Das Janusgesicht der Religion.Das Janusgesicht der Religion.

Zur Evolution von Religionen Zur Evolution von Religionen und den evolutionären Chancen eines aufgeklärten und den evolutionären Chancen eines aufgeklärten

HumanismusHumanismus

Gerhard Schurz (Universität Düsseldorf)Gerhard Schurz (Universität Düsseldorf)

1. Die evolutionäre Nachhaltigkeit der Religion1. Die evolutionäre Nachhaltigkeit der Religion

  

Das Ausgangsproblem: Das Ausgangsproblem: wie kommt es, dass nach Tausend Jahren des wie kommt es, dass nach Tausend Jahren des Erfolges von wissenschaftlich-technischen Weltauffassungen Erfolges von wissenschaftlich-technischen Weltauffassungen (Erkenntnissystemen) und Widerlegungen religiöser Weltauffassungen, (Erkenntnissystemen) und Widerlegungen religiöser Weltauffassungen, die große Mehrheit der Menschen immer noch an Religionen festhält?die große Mehrheit der Menschen immer noch an Religionen festhält?

Warum trifft man Religionen in allen Menschenkulturen an, von Jäger- Warum trifft man Religionen in allen Menschenkulturen an, von Jäger- und Sammlerkulturen bis zur modernen High Tech Zivilisation?und Sammlerkulturen bis zur modernen High Tech Zivilisation?Bedeutung der Religion hat auch in modernen Gesellschaften kaum Bedeutung der Religion hat auch in modernen Gesellschaften kaum nachgelassen!nachgelassen! Agrarisch IndustriellAgrarisch Industriell Postindustriell Postindustriell

Glaube an Gott: Glaube an Gott: 91% 91% 80%80% 79%79%

Suche nach einer Antwort auf Grundlage der verallgemeinerten Suche nach einer Antwort auf Grundlage der verallgemeinerten Evolutionstheorie (Dawkins et al.):Evolutionstheorie (Dawkins et al.):

Evolution beschränkt sich nicht auf die biologische Ebene der Evolution beschränkt sich nicht auf die biologische Ebene der GeneGene. .

Es gibt unabhängigeEs gibt unabhängige Ebene Ebene der kulturellen Evolution von 'Memen'. der kulturellen Evolution von 'Memen'.

Reproduktion, Variation & SelektionReproduktion, Variation & Selektion

(Kein Gesetz der „Höherentwicklung“) (Kein Gesetz der „Höherentwicklung“)

1. Die evolutionäre Nachhaltigkeit der Religion1. Die evolutionäre Nachhaltigkeit der Religion

  

Das Ausgangsproblem: Das Ausgangsproblem: wie kommt es, dass nach Tausend Jahren des wie kommt es, dass nach Tausend Jahren des Erfolges von wissenschaftlich-technischen Weltauffassungen Erfolges von wissenschaftlich-technischen Weltauffassungen (Erkenntnissystemen) und Widerlegungen religiöser Weltauffassungen, (Erkenntnissystemen) und Widerlegungen religiöser Weltauffassungen, die große Mehrheit der Menschen immer noch an Religionen festhält?die große Mehrheit der Menschen immer noch an Religionen festhält?

Warum trifft man Religionen in allen Menschenkulturen an, von Jäger- Warum trifft man Religionen in allen Menschenkulturen an, von Jäger- und Sammlerkulturen bis zur modernen High Tech Zivilisation?und Sammlerkulturen bis zur modernen High Tech Zivilisation?

Bedeutung der Religion hat auch in modernen Gesellschaften kaum Bedeutung der Religion hat auch in modernen Gesellschaften kaum nachgelassen!nachgelassen!

Suche nach einer Antwort auf Grundlage ist die verallgemeinerte Suche nach einer Antwort auf Grundlage ist die verallgemeinerte Evolutionstheorie (Dawkins et al.):Evolutionstheorie (Dawkins et al.):

Evolution beschränkt sich nicht auf die biologische Ebene der Evolution beschränkt sich nicht auf die biologische Ebene der GeneGene. .

Es gibt unabhängigeEs gibt unabhängige Ebene Ebene der kulturellen Evolution von 'Memen'. der kulturellen Evolution von 'Memen'.

Reproduktion, Variation & SelektionReproduktion, Variation & Selektion

(Kein Gesetz der „Höherentwicklung“) (Kein Gesetz der „Höherentwicklung“)

Die evolutionäre Antwort auf unsere Frage:Die evolutionäre Antwort auf unsere Frage: weil die Selektionskriterien weil die Selektionskriterien für Meinungssysteme nicht nur mit empirischer Bestätigung & für Meinungssysteme nicht nur mit empirischer Bestätigung & Wahrheitsnähe zu tun haben. Wahrheitsnähe zu tun haben.

