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(Aus der Privatklinik Dr. Speer in Lindau [Bodensee].) Das Problem der Sucht. Von Ernst Speer. (Eingegangen am 20. November 1936.) I. Grunds~itzliehes 1. Wer das Problem der Sucht aufgreift, der findet zun~chst, dal~ es fiber die ganze Welt verbreitet ist und dab die Zahl der Gifte, mit denen ein Mensch siichtig werden kann, sehr grol~ ist. Die Mittel selbst sind unter sieh vSllig verschieden. Es zeigt sich zwar, dal~ die mit Rausch- gfften Sfichtigen relativ zahlreich sind und dal~ sie besonders eindringlich das 5ffentliche Interesse erregen, es ergibt sich aber zugleich, dab zur Bildung einer Sucht nicht etwa nur Rauschgifte Vorbedingung sind. Man kann nicht nut an Alkohol, an Opiaten, an Narkosemitteln und Schlafmitteln sfichtig werden, man wird es auch an viel einfacheren Genul~mittelgiften, wie es der Kaffee und der Tee enthalten, man kann baldriansfichtig werden und man kann nicht nur am nicotinhaltigen Tabak sfichtig sein, sondern auch an nicotinfreiem. Es gibt flie[~ende ~bergiinge yon den schweren Rauschgiftsuchten bis hinfiber zur Vor- stellung, bei jedem noch so leichten Unbehagen eine Tablette Aspirin ein- nehmen zu mfissen und selbstversti~ndlich besteht auch eine inhere Ver- wandtschaft zwischen der Sucht und den Zwangskrankheiten. Es handelt sich also sicher nicht um eine pharmakologische Frage- stellung bei der Aufrollung des Problems der Sucht, sondern vielmehr um ein allgemein menschliches Problem schlechthin. Denn was ist Sucht ? Mit dem Wort Sucht bezeichnen wir ein Zustandsbild, alas Menschen in zwingender Abhiingigkeit yon einem Mittel zeigt. Wer welter untersucht, finder, dab eben nicht das Mittel das Wesentliche an diesem Zustand ist, sondern die Hal.tungsanomalie der betro//enen Per- s6nlichkeit. Wenn es nicht so w~re, dann k6nnte es hie zu Suchten kommen mit den harmlosen Mitteln, die auI3erhalb der Rauschgiftreihe stehen, oder mit vSllig giftfreien Mitteln. :Der Versuch, das Problem der Sucht aufzuk[~ren, wird also immer scheitern, wenn er von rein pharmakologischen Erw~gungen ausgeht. Unter welchen Umsti~nden entsteht nun eine Haltungsanoma]ie, die wesentliche Voraussetzung der Sucht ist ? Zur Beantwortung dieser Frage mSchte ich zun~chst auf klinische Beobachtungen und Effah- rungen zurfickgreifen, die ich der Morphiumsucht gegenfiber gemacht 1 Der Abschnitt I dieser Arbeit wurde auf der 61. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen und Psychiater am 4. und 5. Juli 1936in Baden-Baden als Vortrag gehalten.

Das Problem der Sucht

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(Aus der Privatklinik Dr. Speer in Lindau [Bodensee].)

Das Problem der Sucht. Von

Ernst Speer. (Eingegangen am 20. November 1936.)

I. Grunds~itzliehes 1.

Wer das Problem der Sucht aufgreift, der findet zun~chst, dal~ es fiber die ganze Welt verbreitet ist und dab die Zahl der Gifte, mit denen ein Mensch siichtig werden kann, sehr grol~ ist. Die Mittel selbst sind unter sieh vSllig verschieden. Es zeigt sich zwar, dal~ die mit Rausch- gfften Sfichtigen relativ zahlreich sind und dal~ sie besonders eindringlich das 5ffentliche Interesse erregen, es ergibt sich aber zugleich, dab zur Bildung einer Sucht nicht etwa nur Rauschgifte Vorbedingung sind. Man kann nicht nut an Alkohol, an Opiaten, an Narkosemitteln und Schlafmitteln sfichtig werden, man wird es auch an viel einfacheren Genul~mittelgiften, wie es der Kaffee und der Tee enthalten, man kann baldriansfichtig werden und man kann nicht nur am nicotinhaltigen Tabak sfichtig sein, sondern auch an nicotinfreiem. Es gibt flie[~ende ~bergiinge yon den schweren Rauschgiftsuchten bis hinfiber zur Vor- stellung, bei jedem noch so leichten Unbehagen eine Tablette Aspirin ein- nehmen zu mfissen und selbstversti~ndlich besteht auch eine inhere Ver- wandtschaft zwischen der Sucht und den Zwangskrankheiten.

