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SUHRKAMP ROMAN das lügenhafte leben der Erwachsenen elena ferrante

das lügenhafte leben der Erwachsenen · elena ferrante. Elena Ferrante Das lügenhafte Leben der Erwachsenen Roman Aus dem Italienischen von Karin Krieger Suhrkamp. Die Originalausgabe

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Suhrkamproman

das lügenhafte leben der

Erwachsenen

elena ferrante

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Elena FerranteDas lügenhafte Leben der

ErwachsenenRoman

Aus dem Italienischenvon Karin Krieger

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien unter dem TitelLa vita bugiarda degli adulti bei Edizioni e/o, Rom

Dieses Buch ist dank einer Übersetzungsförderungseitens des Italienischen Außenministeriums erschienen.

Erste Auflage © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin

© by Edizioni E/OAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN ----

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Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sag-te er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wur-de leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meineEltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Gia-como dei Capri, gekauft hatten. Alles –Neapels Orte, dasblaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblie-ben. Ich dagegen bin weggeglitten und gleite auch jetztnoch weg, in diese Zeilen hinein, die mir eine Geschichtegeben wollen, während sie eigentlich nichts sind, nichtsvon mir, nichts, was wirklich begonnen oder wirklicheinen Abschluss gefunden hätte: nichts als ein Knäuel,von dem niemand weiß, nicht einmal, wer dies hier geradeschreibt, ob es den passenden Faden einer Erzählung ent-hält oder nur ein verworrener Schmerz ohne Erlösung ist.

Ich habe meinen Vater sehr geliebt, er war immer einfreundlicher Mann. Seine feine Art passte gut zu seinemKörper, der so schlank war, dass seine Kleidung stets eineNummer zu großwirkte, das verlieh ihm inmeinen Augeneine unnachahmliche Eleganz. Er hatte feine Gesichtszügeund nichts –weder die forschenden Augen mit den langenWimpern noch die tadellos geformte Nase oder die vol-

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len Lippen – beeinträchtigte ihre Harmonie. Er sprach im-mer fröhlich mit mir, egal wie seine oder meine Launeauch sein mochten, und er zog sich nie in sein Arbeitszim-mer zurück – er arbeitete unentwegt –, ohne mir nicht we-nigstens ein Lächeln entlockt zu haben. Besonders meineHaare gefielen ihm, aber ich könnte heute nicht mehr sa-gen, wann er angefangen hatte sie zu bewundern, viel-leicht schon, als ich zwei oder drei war. Wir führten inmeiner Kindheit gewiss Gespräche wie:»Was für schöne Haare du hast, so fein und glänzend,

kann ich die haben?«»Nein, das sind meine.«»Ach, sei doch nicht so.«»Wenn du willst, kann ich sie dir borgen.«»Großartig, und dann geb ich sie dir nicht zurück.«»Du hast doch selber welche.«»Die sind alle von dir.«»Gar nicht, du lügst.«»Sieh doch nach: Die waren einfach zu schön, da habe

ich sie dir geklaut.«Ich sah nach, doch nur zum Spaß, ich wusste ja, dass er

sie mir niemals klauen würde. Und ich lachte, lachte viel,mit ihm hatte ich mehr Spaß als mit meiner Mutter. Erwollte immer etwas von mir haben, mal ein Ohr, mal dieNase, mal das Kinn, er sagte, sie seien so perfekt, dass erohne sie nicht leben könne. Ich liebte diesen Ton, in einemfort bewies er mir, wie unentbehrlich ich für ihn war.Natürlich war mein Vater nicht zu allen so. Manchmal,

wenn ihn etwas sehr aufregte, neigte er zu geschliffenenReden verbunden mit Gefühlsausbrüchen. Bei anderenGelegenheiten war er kurzangebunden und beschränktesich auf knappe, äußerst treffsichere Sätze, die so scharf

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waren, dass niemand mehr widersprach. Diese zwei Väterunterschieden sich erheblich von demVater, den ich liebte,ich hatte ihre Existenz mit sieben oder acht Jahren ent-deckt, als ich ihn mit Freunden und Bekannten diskutie-ren hörte, die manchmal zu sehr hitzigen Versammlungenzu uns nach Hause kamen und über Probleme sprachen,von denen ich nichts verstand. Für gewöhnlich blieb ichbei meiner Mutter in der Küche und achtete nicht darauf,wie ein paar Meter weiter gestritten wurde. Aber manch-mal, wenn meine Mutter zu tun hatte und sich ebenfallsin ihr Zimmer zurückzog, blieb ich allein im Flur, ich spiel-te oder las, meistens las ich wohl, denn auch mein Vaterlas sehr viel, genauso wie meine Mutter, und ich wolltegern so sein wie die beiden. Ich achtete nicht auf die Dis-kussionen und unterbrach mein Spiel oder die Lektürenur, wenn es plötzlich still wurde und die fremden Stim-men meines Vaters erklangen.Von dem Augenblick an hat-te er das Sagen, und ich wartete auf das Ende der Versamm-lung, um zu sehen, ob er wieder der Alte wurde, der mitden freundlichen, herzlichen Umgangsformen.An dem Abend, als er jenen Satz sagte, hatte er gerade

