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Bergische Universität Wuppertal Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften Fach: Philosophie Magisterarbeit Das Problem des Unendlichen. Die philosophisch-mathematischen Überlegungen Cantors zum Transfiniten. vorgelegt von: Rosa Merino Claros Philosophie, Mathematik und Sprachwissenschaft Matrikelnr.: 238205 1. Gutachter: Prof. Dr. L. Tengelyi 2. Gutachter: Prof. Dr. E. Scholz 23. Mai 2008

Das Problem des Unendlichen. Die philosophisch-mathematischen Überlegungen Cantors zum Transfiniten

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Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Theorie des Transfiniten in der Cantorschen Mengenlehre aus einer philosophischen Perspektive zu betrachten und dabei die von Cantor angegebene philosophische Begründung der transfiniten Zah- len darzustellen und zu analysieren.

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  • Bergische Universitt WuppertalFachbereich A:Geistes- und KulturwissenschaftenFach: PhilosophieMagisterarbeit

    Das Problem des Unendlichen.Die philosophisch-mathematischen berlegungen

    Cantors zum Transfiniten.

    vorgelegt von:Rosa Merino ClarosPhilosophie, Mathematik und SprachwissenschaftMatrikelnr.: 2382051. Gutachter: Prof. Dr. L. Tengelyi2. Gutachter: Prof. Dr. E. Scholz

    23. Mai 2008

  • Abbildung 0.1: Georg Cantor mit seiner Frau Vally um 1880

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  • Inhaltsverzeichnis

    1 Einleitung 5

    2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophischeBegrndung 72.1 Das Aktual-Unendliche als philosophisches Fundament der Mengenlehre 8

    2.1.1 Eigentlich-unendlich vs. Uneigentlich-unendlich . . . . . . . . 92.1.2 Transfinites und Absolutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102.1.3 Die Missverstndnisse des Aktual-Unendlichen . . . . . . . . . 122.1.4 Beispiele in der Mathematik fr das Aktual-Unendliche . . . . 13

    2.1.4.1 Irrationale Zahlen und Fundamentalreihen . . . . . . 142.1.4.2 Limeszahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152.1.4.3 Riemannsche Zahlenkugel . . . . . . . . . . . . . . . 162.1.4.4 Infinitesimal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

    2.2 Der Mengenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182.2.1 Die verschiedenen Mengendefinitionen . . . . . . . . . . . . . 202.2.2 Das System Dedekinds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232.2.3 Die dialektische Begriffserzeugung. . . . . . . . . . . . . . . . 27

    2.3 Die quivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.3.1 Die quivalenz als Bijektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302.3.2 Die Grundeigenschaften der quivalenz . . . . . . . . . . . . . 312.3.3 Der quivalenz- und Vergleichbarkeitsatz . . . . . . . . . . . . 32

    2.4 Kardinalzahlen oder Mchtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342.4.1 Abzhlbare und berabzhlbare Mengen . . . . . . . . . . . . 352.4.2 Die verschiedenen Mchtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

    2.5 Ordnungstyp und Wohlordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432.6 Die Kontinuumshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472.7 Paradoxien der Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502.8 Wesen und Gegenstand der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . 54

    3 Die Auseinandersetzung Cantors mit der philosophischen Tradition 593.1 Cantor der Platoniker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603.2 Zur These Infinitum actu non datur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633.3 Das Absolute bei Cusanus und Bruno . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693.4 Das Unendliche in der neuzeitlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . 713.5 Kant, der grsste Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803.6 Die Paradoxien des Bolzano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833.7 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