Es handelt sich also sicher nicht um eine pharmakologische Frage- stellung bei der Aufrollung des Problems der Sucht, sondern vielmehr um ein allgemein menschliches Problem schlechthin. Denn was ist Sucht ? Mit dem Wort Sucht bezeichnen wir ein Zustandsbild, alas Menschen in zwingender Abhiingigkeit yon einem Mittel zeigt. Wer welter untersucht, finder, dab eben nicht das Mittel das Wesentliche an diesem Zustand ist, sondern die Hal.tungsanomalie der betro//enen Per- s6nlichkeit. Wenn es nicht so w~re, dann k6nnte es hie zu Suchten kommen mit den harmlosen Mitteln, die auI3erhalb der Rauschgiftreihe stehen, oder mit vSllig giftfreien Mitteln. :Der Versuch, das Problem der Sucht aufzuk[~ren, wird also immer scheitern, wenn er von rein pharmakologischen Erw~gungen ausgeht.

Unter welchen Umsti~nden entsteht nun eine Haltungsanoma]ie, die wesentliche Voraussetzung der Sucht ist ? Zur Beantwortung dieser Frage mSchte ich zun~chst auf klinische Beobachtungen und Effah- rungen zurfickgreifen, die ich der Morphiumsucht gegenfiber gemacht

1 Der Abschnitt I dieser Arbeit wurde auf der 61. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen und Psychiater am 4. und 5. Juli 1936 in Baden-Baden als Vortrag gehalten.

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habe. Rein ~uBere Griinde veranlal~ten mich vor etwa einem Jahre zu dem Entschlul3, kiinftig keine Morphiumkranken mehr zur Ent- ziehung in meine Klinik aufzunehmen. Dies gab mir erwtinschte Ge- legenheit zu einem Riickblick.

Von vornherein schieden sich ffir unsere Beobachtung die Morphium- kranken in mehrere Gruppen, von denen wir uns hier mit der einen, n~mlich mit der Gruppe der Haltlosen, nicht lange aufzuhalten brauchen. Bei ihnen ist die Haltungsanomalie, die zur Sucht ffihrt, angeboren. In anderem Zusammenhang habe ich diese Haltlosen aueh die Unerzieh- baren genannt, um auszudrficken, dal3 sie niemals Gegenstand syste- matischer ~rztlicher Psychotherapie sein kSnnen. Das habe ich nach jahrelangen eindringlichsten Bemiihungen an Haltlosen verschiedenster Art einsehen mfissen. Scheint es einmal zu gelingen, eine solche Per- sSnlichkeit aufzubauen, dann erweist sich ein derartiges erzieherisches Geb~ude ausnahmslos als Kartenhaus, das totsicher bei der ersten Gelegenheit dazu wieder einstfirzt. Wenn man einen echten Haltlosen yon dem Mil3brauch eines Mittels befreien will, dann helfen selbstverst~nd- lich nur geschlossene Anstalt und anschliel3ende Sicherheitsverwahrung.

Wenn friiher behauptet wurde, dal3 Morphiummil3brauch den Cha- rakter verderbe, dann war die hierher gehSrige Beobachtung nicht richtig ausgewertet worden: tatss ist es so, dab im Morphium- mil3brauch nur besonders rasch und augenf~llig offenbar wird, wie nahe jemand der echten Haltlosigkeit des Unerziehbaren steht. Nie aber habe ich eine PersSnlichkeit durch langji~hrigen Morphiummil~brauch allein haltlos werden sehen. So kenne ich unter vielen gleichen Erfah- rungen einen alten Herrn, den ich in 10 Jahren 9mal zur Entziehung in meiner Klinik hatte. Er blieb ]edesmal nach der Absetzung des Mor- phiums noch viele Wochen zur Erholung, so dal3 ich sehr reichlich Ge- legenheit hatte ihn griindlichst zu studieren. Sein Morphiummil3brauch ver~nderte nicht im mindesten seinen ausgezeichneten Charakter.

Ein i~hnlicher Irrtum findet sich in der Beurteilung der Suchtkranken mit Alkohol. Auch der Alkohol verdirbt nicht eine gesunde Ausgangs- persSnlichkeit, sondern er macht mangelhafte Anlagen sichtbar. Ebenso ist der Alkohol nicht der Keimschi~dling, fiir den man ihn lange genug gehalten hat. Wohl aber vererbt der Degenerative, der wegen seiner Entartung ins Trinken kam, seine minderwertigen Anlagen weiter. Auch bier ist also eine ererbte Haltungsanomalie wesentliche Ursache der Sucht. Ein PersSnlichkeitsmangel kann in allen Schattierungen sichtbar werden, die zwischen absoluter Unerziehbarkeit und vollkom- mener Lebenstfichtigkeit denkbar sind. Wenn also oben yon der Gruppe der unerziehbaren Haltlosen die l~ede war, dann handelt es sich dabei nur um eine Endgruppe, vonder aus gesehen es alle ~berg~,nge bis zum Lebenstiichtigen gibt.