erfahren, dass es mit mir in der Schule nicht so gut lief.Das war neu. Seit der ersten Klasse war ich immer sehrgut gewesen, und erst in den letzten zwei Monaten hatteich angefangen nachzulassen. Meinen Eltern lag viel anmeinen schulischen Erfolgen, und vor allemmeineMuttermachte sich bei den ersten schlechten Zensuren Sorgen.»Was ist denn los?«»Keine Ahnung.«»Du musst lernen.«»Ich lerne doch.«»Und?«

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»Manche Sachenmerke ich mir und andere eben nicht.«»Du musst so lange lernen, bis du dir alles merkst.«Ich lernte, bis ich nicht mehr konnte, aber meine Leis-

tungen blieben enttäuschend. Gerade an jenem Nachmit-tag war meine Mutter in der Schule gewesen und sehr är-gerlich zurückgekommen. Sie hatte mir keine Vorwürfegemacht, meine Eltern machten mir nie Vorwürfe. Sie hat-te nur gesagt: Am unzufriedensten ist deine Mathematik-lehrerin, aber sie hat gesagt, mit etwas gutemWillen kannstdu es schaffen. Dann war sie in die Küche gegangen, umdas Abendbrot zu machen, und mein Vater war nach Hau-se gekommen. Von meinem Zimmer aus hörte ich nur,dass sie ihm kurz von den Klagen der Lehrer berichteteund zu meiner Rechtfertigung meine beginnende Pubertätins Feld führte. Doch er unterbrach sie, und in einem Ton,den er mir gegenüber nie verwendete – noch dazu im Dia-lekt, der bei uns zu Hause tabu war –, entfuhr ihm das,was er garantiert nicht hatte laut sagen wollen:»Mit Pubertät hat das nichts zu tun. Sie kommt nun

ganz nach Vittoria.« Hätte er gewusst, dass ich ihn hörte,hätte er sicherlich nicht in dieser Art gesprochen, die ganzanders war als unsere gewohnte, fröhliche Unbeschwert-heit. Die beiden glaubten, die Tür zu meinem Zimmer wä-re geschlossen, ich schloss sie immer, ihnen war nicht klar,dass einer von ihnen sie offen gelassen hatte. So erfuhr ichmit zwölf Jahren aus dem Munde meines Vaters, der sichbemühte, leise zu sprechen, dass ich nun wie seine Schwes-ter wurde, eine Frau, die – das hatte ich von ihm gehört,seit ich denken konnte – die Hässlichkeit und die Boshaf-tigkeit in Person war. An dieser Stelle könnte man mir ent-gegnen: Vielleicht übertreibst du da ein bisschen, dein Va-ter hat nie wörtlich gesagt: Giovanna ist hässlich. Stimmt,

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es war nicht seine Art, sich so brutal auszudrücken. Aberich war in einer sehr instabilen Phase. Seit fast einem Jahrbekam ich meine Tage, meine Brüste waren viel zu auffäl-lig, und ich schämte mich dafür; ich hatte Angst, schlechtzu riechen, wusch mich in einem fort, ging abends lust-los schlafen und stand morgens lustlos auf. Mein einzigerTrost in dieser Zeit, meine einzige Gewissheit, war, dassmein Vater absolut alles an mir liebte. Daher war es, alser mich mit Tante Vittoria verglich, schlimmer, als wenner gesagt hätte: Giovanna war mal schön, aber jetzt istsie hässlich. Der Name Vittoria klang bei uns zu Hausewie der eines Monsters, das jeden besudelt und infiziert,der mit ihm in Berührung kommt. Ich wusste so gut wienichts über sie, hatte sie nur selten gesehen, aber von die-senGelegenheiten sindmir nur Ekel undAngst imGedächt-nis geblieben. Nicht Ekel und Angst, die sie persönlichin mir geweckt hätte, daran erinnere ich mich überhauptnicht.Was mich erschreckte, waren der Ekel und die Angst,die sie in meinen Eltern auslöste. Mein Vater sprach schonimmer in düsteren Tönen über seine Schwester, als prak-tizierte sie schändliche Riten, die sie und alle, die mit ihrzu tun hatten, beschmutzten. Meine Mutter dagegen er-wähnte sie nie, sie versuchte sogar, die Ausbrüche mei-nes Vaters abzuwürgen, als fürchtete sie, Tante Vittoriakönne sie hören, egal wo sie war, und schnurstracks hin-auf nach San Giacomo dei Capri kommen, obwohl es einlanger, steiler Weg war, und sie könnte absichtlich sämt-liche Krankheiten aus den umliegenden Krankenhäusernmitschleppen, könnte bis zu uns hoch in den sechsten Stockstürzen, mit irren, schwarzblitzenden Augen dieWohnungs-einrichtung zertrümmern und sie, meine Mutter, beim lei-sesten Protest ohrfeigen. Natürlich ahnte ich, dass hinter

