11
This article was downloaded by: [McMaster University] On: 09 December 2014, At: 22:30 Publisher: Routledge Informa Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK Studia Neophilologica Publication details, including instructions for authors and subscription information: http://www.tandfonline.com/loi/snec20 Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie Paul Bishop Published online: 05 Nov 2010. To cite this article: Paul Bishop (1999) Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie, Studia Neophilologica, 71:1, 62-71, DOI: 10.1080/00393279950136643 To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/00393279950136643 PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the “Content”) contained in the publications on our platform. However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make no representations or warranties whatsoever as to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Any opinions and views expressed in this publication are the opinions and views of the authors, and are not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of the Content should not be relied upon and should be independently verified with primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for any losses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and other liabilities whatsoever or howsoever caused arising directly or indirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of the Content. This article may be used for research, teaching, and private study purposes. Any substantial or systematic reproduction, redistribution, reselling, loan, sub-licensing, systematic supply, or distribution in any form to anyone is expressly forbidden. Terms & Conditions of access and use can be found at http://www.tandfonline.com/page/ terms-and-conditions

Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

  • Upload
    paul

  • View
    212

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

This article was downloaded by: [McMaster University]On: 09 December 2014, At: 22:30Publisher: RoutledgeInforma Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK

Studia NeophilologicaPublication details, including instructions for authors andsubscription information:http://www.tandfonline.com/loi/snec20

Das Naive und das Sentimentalischein der Weimarer sthetik und indem Pers nlichkeitsbegriff deranalytischen PsychologiePaul BishopPublished online: 05 Nov 2010.

To cite this article: Paul Bishop (1999) Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarersthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie, Studia Neophilologica,71:1, 62-71, DOI: 10.1080/00393279950136643

To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/00393279950136643

PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE

Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the“Content”) contained in the publications on our platform. However, Taylor & Francis,our agents, and our licensors make no representations or warranties whatsoeveras to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Anyopinions and views expressed in this publication are the opinions and views of theauthors, and are not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracyof the Content should not be relied upon and should be independently verifiedwith primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for anylosses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and otherliabilities whatsoever or howsoever caused arising directly or indirectly in connectionwith, in relation to or arising out of the use of the Content.

This article may be used for research, teaching, and private study purposes. Anysubstantial or systematic reproduction, redistribution, reselling, loan, sub-licensing,systematic supply, or distribution in any form to anyone is expressly forbidden. Terms& Conditions of access and use can be found at http://www.tandfonline.com/page/terms-and-conditions

Page 2: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

Das Naive und das Sentimentalische in der WeimarerAsthetik und in dem Perso¨nlichkeitsbegriff deranalytischen Psychologie

PAUL BISHOP

Licht setzt Dunkel voraus. Dunkelheit zwingt zum Sehen, Unklarheit zu Kla¨rung,Vielfaltigkeit und Zusammenhanglosigkeit zu Einheit und Einklang.(C. G. Jung, GW 10§903)

Es ist ein großer Unterschied, ob ich mich aus dem Hellen ins Dunkle, oder aus demDunklen ins Helle bestrebe; ob ich, wenn die Klarheit mir nicht mehr zusagt, mich miteiner gewissen Da¨mmerung zu umhu¨llen trachte, oder ob ich in der U¨ berzeugung, daß dasKlare auf einem tiefen, schwer erforschten Grund ruhe, auch von diesem immer schwerauszusprechenden Grunde das Mo¨gliche mit heraufzunehmen bedacht bin(Goethe,Gedenkausgabe, XVII, S. 698)

Einleitung

In seinem umfangreichen Gesamtwerk berief sich der Schweizer Psychologe C. G. Jung(1875–1961) immer wieder auf Friedrich Schiller (1759–1805), wie ein Blick auf dasQuellenverzeichnis in seinenGesammelten Werkenleicht besta¨tigt.1 Vor allem Jungsbedeutendes Werk aus dem Jahr 1921,Psychologische Typen[PT], stellt eine detaillierteAuseinandersetzung mit Schillers a¨sthetischen Schriften dar. Wie sehr Jung in derEntwicklung seines Denkens von Schiller beeinflußt war, hat jedoch sowohl bei Kritikernals auch Kommentatoren kaum Erwa¨hnung gefunden. So nennt zum Beispiel MorrisPhilipson in seinemOutline of a Jungian AestheticsSchiller nur ein einziges Mal, undauch das nur beila¨ufig.2 Weiters ubersieht Philipson in seiner Diskussion u¨ber den Begriffdes Symbols in der Psychologie Jungs, was Jung hierbei der A¨ sthetik jener bedeutendenkulturellen Zusammenarbeit zwischen Schiller und Goethe, dem Weimarer Klassizismus,zu verdanken hat. Es gibt jedoch zumindest vier große Ausnahmen unter denKommentatoren, die Jungs Na¨he zu Schiller feststellten.

Zum ersten weist Susanne K. Langer (1895–1985), deren Kunstphilosophie imallgemeinen sowie deren Symboltheorie im besonderen ganz klar und unmißversta¨ndlichauf Schiller zuru¨ckgehen, darauf hin, daß Jung vom “virtuellen Charakter sogenannter‘asthetischer Objekte’ als ‘Anschein’” sprach.3 Langer stellte zwar keine direkteVerbindung zwischen Schiller und Jung her, jedoch war dies nur eine Frage der Zeit.Zweitens machte Herbert Marcuse (1898–1979) inEros and Civilization(1956), einemvornehmlich vom Denken Freuds und Marx’ beeinflußten Werk, die Beobachtung, daß“obwohl die in Schillers Werk vorherrschenden idealistischen und a¨sthetischenSublimierungen dessen radikale Implikationen nicht widerlegen”, diese von Jung erkanntwurden, der, so fu¨gt Marcuse kritisch hinzu, vor diesen “richtig Angst hatte”. Bei Marcuseallerdings verbirgt die a¨sthetische Form die “unterdru¨ckte Einheit zwischen Sinnlichkeitund Verstand” vielmehr als daß sie diese wahrnimmt, und stellt somit “den ewigenWiderstand gegen die Organisation des Lebens durch die Logik der Dominierung, dieKritik am Leistungsprinzip dar”. Marcuse unterscheidet sich somit grundlegend vonSchiller und Jung.4 Drittens unternahm Richard Mu¨ller 1961 einige Studien zumdamaligen Schillerbild, wobei er sich im ersten Teil Jungs Verha¨ltnis zu Schillerwidmete.5 Muller erwahnte aber Jungs Schillerrezeption in PT gar nicht, und deshalb

Studia Neophilologica 71: 62–71, 1999

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 3: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

konnte er nur zum nicht vielsagenden Schluß kommen: “Bei Schiller—besonders beimjugendlichen Schiller—ist alles leidbezogen. Und wie sollte das durch mechanischesDenken erfaßt werden ko¨nnen! Die Krafte des Lebens zu finden, das vermag nach C. G.Jung nur ein Verstehen der urspru¨nglichen seelischen Wirklichkeit” (S. 84).