Man findet aber unter den Haltungsanomalien, die wesentliche Vor- aussetzung der Sucht sind, auch noch andere Typen. Hier sei zun~chst

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im Gegensatz zur oben erw/~hnten Endgruppe jene andere hervor- gehoben, bei der die Haltungsanomalie mit Sicherheit als nur erworben ermittelt werden kann. Als Beispiel fiir diese Gruppe fi~hre ich die Geschichte eines alten Arztes an. Er hatte ein vSllig einwandfreies, ungeheuer fleil3iges und erfolgreiches Leben als praktiseher Arzt hinter sich, als sich in seinem St~dtchen ein junger Konkurrent niederlieB. W~hrend er es sich in den letzten dahren sehon etwas bequem gemacht hatte, mul~te er nun auch nachts wieder den Rufen seiner Kranken Folge leisten, wozu ihn seine ehrgeizige Gattin noch besonders antrieb. Als er eines Naehts miide und abgehetzt, wie er war, wieder gerufen wurde, nahm er, um sein Elendsgefiihl tiberwinden zu k6nnen, ein Opiat. So wurde er im Alter yon 62 dahren zum ersten Male in seinem Leben siichtig. 1 Jahr sp/~ter lieB er sieh das Mittel entziehen; etwa 11/2 Jahre nach der Entziehung, nach der er frei blieb, starb er an einer Lungen- entziindung. Dieser Mann hatte hie in seinem Leben Mil~braueh mit Alkohol, Nicotin, Kaffee oder mit irgendwelchenMedikamenten getrieben. Er war ein durchaus lebenstiichtiger Mensch.

In diese Gruppe mit erworbenem Haltungsverlust geh6ren aueh alle die Kranken, welehe bei sehweren k6rperlichen Schmerzen dureh den Arzt Morphium erhalten haben und dann zund~chst an dem Mittel h/~ngen bleiben. Diese Gruppe hat in der Regel die giinstigste Prognose hin- sichtlich der endgtiltigen Befreiung vom Mil~brauch, aber eben nut dann, wenn die ~rztlich verordnete Morphiumgabe nicht einen innerlich schon morschen Haltlosen getroffen hat oder einen suchtbereiten Vertreter der Mittelgruppe, dig gleich besprochen werden soil.

Zwischen den Endgruppen der ererbten und der erworbenen Haltungs- anomalien der Siichtigen finder sich eine breite Mittelgruppe, auf die ich im Verlauf meiner kontaktpsychologischen Studien aufmerksam wurde. Als Beispiel fiihre ich einiges aus der Lebensgeschichte jenes alten Herrn an, bei dem wir in 10 dahren 9 Entziehungen durchfiihrten. Er stand dabei im 54.--64. Lebensjahre. Erst mit etwa 50 Jahren war er ans Morphium gekommen, und zwar nach dem Tode seiner alten Mutter, die ibm als dunggesellen den Haushalt gefiihrt hatte. Dann hatten ihn Einsamkeitsgefiihle niedergedriickr die schlieglich so erheblich wurden, dal~ er die Morphiumeuphorie beniitzte, um iiberhaupt arbeitsf/~hig zu bleiben. Er hat in all den Jahren seines Morphiummi$brauches wertvollste Arbeit geleistet. Im Laufe der Jahre lernte ich auch das Bild der Familie dieses Mannes sehr genau kennen. Er selbst ist ein ausgesprochener Sonderling. _~hnlich sind auch seine beiden Briider veranlagt. Der eine von ihnen ist ein besonders sehwieriger und unver- tr/~glicher Sonderling. Eine Tochter dieses Mannes bekam eine sehizo- phrene Psychose und starb in der Anstalt. Ein Bruder dieser Geistes- kranken erscho$ sich ohne erkennbare/~uBere Veranlassung. Das iibrige Famflienbfld ist ohne Besonderheiten. Eine andere Ursaehe fiir die Morphiumsueht dieses Patienten als die driickende Einsamkeit seines

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Sonderlingslebens konnte in den 10 Jahren, in denen ich ihn genau kennenlernte, nicht ermittelt werden. Dieser Patient floh also aus seiner Sonderlingsdepression in die Morphiumeuphorie. Diese Ver- haltensweise ist typisch neurotisch; der tragische Konflikt, welcher sich aus der Sonderlingseigenart eines Menschen gestaltet, wird nicht fiberwunden - - aber die Morphiumeuphorie gestattet ein Weiterleben ohne Konfliktserledigung. Dieser Patient hat mir eine Konfliktsbearbei- tung nicht gestattet. Er ist ein Mensch, an den nahe genug heranzu- kommen trotz zehnj~thriger Bekanntschaft unm6glich war. Aus der gro6en Zahl meiner Beobachtungen an Sfichtigen mit Opiaten, mit Alkohol, mit Cocain, mit Schlafmitteln, mit Bromural oder Baldrian und mit harmloseren Mitteln wurde immer klar, dab infolge einer Hal- tungsanomalie Konfliktsbew~ltigung nicht gelang und dab dann die Flucht ins Mittel angetreten wurde. Dies ist der klassische Weg zur Entstehunq der Sucht.