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dieser Spannung eine Geschichte zugefügter und erlittenerKränkungen steckte, aber ich wusste damals wenig überunsere Familiengeschichten und sah in dieser schreckli-chen Tante vor allem kein Familienmitglied. Sie war einSchreckgespenst aus Kindertagen, eine dürre, besesseneGestalt, eine verlotterte Erscheinung, die in den Winkelnder Häuser lauert, wenn sich die Dunkelheit herabsenkt.Konnte es also sein, dass ich so unvermittelt entdeckenmusste, dass ich nach ihr kam? Ich? Ich, die ich mich biszu jenem Augenblick für schön gehalten hatte und dankmeines Vaters glaubte, es für immer zu bleiben? Ich, diedurch seine ständige Anerkennung angenommen hatte,wunderbares Haar zu haben, ich, die so heißgeliebt seinwollte, wie er mich liebte und wie ich mich daran ge-wöhnt hatte, mich zu sehen, ich, die schon litt, wenn ichmerkte, dass meine Eltern plötzlich unzufrieden mit mirwaren, und der diese Unzufriedenheit zusetzte und allesverdarb? Ich wartete auf die Antwort meiner Mutter, aberihre Reaktion war mir kein Trost. Obwohl sie die gesamteVerwandtschaft ihresMannes hasste und ihre Schwägerinso widerlich fand, wie man eine Eidechse widerlich findet,die einem über das nackte Bein läuft, schrie sie ihn nichtan: Bist du verrückt geworden, meine Tochter und deineSchwester haben überhaupt nichts gemeinsam. Sie begnüg-te sich mit einem müden, äußerst knappen: Unsinn, nichtdoch. Und ich, dort in meinem Zimmer, schloss schnelldie Tür, um nicht noch mehr zu hören. Ich weinte lautlosvor mich hin und hörte erst auf, als mein Vater kam undverkündete – diesmal mit seiner guten Stimme –, dass dasAbendessen fertig sei.Ich setzte mich, nun wieder gefasst, zu ihnen in die Kü-

che und musste mit dem Blick auf dem Teller eine Reihe

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von nützlichen Ratschlägen zur Verbesserung meiner schu-lischen Leistungen über mich ergehen lassen. Danach kehr-te ich zurück in mein Zimmer und tat so, als würde ich ler-nen, während sie es sich vor dem Fernseher gemütlichmachten. Ich spürte einen nicht enden wollenden Schmerz.Warum hatte mein Vater diesen Satz gesagt, und warumhatte meine Mutter ihm nicht vehement widersprochen?Lag es an beider Unzufriedenheit mit meinen schlechtenNoten oder an einer Besorgnis, die mit der Schule nichtszu tun hatte und schon wer weiß wie lange währte? Undhatte er, besonders er, diese schlimmen Worte aus einemvorübergehenden Ärger über mich gesagt, oder hatte eres mit dem Scharfblick eines Menschen getan, der allesweiß und alles sieht, hatte er seit langem die Züge meinerruinierten Zukunft erkannt, eines voranschreitenden Un-heils, das ihn entmutigte und mit dem er nichts anfangenkonnte? Ich war die ganze Nacht lang verzweifelt. AmMorgen kam ich zu der Einsicht, dass ich, wenn ich heilaus der Sache herauskommen wollte, losgehen und nach-sehen musste, wie Tante Vittorias Gesicht tatsächlich war.