Aber womit dann? Aber womit dann? Multiple Selektionsgründe: Multiple Selektionsgründe:

Beibehaltunggründe versus EntstehungsgründeBeibehaltunggründe versus Entstehungsgründe

2. Beibehaltungsgründe: 2. Beibehaltungsgründe: der verallgemeinerten Placebo-Effekt der verallgemeinerten Placebo-Effekt

Kernthese der Aufklärung: Kernthese der Aufklärung: Gesichertes Wissen als Schlüssel zur Gesichertes Wissen als Schlüssel zur Erreichung praktischer ZieleErreichung praktischer Ziele

Placebo-Effekte liegen jenseits der Aufklärungsrationalität. Placebo-Effekte liegen jenseits der Aufklärungsrationalität.

Sie schließen die Methode der kritischen Überprüfung aus.Sie schließen die Methode der kritischen Überprüfung aus.

Placebo Effekte Wahrheitseffekte

Subjekt Externe Realität

Effekte glaubensbasierter Handlungen

Glaubens- system

Übereinstim- mungsgrad

Beispiele des Placebo-Effektes in derBeispiele des Placebo-Effektes in der

MediziMedizin (Placebo-Pillen; erhöht Abwehr- und Heilungskräfte) n (Placebo-Pillen; erhöht Abwehr- und Heilungskräfte) kognitiven Psychologiekognitiven Psychologie (overconficence, (overconficence, self-righteous bias, self-righteous bias, selective memory) selective memory) mental health Psychologiemental health Psychologie ('positive thinking') ('positive thinking')

S. E. Taylor (1989): 'Positive Illusions' S. E. Taylor (1989): 'Positive Illusions' psychologische Evidenzen psychologische Evidenzen

Religiöser Glaube hat massive Placebo-EffekteReligiöser Glaube hat massive Placebo-Effekte

2.1. Placebo-Effekte für das Individuum: 2.1. Placebo-Effekte für das Individuum:

E. Topitsch 1979: E. Topitsch 1979: plurifunktionale Sinnorientierung bzgl. Wahrem, Gutem bzgl. Wahrem, Gutem und Schönen und Schönen

Jenseitsglaube spendet Trost. Verspricht Kompensation erlittenen Leides. Leidensbewältigung. Bewältigung der Erfahrung des Todes. (K. Marx: 'Opium des Volkes')

Selbstvertrauen erhöht soziale Attraktivität: Koevolution vonSelbstvertrauen erhöht soziale Attraktivität: Koevolution von Selbsttäuschung und Fremdtäuschung. Selbsttäuschung und Fremdtäuschung.

2.2 Placebo-Effekte für die Solidarität & Kooperativität in der Gruppe:2.2 Placebo-Effekte für die Solidarität & Kooperativität in der Gruppe:

2.2 Placebo-Effekte für die Solidarität & Kooperativität in der Gruppe:2.2 Placebo-Effekte für die Solidarität & Kooperativität in der Gruppe:

Ausgangsproblem:Ausgangsproblem: evolutionäre Stabilisierung von sozialer Kooperation. evolutionäre Stabilisierung von sozialer Kooperation. Freiwilliger Altruismus zu instabil (Betrügerproblem). Freiwilliger Altruismus zu instabil (Betrügerproblem). Soziale Kontrolle durch Bestrafungs- und Belohnungssystem wirksamer Soziale Kontrolle durch Bestrafungs- und Belohnungssystem wirksamer (vgl. Ö. Gürek et al., Science 2006).(vgl. Ö. Gürek et al., Science 2006).

D. S. Wilson (2002) 'Darwin's Cathedral': D. S. Wilson (2002) 'Darwin's Cathedral': Religiöser Glaube stabilisiert soziale Kooperation. Religiöser Glaube stabilisiert soziale Kooperation. Legitimation sozialer Ordnung & Hierarchie Legitimation sozialer Ordnung & Hierarchie (Erwartung jenseitiger Vergeltung). (Erwartung jenseitiger Vergeltung). Umso bedeutender je höher Armut & Elend Umso bedeutender je höher Armut & Elend (Notwendigkeit gegenseitiger Hilfeleistung).(Notwendigkeit gegenseitiger Hilfeleistung).