Ich babe nach meinen praktischen Erfahrungen keine Veranlassung gehabt, neben den drei Gruppen der ererbten Haltungsanomalien der Haltlosen, der Haltungsanomalien der Sonderlinge und den erworbenen Haltungsanomalien noch andere aufzustellen. Zu meinem Sonderlings- begriff verweise ich auf mein Buch fiber Kontaktpsychologie. In dem- selben habe ich auch breit er6rtert, in welchen Beziehungen die an kontaktkranken Menschen beobachteten Bilder zu den endogenen Psychosen stehen. Ich konnte es mir deshalb versagen, hier noch einmal n~her auf die Sucht im Verlauf endogener Erkrankungen einzugehen.

II. Erfahrungen bei der Entziehung Morphiumkranker. In meiner Mitteilung fiber ,,Morphiumentziehung im Di~mmerschlaf" 1

habe ich 1931 noch eine Dauer von 5 Tagen D~mmerschlaf als Regel- behelf zur Morphiumentziehung angegeben. Lag der t~gliche Gesamt- verbrauch unter 0,5 g Morphium, dann kamen wir auch mit 3 Tagen Ds aus. Sp~tere Erfahrung zeigte, dab 2--21/2mal 24 Stunden Dauerschlaf geniigten und dab damit jedes Quantum eines Opiates entzogen werden kann. Damit ist die beim Dauerschlafverfahren n6tige Zufuhr des Narkoticums (vgl. auch weiter unten !) auf ein MindestmaB herabgesetzt. UnerlM~lich ist bei dieser Art der ,,pl6tzlichen" Ent- ziehung die ununterbrochene Oberwachung des Kranken durch eine gesehulte Pflegeperson. Das ist eigentlich selbstverst~ndlich, denn dieser sogenannte ,,D~mmersehlaf" oder ,,Dauerschlaf" ist ja eine regelrechte Dauernarkose. Wir brauchten dazu zuletzt ffir 24 Stunden 0,8--1,0 Luminal ~ 0,0025 Scopolamin. Mit Scopolamin sparten wir soviel als irgend mSglich, da es bei manchen Kranken ganz unn6tige Erregungszust~nde hervorruft. Irgendwelche anderen Mittel haben wir in den letzten Jahren nicht dazunehmen mfissen, h6chstens die eine oder andere kleine Gabe Atropin. Wir begannen in der Regel abends und

1 Speer, E.: Dtsch. reed. Wschr. 1931 I.

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verabreichten am dritten Abend, also nach 2mal 24 Stunden, als Ab- schluB eine Luminalspritze zu 0,3. In der vierten Nacht gaben wir 1,0 Veronal per os, dann nichts mehr. Die Kranken erholten sich meist auffallend rasch und nahmen rasch an Gewicht zu. Nur bei 3 yon 67 Ent- ziehungen blieb diese rasche Erholung aus. Die Kranken fielen uns jeweils schon dadurch auf, dab sie aus dem Dauerschlaf nicht in der iiblichen Weise aufwachten. Erst dachten wir an eine ~berempfindlich- keit gegen Luminal und an Luminalvergiftung - - es stellte sich aber in allen 3 Fallen heraus, dab die Grundhaltung dieser Pers6nlichkeiten unsere Beobachtung erkl~rte: es waren Patienten, die nach ihrer Kon- fliktslage allen Grund hatten, nicht mehr ins Leben zurfickzuwollen.

Ich habe das von mir angegebene Luminal-Scopolaminverfahren 1 nie ffir eine ideale L6sung gehalten. Trotzdem es sich ohne ]eden Schaden beherrschen l~Bt, ist und bleibt es eine grobe und plumpe Narkose. Deshalb suchte ich nach anderen M6glichkeiten. Aber andere Narkotica erwiesen sich nicht als vorteilhafter wie die Luminal-Scopolaminmischung. So ist Pernocton viel zu flfichtig in seiner Wirkung und die per Klysma einzuffihrenden Mittel, wie etwa das Cloetta-Mittel (Tropfklystier), das ich versucht habe, sind ausgerechnet in der Morphiumentziehung, bei der man mit h~ufigen Entleerungen rechnen muB, nicht praktisch. Besonderes Interesse brachte ich dem Insulinverfahren und dem Helvetin entgegen. In den Fallen, in welchen ich zugunsten des Helvetins oder des Insulins meine ganze ~berredungskunst spielen lieB oder bei Pa- tienten, die aus friiheren Luminal-Scopolamin-Entziehungen in meiner Klinik wuBten, dab sie sich geborgen ffihlen durften, sahen wir auch unter Insulin oder Helvetin, zu denen man aber fiir die N~chte noch 1,0 Veronal geben muBte, glatte Verls Also kehrten wir aus rein sachlichen Grfinden schlieBlich immer wieder zum Luminal-Scopolamin- schlaf zurfick als zu dem Verfahren der Wahl.