Viertens wurde die Psychologie Jungs von Elizabeth M. Wilkinson und L. A.Willoughby in ihrer umfangreichen Einleitung und den Anmerkungen zur 1967erAusgabe und U¨ bersetzung von SchillersUber die asthetische Erziehung des Menschenin einer Reihe von Briefen(1795) [AE] haufig erwahnt. Zuerst machen sie auf JungsMeinung (die von Georg Luka´cs geteilt wird) in Psychologische Typen(1921)aufmerksam, derzufolge es “Schillers eigene Dichotomie war, die ihm einen derartunheimlichen Einblick in die Dissoziation des modernen Menschen gab” (WW, S. xliii).6

Zu Recht jedoch kritisierten sie Jung dafu¨r, “den traditionellen Figuren der Rhetorik—enumeratio, inversio, reversio—offensichtlich unzuga¨nglich zu sein” (WW, S. lxvii).Angesichts Jungs typologischer Klassifizierung Schillers warnten Wilkinson undWilloughby rechtzeitig in einer Fußnote: “Jungs Behandlung [dieser Passage] ist einklassisches Beispiel dafu¨r, welche Gefahren auf jene zukommen, die die Totenpsychoanalysieren wollen. Ohne die fu¨r den therapeutischen Prozeß so bedeutendeReziprozitat ist unbedingt auf die Sprachweisenund Kunstformenund nicht nur derenInhalt zu achten” (WW, S. lxvii, Fn.4). Daru¨ber hinaus bemerken Wilkinson undWilloughby, daß Jungs Vorbehalte in bezug auf Schiller, wie jene von C. K. Ogden, I. A.Richards und J. Wood, “eine unzula¨ngliche Wurdigung [. . .] der “Dialektik” von[Schillers] Denken verraten” (WW, S. clxi).7 Wilkinson und Willoughby wieseninsbesonders auf die genaue Bedeutung des Wortesasthetischin Schillers Werken hinund meinen, daß man neben anderen auch Jung den Vorwurf machen kann, SchillersThese nach Kriterien beurteilt zu haben, “die von anderen, dem Wort unmerklichhinzugewachsenen oder explizit hinzugefu¨gten Bedeutungen abgeleitet wurden, odersogar von solchen, die ihm aufgrund seiner eigenen Etymologie anzugeho¨ren scheinen”(S. 303). Schließlich hat der Autor dieses Artikels an anderer Stelle versucht, JungsSchillerrezeption in PT etwas genauer und umfassender zu untersuchen.8

Wahrend sich Wilkinsons und Willoughbys Kommentar hauptsa¨chlich auf JungsBesprechung von Schillers AE in PT konzentriert, handelt dagegen Karin BarnabysAnalyse von Schillers “Vorwegnahme” von Jung fast ausschließlich von der in PTgefuhrten Diskussion vonUber naive und sentimentalische Dichtung(1796) [NSD].Barnaby erkannte, daß “die Begriffe Natur und das Unbewußte” fu¨r Schiller als auch Jungzentral waren: “Alles was Schiller inUber naive und sentimentalische Dichtungdiskutiert,wird als Natur und Beziehung oder das Fehlen derselben zu ihr diskutiert, genauso wieJungs gesamte Theorie auf der Pra¨misse des Unbewußten und der Beziehung desMenschen oder dem Fehlen derselben zu ihr basiert”.9

Im Anschluß an Barnaby und an den bisherigen Forschungen des Autors u¨ber JungsRezeption von Schiller in PT, wird dieser Beitrag versuchen, die Diskussion vonUbernaive und sentimentalische Dichtungin PT neu zu analysieren. Dabei wird dieser Beitragder Frage nachgehen, inwiefern der Begriff der Perso¨nlichkeit sowohl fur Jung als auch fu¨rSchiller ausschlaggebend war. Auf diese Weise soll nicht nur Schillers A¨ sthetikanalytisch-psychologisch gedeutet, sondern auch versucht werden, eine Interpretationvon Jungs Psychologie als ein a¨sthetisches Projekt konsequent zu verfechten. Dadurchwird uns ein Verstehen der analytischen Psychologie ermo¨glicht, welches demMystizismus entgeht, den man ihr oft vorgeworfen hat und dem manche ihrer Anha¨ngerzweifellos erlegen sind.10 Jung druckte es 1931 folgendermaßen aus: “Das Wort«mystisch» ist ja tatsa¨chlich ein Geha¨use aller unreinen Geister, obschon es urspru¨nglichnicht so gemeint war, sondern vielmehr durch den unreinen Allerweltsgebrauch dazuerniedrigt worden ist” (GW17 §83). Anders ausgedru¨ckt: wenn der Vorwurf desMystizismus zutrifft, dann nur in dem a¨sthetischen Sinne, wie das Wort von Goethegebraucht wurde:

Studia Neophil 71 (1999) Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer A¨ sthetik 63

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 4: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

Poesiedeutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lo¨sen;Philosophiedeutet auf die Geheimnisse der Vernunft und sucht sie durchs Wort zu lo¨sen;Mystik deutet auf die Geheimnisse der Natur und Vernunft und sucht sie durch Wort und Bild zu lo¨sen.11

Jungs Schillerrezeption

Die psychologische Typologie hat nun keineswegs den, an sich ziemlich belanglosen,Zweck, Menschen in Kategorien einzuteilen, sondern sie bedeutet vielmehr eine kritischePsychologie, welche eine methodische Untersuchung und Ordnung von seelischenErfahrungsmaterialien ermo¨glichen soll. (C. G. Jung, “Psychologische Typologie”[1936], §1057).

Die einzelnen Stufen von Jungs Schillerrezeption decken sich mehr oder weniger mit dreiPhasen der Entwicklung seiner Psychologie: Seinen fru¨hen Schriften (von 1901 bis 1909);seinen Ubergangswerken (von 1911 bis 1925); und seinen ausgereifteren Werken (mitBeginn der Dreißigerjahre). Zuerst taucht Schiller in Jungs fru¨heren Werken u¨berPsychologie nur selten auf, was auf ihre vornehmlich klinischen Absichten zuru¨ckzu-fuhren ist. So wie Schiller an der Milita¨r-Akademie des Herzogs von Wu¨rttemberg von1776 bis 1780 Medizin studierte und wissenschaftliche Arbeiten u¨ber diePhilosophie derPhysiologie(1779) (von seinen Beurteilern abgelehnt) undUber den Zusammenhang derthierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen(1780) (von seinen Begutachternakzeptiert) schrieb, so begann auch Jung seine Laufbahn als Psychiater und empirischerWissenschaftler an der beru¨hmten Burgho¨lzli-Klinik, wo er Experimente u¨ber dieWortassoziation durchfu¨hrte, bevor er sich eingehend mit der Psychoanalyse Freudsbescha¨ftigte.12 In diesen fruhen Arbeiten ist die Figur Schillers sehr ha¨ufig mit den vonJung an seinem Patienten beobachteten pathologischen Pha¨nomenen verbunden. In “U¨ berspiritistische Erscheinungen” (1905), zum Beispiel, berichtet Jung von der Vision einerVierundzwanzigja¨hrigen, in der ihr Schiller aus seinen Gedichten vorlas (GW18 §712).Und in “Uber die Psychologie der dementia praecox: Ein Versuch” (1907), JungsFallstudie einer paranoiden Demenz, wurde wiederum ein Wortassoziationstest analysiert,der offenbar ein Motiv aus Schillers “Das Lied von der Glocke” (1800) (GW3 §§224–225und 274–275) und einen Hinweis auf die “Die Kraniche des Ibykus” enthielt (1798) (GW3§254). Diese Analyse nahm er in “Der Inhalt der Psychose” (1908/1914) wieder auf (GW3§§375–376; vgl. §372). Als sich Jung wieder auf den Fall in “U¨ ber Konflikte derkindlichen Seele” (1910/1916/1939/1946) bezog, betonte er, daß seine fu¨nfzehnjahrigePatientin im Verlauf ihrer Analyse “Das Lied von der Glocke” wiederholt erwa¨hnte. Beidieser Gelegenheit erinnerte sich Jung sofort an die folgenden Zeilen im Gedicht (GW17§7):

Ach! es ist die treue Mutter,Die der schwarze Fu¨rst der SchattenWegfuhrt aus dem Arm des Gatten [. . .] (SW1, p. 437).