Es war ein schwieriges Unterfangen. In einer Stadt wieNeapel, bevölkert mit weit verzweigten Familien, die ihreBeziehungen trotz auch blutiger Konflikte doch nie end-gültig abbrachen, lebte mein Vater in vollkommener Auto-nomie, ganz als hätte er gar keine Blutsverwandten, ganzals hätte er sich selbst gezeugt. Natürlich hatte ich oft mitden Eltern und dem Bruder meiner Mutter zu tun gehabt.Sie waren allesamt liebevolle Menschen, die mir viele Ge-

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schenke gemacht hatten, und unser Verhältnis zu ihnenwar sehr eng und voller Freude gewesen, bis meine Groß-eltern starben – zuerst mein Großvater, dann, ein Jahr spä-ter, meine Großmutter: plötzliche Verluste, die mich er-schüttert hatten, meine Mutter hatte geweint, wie wirMädchen weinten, wenn wir uns wehgetan hatten –, undbis mein Onkel weggegangen war, um in weiter Ferne zuarbeiten. Über die Eltern meines Vaters wusste ich dage-gen so gut wie nichts. Sie waren nur bei seltenen Anläs-sen – einer Hochzeit, einer Beerdigung – in meinem Lebenaufgetaucht und jedes Mal in einem Klima so unechterHerzlichkeit, dass ich nichts daraus mitnahm als das Un-behagen, das solche Pflichtbesuche verursachen: Sag dei-nem Großvater guten Tag, gib der Tante einen Kuss. Fürdiese Verwandtschaft hatte ich mich also nie groß interes-siert, auch deshalb nicht, weil meine Eltern nach diesenTreffen gereizt waren und sie einmütig wieder vergaßen,als wären sie in ein billiges Schauspiel geraten.Die Verwandten meiner Mutter lebten überdies an

einem konkreten Ort mit einem faszinierenden Namen,dem Museum – sie waren die Großeltern vomMuseum –,während der Ort, an dem die Eltern meines Vaters wohn-ten, unbenannt blieb, namenlos. Ich wusste nur eines: Umsie zu besuchen, musste man nach unten, tief und tiefer biszum tiefsten Grund von Neapel, und die Fahrt war solang, dass ich jedes Mal den Eindruck hatte, wir und dieVerwandtschaft meines Vaters lebten in zwei verschiede-nen Städten. Was ich lange Zeit auch wirklich glaubte.Wir wohnten in der höchsten Gegend von Neapel, undegal, wohin wir wollten, immer mussten wir zwangsläufignach unten. Mein Vater und meine Mutter gingen gernnur bis zum Vomero hinunter oder, und das schon mit

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einigem Unbehagen, bis zum Haus der Großeltern vomMuseum. Freunde hatten sie vor allem in der Via Suarez,an der Piazza degli Artisti, in der Via Luca Giordano, inder Via Scarlatti und in der Via Cimarosa, Straßen, dieich gut kannte, weil auch viele meiner Schulkameradendort wohnten. Außerdem führten sie alle zur Floridiana,einem Park, den ich liebte und in dem meine Mutter michschon als Baby ausgefahren hatte, damit ich an die frischeLuft und in die Sonne kam, und wo ich mit meinen zweiFreundinnen seit frühen Kindheitstagen, Angela und Ida,fröhliche Stunden verbracht hatte. Erst hinter diesen Orts-namen, die alle die glückliche Färbung von Grünpflanzen,Meeresblicken, Gärten, Blumen, Spielen und gutem Beneh-men hatten, begann der eigentliche Abstieg, der, den mei-ne Eltern unangenehm fanden. Zur Arbeit, zum Einkau-fen und zu den Projekten, Begegnungen und Diskussionen,die besonders meinem Vater wichtig waren, fuhren sie je-den Tag hinunter, meistens mit der Funicolare, bis nachChiaia, bis nach Toledo, und von dort stießen sie weitervor bis zur Piazza Plebiscito, bis zur Nationalbibliothek,bis nach Port’Alba und bis zur Via Ventaglieri und zurVia Foria und höchstens noch bis zur Piazza Carlo III., wodie Schule lag, an der meine Mutter unterrichtete. Auchdiese Namen kannte ich gut – meine Eltern erwähnten sieständig –, aber es kam nicht oft vor, dass sie mich mitnah-men, und vielleicht deshalb lösten sie nicht so ein Glücks-gefühl bei mir aus. Außerhalb des Vomero gehörte mir dieStadt fast gar nicht, je mehr wir in die Ebene kamen, umsounbekannter wurde sie für mich. Da war es nur natürlich,dass die Orte, an denen die Verwandten meines Vaterswohnten, inmeinen Augen dieMerkmale noch wilder, un-erforschter Welten hatten. Für mich besaßen sie nicht nur

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keine Namen, sondern ich hielt sie durch die Art, wie mei-ne Eltern sie erwähnten, auch für schwer erreichbar. Im-mer, wenn wir dorthin mussten, wirkten meine Eltern,die normalerweise energisch und aufgeschlossen waren,besonders gestresst, besonders unruhig. Ich war damalsnoch klein, aber ihre Angespanntheit, ihre – immer glei-che – Verwandlung haben sich mir eingeprägt.»André«, sagte meine Mutter mit ihrer müden Stimme.