Das, was unsere Beobachtungen schon lange wahrscheinlich machten, best~tigte mir eines Tages eine briefliche Mitteilung des damaligen Leiters der Hell- und Pflegeanstalt in Siichteln, des Herrn Sam-Rat Dr. Orthmann. Dieser teilte mir mit, dab er h~ufig beobachtet habe, dab Morphiumkranke keine oder nahezu keine Entziehungserschei- nungen bekommen, wenn es gelingt, sie vor Beginn der Entziehung v611ig zu beruhigen und ihr Vertrauen ganz zu gewinnen. Uns war n~mlich aufgefallen, dab unsere alten Morphiumpatienten, die das Entziehungsveffahren meiner Klinik genau kannten und die immer wieder die ihnen vertraute l~legerin vorfanden, bei ihren sp~teren Ent- ziehungen ungemein glatte Verl~ufe beobachten lieBen, trotz eines minimalen Einsatzes an Luminal-Scopolamin.

Andererseits beobachteten wir, dab alte Patienten zwischendurch wieder einmal eine ganz abscheuliche Entziehung erlebten, wenn n~m- lich ihre jeweilige aktuelle Konfliktslage dementsprechend fibel war.

1 Vgl. Ther. Gegenw. ]923, Nr 4.

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Linen derartigen Verlauf erlebten wir z. B. bei einer Dame, die wir ins- gesamt 5mal entzogen, anlal3lich ihrer dritten Entziehung. Sie bekam zu Beginn 0,4 Luminal ohne Scopolaminzusatz. M_it der Entfaltung der Luminalwirkung erhielten wir aber einen Erregungszustand, der aussah, als ob sieh plStzlich ein Inferno aufgetan h/~tte: schlagartig brachen allersehwerste HaSaffekte gegen die Mutter hervor. Wir hatten wohl gewul3t, dab diese Patientin sieh dauernd an der sehr eigenartigen Mutter (einer stillen, gemfitskalten und verSdeten Schizophrenen) rieb, sie liebte und zugleich ewig kritisierte - - abet einen derartig elementaren Ha l konnten wir nicht vermuten. Es war nicht mSglich, diese ungeheure Erregung medikamentSs zu beenden, auch nieht mit dreisten Dosen. Schlie$1ich half ein Dauerbad.

Wir lernten also gerade an unseren alten, immer wiederkehrenden Morphiumkranken den entscheidenden Wert der Einstellung oder der Haltung einer PersSnlichkeit ffir den Verlauf der Entziehung sieher kennen. Mit der Zeit konnten wit diese Beobachtung auch zur Beurtei- lung des mutmaBlichen Verlaufes der Entziehung bei uns unbekannten Neuank5mmlingen verwerten, und wit haben uns darin sp~ter kaum mehr geirrt. Danach steht fiir uns lest, dab die klinischen Schilderungen der Morphium-Entziehungsbeschwerden, wie sie heute noeh in den Lehrbfiehern stehen, nur sehr bedingt riehtig sind.

Als konstantes Symptom haben wir bei allen Entziehungen eigentlich nur die Unruhe beobachtet. Sie tritt besonders als Unruhe in den Beinen auf, /~uBert sich aber etwa yon der 20.---30. Stunde nach Beginn der Entziehung an auch als schwere allgemeine Unruhe. Sehweil3ausbrfiehe und Durchfalle beobachteten wir nut bei wenigen Patienten, und zwar besonders bei solehen, die roller Erwartungsangst ihre Entziehung begannen. Erstaunlieherweise beobachteten wir keine Herzschw/~chen. Dagegen erlebten wir mehrfach im Anschlul~ an die Entziehung Gallen- koliken. In allen diesen Fgllen konnte sichergestellt werden, dal3 keine Gallensteine den Anfall verursaeht hatten, sondern Spasmen, die den Gallenabflul3 so sperrten, dab sogar Ikterus eintrat. In einem Fall nahm der Zustand bei erhShten KSrpertemperaturen einen so bedrohlich aussehenden Verlauf, da$ der zugezogene Chirurg dringend operieren wollte. Der Patient (ein Arzt) weigerte sich entschieden; er habe das Geffihl, dab es in seinem Falle grundfalsch sei, zu operieren - - u n d e r behielt recht. Ich habe diesen Kranken noch viele Jahre weiterbeob- achten kSnnen. Nut im Rahmen der vegetativen Erregung nach Ab- setzen des Opiates traten bei ihm zweimal Spasmen der abfiihrenden Gallenwege auf, sonst hie.

III. Ein Fall yon Bromuralsucht. Im Abschnitt I dieser Mitteilung habe ich ausgeftihrt, dab der klas-

sische Weg zur Sucht fiber das Versagen in einem Konflikt ffihrt, der durch eine Haltungsanomalie entstand. Das im folgenden geschilderte

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tragische Schicksal eines Arztes gibt ein lebendiges Beispiel fiir diese wichtige ldinische Erfahrung.