Und sofort brachte Jung auch diese Zeilen in unmittelbaren Zusammenhang mit derUrsache der Psychose seiner Patientin (GW17 §8).

Nach seinem Bruch mit Freud, der mit der Vero¨ffentlichung vonWandlungen undSymbole der Libido(1911/12) [WSL] erfolgte, wurde Jungs Beziehung zu Schillerkomplexer.13 Wahrend der Erarbeitung einer sich von Freud grundsa¨tzlich unterschei-denden Methode, begann Jung mit der Entwicklung von mindestens drei auf SchillersIdeen beruhenden Konzepten der analytischen Psychologie. Zum ersten behauptete Jungin “Uber die Energetik der Seele” (1912–1928), daß sein Versta¨ndnis der Libido alspsychische Energie zumindest teilweise von Schiller abgeleitet sei: “Der Ausdruck«psychische Energie» wird schon seit langem verwendet. Wir finden ihn zum Beispielschon bei Schiller [. . .] Schiller denkt sozusagen energetisch. Er operiert mit Vorstellungen

64 P. Bishop Studia Neophil 71 (1999)

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 5: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

wie «Verlegung der Intensita¨t» u[nd] a[nderen] m[ehr]” (GW8 §26). Zum zweiten deuteteJung in “Uber das Unbewußte” (1918) an, daß es eine Verbindung zwischen seinerVorstellung des Symbols und jener Schillers geben ko¨nnte: “Man sucht und wird wohlauch immer den «mittleren Pfad» suchen, die Bahn, in der das Getrennte sich einigt.Schiller glaubte in der Kunst diesen Weg gefunden zu haben, und zwar im «Symbol» derKunst” (GW8 §24). Zum dritten entwickelte Jung in “U¨ ber die Beziehungen deranalytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk” (1922/1931) eine Unterschei-dung zwischen Introversion und Extraversion auf der Grundlage von SchillersKlassifizierung des Naiven und Sentimentalischen.14 Sobald Jung die Implikationenseiner Abweichung von Freud erkannt und sein eigenes psychologisches System zu Endeentwickelt hatte, konnte er Schiller in die analytische Psychologie integrieren und zurErlauterung seiner Grundideen heranziehen. In einem seiner klassischen Essays, “VomWerden der Perso¨nlichkeit”, der aus einem vor dem Kulturbund in Wien im Jahr 1932abgehaltenen Vortrag hervorging, legte Jung sein Konzept der Perso¨nlichkeit unterbesonderer Zuhilfenahme von Schillers AE dar.15 Ein Zitat aus GoethesWest-o¨stlicherDivan (1819) bildet den Beginn des Referats:

Hochstes Glu¨ck der ErdenkinderSei nur die Perso¨nlichkeit.16

Jung setzte das Problem der Perso¨nlichkeit mit der zentralen, von Schiller in AEuntersuchten Frage gleich, einem Werk, dessen Bedeutung in dieser Hinsicht, so Jung,ubersehen worden war:

Die Sehnsucht nach Perso¨nlichkeit ist zu einem wirklichen Problem geworden, das heute viele Ko¨pfe bescha¨ftigt,im Gegensatz zu fru¨herer Zeit, wo nur ein einziger diese Frage erahnte, Friedrich Schiller, dessen Briefe zurasthetischen Erziehung seit ihrer Entstehung einen mehr als hundertja¨hrigen literarischen Dornro¨schenschlafhinter sich haben (GW17 §284).17

Genauer gesagt, stellte Jung eine Verbindung zwischen dem Problem der Perso¨nlichkeitund Schillers Hauptanliegen, Erziehung und Bildung, her:

Personlichkeit ist die Tat des ho¨chsten Lebensmutes, der absoluten Bejahung des individuell Seienden und dererfolgreichsten Anpassung an das universal Gegebene bei gro¨ßtmoglicher Freiheit der eigenen Entscheidung.Jemandendazuzu erziehen, scheint mir keine geringe Sache zu sein. Es ist wohl die gro¨ßte Aufgabe, die sich diemoderne Geisteswelt gesetzt hat. Eine gefa¨hrliche Aufgabe fu¨rwahr, gefahrlich in einem Umfang, dem selbstSchiller, der sich doch als erster prophetisch in diese Problematik hineingewagt hat, nicht anna¨hernd geahnt hat(GW17 §289).

Wahrend JungalsoSchillersbahnbrechendeoder “prophetische” Arbeitanerkennt, a¨ußert erzugleich die Kritik, daß es Schillers Untersuchungen an Gru¨ndlichkeit mangelte. JungsambivalenteEinstellungzuSchiller, deneralsseinenUnterstu¨tzer anfuhrtunddochzugleichubertreffen will, kommt in seiner ausfu¨hrlichen Auseinandersetzung mit Schiller in PT, imKapitel mit dem Titel “Uber Schillers Ideen zum Typenproblem”, deutlich zum Ausdruck.

PT, Jungs erstes bedeutendes Werk nach WSL, wurde knapp ein Jahrzehnt nach seinemintellektuellen und perso¨nlichen Bruch mit Freud vero¨ffentlicht. Die wichtigste von Jungin PT angewandte Unterscheidung ist jene zwischen Introversion und Extraversion. Jungdefiniert diese beiden Kategorien als Beziehung zwischen Subjekt und Objekt (GW6 §4).Im Falle der Extraversion wendet sich das Interesse des Subjekts dem Objekt zu (GW6§4),18 wahrend bei der Introversion das Interesse des Subjekts sich vom Objekt ab- unddem Selbst zuwendet (GW6 §4).19 Im besonderen weist Jung darauf hin, daß Introversionund Extraversion “gegensa¨tzliche Mechanismen” sind, und vergleicht sie mit denGoetheschen Prozessen Systole und Diastole (GW6 §6).20 Mit anderen Worten, diebeiden Haltungen Extraversion und Introversion sind nicht bloß extreme Unterscheidun-gen, sondern sie bilden eine Polarita¨t, die, so Jung, der Psyche innewohnt.21 Gemaß demJungschen Prinzip des Komplementa¨rismus sind in einer gesunden Psyche beideHaltungen in wechselseitigem Einklang. In Wiedergabe der Schillerschen Konzepte derSelbstregulierung dru¨ckt dies Jung folgendermaßen aus: “Es gibt kein Gleichgewicht und

Studia Neophil 71 (1999) Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer A¨ sthetik 65