Gruppenselektion: Gruppenselektion: Religion bewirkt Selektionsvorteil gegenüber Religion bewirkt Selektionsvorteil gegenüber rivalisierenden Gruppen. rivalisierenden Gruppen. Problem: Problem: erhöht und stabilisiert Feinschaft zwischen Gruppen.erhöht und stabilisiert Feinschaft zwischen Gruppen.

Warum ist Religion (vermutlich mehrmals unabhängig voneinander) Warum ist Religion (vermutlich mehrmals unabhängig voneinander) entstanden?entstanden?

3. Multiple Entstehungsgründe:3. Multiple Entstehungsgründe:

3.1. Gott als Vaterfigur 3.1. Gott als Vaterfigur (Mutterfigur) (Mutterfigur) Beschützer & Bezugsperson Beschützer & Bezugsperson (angeboren) (angeboren) B. Wenegrat (1990); S. Freud ('kollektive Neurose') B. Wenegrat (1990); S. Freud ('kollektive Neurose')

3.2 3.2 Erklärungs-Neugier & Erklärungs-Neugier & primitive Erklärungsmechanismen der primitive Erklärungsmechanismen der mentalen/intentionalen Psychologiementalen/intentionalen Psychologie (angeboren) (angeboren)

(Erkenntis von Anthropologie & Sozialphilosophie; Soziobiologie & kognitiver (Erkenntis von Anthropologie & Sozialphilosophie; Soziobiologie & kognitiver Psychologie, vergleichender Primatenpsychologie Psychologie, vergleichender Primatenpsychologie Tomasello1999) Tomasello1999)

Urspüngliche Erklärungsmodelle von homo sapiens resultieren aus Urspüngliche Erklärungsmodelle von homo sapiens resultieren aus sozialer Kognition, Verstehen der Mitmenschen als intentionalem sozialer Kognition, Verstehen der Mitmenschen als intentionalem Wesen. Wesen.

A. Gehlen 1956: A. Gehlen 1956: animistisches Weltbildanimistisches Weltbild, Kausalität qua Agenten, Kausalität qua Agenten

E. Topitsch 1979: E. Topitsch 1979: soziomorphe Projektionsoziomorphe Projektion & antizipierte Kompensation & antizipierte Kompensation

3.3.3.3. Spontaner Geisterglaube Spontaner Geisterglaube aufgrund mentaler Psychologie aufgrund mentaler Psychologie

P. Boyer 1994: Erfahrung 'geistiger' Phänomene, Todeserfahrung P. Boyer 1994: Erfahrung 'geistiger' Phänomene, Todeserfahrung

4. Gefahren der Religion: Fundamentalismus versus Aufklärung4. Gefahren der Religion: Fundamentalismus versus Aufklärung

Charakterisierung eines fundamentalistischen Glaubenssystems:

F1) Der Glaube beruht auf Prinzipien bzw. Quellen, die absolute und

zumeist göttliche Autorität genießen.

F2) Diese Prinzipien beanspruchen zugleich deskriptive und moralische

Autorität.

F3) Das Anzweifeln dieser Prinzipien ist nicht nur erkenntnismäßig

müßig oder unangebracht, sondern moralisch schlecht.

Nachteile: Unkorrigierbarkeit, Intoleranz & Indoktrination. Machtansprüche & Gewaltbereitschaft, Gefahr der Glaubenskriege.

Vorteile: verallgemeinerter Placebo-Effekte, Stabilisierung der sozialen Ordnung

Charakterisierung eines aufgeklärt-rationalen Glaubenssystems:Charakterisierung eines aufgeklärt-rationalen Glaubenssystems:

A1) Es trennt die epistemische von der moralischen Autorität. A1) Es trennt die epistemische von der moralischen Autorität. A2) Seine höchsten Prinzipien genießen epistemische Autorität A2) Seine höchsten Prinzipien genießen epistemische Autorität aber epistemische Autorität ist aber epistemische Autorität ist keinekeine echte Autorität, sondern nur echte Autorität, sondern nur QuasiQuasi-Autorität, die auf dem dem -Autorität, die auf dem dem zwanglosen Zwang des besseren zwanglosen Zwang des besseren ArgumentesArgumentes beruht. beruht. A3) Es ist jederzeit erlaubt, und in gewissem Maße gefordert, zu A3) Es ist jederzeit erlaubt, und in gewissem Maße gefordert, zu zweifelnzweifeln (Descartes' methodischer Zweifel, Poppers methodische (Descartes' methodischer Zweifel, Poppers methodische Falsifikationsversuche). Kritik ist niemals moralisch verboten, Falsifikationsversuche). Kritik ist niemals moralisch verboten, höchstens epistemisch unfruchtbar. höchstens epistemisch unfruchtbar.