    4 Literaturverzeichnis 87

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  • 1 Einleitung

    Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Theorie des Transfiniten in derCantorschen Mengenlehre aus einer philosophischen Perspektive zu betrachten unddabei die von Cantor angegebene philosophische Begrndung der transfiniten Zah-len darzustellen und zu analysieren. Dass diese mathematische Theorie, die Men-genlehre, einer philosophischen Grundlage bedurfte, bedeutete zugleich eine Alter-native zur zeitgenssisch dominierenden Behauptung - wie sie beispielsweise Fouriervertrat - das grndliche Studium der Natur sei die beste Quelle mathematischerEntdeckungen. Indem Cantor seine Mengenlehre sogar als zur Metaphysik gehrigbezeichnete1, gestaltete er mit seiner Theorie die traditionellen berlegungen berdas Wesen, den Gegenstand und vor allen Dingen die Methodologie der Mathematikauf genuine Weise neu. So initiieren die philosophischen Ansprche in Cantors Werkeine Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition, um die unmittelbarstenEinflsse und Quellen aufzuzeigen.

    Die meisten Forscher stimmen darin berein, dass die Entstehung der Cantor-schen Mengenlehre in zwei Punkten ihren wesentlichen Ursprung habe:

    Erstens, dass die Untersuchung der trigonometrischen Reihen in den frherenArbeiten den bergang zur Ableitung von Punktmengen, Irrationalen Zahlenund Fundamentalfolgen ermglichte, was wiederum die Erweiterung der reel-len Zahlen ber das Unendliche hinaus vorbereitete. So bemerkte Cantor inseiner Grundlagen: Die bisherige Darstellung meiner Untersuchungen in derMannigfaltigkeitslehre ist an einem Punkt gelangt, wo ihre Fortfhrung voneiner Erweiterung des realen ganzen Zahlbegriffs ber die bisherigen Grenzenhinaus abhngig wird, [...]2 Bemerkenswert ist, dass die Theorie der trigo-

    1 Vgl. hierzu: Meschkowski, Herbert. Georg Cantor. Leben, Werk und Wirkung. BibliographischesInstitut Wissenschaftsverlag, Mannheim-Wien-Zrich (1983) S. 111-112. Hier wird ein Paragraphaus einem Brief an den Pater Thomas Esser vom 1. Februar 1896 zitiert. Dieser Brief ist in derAusgabe von Cantors Briefen (1991) nur als Faksimile wiedergegeben. Das Zitat besagt: Dieallgemeine Mengenlehre, welche Ihnen sowohl in der Schrift Zur Lehre des Transfiniten wieauch in dem ersten Artikel der begonnenen Arbeit Beitrge zur Begrndung der transfinitenMengenlehre in ihren Principien entgegengetritt, gehrt durchaus zur Metaphysik.

    2 Cantor, Georg. Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts. Hrsg.: Ernst Zerme-lo. Georg Olms Verlagsbuchhandlung, Hildesheim (1966). S. 165. Ab hier wird diese Quelle mitder Sigle GA zitiert.

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  • 1 Einleitung

    nometrischen Reihen in der historischen Entwicklung mehrfach Ausgangpunktfr die Schaffung tieflegender neuer Begriffe gewesen ist.3

    Zweitens, dass Cantors persnliche Neigung zur Philosophie ihn dazu fhrte,den philosophischen Begriff des Aktual-Unendlichen mathematisch zu formu-lieren und zugleich die gesamten Grundlagen der Mathematik neu zu denken.Sein Studium der Mathematik, Physik und Philosophie in Berlin, das er miteiner Abschlussprfung ber Spinoza abschlo, und seine Vorlesungen in Halleber Philosophie beweisen eindeutig Cantors philosophische Bildung. 4

    Die vorliegende Arbeit ist daher in die folgende Struktur untergliedert: Im ers-ten Teil werden die Grundzge der Theorie von der transfiniten Mengenlehre be-handelt, um den Versuch einer philosophischen Interpretation durchzufhren. Sowird behauptet, dass die Begrndung des Aktual-Unendlichen und ihre verschiede-nen Formen, wie Cantor sie in seinen Mitteilungen und Grundlagen darstellt, alsdas eigentliche Fundament der transfiniten Mengenlehre fungieren. Im zweiten Teilwird die Auseinandersetzung Cantors mit der philosophischen Tradition untersucht,um eine kleine Genealogie des Denkens ber das Unendliche zu gewinnen. Im Sinneeiner oft zitierten Aussage Hilberts ber die Untersuchung der Unendlichkeit kanneinleitend gesagt werden:

    Das Unendliche hat wie keine andere Frage von jeher so tief das Gemtder Menschen bewegt; das Unendliche hat wie keine andere Idee auf denVerstand so anregend und fruchtbar gewirkt; das Unendliche ist aberauch wie kein anderer Begriff so der Aufklrung bedrftig.5

    3 Purkert, Walter und Ilgauds, Hans Joachim. Georg Cantor. In: Biographien hervorragender Na-turwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 79. BSB B.G. Teubner Verlagsgesellschaft,Leipzig (1985). S. 21

    4 Diese beiden Grnde fr die originelle Schaffung der Mengenlehre, die wir Von trigonometrischenReihen zu transfiniten Mengen und Cantors Philosophie des Unendlichen nennen knnten, sindsehr oft in der Literatur zu finden. Einige Beispiele sind die Biographie von Fraenkel in der GA,S. 452-456 und S. 474-483; die Biographie von Purkert, Walter und Ilgauds, Hans Joachim. GeorgCantor. In: Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band79. BSB B.G. Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig (1985) S. 19-51 und S. 60-77; die Biogra-phie von Kertsz, Andor. Georg Cantor, Schpfer der Mengenlehre. Acta Historica Leopoldina,Nummer 15 (1983). Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle-Saale (1983) S.35-38 und die Biographie von Meschkowski, Herbert. Georg Cantor. Leben, Werk und Wirkung.Bibliographisches Institut Wissenschaftsverlag, Mannheim-Wien-Zrich (1983) S. 26-49 und S.111-122.

    5 Hilbert, D. ber das Unendliche. Math. Annalen 95 (1925). 161-190. Gttinger Digitalisierungs-zentrum: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/ S. 163

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  • 2 Grundzge der Theorie dertransfiniten Zahlen und ihrephilosophische Begrndung

    Als dritte These seiner Promotionsarbeit De aequationibus secundi gradus indetermi-natis (1867) schrieb Cantor: In re mathematica ars proponendi quaestionem plurisfacienda est quam solvendi"1. Diese Behauptung gilt entsprechend fr die Philo-sophie, man knnte sogar denken, dass sie eher fr die Philosophie gelte, als frdie Mathematik, die blicherweise exakte Lsungen zu Problemen anbietet, anstattneue, offene Frage zu stellen. Tatschlich kann man die Geburtsstunde der Mengen-lehre auf den 29.11.1873 datieren, da an diesem Tag Cantor einen Brief an seinenFreund Dedekind schrieb, in dem eine merkwrdige Frage gestellt wurde: Ist es mg-lich eine eindeutige Zuordnung zwischen der Menge der natrlichen Zahlen und derMenge der reellen Zahlen zu stellen?2 Diese Fragestellung ffnet die Mglichkeit ver-schiedener unendlicher Mengen zu differenzieren, und zwar aufgrund einer mglichenZuordnung, also durch die Bijektion.

    In diesem Kapitel werden die wesentlichen Punkte der Mengenlehre sowohlmathematisch als auch philosophisch behandelt, um zu zeigen, wie in der Theo-rie der transfiniten Zahlen eine fein abgestimmte Vereinbarung von Mathematik,Logik und Philosophie stattfindet.3 Diese Vereinbarung fungiert als die eigentlicheGrundlage der modernen Mathematik, obwohl viele Mathematiker die philosophi-schen Ansprche der Mengenlehre ablehnten. Zweifellos ist die Tatsache, dass diephilosophische Neigung Cantors sehr eng verbunden ist mit der Originalitt und Tie-

    1 GA, S. 31: In der Mathematik ist die Kunst, eine Frage zu stellen, hher zu achten als die, eineFrage zu lsen.

    2 Vgl. hierzu: Cantor, Georg. Briefe. Hrsg.: Herbert Meschowski und Winfried Nilson. SpringerVerlag, Berlin-Heidelberg (1991). S. 31

    3 Vgl. hierzu: Thiel, Christian. Philosophie und Mathematik. Eine Einfhrung in ihre Wechselwir-kungen und in die Philosophie der Mathematik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt(1995). S. 2. In der Tat wird man sagen drfen, dass die um die letzte Jahrhundertwendedurch die mengentheoretischen Antinomien ausgelste Grundlagenkrise der Analysis zu Bezie-hung zwischen Philosophie und Mathematik von einer neuen, seit der griechischen Antike nichtmehr gekannten Intensitt gefhrt hat.