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 6: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

kein System mit Selbstregulierung ohne Gegensatz. Die Psyche aber ist ein System mitSelbstregulierung” (GW6 §92).22 Hinzu kommt Jungs Lehre der psychischen Funktionen,die vier solche Funktionen unterscheidet: Denken (GW6 §642–650), Fu¨hlen (GW6 §663–664), Intuition (GW §679–680) und Empfinden (GW6 §674). Diese Kategorien –Introversion und Extraversion, und die vier psychischen Funktionen – bilden dieGrundlage der Jungschen Typologie:

Diese vier Grundfunktionen scheinen mir, soweit meine Erfahrung reicht, zu genu¨gen, um die Mittel und Wegeder bewußten Orientierung auszudru¨cken und darzustellen. Zu einer vo¨lligen Orientierung des Bewußtseinssollten alle Funktionen gleichma¨ßig beitragen; das Denken sollte uns das Erkennen und Urteilen ermo¨glichen, dasGefuhl sollte uns sagen, wie und in welchem Grade etwas fu¨r uns wichtig oder unwichtig ist, die Empfindungsollte uns durch Sehen, Ho¨ren, Tasten usw. die Wahrnehmung der konkreten Realita¨t vermitteln, und die Intuitionendlich sollte uns alle mehr oder weniger verborgenen Mo¨glichkeiten und Hintergru¨nde einer Situation erratenlassen, denn auch sie geho¨ren zu einem vo¨lligen Bild des gegebenen Momentes.23

Von dieser Typologie her war Schiller selber, laut Jung, ein introvertierter Denktypus(GW6 §99). Im besonderen betrachtete Jung Brief XI in AE als fu¨r den Standpunkt desintrovertierten Typus kennzeichnend (GW6 §135–141). Als introvertierter Typus, sobehauptet Jung, war Schiller mehr subjekt- und weniger objekt-orientiert: “AlsIntrovertierter hat Schiller ein besseres Verha¨ltnis zu den Ideen als zu den Dingen derWelt” (GW6 §98). Daher glaubte Jung, daß Schiller in AE “das ihm vorliegende Problemals solches behandelt, wie er es aus seiner eigenen inneren Erfahrung herausgehoben hat”(GW6 §99). Mit dieser Behauptung dru¨ckt Jung eigentlich nur das aus, was Schiller inseinem Brief vom 31. August 1794 an Goethe zugestand, na¨mlich, daß sein Schreiben voneiner spezifischen Kombination philosophischer und poetischer Fa¨higkeiten gepra¨gt sei:“Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisierend, und so schwebe ich als eineZwitterart zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und derEmpfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie”.24 Diese beiden Gabenkonnten jedoch in Konflikt miteinander geraten, wie Jung aus diesem Brief weiterherauslas: “Noch jetzt begegnet es mir ha¨ufig genug, daß die Einbildungskraft meineAbstraktionen und der kalte Verstand meine Dichtung sto¨rt”.25 Und Jung argumentierte,daß Schiller selbst ein scharfes Gespu¨r fur seinen inneren Konflikt habe: “Es istunverkennbar, daß Schiller in seinem perso¨nlichen Leben diesen Konflikt aufs tiefsteempfunden hat” (GW6 §111). Goethe hingegen gilt als extravertierter, fu¨hlender Typus(GW6 §§98, 141, Anm.33, und 282).26 Aber wenn Goethe der Inbegriff des extravertiertenfuhlenden Typus war, so war er auch, mutatis mutandis, Gesamtheit und gelungeneIntegration.27 Jung spricht von der “beinahe vollkommen synthetischen Natur Goethes”(GW6 §117).28 In dieser Hinsicht schließt sich Jung dem Urteil Nietzsches an, der inGotzen-Dammerung (1889) schrieb: “Was [Goethe] wollte, war Totalita¨t [. . .] erdisziplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich.. .”.29 Auch wenn Jung sich gern als einNachfolger Goethes darstellen la¨ßt, ist es nicht verwunderlich, daß auch Schiller zu einerderart faszinierenden Fallstudie fu¨r Jung wurde, da dieser sich selbst als einenintrovertierten Denktypus sah (GW6 §99).30

Obwohl Jung die Gegensa¨tze betont und offensichtlich die Vergleiche zwischen seinenpsychologischen Theorien in PT und Schillers Argument fu¨r asthetische Bildung in AEubersieht, gibt es viele bedeutende strukturelle U¨ bereinstimmungen zwischen Jungs Ideedes Unbewußten und Schillers Begriff des A¨ sthetischen. Diese Parallelen zwischen derJungschen Psychologie und der Schillerschen A¨ sthetik manifestieren sich in vier zentralenBegriffen: der Imagination; der Bedeutung des Spiels; dem Symbol und schließlich demasthetischen Schein.

Im Anhang zu seiner Diskussion von AE wendet sich Jung der im folgenden Jahr (1796)veroffentlichten Abhandlung Schillers,Uber naive und sentimentalische Dichtung[NSD],zu. Jung ra¨umt zu Beginn ein, auf eine klare Parallele zwischen der Typologie von NSDund seiner eigenen gestoßen zu sein. In der Tat hatte Jung in seiner auf demPsychoanalytischen Kongress in Mu¨nchen im Jahre 1913 gehaltenen Vorlesung “Zur

66 P. Bishop Studia Neophil 71 (1999)

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 7: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

Frage der psychologischen Typen” zwischen dem Introvertierten und Naiven und demExtravertierten und Sentimentalischen eine Parallele gezogen: “Der Naive «ist Natur», derSentimentalische «sucht sie»” (GW6 §945; vgl. SW5, S. 712 und 716). Die von Jungneuformulierten Definitionen Schillers des Naiven und Sentimentalischen ko¨nnten anhandder Subjekt-Objektbeziehung interpretiert werden: “Der, der die Natur als Objekt suchtoder begehrt, hat sie nicht, er wa¨re demnach der Introvertierte, und umgekehrt wa¨re der,der schon Natur selber ist, also mit dem Objekt in innigster Beziehung steht, einExtravertierter” (GW6 §198). In einer von Jung nicht zitierten Passage argumentiertSchiller, daß historisch der Ru¨ckzug der Natur als (psychologisches) Subjekt mutatismutandis mit dem Auftreten einer (zweiten) Natur als (artistischem) Objekt einhergehe:“So wie nach und nach die Natur anfing, aus dem menschlichen Leben als Erfahrung undals das (handelnde und empfindende) Subjekt zu verschwinden, so sehen wir sie in derDichterwelt als Idee und als Gegenstand aufgehen” (SW5, S. 711).31 Roland Marleynbehauptete, daß Schiller “die typologische Dichotomie “naiv-sentimentalisch” mit demhistorischen Dualismus “alt-modern” verband, da er der Meinung war, daß die Dichter undKunstler des griechischen Altertums “naiv” und die meisten der darauf folgendenPerioden “sentimentalisch” waren”.32

Acht Jahre spa¨ter fand Jung in PT dieses Interpretationsmodell zu simpel. Nun lehnt erin seinem Kommentar u¨ber Schillers Definitionen des naiven Dichters als demNaturidentischen und des sentimentalischen als dem Natursuchenden diese als “verfu¨h-rerisch” und seine fru¨here Ansicht als “gewaltsame Interpretation” (GW6 §198) ab. Jungmeint abschließend, daß Schillers Unterscheidung zwischen dem Naiven und Sentimen-talischen nicht so sehr fu¨r den Dichter als fu¨r die Dichtung gilt.33 Jung zufolge trifftSchillers Unterscheidung weniger auf das Typenproblem und mehr auf die Frage dertypischen Mechanismen zu.