Der Arzt, von dem bier die Rede ist, starb vor einigen Jahren. Ieh lernte ihn viele Jahre vor seinem Tode kennen, als er mir nach schwerer Bromvergi/tung in meine Klinik eingewiesen wurde. Aus dem Begleitbrief des einweisenden Nerven- arztes ging hervor, da~ ein jahrelanger Bromuralmiflbrauch diese Bromvergiftung verursacht hatte.

Dieser praktische Arzt hatte sich in der zweiten Hi~lfte der 30er Jahre angeblieh in sehr groller Kassenpraxis schwer tiberarbeitet. Er selbst war sieh dartiber klar, dail er sich als sog. ,,KassenlSwe" beti~tigt hatte. (NB! Es war nicht der einzige ,,KassenlSwe", der sich als Suchtkranker sp~ter in meiner Klinik zur Behandlung einfand !) Nachdem er an einzelnen Tagen bis zu 20 Besuche und tiber 100 Patienten in der Sprechstunde bewi~ltigt h~tte, bekam er mitunter starkes Herzklopfen und leiehte Schwindelanf~lle, die er zun~ehst mit Tinct. valeriana zu bek~mpfen versuchte. Da ibm das Praparat wegen des lange anhaftenden Geruches unangenehm war, g inger dazu tiber, vereinzelt 3--4 Bromuraltabletten am Tag zu nehmen. Etwa ein Vierteljahr sp~ter land er noch, dal3 bei einem Verbraueh von t~glich 4--6 Sttick Bromuraltabletten zu 0,3 sein Schwindel nachlieI]. In seinen Auf- zeichnungen notierte er ftir diese Zeit: ,,Prof. St. sagte mir, Bromural enth~lt Brom; ein Vertreter der Bromural-Herstellerfirma kam kurze Zeit sp~ter zu mir auf seiner Geschi~ftsreise. Auf mein Befragen teilte er mir mit, Bromural enthalt kein Brom, sondern w~re ein Baldrianesterderivat. Da mir yon dem Gebrauch von Baldrian keine Intoxikationserscheinungen bekannt waren, nahm ieh Bromural unbedenklieh weiter". 3/4 Jahre nach Beginn der Bromuralzufuhr bestand die Tagesdosis in einem Verbrauch yon 5--8 Tabletten, und in jener Zeit stellte der Ordinarius ftir innere Medizin an der benachbarten Universit~t bei unserem Patienten die Diagnose Hypotonie. Nach einem Sanatoriumsaufenthalt ging Pat ien t - - 1 Jahr nach Beginn seiner Bromuralzufuhr - - wieder an die Praxis: ,,(~ber das Schwindelgeftihl half ich mir mit Bromural weg." ,,Allm~hlich liel~ die Wirkung des Bromurals bei mir naeh, so dal~, um eine Wirkung zu erzielen, die Tagesdosis auf dreimal 3 bis 4 Tabletten gesteigert wurde." Diese Dosis (also fund 10---12 Tabletten) wurde nun 1 Jahr lang eingenommen. Ungef~hr nach 2 Jahren Bromuralgebraueh traten SehstSrungen ein, und zwar Abnahme der Sehschi~rfe, sowohl ftir die N~the wie auch ftir die Ferne. Der beigezogene Ordinarius ftir Augenheilkunde an der benaehbarten Universit~t, dem allerdings die regelm~.flige Einnahme von Bromural verschwiegen wurde, stellte eine temporale Opticusabblassung lest, ohne eine Ursaehe daftir angeben zu kSnnen. Naeh zeitweisem Aussetzen des Bromurals besserte sich das Sehverm6gen langsam wieder. Als wenige Monate sp~ter wieder Bromural genommen wurde, steigerte sich die Dosis rasch wieder auf 10--12 Tabletten, da sonst die erwfinschte Wirkung ausblieb. 21/2 Jahre nach Beginn und nur 1 Monat nach Wiederbeginn der Zufuhr setzten Magendarmstiirungen ein, ,,Erbrechen, h~ufige und pl6tzliche Durchfalle verbunden mit Lahmungen des AfterschlieiL muskels". Mit neuem Aussetzen des Bromurals verschwanden diese Erscheinungen wieder. Die in dieser Zeit erfolgte klinische Beobachtung in der internen Klinik der benachbarten Universiti~t vermochte ,,keine organische oder infekti6se Magen- darmerkrankung" festzustellen. Nun endlich wird das ]~romural 1/2 Jahr lang weggelassen. Am Ende des 3. Jahres Beginn der Wiederzufuhr. ,,Aueh diesmal stieg die Tagesdosis rasch wieder auf 10--12 Tabletten, die Sehbeschwerden traten wieder in versti~rktem MaBe auf." Ira 4. Jahr entstand ,,eine durch nichts zu behebende tteiserkeit mit qu~lendem Hustenreiz und bronchitischen Ersehei- nungen. Ein organischer Krankheitsbefund konnte auBer einer Stimmbandl~hmung links nicht festgestellt werden. Kuren yon mehreren Wochen in Solingen und Reichenhall waren so gut wie ohne jeden Erfolg".