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  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    fe seiner Fragestellungen. Die Texte Cantors, die in diesen Teil benutzt werden, umBegriffe wie quivalenz, Menge, Aktual-Unendlich, Mchtigkeit usw. zu definieren,sind hauptschlich: Die Korrespondenz mit Dedekind (1873-1877), Ein Beitrag zurMannigfaltigkeitslehre (1878), Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre(1883), ber die verschiedenen Standpunkte in bezug auf das aktuelle Unendliche(1885) und die Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten (1887). Die Texte bis insJahr 1883 entstehen in Cantors Zeit der schpferischen Leistung, whrend die zweiletzten (1885 und 1887) doch zur Zeit der verminderten Produktivitt4 gehren,obgleich diese zwei Texte sehr wichtig sind, da Cantor in diesen seine neue Theoriedes Transfiniten gegen die Kritik der Mathematiker, Philosophen und Theologenverteidigt. Auf diese Weise bieten sie die gesuchte philosophische Grundlegung derMengenlehre, deren erste Aufgabe die Errterung des Aktual-Unendlichen ist.

    2.1 Das Aktual-Unendliche als philosophisches

    Fundament der Mengenlehre

    Als Ausgangspunkt fr die Verteidigung seiner Mengenlehre stellt Cantor die Fragenach dem aktuellen Unendlichen. Dieses wird nach drei Beziehungen unterschieden:Erstens, als in Deo realisiert, was er das Absolutunendliche oder einfach Absolu-tes nennt; zweitens, als in der kreatrlichen Welt vertretene oder in concreto; unddrittens, als mathematische Grsse oder in abstracto. Die zwei letzten Beziehungennennt er das Transfinitum und es ist streng vom Absoluten zu unterscheiden, dadieses unbegriich und unvermehrbar ist, whrend das Transfinitum jedoch nochweiterer Vermehrung fhiges und insofern dem Endlichen verbandtes5 ist.

    Obwohl Hilbert im Jahre 1925 ausdrcklich sagt, dass ein Aktual-Unendlichesin der Natur nach der modernen Forschung in der Physik nicht zu finden sei, wirdder vorherige Gedanke Cantors nicht obsolet. Wichtig ist hier zu beachten, dass alsEinleitung fr seine Mitteilungen6 diese Distinktion gemacht wird, um den festenBoden zu zeigen, auf dem wir uns im Reich des Transfiniten bewegen knnen. Dieserfeste Boden ist nichts anders als die Auffassung des Aktual-Unendlichen in seinertransfiniten Form als etwas fertiges und daher noch zur Vermehrung fhiges, d.h.durch eine gewisse Statik charakterisiert. Wenn eine unendliche Menge als statischund nicht als ein dynamischer Prozess betrachtet wird, so knnen Unterschiede undVergleiche innerhalb dieser Art von Mengen fallen, wie Cantor tatschlich realisierte.4 Nach der Biographie von Fraenkel, in: GA S. 452-4845 GA, S. 3786 oder zweite Teil seiner Gesammelte Abhandlungen zur Lehre von Transfiniten im Jahre 1887 inder Zetischrift fr Philosophie und philosophische Kritik erschienen. GA, S. 378-439

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  • 2.1 Das Aktual-Unendliche als philosophisches Fundament der Mengenlehre