Jung pra¨sentiert eine Reihe von Zitaten, in denen Schiller die Beziehung zwischen demnaiven Dichter und der Natur diskutiert (GW6 §199; vgl. SW5, S. 720, 753, 755 und 759–760). Wenn Schiller schreibt, daß “das naive Genie [. . .] die Natur in sich unumschra¨nktwalten [laßt]”, interpretiert Jung die Beziehung als Introjektion oder als Le´vy-Bruhlsparticipation mystique(GW6 §199).34 Mit anderen Worten, die naive Haltung ist durchdas Objekt bedingt: “Der naiv Eingestellte ist daher in hohem Maß durch das Objektbedingt, das Objekt wirkt sich sozusagen selbsta¨ndig in ihm aus, es erfu¨llt sich selbst inihm, indem er selber mit dem Objekt identisch wird” (GW6 §199). In einer Fußnote inNSD außert sich Schiller daru¨ber, wie sehr der naive Dichter vom Objekt abha¨ngig ist:“Wie sehr der naive Dichter von seinem Objekt abha¨nge, und wie viel, ja wie alles auf seinEmpfinden ankomme, daru¨ber kann uns die alte Dichtkunst die besten Belege geben”(SW5, S. 756). Anders ausgedru¨ckt betrachtet Jung die naive Haltung als extravertiert:“Insofern ist naive Einstellung extravertiert” (GW6 §199). Ebenso hat der sentimenta-lische Dichter bei Schiller eine besondere Beziehung zur Natur (GW6 §200; vgl. SW5, S.720, 753–754 und 760). In diesem Fall dient die reflektive Qualita¨t der sentimentalischenHaltung zur Distanzierung vom Objekt: “Er ist unterschieden vom Objekt, nicht identischmit ihm, er sucht seine Beziehung zu ihm herzustellen, seinen «Stoff zu beherrschen»”(GW6 §201; vgl. SW5, S. 760). Jung betrachtet also die sentimentalische Haltung alsintrovertiert: “Seine Einstellung ist also eine introvertierte” (GW6 §201).35

Schließlich widmet sich Jung dem Schluß von NSD, in der Schiller mit einer weiterentypologischen Dichotomie aufwartet, die er als “einen sehr merkwu¨rdigen psycholo-gischen Antagonism unter den Menschen in einem sich kultivierenden Jahrhundert”beschreibt (SW5, S. 769). Schillers Einteilung der psychologischen Typen in NSD in denRealisten und den Idealisten, sowie seine Wiedergabe der Passage von Heine am Beginnzu PT36 erlangen fu¨r Jung diesselbe Bedeutung, die er dem Introvertierten und demExtravertierten zuschreibt: “Ich kann in bezug auf die gegenseitige Beziehung der beidenvon mir aufgestellten Typen sozusagen Wort fu¨r Wort besta¨tigen, was Schiller von seinenTypen sagt” (GW6 §204). Aber sowohl mit der Umkehrung seiner typologischen Analyse

Studia Neophil 71 (1999) Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer A¨ sthetik 67

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 8: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

des Naiven und Sentimentalischen in bezug auf Introversion und Extraversion, als auchder Neuabstimmung von Introversion und Extraversion mit Idealismus und Realismuszieht Jung eine neue Parallele mit einem weiteren Paar typologischer Kategorien. LautJung ist das Naive von der psychologischen Funktion der Empfindung charakterisiert—“[d]ie Empfindung bindet an das Objekt, ja sie zieht sogar das Subjekt in das Objekt, daherdie «Gefahr» fu¨r den Naiven besteht, daß er im Objekt untergeht” (GW6 §202)—wa¨hrenddas Sentimentalische von der Intuition bestimmt ist:

Die Intuition als eine Wahrnehmung der eigenen unbewußten Vorga¨nge zieht vom Objekt an, erhebt sich u¨ber dasObjekt, sucht daher immer den Stoff zu beherrschen und nach subjektiven Gesichtspunkten zu formen, sogar zuvergewaltigen, ohne dessen bewußt zu sein. Die «Gefahr» des Sentimentalischen ist daher eine vo¨llige Loslosungvon der Realita¨t und der Untergang in der dem Unbewußten entstro¨menden Phantasie («Schwa¨rmen»!) (GW6§202).37

Der sprachliche Ausdruck von Jungs Formulierung dieser Kategorien geht eindeutig aufSchiller zuruck, auch wenn Jung spa¨ter behauptet, sie als Reaktion auf die IdeenNietzsches geschaffen zu haben (GW6 §222). In seinem Kapitel u¨ber das Apollinische undDionysische bezeichnet Jung Empfindung und Intuition als repra¨sentativ fur einen derlogisch-rationalen Bearbeitung entgegengesetzten Standpunkt, den er wirkungsvoll alsasthetischbezeichnet:

Es gibt nun aber auch einen ganz andern Standpunkt, von dem aus die logisch-rationale Bearbeitung ungu¨ltig ist.Dieser andere Standpunkt ist der a¨sthetische. Er verweilt in der Introversion bei derAnschauungder Ideen, erentwickelt die Intuition, die innere Anschauung; in der Extraversion verweilt er bei derEmpfindungundentwickelt die Sinne, den Instinkt, die Affizierbarkeit. Fu¨r diesen Standpunkt ist das Denken keinesfalls dasPrinzip der inneren Wahrnehmung der Ideen und ebenso wenig das Gefu¨hl, sondern fu¨r ihn ist vielmehr dasDenken und Fu¨hlen bloßes Derivat der inneren Anschauung oder der Sinnesempfindung (GW6 §222).