»Zieh dich um, wir müssen los.«Doch er las und strich weiter in seinen Büchern herum,

mit demselben Stift, mit dem er auch in ein Heft schrieb,das neben ihm lag.»André, wir kommen zu spät, sie werden sich auf-

regen.«»Bist du denn schon fertig?«»Ich bin fertig.«»Und die Kleine?«»Die Kleine auch.«Da ließ mein Vater Bücher und Hefte aufgeschlagen auf

dem Schreibtisch liegen, zog ein frisches Hemd an undden guten Anzug. Aber er war schweigsam, angespannt,als ginge er im Kopf noch einmal die Sätze einer unver-meidlichen Rolle durch. Meine Mutter, die alles andereals fertig war, prüfte inzwischen unentwegt ihr Aussehen,meines und das meines Vaters, als wäre nur eine passendeGarderobe die Gewähr dafür, dass wir alle drei heil nachHause zurückkehren konnten. Kurz, es war offensichtlich,dass sie bei jeder dieser Gelegenheiten glaubten, sich vorOrten und Menschen schützen zu müssen, über die siemir nichts erzählten, ummich nicht zu belasten. Trotzdemspürte ich ihre unnormale Ängstlichkeit, erkannte sie auchwieder, sie war schon immer da gewesen, war vielleicht die

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einzige beklemmende Erinnerung in einer glücklichen Kind-heit.Was mich beunruhigte, waren Sätze wie der folgende,übrigens in einem Italienisch gesprochen, das – nun ja – ir-gendwie brüchig klang:»Und bitte, wenn Vittoria was sagt, tu so, als hättest du

es nicht gehört.«»Also wenn sie sich wie eine Verrückte aufführt, soll ich

den Mund halten?«»Ja, denk an Giovanna.«»Okay.«»Sag nicht okay, wenn du es gar nicht so meinst. Das ist

doch nicht zu viel verlangt.Wir bleiben eine halbe Stunde,dann fahren wir wieder.«Ich weiß fast nichts mehr von diesen Besuchen. Stim-

mengewirr, Hitze, flüchtige Küsse auf die Stirn, StimmenimDialekt, ein schlechter Geruch, den alle wahrscheinlichaus Angst verströmten. Diese Atmosphäre hatte mich imLaufe der Jahre zu der Überzeugung gebracht, dass dieVerwandten meines Vaters – grölende Gestalten von ab-stoßender Schlampigkeit, vor allem die Gestalt Tante Vit-torias, der schwärzesten und schlampigsten – eine Gefahrwaren, auch wenn schwer zu erkennen war, worin dieseGefahr bestand.War die Gegend, in der sie wohnten, unsi-cher? Waren die Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins undCousinen gefährlich oder nur Tante Vittoria? Die Einzigen,die Bescheid wussten, schienen meine Eltern zu sein, undnun, da ich unbedingt wissen wollte, wie meine Tantewar, was für eine Sorte Mensch sie war, hätte ich michan die beiden wenden müssen, um der Sache auf denGrund zu gehen. Aber selbst wenn ich sie zur Rede gestellthätte, was hätte ich erfahren? Entweder hätten sie michmit einer gutmütigen Ablehnung abgespeist – du willst

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deine Tante sehen, willst sie besuchen, wozu denn? – odersie hätten alarmiert aufgehorcht und sich bemüht, sie niewieder zu erwähnen. Daher überlegte ich mir, dass ich fürden Anfang ein Foto von ihr suchen musste.