    2.1.1 Eigentlich-unendlich vs. Uneigentlich-unendlich

    Die erste wichtige Unterscheidung vollzieht sich innerhalb des mathematischen Un-endlichen. Dieses ist berall in der Mathematik zu finden, wie z.B. bei irrationa-len Zahlen, Grenzwerten, Infinitesimalen in der Differentialrechnung, Punktmengeneiner Strecke, usw. Aber nicht alle sind nach Cantor als eigentlich Unendlich zubejahen. In folgendem Ausdruck ist die Vernderliche x zu beachten:

    limx

    1

    x= 0

    Wenn x gegen Unendlich luft, nhert sich der Wert des Bruches gegen Null.Welchen Wert hat dann x? Es ist eine Vernderliche, d.h. sie nimmt jedes Maleinen neuen gegen Unendlich wachsenden Wert an. Es ist daher keine Zahl, da esnicht vllig bestimmt ist. Zu seinem Wesen gehrt die Unbestimmtheit, die Vern-derlichkeit; es ist unendlich nur der Mglichkeit nach. Diese Bedeutung einer Formdes mathematischen Unendlichen lehnt Cantor als eigentlich ab, da wir es hier miteinem potenziell Unendlichen zu tun haben. Die Merkmale eines potenziell bzw.uneigentlich Unendlichen knnen auf folgende Weise zusammengefasst werden:

    - Unbestimmtheit: Diese falsche Form des Aktual-Unendlichen entbehrt jederVollendung, sie ist vielmehr als ein unvollendeter Prozess zu verstehen, wiez.B. bei Grenzprozessen, Reihen, Vernderlichen usw. Sie stellt sich als einvernderliches Endliches7 dar, d.h. sie bleibt unbestimmt.

    - Dynamik: Als unvollendeter Prozess taucht bei dem potenziell bzw. uneigent-lich Unendlichen die Bedeutung des Werdens bzw. der Bewegung auf. Es kannnicht als ein fertiges statisches Ding wahrgenommen werden. In diesem Sinneist es ein pio.

    Dagegen ist die Form des Eigentlich-unendlichen, deren geeignete, in der Mathema-tik auftauchenden Beispiele spter in 2.1.4. gezeigt werden, durch folgende Eigen-schaften charakterisiert:

    - Bestimmtheit: Das Eingentlich-unendliche erhlt so viel Bestimmtheit wie eineendliche Zahl. Es gehrt zu seinem Wesen das Wohlunterschiedensein undbekommt einen bestimmten Platz in der Zahlenreihe.

    - Statischsein: Nur als ein fertiges Ding kann das Eigentlich-unendliche in sei-ner transfiniten Form erscheinen, da es noch zu weiterer Vermehrung fhig ist.Dieses Merkmal ist durchaus das wichtigste, indem es den Begriff der Zahl

    7 GA, S. 166

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  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    bzw. der Menge neu definiert. Der Prozess des Zhlens - mit der Dynamikverwandter - bleibt unwichtig, er ist nicht wesentlich fr unsere neuen Zahlen,die als Schachteln vorgestellt werden knnen, die die vorherigen beschachtel-ten Zahlen enthalten. So knnen wir die Menge der natrlichen Zahlen alsetwas statisches und abgeschlossenes betrachten, die durch ihre Statik undAbgeschlossenheit das Enthaltensein in einer Schachtel mglich wird.

    Aber die Unterscheidung zwischen dem Eigentlich-unendlichen und dem Un-eigentlich-unendlichen beruht nicht auf bloem Gegensatz, vielmehr bleibt noch daswesentliche Verhltnis beider zu bestimmen. Das Uneigentlich-unendliche mchteCantor weder ablehnen noch als falsches Unendliches, da es zu wichtigen Schrit-ten in der Mathematik wie z.B. die Differentialrechnung gefhrt hat. Vielmehr wirdseine wahre Bedeutung im Dunkel bleiben, solange sein Verhltnis zum Eigentlich-unendlichen nicht eindeutig bestimmt wird. Dieses Verhltnis ist nichts anderesals ein Hinweis, eine Voraussetzung: Jedes Uneigentlich-unendliche strebt nach ei-nem Eingentlich-unendlichen, es weist zu diesem hin, d.h. um das Uneigentlich-unendliche vorzustellen, wird zuerst ein Eigentlich-unendliches vorausgesetzt. DasEigentlich-unendliche fungiert in diesem Sinne als die Bedingung der Mglichkeitvom Uneigentlich-unendlichen.8