Oberflachlich betrachtet wird das Wortasthetischhier von Jung in einer Bedeutungverwendet, die KantsKritik der Vernunftnaher steht als Baumgarten oder Schiller. DochJungs “innere Anschauung” ist nicht allzu weit von “a¨sthetischer Anschauung” entfernt.So deutet er zum Beispiel an, daß die a¨sthetischen Funktionen zwischen Vernunft undGefuhl vermitteln, wobei er diesen Funktionen eine sekunda¨re Bedeutung zuschreibt. Alssolches wu¨rde das A¨ sthetische Jung ein Medium zur Einigung der Gegensa¨tze zwischenGeist und Korper, Verstand und Gefu¨hl, Denken und Fu¨hlen bieten. In NSD sowie in AEwird “die Schonheit” als “das Produkt der Zusammenstimmung zwischen dem Geist undden Sinnen” definiert (SW5, S. 765). Diese a¨sthetische Einheit wird an anderer Stelle inNSD als “ein gemeinschaftlich ho¨herer Begriff” (SW5, S. 718) oder das poetische Idealbezeichnet. Wie Schiller selbst zugesteht, haben sowohl das Naive als auch dasSentimentalische poetische Qualita¨t (“Poetisches”) (SW5, S. 770). Laut Schiller ko¨nnenweder das Naive noch das Sentimentalische fu¨r sich dieses Ideal erreichen: “Denn endlichmussen wir es doch gestehen, daß weder der naive noch der sentimentalische Charakter,fur sich allein betrachtet, das Ideal scho¨ner Menschlichkeit ganz erscho¨pfen, das nur ausder innigen Verbindung beider hervorgehen kann” (SW5, S. 768–769). Wie RolandMarleyn bemerkte, ist das poetische Ideal “die Verschmelzung des Naiven undSentimentalischen”.38 Daher repra¨sentiert das poetische Ideal die Gesamtheit, die dasZiel der Schillerschen A¨ sthetik ist: “[D]ie poetische Stimmung ist ein selbsta¨ndigesGanze, in welchem alle Unterschiede und alle Ma¨ngel verschwinden” (SW5, S. 769). ImGegensatz zum dreiheitlichen, aus dem Physischen, dem A¨ sthetischen und demMoralischen bestehenden Muster in AE, weist NSD die dreigestaltete Struktur von Natur,Kunst und Ideal auf, in dem Kunst zur (zweiten) Natur zuru¨ckkehrt (SW5, S. 752): “DieNatur macht [den Dichter] mit sich eins, die Kunst trennt und entzweiet ihn, durch dasIdeal kehrt er zur Einheit zuru¨ck” (SW5, S. 718). Am Beginn zu NSD meint Schiller, daßderartige natu¨rliche Objekte wie eine bescheidene Blume, eine Quelle, ein moosbedeckterStein, Vogelgezwitscher und Bienengesumme “das stille schaffende Leben, das ruhigeWirken aus sich selbst, das Dasein nach eignen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, dieewige Einheit mit sich selbst” darstellen (SW5, S. 695):

68 P. Bishop Studia Neophil 71 (1999)

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 9: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

Siesind, was wirwaren; sie sind, was wir wiederwerden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur solluns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zuru¨ckfuhren (SW5, p. 695)

Schiller beschreibt weiters sogar “das Ideal der Scho¨nheit” als “de[n] Begriff [. . .] einerfreien Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur ho¨chsten sittlichen Wu¨rdehinaufgelauterten Natur”, fu¨r das wahre Leben angewandt (SW5, S. 751). Fu¨r Schiller undJung bleibt eine Natur, zu der man u¨ber die Kunst “zuru¨ckkehren” kann. Hier wird Naturin einer T. W. Adorno und Max Horkheimer a¨hnlichen Bedeutung verwendet, die inDialektik der Aufklarung (1947) folgendes schrieben: “Durch solches Eingedenken derNatur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt,ist Aufklarung der Herrschaft u¨berhaupt entgegengesetzt”.39

Ein Hinweis auf das etwaige letzte Stadium des Jungschen Individuationsprozessesfindet sich im abschließenden Teil von Jungs Autobiographie, wo eine Art Verwandtschaftmit der Natur eine unerwartete Vertrautheit mit sich selbst zum Vorschein bringen soll:

Und doch gibt es so viel, was mich erfu¨llt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige inden Menschen [. . .] Ja, es kommt mir vor, als ob jene Fremdheit, die mich von der Welt solange getrennt hatte, inmeine Innenwelt u¨bergesiedelt wa¨re und mir eine unerwartete Unbekanntheit mit mir selber offenbart ha¨tte (ETG,S. 361).

Daruber hinaus entspricht das, was Schiller in NSD als das poetische Ideal beschreibt, sehrgenau dem, was Jung in “Vom Werden der Perso¨nlichkeit” als das psychologische Idealder Perso¨nlichkeit bezeichnet:

Die Perso¨nlichkeit als eine vo¨llige Verwirklichung der Ganzheit unseres Wesens ist ein unerreichbares Ideal. DieUnerreichbarkeit ist aber nie ein Gegengrund gegen ein Ideal, denn Ideale sind nichts als Wegweiser und niemalsZiele (GW17 §291).

Dept of German Language and LiteratureUniversity of GlasgowGlasgowG12 8QLU.K.

NOTES

1 In diesem Artikel werden Jungs Werke nach denGesammelten Werkenzitiert, hrsg. von Lilly Jung-Merkeru.a., 20 Bde. Zu¨rich and Stuttgart/Olten und Freiburg im Breisgau 1958–1995); zitiert im Text als GW mitBand- und Paragraphennummer. Weitere zitierte Werke Jungs sind:Wandlungen und Symbole der Libido:Beitrage zur Entwicklungsgeschichte des Denkens[1911/1912], Munchen 1991; und C. G. Jung/Aniela Jaffe´,Erinnerungen, Tra¨ume, Gedanken[1962], Olten und Freiburg im Breisgau 1971. Fu¨r die jeweiligen WerkeJungs werden die folgenden Abku¨rzungen verwendet: WSL =Wandlungen und Symbole der Libido;PT =Psychologische Typen(1921); ETG =Erinnerungen, Tra¨ume, Gedanken. Schillers Werke werden ausseinenSamtlichen Werkenzitiert, hrsg. von Gerhard Fricke and Herbert G. Gopfert, 5 Bde. Mu¨nchen 1965–1967; zitiert im Text als SW mit Band- plus Seitennummer. Weiters werden folgende Abku¨rzungenverwendet: AE =Uber die asthetische Erziehung des Menschen(zitiert nach Brief- plus Abschnittnummer);NSD =Uber naive und sentimentalische Dichtung; WW = Elizabeth M. Wilkinson und L. A. Willoughby,“Einleitung”, On the Aesthetic Education of Man in a Series of Letters, Oxford l967. Fur wissenschaftlicheBeratung bei dieser Arbeit mo¨chte ich Herrn Professor R. H. Stephenson, sowie fu¨r sprachliche Beratung FrauDr. Andrea Mayr, herzlich danken.

2 Morris Philipson,Outline of a Jungian Aesthetics, Evanston, Ill. 1963.3 “[Jungs] exemplarischer Fall von Illusion ist nicht das reflektierte Bild, sondern der Traum; und in einem

Traum gibt es Gera¨usche, Geru¨che, Gefu¨hle, Geschehnisse, Absichten und Gefahren—alle mo¨glichenunsichtbaren Elemente—sowie auch sichtbare, und alle sind gleichermaßen unreal nach den Maßsta¨ben deroffentlichen Tatsachen” (Susanne K. Langer,Feeling and Form: A Theory of Art developed from Philosophyin a New Key, London 1953, S. 48).

4 Herbert Marcuse,Eros and Civilization: A Philosophical Enquiry into Freud, London 1956, S. 192 und 144.Marcuse behauptet: “Als a¨sthetisches Pha¨nomen ist die kritische Funktion der Kunst unsinnig. Gerade dieVerpflichtung der Kunst zur Form beeintra¨chtigt die Negation der Unfreiheit in der Kunst. Um negiert zuwerden, muß Unfreiheit im Kunstwerk mit dem Schein von Realita¨t reprasentiert werden. Dieses Element vonSchein unterwirft die Realita¨t asthetischen Maßsta¨ben und nimmt ihr so den Schrecken” (S. 144).

