Investitionen für Anbieter bestehendürfen.

3. Homogenität der Güter ohne räumliche, sachliche oder zeitliche Spe-zialisierung der Produzenten, keine »zusätzlichen« persönlichen Prä-ferenzen oder Bedürfnisse der Verbraucher.

4. Die Abwesenheit von Externalitäten oder öffentlichen Gütern, d.h. esbestehen keine Kosten oder Gewinne, für die im Markt nicht bezahltoder kompensiert wird.

4. Der Gesundheitsmarkt

Grundsätzlich muß festgestellt werden, daß diese idealtypischen Vor-aussetzungen für keinen Markt erfüllt sind. Für den Gesundheitsbereichgelten zudem noch einige Besonderheiten. Beschreibungen grundle-gender Marktfehler in der Gesundheitsversorgung haben viele Ökono-men über Jahrzehnte daran zweifeln lassen, ob ein Wettbewerb imGesundheitssystem überhaupt funktionieren kann. Beispiele hierfürwerden im Folgenden dargestellt:

4.1 Informationsprobleme

(a) Patienten wollen Gesundheit, wissen jedoch aus Mangel an medizini-schem Wissen nicht, wonach sie konkret verlangen sollen (mangelndeKonsumentensouveränität). Sie können die Qualität nicht überprüfen undwerden sich nicht nach Preis und Qualität vergleichend umschauen. Eskommt nicht zu einem normalen Wettbewerb. Der Arzt agiert als Ratge-ber und Verkäufer zugleich. Es ist daher nicht in jedem Fall sicher, ob erein perfekter Ratgeber ist. Seine Vorlieben und Interessen können einwir-ken und einen von ihm als Produzenten induzierten Bedarf (supplierinduced demand) erzeugen (DonaldsonJGerard 1993). Der Arzt strebtu.u. danach, die Nachfrage nach Leistungen auszudehnen, womit einhöheres Einkommen verbunden sein kann. VomArzt wird eine doppelteLoyalität, sowohl dem Patienten als auch den Kassen gegenüber, erwartet.Das kann zu ineffizientem Gebrauch von Gesundheitsleistungen, zuÜber- bzw. Unterversorgung und Kostensteigerung beitragen.

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(b) Unsicherheiten, Risiken und Informationsungleichgewichte sindein großes Problem im Gesundheitssystem. Zeitpunkt und Umfang desAuftretens von Kosten sind ungewiß. Krankenversicherungen müssenzumindest ihre Kosten decken. Um dieses zu erreichen, werden Prämienfür Versicherte entsprechend bestimmter Charakteristika der Versiche-rungsnehmer sowie der zu erwartenden Behandlungskosten festgelegt.Eine Krankenkasse, die Risikopersonen aus ihrem Klientel fernhaltenkann, verbessert ihre Chancen am Markt mehr als durch eine qualitativhochwertige Versorgung aller Versicherten. Ein solches» Rosinenpicken«muß nicht explizit sein, führt in einem hauptsächlich marktwirtschaft-lieh organisierten System ohne Solidarität aber gleichwohl dazu, daßHochrisikopersonen nicht versichert werden (Angell/Kassirer 1996).

In einer komplexen Welt der Arbeitsteilung herrschen Ungewißheitund Unsicherheit. Ein Teil des Informationsproblems ist die Unsicher-heit der Nachfrage. Unter diesen Bedingungen erwarten Ökonomen,daß ein asymmetrischer Markt entsteht. Eine Asymmetrie von Informa-tionen kann zu Selektion und zu lückenhafter Versorgung der Bevölke-rung führen (adverse selection) (Scheffier 1989). Ein weiteres Problemsehen Markttheoretiker im sogenannten »rnoral hazard«. Knapp gesagtist damit gemeint: Individuen neigen zu übermäßiger Nachfrage vonGesundheitsleistungen, wenn sie im Krankheitsfall nicht mit individu-ellen Kosten belastet werden und sie stattdessen auf eine volle Abdek-kung ihrer individuellen Nachfrage durch die umlagefinanzierte Versi-cherung (die »Allgemeinheit,,) vertrauen können (LeGrand/Bartlett1993). Es wird unterschieden zwischen moral hazard ex ante (gesund-heitsschädliches Verhalten) und moral hazard ex post (erhöhte Leistungs-inanspruchnahme). Ökonomen gehen davon aus, daß der Einzelne hier-bei immer »rational«, d.h. egoistisch, handelt (Andersen 1992). Im Falledes Gesundheitswesens führt dies aber zu einer Schädigung des Ge-samtsystems durch steigende Prämien. .