    2.1.2 Transfinites und Absolutes

    Die drei mglichen Beziehungen des Aktual-Unendlichen, die Cantors Mitteilungeneinleiten, sind zugleich die drei mglichen Formen des Eigentlich-unendlichen. Alsin Deo realisiert, wird sie Absolutes genannt, whrend sie sowohl in abstracto wiein concreto, Transfinitum genannt wird. Transfinitum bedeutet jenseits des Endli-chen, deswegen knnte dies auch Suprafinitum genannt werden. Das Absolute unddas Transfinite erweisen sich als die eigentlichen Gestalten des Aktual-Unendlichen.Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten knnen wir feststellen? Zunchst istdie erste fundamentale Distinktion Folgende: Das Transfinitum ist das vermehrbareAktual-Unendliche, whrend das Absolutum das unvermehrbare Aktual-Unendlicheist.9 Als Unvermehrbares und Vollkommenes bleibt das Absolute der Mathema-tik unzugnglich, da das Studium dieses als Aufgabe der spekulativen Theologieversteht, whrend das Transfinite doch mathematisch formulierbar ist. Das Absolu-te bleibt nicht nur der Mathematik unzugnglich, man knnte sagen, dass es dem8 GA, S. 404: [...], whrend doch in Wahrheit das P.-U. [potenziell Unendliche bzw. Uneigentlich-unendliche] nur eine geborgte Realitt hat, indem es stets auf ein A.-U. hinweist, durch welchees erst mglich wird. Ferner wird gesagt: So setzt jedes potenziale Unendliche, soll es strengmathematisch verwendbar sein, ein Aktual-Unendliches voraus. (GA, S. 411)

    9 Vgl. hierzu: GA, S. 405

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  • 2.1 Das Aktual-Unendliche als philosophisches Fundament der Mengenlehre

    menschlichen Verstand fr immer unzugnglich bleibt, so Cantor: Das Absolutekann nur anerkannt, aber nie erkannt, auch nicht annhernd erkannt werden.10 Aberdie wichtigste Eigenschaft des Absoluten bleibt noch im Dunkeln; analog wie dasVerhltnis zwischen dem Eigentlich-unendlichen und dem Uneigentlich-unendlichenfunktioniert das Verhltnis zwischen Absoluten und Transfiniten: Das Absolute istdie Bedingung der Mglichkeit des Transfiniten und das Studium des letzteren fhrtnotwendig zur Anerkennung des ersten:

    Das Transfinite mit seiner Flle von Gestaltungen und Gestalten weistmit Notwendigkeit auf ein Absolutes hin, auf das wahrhaft Unendli-che, an dessen Grsse keinerlei Hinzufgung oder Abnahme statthabenkann und welches daher quantitativ als absolutes Maximum anzusehenist. Letzteres berschreitet gewissermaen die menschliche Fassungskraftund entzieht sich namentlich mathematischer Determination; wogegendas Transfinite nicht nur das Gebiet des Mglichen in Gottes Erkenntniserfllt, sondern auch ein reiches, stets zunehmendes Feld idealer For-schung darbietet [...].11