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,,Infolge des Hustertreizes, der damit verbundenen Sehlaflosigkeit und des stark gest6rten Allgemeinbefindens, wurde, um eine Wirkung zu erreiehen, die Bromural- dosis yon mir stark gesteigert, so dab sie yon Anfang August 19.. (= Mitte des 4. Jahres, aber nach halbj~hriger Enthaltsamkeit) an t/~glieh ungef~hr 20 Tabletten betrug."

,,Ende September traten Spraehst6rungen mit staxkem Speichelflul3 auf. Ataxie der Hande liell die Schrift unleserlieh werden. Ataxie der Beine machte fast jedes Gehen unm6glich, dazu ein dauerndes Sehlafbedtirfnis." Die Ehefrau des Patienten erganzte dazu, dal3 Patient relativ bald naeh Beginn der standigen Bromuralzufuhr impotent wurde und sieh in Kleidung und Haltang furchtbar gehen liefl. Die letzte Zeit sei ganz schrecklich gewesen. Ihr Gatte sei ganz torkelnd gegangen. Er litt st~tndig an Speichelflul3, wobei ihm der Speiehel fortw/~hrend aus dem Munde heraus rann. Er konnte sich bei Tisch nicht mehr richtig bedienen. Er konnte nicht mehr riehtig spreehen. Er konnte nicht einmal seine laufenden Nummern in seiner Kassenbuchfiihrung richtig eintragen und iibersprang z.B. die Ziffern yon 180--200 ohne es zu merken. Und sehliel31ich liell er sogar Stuhlgang unter sich, und zwar besonders im Bett. Der Blutdruck war, wie die Untersuehung des internen Ordinarius bewies, auf 105/90 gesunken. Die Knieph/tnomene waxen zeitweise nieht mehr ausl6sbar. Alle die gesehilderten, gewiB schweren Vergiftungs- erseheinungen bildeten sich restlos zuriick, als die Bromuralzufuhr endgtiltig ein- gestellt wurde.

Die Ehefrau dieses Arztes hatte in ihrer Not den ortsansi~ssigen Nervenaxzt zugezogen. Dieser veranlal3te ein Konsilium mit dem Ordinarius ftir Psychiatrie der benaehbaxtenUniversiti~tsstadt, das dieDiagnose einer schweren Bromvergiftung nach BromuralmiBbrauch erh~rtete. Mir gegenfiber suchte der Patient zu Anfang das Bild eines an Hypotonie Leidenden festzuhalten, obgleich er doch wuBte, dal~ die Diagnose der Hypotonie yon einem internen Kliniker gestellt worden wax, dem er seinen Bromuralmiflbrauch verschwiegen hatte. W/~hrend er nun seine vermeintliche Hypotonie er0rterte und dabei auf seine sp~rliche Behaaxung, auf seine Fettleibigkeit und seinen vermeintlichen Hypogenitalismus hinwies, schob dieser Mann ganz un- willkfirlich das Problem seiner Impotenz in den Vordergrund seiner Reden. Da ergaben sich nun freilich nicht atlti~gliche Umstiinde: Sehon zu Beginn seiner Brom- uralzeit war er impotent geworden, ja eigentlich schon vorher. Als er nun so ver- sagte, da babe er - - bier gab er zu verstehen, wie edel er dabei gehandelt habe - - seiner Frau die durch seine Impotenz bedingten Entbehrungen nicht zumuten wollen; ex habe ihr mitgeteilt, dab er nichts dagegen einzuwenden habe, wenn sie auflerhalb der Ehe Gelegenheit zum Coitus suchen wiirde.

Die weiteren Erhebungen ergaben, dab dieser Mann aus einer Familie mit staxken degenerativen Einschl/igen stammte. Er selbst kopierte genau seinen Vater und er hing im fibrigen mit seiner Familie so eng zusammen, wie man das bei Abaxtigen dieser Pritgung zu linden pflegt. Der itltere Bruder war zum Leiter des v~terlichen Hauses bestimmt. So w/~hlte er als der Jiingere das Medizinstudium. Er war aber so fasziniert yon der Rolle des ~lteren Bruders, daft er auch diesen East zwangsm/~Big nachahmte bzw. mit ihm konkurrierte. So kam es, daft er, als der Bruder heiratete, dessen jfingere Schwagerin freite. Zun/~chst ging die junge Ehe leidlich, nur mul3te dem Beobachter eine gewisse verkrampfte l~bersehwiinglichkeit der jungen Eheleute auffallen. Schon bald aber nahm der jungeEhemann die aberwitzige Last des,,Kassen- 15wen" auf sich. Hierzu trieb ihn einmal jener krankhafte Ehrgeiz, mit dem er zu gleichem Einkommen gelangen wollte wie sein Bruder als GroBkaufmann, dann aber war sein KassenlSwentum die typische Flucht eines Sonderlings vor der Ehe. So entstanden schlieBlich bei ihm jene Symptome, die ihn tiber den Baldrian zum Brom- ural gelangen lieBen. Die durch den BromuralmiBbrauch entstandene sehwere Bromvergiftung setzte in diesem Schicksal den ersten Halt.