Studia Neophil 71 (1999) Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer A¨ sthetik 69

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 10: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

5 Richard Muller, Studien zum heutigen Schillerbild. Teil I: Friedrich Schiller und C. G. Jung, Gottingen 1961.6 Siehe Georg Luka´cs, “Schriftsteller und Kritiker”, in:Essays u¨ber Realismus, Berlin/DDR 1948, S. 243.7 WW, S. clxi. Siehe C. K. Ogden, I. A. Richards und James Wood,The Foundations of Aesthetics, London

1922, S. 81. Wilkinson und Willoughby bemerkten den Einfluß, den Jungs Analyse von Schiller in PT auf SirHerbert ReadsEducation through Art(1943) hatte. Herbert Read war einer der ersten Herausgeber der anglo-amerikanischen Ausgabe von JungsCollected Works.

8 Siehe P. Bishop,The Dionysian Self: C. G. Jung’s Reception of Friedrich Nietzsche, Berlin und New York1995, S. 124–155; und “U¨ ber die Rolle des A¨ sthetischen in der Tiefenpsychologie: Zur Schillerrezeption inder Analytischen Psychologie C. G. Jungs”. In:Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft1998: 42, S.358–400.

9 Karin Barnaby, “A Poet’s Intuition: Schiller’s Anticipation of C. G. Jung’s Psychology in ‘U¨ ber naive undsentimentalische Dichtung”’. In:Friedrich von Schiller and the Drama of Human Existence, hrsg. von AlexjUgrinsky, New York/London 1988, S. 119–128 (S. 121).

10 In einer Fußnote in WSL, in der der Begriff der “Psychosynthese” untersucht wird, ra¨umt Jung ein: “Man wirdmir diesmal kaum den Vorwurf des Mystizismus ersparen” (WSL, S. 66, Anm. 20). Siehe auch Aniela Jaffe´“C. G. Jung—ein Mystiker?”. In:Mystik und Grenzen der Erkenntnis, Zurich 1988, S. 15–37.

11 Maximen und Reflexionen, Nr. 1002 (Hecker). In: Goethe,Werke[Hamburger Ausgabe], hrsg. von ErichTrunz, 14 Bde. Mu¨nchen 1981, XII, S. 493.

12 Siehe Kenneth Dewhurst and Nigel Reeves,Friedrich Schiller. Medicine, Psychology and Literature,Berkeley, CA 1978. Fu¨r Jungs empirische wissenschaftliche Schriften, siehePsychiatrische Studien(GW1),Experimentelle Untersuchungen(GW2); fur seine Werke u¨ber Freud, siehePsychogenese der Geisteskran-kheiten(GW3) andFreud und die Psychoanalyse(GW4).

13 Freuds Identifizierung mit Goethe und Jungs Kultivierung der Familienlegende, derzufolge sein Großvater einleiblicher Sohn Goethes gewesen sei, ko¨nnten mehr oder weniger dafu¨r entscheidend gewesen sein, die zweitegroße Figur des Weimarer Klassizismus in den Vordergrund zu ru¨cken. Barnaby weist dagegen auf diebiographischen Parallele zwischen Schiller und Jung hin: “Es besteht eine Gleichgesinntheit, die u¨ber ihreUbereinstimmung im Bereich der psychologischen Typen hinausgeht: Beide studierten Medizin; beide hattenein intensives Interesse fu¨r die Philosophie; fu¨r jeden war das Studium von Kants Werken ein Wendepunkt inseinem Leben; jeder suchte nach seiner Identita¨t anhand der Perso¨nlichkeitsunterschiede zu seinemberuhmteren Zeitgenossen: Schiller zu Goethe, Jung zu Freud” (a.a.O., S. 120).

14 Im Hinblick auf Schillers Werk argumentierte Jung, daß dessen Theaterstu¨cke und ein Großteil der Gedichtedie introvertierte Haltung veranschaulichen (GW15 §111).

15 Basierend auf dem Vortag “Die Stimme des Innern” wurde “Vom Werden der Perso¨nlichkeit” 1934 inWirklichkeit der Seele(GW17 §§284–323) vero¨ffentlicht.

16 “Volk und Knecht und U¨ berwinder”,Buch Suleika(Werke, II, S. 71).17 Jung beteuert zu sehr, daß die Perso¨nlichkeit im 18. Jahrhundert ein vernachla¨ssigter Begriff gewesen sei. Um

nur ein Beispiel anzufu¨hren, diskutierte Kant in der ersten Ausgabe der ersten KritikPersonlichkeit imAbschnitt uber den dritten Paralogismus der reinen Vernunft (Kritik der reinen Vernunft[A 362]). Und inseiner zweiten Ausgabe definierte KantPersonlichkeit als “die Freiheit und Unabha¨ngigkeit von demMechanismus der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermo¨gen eines Wesens betrachtet, welcheseigentumlichen, namlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen, die Personalso, als zur Sinnenwelt geho¨rig, ihrer eigenen Perso¨nlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zurintelligibelen Welt geho¨rt” (Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, I. Buch, 3. Hauptstu¨ck: “Von denTriebfedern der reinen praktischen Vernunft”).

18 “Das Objekt [wirkt] wie ein Magnet auf die Tendenzen des Subjekts, es zieht sie an und bedingt das Subjekt inhohem Maße, ja, es entfremdet sogar das Subjekt sich selber und vera¨ndert dessen Qualita¨ten im Sinne einerAngleichung an das Objekt so sehr, daß man meinen ko¨nnte, das Objekt sei von ho¨herer und in letzter Linie vonausschlaggebender Bedeutung fu¨r das Subjekt, und als sei es gewissermaßen eine absolute Bestimmung und einbesonderer Sinn von Leben und Schicksal, daß das Subjekt sich ganz an das Objekt aufgebe” (GW6 §4).

19 “Das Subjekt [ist und bleibt] das Zentrum aller Interessen. Man ko¨nnte sagen, es scheine, als ob in letzter Liniealle Lebensenergie das Subjekt suche und darum stets verhindere, daß das Objekt einen irgendwieubermachtigen Einfluß erhalte. Es scheint, als ob die Energie vom Objekt wegfließe, als ob das Subjekt derMagnet sei, der das Objekt an sich ziehen wolle” (GW6 §4).

20 Siehe Goethe, “Nachbarliche Verha¨ltnisse”,Zur Farbenlehre(Werke, XIII, S. 488).21 Laut Goethe bildeten “der Begriff vonPolaritat und vonSteigerung”die “zwei großen Triebra¨der aller Natur”

(Werke, XIII, p. 48). Zur weiteren Diskussion siehe Rolf Christian Zimmerman, “Goethes Polarita¨tsdenken imgeistigen Kontext des 18. Jahrhunderts”. In:Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft1974: 18, S. 304–347; und William Willeford, “Jung’s Polaristic Thought in its Historical Setting”. In:Analytische Psychologie1975: 6, S. 218–239.