4.2 Wettbewerbsverzerrung

In einigen Bereichen des Gesundheitssystems bestehen monopolisti-sche Kräfte. Diese kommen vor allem dann vor, wenn Barrieren zumEintritt in der Markt bestehen (z.B. Krankenhauspläne, KV-Zulassungen§ 102 SGB V, Numerus clausus). Monopolistische Kräfte können zuverminderter Qualität und zu hohen Preisen führen. Die Idee einesWettbewerbsmarktes fordert nicht unbedingt viele Anbieter, jedochpotentiellen Wettbewerb durch einfachen Eintritt in den Markt (z.B.Praxiseröffnung) und Austritt aus ihm (z.B. Krankenhausschließung).

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Eine Marktvorherrschaft wird im Gesundheitsbereich häufig erleich-tert, vor allem wenn Leistungserbringer regional begrenzt sind (z.B.Krankenhäuser).

4.3 Heterogenität von Gesundheitsleistungen

Gesundheitsversorgung besteht aus heterogenen Gütern und setzt sichaus vielen unterschiedlichen Dienstleistungen zusammen. Es herrschenräumliche, zeitliche und sachliche Differenzierungen bzw. Spezialisie-rungen vor (z.8. verschiedene Facharztdisziplinen), die freien Wettbe-werb verhindern. Patienten haben zudem »außerökonomische« persön-liche Präferenzen.

4.4 Externalitäten

Ein Beispiel für positive Externalitäten bieten infektiöse Krankheiten.Dem Individuum entsteht ein persönlicher Nutzen durch Impfungen.Durch ein verringertes Übertragungsrisiko profitiert auch die gesamteGesellschaft (Steigerung der Herdimmunität). Positive Externalitätenwerden von Individuen häufig zu wenig konsumiert (siehe Impfmüdig-keit der Bevölkerung). Negative Externalitäten kann z.B. die Senkungder Verweildauer im Krankenhaus nach sich ziehen, wenn die vermin-derten betrieblichen Kosten woanders wieder, etwa in Form erhöhtenPflegeaufwandes in der Familie des Patienten, auftauchen.

Es ist noch auf zwei essentielle Nachteile reiner Marktsysteme hinzu-weisen. Im Markt entscheidet die Fähigkeit bzw. der Wunsch zu bezah-len darüber, wer Gesundheitsversorgung erhält. Jedoch ist die Fähigkeitzu bezahlen nicht notwendigerweise mit Bedarf verbunden. Oft habenAngehörige niedriger sozialer Schichten einen erhöhten Bedarf anGesundheitsleistungen. Daher ist eine dem Markt folgende Verteilungnicht als gerecht anzusehen. Weiterhin hat Gesundheit zum Teil denCharakter eines öffentlichen Gutes. Für solche sind aber auf Märktenkeine Preise zu erzielen. Beispielsweise wird kein Anbieter freiwilligGrundlagenforschung betreiben oder gratis Notfalldienste anbieten.

Ein entscheidender Fehler der Markttheorien ist der, daß sie sich le-diglich auf die Tausch- und Verteilungssphären beschränken. Solangeüber Markt gesprochen wird, sind alle Teilnehmer gleich, in der Arbeitbestehen jedoch große Unterschiede zwischen Eigentümern, staatlichenLeitern, abhängig Ausführenden oder - bei personenbezogenen Dienst-leistungen - sArbeitsgegenständenc (Patienten). Kranke können wederkritische Kunden noch gleiche Geschäftspartner sein. Am Markt müssen

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sie jedoch -gleich- sein (Angell/Kassirer 1996). Aus all diesen Anmer-kungen wird erkennbar, daß rein marktwirtschaftliehe Systeme im Be-reich der Gesundheitsversorgung schon unter Modellbedingungenscheitern werden. Es ist daher ein dritter Akteur gefragt: der Staat.