Ich nutzte die Gelegenheit, als meine Eltern eines Nach-mittags nicht da waren, und stöberte in ihrem Schlafzim-merschrank, in dem meine Mutter die Fotoalben mit denwohlsortierten Bildern von sich, von meinem Vater undvon mir aufbewahrte. Ich kannte diese Alben auswendig,ich hatte sie oft durchgeblättert. Sie dokumentierten vorallem die Beziehung meiner Eltern und meine fast drei-zehn Lebensjahre. Und ich wusste bereits, dass die Ver-wandten meiner Mutter darin rätselhafterweise zuhaufvorkamen, die meines Vaters nur äußerst selten abgebildetwaren und auf diesen wenigen Fotos Tante Vittoria über-haupt nicht zu sehen war. Aber ich erinnerte mich, dass ir-gendwo im Schrank noch eine alte Blechschachtel stand,in der bunt durcheinander Fotos von meinen Eltern ausder Zeit lagen, als sie sich noch nicht gekannt hatten. Daich sie mir bisher kaum angesehen hatte und wenn, dannimmer gemeinsam mit meiner Mutter, hoffte ich, dazwi-schen auch Bilder von meiner Tante zu finden.Ich entdeckte die Schachtel hinten im Schrank, wollte

aber zunächst noch einmal die Alben gründlich durchge-hen, die die beiden als Verlobte zeigten, dann als mür-risches Brautpaar im Mittelpunkt einer Hochzeitsfeiermit wenigen Gästen, dann als immerglückliches Paar undschließlich mich, ihre Tochter, unverhältnismäßig oft fo-

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tografiert von der Geburt an bis heute. Besonders dieHoch-zeitsfotos schaute ich mir lange an. Mein Vater trug einendunklen, deutlich zerknitterten Anzug und zog auf jederAufnahme ein finsteres Gesicht. Meine Mutter stand ne-ben ihm, nicht im Brautkleid, sondern in einem cremefar-benen Kostüm, mit einem Schleier in derselben Farbe undeiner vage ergriffenen Miene. Unter den gut dreißig Gäs-ten waren, wie ich schon wusste, einige ihrer Freunde vomVomero, mit denen sie noch immer Kontakt hatten, unddie Verwandtschaft mütterlicherseits, die guten Großelternvom Museum. Trotzdem sah ich wieder und wieder allesin der Hoffnung durch, auf eine Gestalt, und wenn auchnur im Hintergrund, zu stoßen, die mich vielleicht zu derFrau führte, an die ich keinerlei Erinnerung hatte. Nichts.Also widmete ich mich der Blechschachtel, die ich nachvielen Versuchen öffnen konnte.Ich kippte ihren Inhalt aufs Bett, die Fotos waren alle

schwarz-weiß. Die aus ihrer Jugendzeit waren sämtlichunsortiert: Die Bilder meiner fröhlichen Mutter, mit Schul-kameraden, mit gleichaltrigen Freundinnen, amMeer, aufder Straße, hübsch und gut gekleidet, waren vermischt mitdenen meines nachdenklichen Vaters, der immer alleinwar, nie im Urlaub, mit an den Knien ausgebeulten Hosenund mit Jacken, deren Ärmel zu kurz waren. Doch die Fo-tos aus ihrer Kindheit und ihrer frühen Jugend steckten or-dentlich in zwei Umschlägen, einem für die Bilder aus derFamilie meiner Mutter und einem für die aus der Familiemeines Vaters. Unter diesen – sagte ich mir – musste jazwangsläufig auch meine Tante sein, und ich schaute mireines nach dem anderen an. Es waren nicht mehr als etwazwanzig, und mich verstörte sofort, dass mein Vater, derauf den anderen Fotos als kleiner oder halbwüchsiger Jun-

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ge zusammen mit seinen Eltern, mit Verwandten, die ichnie kennengelernt hatte, zu sehen war, sich auf drei, vierdieser Bilder überraschenderweise neben einem aufgemal-ten schwarzen Rechteck befand. Es fiel mir nicht schwerzu erkennen, dass dieses – peinlich genaue – Rechteckvon ihm stammte, ein ebenso erbittertes wie heimlichesWerk. Ich stellte ihnmir vor, wie ermit demLineal, das im-mer auf seinem Schreibtisch lag, ein Stückchen Foto in diesegeometrische Figur einsperrte und dann sorgfältig mitdem Stift darüberfuhr, wobei er darauf achtete, nicht überden vorgegebenen Rand zu malen.Was für eine Gedulds-arbeit, ich hatte keinen Zweifel: Diese Rechtecke solltenetwas auslöschen, und unter diesem Schwarz war TanteVittoria.Eine Weile war ich unschlüssig, was ich tun sollte. Dann