Als dieser Arzt nun Patient meiuer Klinik wurde, fiel vor aIlem seine ungeheuer verkrampfte KSrperhaltung auf. Sein Gang sehien fast ataktisch, so krampfhaft

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bewegte er die vSllige verspannte Muskulatur seiner Beine. Er hatte damals noch Angst und Schwindel und fiirchtete sich z. B. fiber eine Brficke zu gehen. Sein Widerstand gegen die Behandlung war ungewShnlich stark. Er gehSrte zu jenen Leuten, die beinahe ins Suicid fliichten, um nur nicht aus dem Neurosengeh/tuse heraus zu mfissen. Es gelang, ihn psychotherapeutisch yon seiner Impotenz zu befreien.

Aber nun begann der TragSdie zweiter Tell: Die an sich wackere, wenngleich etwas infantile Frau hatte von (ter zudiktierten Freiheit in den langen Bromural- jahren des Mannes gekostet - - bescheiden zwar, abet immerhin: sie hatte sieh yon dem Manne fortgeschickt geffihlt. Dariiber war sie sich selbst nicht ganz klar ge- worden. Aber jetzt, als die Ehe wieder aufgenommen wurde, bekam sie mit dem Ehemann nicht mehr den frfiheren Kontakt; es stellten sich Angstanf~lle bei ihr ein, die sich immer mehr steigerten. Andererseits hatte sie auch das Bild des Brom- vergifteten mit seiner SprachstSrung, seinem torkelnden Gang, mit dem ekel- erregenden SpeichelfluB, mit dem Untersichlassen yon Stuhlgang ins Bett usw. einfach noch nicht fiberwunden. Beide Ehegatten gaben sich etwa 2 Jahre lang offenbar die herzlichste Miihe, die Ehe wieder in Gang zu bringen - - es gelang nicht. Man einigte sich zu freundschaftlicher Scheidung.

Auch in dieser Zeit war ffir den geschulten Beobachter deutlich, wie dieser Ehemann seine Frau von sich wegschob, trotzdem er bewuBt die gute Absicht zum Wiederaufbau seiner Ehe hatte. Er, der vorher seine Gattin in aller Form yon sich fort und zu anderen M~nnern geschickt hatte, zeigte z. B. nunmehr nicht das geringste Verst~ndnis ffir die Schwierigkeiten, welche die Frau gerade durch dieses Stfick ihrer Vergangenheit innerlich hatte.

Der TragSdie letzter Teil, der nun begann, ist mit wenigen Worten berichtet. Die vor der Scheidung vereinbarte ,,Freundschaft", die damit begann, dab der Mann,,generSs" den Scheidungsgrund beschaffte und daB er der Frau eine reichliche Rente aussetzte, verging wie ein Rauch. Wieder war es der Mann, der sich den getroffenen Vereinbarungen entzog. Seine wahre Natur, n/imlich seine extreme Sonderlingsnatur, kam nun vSllig unverhfillt heraus: er mied alle Gesellschaft und versuchte zuniichst noch den ,,Mann" herauszukehren, indem er mit seiner Haus- h~lterin ein Verhi~ltnis einging. Als ihn diese schon bald verlieB, wurde er noch merkwfirdiger. Er zog sich extrem zurfick, machte fast keine Praxis mehr und aB unm~Big. SchlieBlich lebte er ohne Praxis nur noch von seinem VermSgen. Nun setzte er auch die Rente seiner Frau bis auf einen Bruchteil des urspriinglichen Betrages herab. Er intrigierte in abscheulicher Weise gegen sie und versuehte, ihr sein ganzes Versagen in die Schuhe zu schieben. Er nahm wieder Narkotica aller Art in groBen Mengen. Rasch wurde er so dick, dab er zwei Stiihle zum Sitzen benStigte. Ein Leberleiden maehte dann seinem Leben ein Ende. Er starb etwa 10 Jahre nach Beginn seiner Bromuralzeit.

Die Hal tungsanomal ie , welche im vorl iegenden Fall Konfl ikts- bew~ltigung nicht gesta t te te und e inmal zu einer 4 Jahre dauernden Bromuralsucht , gegen Ende des Lebens aber zu einem wahllosen Miit- brauch yon Narkoticis fiihrte, ist gekennzeichnet durch alas Sonder-

l ings tum eines Degenerat iven, so wie ich es anderw~rts ausfiihrlich beschrieben habe 1. Es wird aus dem geschilderten Schicksal besonders deutlich, da~ eben n icht das benii tzte Gift wesentliches Merkmal der Sucht ist, sondern - - wie in allen F~llen von Sucht / - - die Hal tungsanomal ie der PersSnlichkeit.

1 Speer, E.: Die Liebesf~higkeit (Kontaktpsyehologie). Mfinchen: J. F. Leh- mann 1935.