5. Regulierung des Gesundheitsmarktes

Staatliche Regulierungen können versuchen, die nötigen Voraussetzun-gen für ein Funktionieren des Marktes zu schaffen und gleichzeitigseine unerwünschten Effekte zu limitieren. Dieses sollte jedoch mit Vor-sicht geschehen, da auch hierbei Fehler entstehen (Staatsversagen). AlsBeispiel sei auf die staatlichen Regulierungen hingewiesen, die zuEintrittsbarrieren in den Markt führen, vorhandene Leistungsanbieterschützen und somit monopolistische Strukturen schaffen (z.B. Nieder-lassungssperre). Krankenhäuser sind häufig sehr bürokratisch, bietenden Konsumenten wenig Wahl. Ein Markt von im Wettbewerb stehen-den Gesundheitsversorgern muß gesteuert werden, da ohne gewissen-haft gestaltete Regeln und ohne aktives gemeinsames Management aufder Nachfrageseite die Anbieter zu Wettbewerbsstrategien greifen könn-ten, die die primären Ziele einer gerechten Verteilung und Effizienz zer-stören würden. Die Gefahr steckt latent in der Privatisierung von Teilendes Systems, die ohne staatliche Einflußnahme zur Rosinenpickerei undohne kontrollierte Finanzierungsmodalitäten ebenfalls zu enormer Bü-rokratisierung führt, Leistungserbringer müssen unter diesen Bedingun-gen nicht unbedingt effizienter werden. Effizienzsteigerung kann derschwierigste und am wenigsten profitable und deshalb vermiedene Wegsein, auf Wettbewerb zu reagieren. Wettbewerb hat für die Solidarge-meinschaft nur dann einen Sinn, wenn er die Effektivität erhöht und dendazu notwendigen Ressourceneinsatz senkt (z.B. durch Reorganisation)(Light 1995). Es sind jedoch einfachere, profitablere Handlungsweisenwahrscheinlicher:

Vermeiden von Wettbewerb durch Ausweichen in Marktnischen;- Schaffung und Definition von zusätzlichem Bedarf durch medizini-

sche Innovation;- Konzentration auf profitable Dienstleistungen;- Konzentration auf gesündere Patienten oder solche mit akut behan-

deibaren Beschwerden;- Überweisung oder Vermeidung der Behandlung kostenintensiver und

schwieriger Patienten.Die Anbieter neigen auf den eigenen Absatzmärkten gerne zu Wettbe-werbsbeschränkungen, wohingegen sie auf den Beschaffungsmärkten

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lebhaften Wettbewerb begrüßen. Da aber andererseits bei nicht gewähr-leistetem vollständigem Wettbewerb Marktversagen droht, müssen sichdie staatlichen Eingriffe auf das Notwendigste beschränken, um nichtMarktversagen gegen Staatsversagen einzutauschen. Das Ziel staatlichenHandeins sollte darin liegen, ein Netz ökonomischer Konkurrenz-beziehungen zu knüpfen, das einen Anreiz zu wirtschaftlicherem Ange-bot von und zu sparsamerer Nachfrage nach medizinischen Dienstlei-stungen und Waren schaffen soll. Das Arzt-Patienten- Verhältnis solltedahingehend verändert werden, daß die Position der Patienten gestärktwird. Informationsprobleme, monopolistische Marktstrukturen, Extern-alitäten und Gerechtigkeitsbedenken sind die Hauptgründe und Recht-fertigungen für staatliches Eingreifen in vorhandene Marktmechanis-men. Jedoch sowohl Markt als auch Staat machen Fehler. Die Fragekann also nicht sein, welches der beiden Extreme zu bevorzugen ist,sondern vielmehr, wie eine gute Mischung erreicht werden kann. Durcheine Kombination beider Steuerungskomponenten kann versucht wer-den, das Ausmaß der Nachteile zu minimieren.