Vorteile:Vorteile: Rationale Überzeugungsversuche statt Indoktrination. Rationale Überzeugungsversuche statt Indoktrination. Toleranz, wo kein rationaler Konsens begründet werden kann. Toleranz, wo kein rationaler Konsens begründet werden kann. Individuelle Freiheit. Demokratische Entscheidung statt Autorität. Individuelle Freiheit. Demokratische Entscheidung statt Autorität.

Nachteile:Nachteile: Verlust des verallgemeinerten Placebo-Effektes. Verlust des verallgemeinerten Placebo-Effektes. Destabilisierung der sozialen Ordnung. Destabilisierung der sozialen Ordnung. Postmoderne Wertevielfalt und Desorientierung.Postmoderne Wertevielfalt und Desorientierung.

Prozess der Aufklärung im westlichen Abendland war kompliziert und Prozess der Aufklärung im westlichen Abendland war kompliziert und dauerte mehrere Jahrhunderte an. dauerte mehrere Jahrhunderte an.

Moderne Religionsverbände ('Kreationisten' etc.) mit quasi-wissenschaftlichem Moderne Religionsverbände ('Kreationisten' etc.) mit quasi-wissenschaftlichem Erkenntnisanspruch Erkenntnisanspruch fordern Gleichberechtigung von Biologie- und fordern Gleichberechtigung von Biologie- und Religionsunterricht Religionsunterricht was kann dem entgegenhalten? was kann dem entgegenhalten?

4. Quasi-wissenschaftliche Spielarten von Religion und ihre 4. Quasi-wissenschaftliche Spielarten von Religion und ihre ZurückweisungZurückweisung

Traditionelle Offenbarungsreligionen 'Vernunft'religionen (Deismus)1. Genenis-Kreationisten 2. Intelligente Design 3. Wissenschaftskonforme Liberale Kreationisten Vertreter Gottesvorstellungen

Strategien gegenüber 1: Vielzahl unabhängiger Evidenzen & Argumente sprechen für wissenschaftliche Evolutionslehren und gegen Kreationismus.

Strategien gegenüber 2: Homologien und Dysfunktionalitäten der Evolution

Strategien gegen 3: empirisch unangreifbar, aber im Widerspruch zu 'Ockhams Rasiermesser': Annahme unbeobachtbarer/theoretischer Ursachen wissenschaftlich nur legitim, wenn diese nicht bloß ex-post Erklärungen liefern, sondern potentiell neue Voraussagen machen (Kennzeichen 1) (g.d.w.) nicht durch beliebige Alternativerklärungen ersetzbar sind (Kennzeichen 2) (vgl. "school of the flying Spaghetti monster")

4. Konsequenzen für einen aufgeklärten Humanismus4. Konsequenzen für einen aufgeklärten Humanismus

4.1 Verlust des verallgemeinerten Placebo-Effektes 4.1 Verlust des verallgemeinerten Placebo-Effektes Preis der Aufklärung? Preis der Aufklärung?

Der Preis kann durch geschickte Psychologie verringert, aber nicht zumDer Preis kann durch geschickte Psychologie verringert, aber nicht zum Verschwinden gebracht werden. Verschwinden gebracht werden.

Aufgeklärte Rationalität ist diesen Preis wertAufgeklärte Rationalität ist diesen Preis wert

4.2 Aufgeklärte Religion?

Partiell möglich & erstrebenswert, aber politische Kompromissleistung. Partiell möglich & erstrebenswert, aber politische Kompromissleistung.

Säkularisierung der Religion bleibt intrinsisch konfliktreich. Säkularisierung der Religion bleibt intrinsisch konfliktreich. Vgl. die vatikanisch akzeptierte Nichtwiderspruchslehre: es darf keine Vgl. die vatikanisch akzeptierte Nichtwiderspruchslehre: es darf keine Widersprüche zwischen Vernunfteinsichten und Offenbarungslehren geben.Widersprüche zwischen Vernunfteinsichten und Offenbarungslehren geben.

4.3 Aufklärung bleibt eine fortwährende Aufgabe des Menschengeschlechts als Gegengewicht zur unvermeidlichen menschlichen Disposition zu Religion. Die Rede von post-moderner & post-aufgeklärter Gesellschaft ist trügerisch und gefährlich: Postmoderne könnte nur allzu schnell in Prämoderne umschlagen.

LiteraturAunger (Hg., 2002): Darwinizing Culture: The Status of Memetics as a Science, Oxford Univ. Press,

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