fasste ich einen Entschluss, holte mir ein Messer aus derKüche und schabte behutsam ein winziges Stück von derStelle ab, die mein Vater auf dem Foto übermalt hatte.Schnell sah ich, dass nur weißes Papier zum Vorscheinkam. Ich wurde unruhig, hörte auf. Mir war klar, dassich gegen den Willen meines Vaters handelte, und michschreckten Aktionen ab, die seine Zuneigung zumir beein-trächtigen konnten. Meine Unruhe wuchs, als ich ganzhinten im Umschlag das einzige Foto fand, auf dem er we-der ein Kind noch ein Halbwüchsiger war, sondern ein jun-ger Mann, der, wie ungewöhnlich für die Bilder aus derZeit, als er meine Mutter noch nicht kannte, lächelte. Erwar im Profil zu sehen, hatte einen fröhlichen Blick, regel-mäßige, schneeweiße Zähne. Aber sein Lächeln, seine Fröh-lichkeit gingen ins Leere. Neben sich hatte er gleich zweidieser – peinlich genauen – Rechtecke, zwei Särge, in dieer in einem Augenblick, der garantiert nichts von der Herz-

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lichkeit auf diesem Foto gehabt hatte, die Gestalt seinerSchwester und die von wem auch immer gesperrt hatte.Dieses Foto betrachtete ich lange. Mein Vater stand auf

der Straße, er trug ein kurzärmliges, kariertes Hemd, esmuss Sommer gewesen sein. Hinter ihm der Eingang einesGeschäfts, vom Ladenschild war nur –REI zu lesen, es gabauch ein Schaufenster, doch es war nicht zu erkennen, wasdarin ausgestellt war. Neben dem dunklen Fleck stand einscharf umrissener, schneeweißer Pfosten. Und dann wa-ren da noch die Schatten, lange Schatten, von denen eineroffensichtlich der einer Frau war. Mein Vater hatte zwarverbissen die neben ihm stehenden Menschen ausgelöscht,ihre Spur auf dem Gehweg jedoch stehenlassen.Wieder bemühte ich mich, das Schwarz des Rechtecks

vorsichtig abzuschaben, hörte aber auf, als ich feststellte,dass auch diesmal nur Weiß zum Vorschein kam. Ich war-tete ein, zwei Minuten, dann begann ich von neuem. Icharbeitete mit leichter Hand, hörte meinen Atem in der Stil-le der Wohnung. Ich gab erst endgültig auf, als alles, wasich an der Stelle hervorkratzen konnte, wo einmal Vitto-rias Kopf gewesen sein musste, ein winziger Fleck war,von dem sich nicht sagen ließ, ob er ein Rest der Überma-lung war oder ein wenig von ihren Lippen.

Ich räumte alles an seinen Platz zurück und behielt die dro-hende Ähnlichkeit mit der von meinem Vater ausgelösch-ten Schwester im Hinterkopf. Ich wurde immer unkon-zentrierter, und, was mich erschreckte, meine Abneigunggegen die Schule wuchs. Dabei wünschte ich mir, wieder

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so gut zu werden, wie ich es bis vor wenigen Monaten ge-wesen war, meinen Eltern lag viel daran, und ich glaubtesogar, dass ich wieder schön und charakterstark werdenkönnte, wenn es mir gelang, erneut sehr gute Noten zu be-kommen. Aber es gelang mir nicht, im Unterricht war ichnicht bei der Sache, und zu Hause verschwendete ich mei-ne Zeit vor dem Spiegel. Mich im Spiegel zu betrachten,wurde sogar zu einer Manie. Ich wollte erkennen, ob mei-ne Tante wirklich in meinem Körper aufschien, da ichaber nicht wusste, wie sie aussah, suchte ich sie in jedemmeiner Körperteile, der eine Veränderung anzeigte. So wur-den nun Merkmale wichtig, auf die ich bis vor Kurzemnicht geachtet hatte: die sehr dichten Brauen, die zu klei-nen Augen mit ihrem lichtlosen Braun, die übermäßighohe Stirn, die dünnen – und keineswegs schönen odervielleicht nun nicht mehr schönen – Haare, die am Kopfklebten, die großen Ohren mit den schweren Ohrläppchen,die kurze Oberlippe mit dem widerlichen dunklen Flaum,die dicke Unterlippe, die Zähne, die noch wieMilchzähneaussahen, das spitze Kinn und die Nase, ach ja, die Nase,die sich plump zum Spiegel vorschob und lang und längerwurde, undwie dunkel waren die Löcher zwischen derNa-senscheidewand und den Nasenflügeln.Waren das schonZüge von Tante Vittorias Gesicht oder meine und nurmei-ne?Musste ichdamitrechnen,besserzuwerdenoderschlech-ter?Mein Körper; der langeHals, scheinbar so hauchdünnwie ein Spinnfaden; die geraden, knochigen Schultern; derimmermehr anschwellende Busenmit den schwarzen Brust-warzen; die dürren Beine, die zu sehr in die Höhe schossenund mir fast bis zu den Achseln reichten; war das alles ich,oder waren das die Vorboten meiner Tante, war sie das inihrer ganzen Schrecklichkeit?