6. Instrumente staatlicher Steuerungspolitik

Die staatlichen Regulationsmöglichkeiten lassen sich nach ihremNiveau oder nach Art und Wirkungsebene der Steuerungsinstrumenteunterscheiden. Bei der Einteilung nach verschiedenen Niveaus könnendie Eingriffsmöglichkeiten hierarchisch von leichten Eingriffen bis zurvollen staatlichen Einflußnahme gegliedert werden:

1. Regulierung: Um Qualität zu garantieren, kann der Staat medizini-sche Qualifikationen und Lizenzen regulieren. Ebenso können Mo-nopole beobachtet und reguliert werden.

2. Subventionen und Steuern: Um das Gerechtigkeits- und Externali-tätenproblem zu lösen, können Steuern und Subventionen eingeführtwerden.

3. Leistungserbringung/Versorgung: Zur Beseitigung von Über- undUnterversorgung, ineffizienter Nutzung und Ungerechtigkeit kannder Staat selber Gesundheitsleistungen erbringen oder bestimmte Or-ganisationsstrukturen vorschreiben.

All diese Steuerungsmechanismen werden in unterschiedlichem Aus-maß in allen Gesundheitssystemen verwendet, wobei im britischen NHSdie Instrumente 2 und 3 stärker genutzt werden, als im US-amerikani-sehen Gesundheitssystem der Fall ist. Die Steuerungsinstrurnente können

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Der Markt und/oder staatliche Steuerung 79weiterhin nach zwei Gesichtspunkten differenziert werden: zum einennach der Art der Steuerung (Mengensteuerung, Preissteuerung, Steue-rung durch Informationen, globale Maßnahmen), zum anderen nachihrer Wirkungsenene (Angebotsseite, Nachfrageseite). Je nach Kombi-nation von Instrumenten und Wirkungsebenen bestehen somit eineVielzahl von Steuerungsmöglichkeiten.

Zum Teil wird jedoch auch die Meinung vertreten, daß die Beziehungzwischen Arzt und Patient in keinem Fall eine Marktbeziehung seinsollte, unter anderem weil in zivilisierten Gesellschaften zumindestAkutkranken ein besonderes Schutzbedürfnis zugestanden wird, dasunverträglich sei mit der Zumutung, ausgerechnet im Krankheitsfall als»kritischer Kunde« die Arbeit eines Marktteilnehmers verrichten zumüssen (Kühn 1996).

7. Resümee

In der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Diskussion wird von ver-schiedenen Seiten häufig behauptet, die Gesundheitspolitik habe sichder Standortpolitik unterzuordnen. Die gesamte Wettbewerbsdiskussionwird unter dem »Damoklesschwert« restriktiver ökonomischer Vorgabengeführt, die mit dem Hinweis auf die vermeintliche Gefährdung des»Wirtschafts standortes Deutschland« legitimiert werden. Dabei avan-ciert die Orientierungsgröße »Beitragssatzstabilitität« zum entschei-denden Erfolgskriterium gesundheitspolitischer Reformanstrengungen.In Europa sind vor allem die folgenden drei Entwicklungen zu beobach-ten: Eine Zunahme von Zuzahlungen durch Patienten, mehr Wettbewerbund steigende Anteile von Privatisierung. Ein Aufsplittern in Basis- undZusatzleistungen, wie es aktuell diskutiert wird, wird letztendlich zueiner Zwei-Klassen-Medizin führen, ein Ergebnis, das sicherlich nichterstrebenswert ist und das das Solidarprinzip als tragenden Grundpfei-ler der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu unterminierendroht. Wo letztlich die Schmerzgrenze des Einzelnen liegt, der als höch-stes Gut stets seine Gesundheit angibt, kann nicht beantwortet werden.Eine Analyse der tatsächlichen Ausgabenentwicklung in der GKV zeigt,daß das Finanzierungsproblem (das in erster Linie ein Einnahmen-problem ist) grob verzerrend dargestellt wird und mit dem Begriff »Ko-stenexplosion« unzureichend bis irreführend bezeichnet ist (Stegmüller1996). Unter dem gleichwohl relevanten Gesichtspunkt vermeidbarerAusgaben sind insbesondere die unzureichende präventive Orientie-rung in der Arbeits-, Lebens- und Umwelt, das Übermaß an Medikali-sierung, Spezialisierung und Technisierung sowie die Vernachlässigung