22 In “Uber die Psychologie des Unbewußten” (1917/1918/1925/1936/1942); siehe auch GW7 §275; GW8§158–159; und GW16 §330. Wie Anthony Storr erkla¨rte, ist der Begriff der selbstregulierenden Psyche eineder bedeutendsten Erkenntnisse der analytischen Psychologie: “Die Idee der Selbstregulierung zieht sichdurch Jungs Gesamtschema u¨ber die Funktionsweise des Gehirns und erkla¨rt zum Großteil seine Ansicht u¨berTraume [. . .] Kompensation und Selbstregulierung sind ein integraler Bestandteil von [Jungs] Typentheorie”

70 P. Bishop Studia Neophil 71 (1999)

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014

Page 11: Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer sthetik und in dem Pers nlichkeitsbegriff der analytischen Psychologie

(C. G. Jung,Ausgewa¨hlte Schriften, hrsg. von Anthony Storr, London 1983, S. 17–18).23 C. G. Jung, “Psychologische Typen” [1923/1925] (GW6 §965).24 Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hrsg. von Siegried Seidel, 3 Bde. Mu¨nchen 1984, I, S. 18. In

PT zitiert Jung eine spa¨tere Passage dieses Briefs an Goethe (GW6 §116–117), als auch Schillers Brief anGoethe vom 5. Januar 1798 (I, S. 18) und Goethes Briefe an Schiller vom 6. Januar 1798 (II, S. 10–11) und 27.April 1798 (II, S. 11–14) (GW6 §137 und 141).

25 Briefwechsel, I, S. 18.26 Zu Schillers eigenen Charakterisierung Goethes siehe seinen Briefwechsel mit Ko¨rner. Am 2. Februar 1789, –

mit anderen Worten beinahe fu¨nf Jahre vor seiner wirklichen Bekanntschaft mit Goethe – beschwerte sichSchiller: “[Goethe] ist ein Egoist in ungewo¨hnlichem Grade. Er besitzt das Talent, die Menschen zu fesselnund durch kleine sowohl als große Attentionen sich verbindlich zu machen; aber sich selbst weiß er immer freizu behalten” (Schiller,Briefe, hrsg. von Fritz Jonas, 7 Bde. (Stuttgart/Leipzig/Berlin/Wien: Deutsche Verlags-Anstalt, 1892), II, S. 218). Und am 1. November 1790 schrieb Schiller an Ko¨rner: “[Goethes] Philosophie magich auch nicht ganz: sie holt zuviel aus der Sinnenwelt, wo ich aus der Seele hole. U¨ berhaupt ist seineVorstellungsart zu sinnlich undbetastetmir zuviel” (III, S. 113).

27 Wilkinson und Willoughby faßten die Folgen der Zusammenkunft Schillers mit Goethe mit den folgendenWorten zusammen: “Vor allem war er gezwungen seinen Begriff von der ‘Ganzheit’ der Perso¨nlichkeit zurevidieren [. . .] Hier war jemand, den man zu Recht als vo¨llig abgerundetes und gut integriertes menschlichesWesen ha¨tte bezeichnen ko¨nnen. Und doch war er zugleich auch ein hoch spezialisiertes Individuum, einDichter, der Ganzheit—im Sinne eines perfekt koordinierten Spiels aller seiner Kra¨fte—nur im fluchtigenMoment der a¨sthetischen Betrachtung genoß, sie ansonsten jedoch den ma¨chtigen Notwendigkeiten einesanspruchsvollen Handwerks unterordnete” (WW, S. xxxix).

28 Siehe Schillers Briefe an Goethe vom 23. August (I, S. 9–12) und 20. Oktober 1794 (I, S. 30–31), sowieGoethes Brief an Schiller vom 26. Oktober 1794 (I, S. 31–32).

29 Friedrich Nietzsche,Werke, hrsg. von Karl Schlechta, 3 Bde. Munich 1966, II, S. 1024.30 Siehe Anthony Storr,Jung, London 1973, S. 78–79; undC. G. Jung Speaking, hrsg. von William McGuire und

R. F. C. Hull, Princeton, NJ 1977, S. 256.31 Siehe G. A. Wells, “Schiller’s View of Nature inUber naive und sentimentalische Dichtung”. In: Journal of

English and Germanic Philology1966: 65, S. 491–510.32 Roland Marleyn, “The Poetic Ideal in Schillers ‘U¨ ber naive und sentimentalische Dichtung”’. In:German Life

and Letters1955–56: 9, S. 237–245 (S. 237).33 Wie Jung argumentiert: “Derselbe Dichter kann in einem Gedicht sentimentalisch sein, in einem andern aber

naiv” (GW6 §198). Schiller selbst erkla¨rt in einer Fußnote, daß das Naive und Sentimentalische im selbenWerk vorkommen ko¨nnen, und verweist auf das Beispiel vonDie Leiden des jungen Werther(SW5, S. 717).

34 Siehe Lucien Le´vy-Bruhl,Les Fonctions mentales dans les socie´tes inferieures, Paris 1910. In PT erkla¨rt Jungparticipation mystiquefolgendermaßen: “Diese Identita¨t stellt sich immer her u¨ber eine Analogie zwischendem Objekt und einem unbewußten Inhalt. Man kann auch sagen: die Identita¨t kommt zustande durch dieProjektion einer unbewußten Analogieassoziation auf das Objekt. Eine solche Identita¨t hat immer zwingendenCharakter, weil es sich um eine gewisse Libidosumme handelt, die, wie jede aus dem Unbewußten wirkendeLibidoquantitat, in bezug auf das Bewußte Zwangscharakter hat, d.h. sie ist dem Bewußtsein nicht disponibel”(GW6 §199).

35 Jungs Ansichten u¨ber das Apollinische und Dionysische machen zwischen 1913 (“Zur Frage derpsychologischen Typen”) und 1921 (PT) eine a¨hnliche Wandlung durch. Zur weiteren Diskussion sieheBishop,The Dionysian Self, a.a.O., S. 124–126 und 139–142.

36 PT beginnt mit einer Passage aus HeinesZur Religion und Philosophie in Deutschland(1835), die Platon mitAristoteles kontrastiert. Siehe auch KantsKritik der reinen Vernunft(1781) (A 854/B 882) und GoethesZurFarbenlehre(1805–1810) (Werke, XIV, S. 54). Der Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles ist nicht neu,und Schiller selbst sagt u¨ber den Realisten und Idealisten: “Dieser Gegensatz ist ohne Zweifel so alt als derAnfang der Kultur” (SW5, S. 769).

37 Schiller verurteilt hier sehr in der Tradition der Aufkla¨rung insbesondereSchwa¨rmereiin NSD (SW5, S. 759),und endet seine Abhandlung mit einer warnenden Bemerkungen u¨ber die potentiell zersto¨rerischen Folgen derPhantasterei(SW5, S. 780).

38 Siehe Marleyn, S. 243; und Olive Sayce, “Das Problem der Vieldeutigkeit in Schillers a¨sthetischerTerminologie”. In:Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft1962: 6, S. 149–177 (S. 172).

39 Max Horkheimer und T. W. Adorno,Dialektik der Aufkla¨rung: Philosophische Fragmente, Frankfurt amMain 1969, S. 47. Zur weiteren Diskussion siehe Tilman Evers,Mythos und Emanzipation: Eine kritischeAnnaherung an C. G. Jung, Hamburg 1987, sowie Heinz Gess,Vom Faschismus zum Neuen Denken: C. G.Jungs Theorie im Wandel der Zeit, Luneburg 1994.

Studia Neophil 71 (1999) Das Naive und das Sentimentalische in der Weimarer A¨ sthetik 71

Dow

nloa

ded

by [

McM

aste

r U

nive

rsity

] at

22:

30 0

9 D

ecem

ber

2014