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Ich studierte mich, während ich gleichzeitig meine El-tern beobachtete. Was hatte ich für ein Glück, ich hättekeine besseren haben können. Sie sahen toll aus, und sieliebten sich seit ihrer Jugend. Das Wenige, was ich von ih-rer Geschichte wusste, hatten sie mir erzählt, mein Vatermit der üblichen amüsierten Distanz, meine Mutter mitliebenswürdiger Rührung. Sie waren schon immer sehraufeinander bezogen, so dass ihr Kinderwunsch, ange-sichts der Tatsache, dass sie blutjung geheiratet hatten, re-lativ spät kam. Ich wurde geboren, als meine Mutter drei-ßig war undmein Vater gut zweiunddreißig. Ich war untertausend Ängsten gezeugt worden, die von ihr laut und vonihm leise geäußert wurden. Die Schwangerschaft war nichtleicht gewesen, die Entbindung – am . Juni – eineendlose Qual, meine ersten zwei Jahre der praktische Be-weis dafür, dass beider Leben von dem Moment an, daich auf derWelt war, kompliziert geworden war.Mein Va-ter, Lehrer für Geschichte und Philosophie am namhaftes-ten Gymnasium Neapels und ein in der Stadt ziemlich be-kannter Intellektueller, beliebt bei seinen Schülern, denener nicht nur die Vormittagsstunden, sondern auch ganzeNachmittage widmete, hatte wegen der Sorgen um die Zu-kunft notgedrungen begonnen, Privatstunden zu geben.Meine Mutter, die an einem Gymnasium an der PiazzaCarlo III. Latein und Griechisch unterrichtete und zudemLiebesromane Korrektur las, war dagegen wegen der Sor-gen um die Gegenwart mit meinem ständigen nächtlichenGeschrei, meinenHautrötungen, die sich entzündeten, mei-nen Bauchschmerzen und heftigen Trotzanfällen durcheine lange Depression gegangen, war eine schlechte Lehre-rin und eine sehr unkonzentrierte Korrektorin geworden.So viel zu den Scherereien, die ich machte, kaum dass

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ich geboren war. Aber dann wurde ich ein ruhiges, gehor-sames Kind, und sie erholten sich langsam.Vorbei war diePhase, in der sie ihre Zeit damit verbrachten, mich unnöti-gerweise vor all dem Schlechten bewahren zu wollen, demjeder Mensch ausgesetzt ist. Sie hatten ein neues Gleichge-wicht gefunden, durch das die Arbeit meines Vaters unddie kleinen Jobs meiner Mutter, gleich hinter der Liebezu mir, wieder auf Platz zwei gerückt waren. Also, wassoll ich sagen? Sie liebten mich, und ich liebte sie. MeinVater war für mich ein außergewöhnlicher Mann, meineMutter eine sehr freundliche Frau, und beide waren dieeinzigen klaren Gestalten in einer ansonsten wirren Welt.Und ich war Teil dieser Verworrenheit. Manchmal stell-

te ich mir vor, dass in mir ein heftiger Kampf zwischenmeinem Vater und seiner Schwester tobte, und ich wünsch-te mir, er möge gewinnen. Gewiss – überlegte ich –, Vitto-ria hatte zum Zeitpunkt meiner Geburt schon einmal dieOberhand gewonnen, denn für eine Weile war ich ein un-erträgliches Kind gewesen; aber dann – dachte ich erleich-tert – bin ich brav geworden, also ist es möglich, sie zu ver-treiben. Auf diese Weise versuchte ich, mich zu beruhigen,und ummich stark zu fühlen, bemühte ich mich, meine El-tern in mir zu erkennen. Doch besonders abends, wennich mich vor dem Schlafengehen wieder einmal im Spiegelbetrachtete, schien es mir, als hätte ich sie längst verloren.Mein Gesicht hätte die beiden auf das Schönste vereinenmüssen, stattdessen kam ich nun ganz nach Vittoria. MeinLeben hätte glücklich sein müssen, stattdessen begann nuneine unglückliche Phase ohne die Freude, mich so zu füh-len, wie sie sich gefühlt hatten und noch fühlten.