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der psychosozialen Aspekte des Krankseins zu bedenken. Eine wirkungs-volle Bearbeitung dieser Defizite könnte nicht nur zu einer Verbesse-rung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung, sondern auchzur Beseitigung bestehender kostentreibender Unwirtschaftlichkeitenbeitragen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß eine alleinige Ausrichtung aufden Markt im Gesundheitsbereich fehlschlagen muß. Staatliche Eingrif-fe sind gefordert. Das andere Extrem, eine rein staatliche Steuerung desGesundheitssystems, würde ebenfalls fehlschlagen. Eine mögliche Lö-sung ist in einer Kombination beider Steuerungsmechanismen zu ver-muten. Dies spiegelt sich wider in der gegenwärtigen Entwicklung un-terschiedlichster Gesundheitssysteme in Richtung auf ein gesteuertesmarktwirtschaftliches Wettbewerbsmodell (Enthoven 1980, 1988) bzw.auf omanaged competition« und »Quasi-Märkte« (Preise sind nicht dasErgebnis von Individualverträgen, sondern von Kollektivverhandlun-gen) (LeGrandiBartlett 1993). Im deutschen System besteht das Spezi-fikum in der Steuerung auf der Ebene der Verbände, der gemeinsamenSelbstverwaltung. Korporatistische Steuerung hält stets am status quofest (»Verwalten des Bestehenden«) und besitzt durch kollektive Verein-barungen nur wenig Anpassungspotentiale. Es bestehen teilweise wider-sprüchliche Tendenzen: einerseits die KVen aufzulösen, um mehr Wett-bewerb zu ermöglichen, andererseits aber auch die Bestrebung, Kran-kenhausgesellschaften zu »verkörperschaftlichen« und damit ein neuesMonopol zu schaffen. Es ist nicht einfach, die richtige Mischung ausMarkt und Steuerung zu finden. Durch eine ausgewogene Kombinationkann jedoch neben einer Kostensenkung und Effektivitätssteigerungauch eine Qualitätsverbesserung und eine patientengerechtere Medizinerreicht werden.

Bei der allgemeinen Diskussion um Markt oder Staat darf nicht verges-sen werden, daß es primär um eine adäquate Versorgung, um die Gestal-tung von Strukturen, um Integration und Kooperation zur Sicherung derBehandlungskontinuität, um Angebote zur positiven DiskriminierungBenachteiligter und vieles mehr geht. Für das ganze Feld des eigentlichenVersorgungsgeschehens ist in der gängigen Marktthorie jedoch kein Platzvorgesehen. Es sind dies die »Privatangelegenheitenc autonomer Markt-subjekte. Steuerungsmedien wie Partizipation, Demokratie oder Re-gionalisierung werden nicht berücksichtigt. Ob wir das wollen, ist einemoralische Entscheidung, deren soziale Abstimmung nicht dem Markt,sondern der demokratischen Politik überlassen werden sollte. Es ist ander Zeit, gesundheitspolitische Entscheidungen zu hinterfragen undsich nicht einseitig von der Wettbewerbsideologie leiten zu lassen.

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KorrespondenzadresseDr. Ralf ReintjesRijksinstituut vor Volksgezondheit en Milieuhygiene

Antonie van LeeuwenhoeklaanNL 2720 Bilthoven

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Literaturverzeichnis

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