    Das Problem entsteht mit der Entdeckung inkonsistenter Vielheiten, wie z.B.der Menge aller Mengen oder der Menge aller Ordinalzahlen, die zu Antino-mien fhren. In der zweiten Fussnote seiner Grundlagen (1883) sagt Cantor: Dieabsolute unendliche Zahlenfolge erscheint mir daher im gewissen Sinne als ein geei-genetes Symbol des Absoluten. Aber sechzehn Jahre spter schreibt er an seinenFreund Dedekind - nach der Verffentlichung der Antinomie Burali-Fortis im Jahre1897 -12: Eine Vielheit kann nmlich so beschaffen sein, dass die Annahme einesZusammenseins aller ihrer Elemente auf einen Widerspruch fhrt, so dass es un-mglich ist, die Vielheit als eine Einheit, als ein fertiges Ding aufzufassen. SolcheVielheiten nenne ich absolut unendliche oder inkonsistente Vielheiten.13 Problema-tisch bleibt hier, dass die wichtige Eigenschaft fertig sein bzw. statisch sein desEigentlich-unendlichen einigermaen durch die neue Definition von absolut Unendli-chen zerstrt wird. Ist das Absolute denn als ein Eigentlich-unendliches oder als einpotenzielles Unendliche zu verstehen? Das Absolute ist ein Eigentlich-Unendliches,jedoch kann es nicht als ein fertiges Ding aufgefasst werden, da dieses sich von jedermglichen Determination sich entzieht. Jeder Versuch das Absolute zu bestimmen,10 GA, S. 20511 Ebd., S. 40512 Diese Antinomie wurde auch von Cantor bemerkt und an Hilbert in Briefen mitgeteilt. Vgl.

    hierzu: Purkert, Walter. Georg Cantor und die Antinomien der Mengenlehre. In: Bulletin de laSociet Mathmatique de Belgique, t.XXXVIII (1986), S. 313-327

    13 GA, S. 443

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  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    wird in Widersprchen landen.

    2.1.3 Die Missverstndnisse des Aktual-Unendlichen

    Warum wurde das Aktual-Unendliche vor Cantor nie richtig aufgefasst und ma-thematisch formuliert? Diese Frage kann nicht durch die Behauptung eines horrorinfiniti des menschlichen Verstandes beantwortet werden. Cantor ist sich dessen be-wusst, dass er der Erste gewesen ist, der eine mathematisch-exakte Theorie berdas Unendliche geschaffen hat; es ist ihm auch bewusst, warum in der Vergangen-heit sowie in seiner gegenwrtigen Kritik das Aktual-Unendlich missverstanden wird.Cantor beschftigte sich sehr lange mit dieser Frage, die nur philosophisch gestelltbzw. beantwortet werden kann. Im seinen Texten sind folgenden Grnde und Ant-worten zu finden:

    1. Die Verwechselung desUneigentlich-unendlichen mit dem Eigentlich-Unendlichen.14

    Dieser Fehler ist innerhalb der Geschichte am hufigsten und beschreibt dieStandpunkte, die das Unendliche nur als ein pio wahrnehmen. Es wird da-bei das wichtigste Merkmal des Aktual-Unendlichen - das fertig- bzw. statisch-Sein - nicht beachtet, was nur das Unendliche als potenziell erlaubt. Auf dieseWeise entsteht die Behauptung infinitum actu non datur.

    2. Die Verwechslung des Transfiniten mit dem Absoluten, was zum Pantheismusfhrt.15 Hier wird die Statik jedoch bercksichtigt, aber doch das Vermehrungs-fhig-sein des Transfiniten nicht bemerkt.

    3. Die Zuschreibung von Eigenschaften des Endlichen im Unendlichen.16 Wennman die Frage stellt, ob im Reich des Unendlichen die Zahlen gerade oder un-gerade seien, landet man mit Sicherheit in Widersprchen. Cantor antwortet,dass die Vorstellung von abgeschlossenen unendlichen Grssen Schwierigkeitenaufgrund der Wahrnehmung bereitet. Wenn man aber die Tatsache bedenkt,dass bei jeder Begriffserweiterung manche Besonderheiten aufgegeben werdenmssen, dann kann der neue Begriff Transfinite einen bestimmten Platz imGeist aufnehmen und die Wahrnehmung dieses modifizieren. Daher ist einebertragbare vollstndige Deckung der Eigenschaften des Endlichen im Un-endlichen nicht mglich.

    4. Das Fehlen der Begriffe von Ordinalitt und Kardinalitt.17 Die Einfhrung14 Ebd., S. 172 und S. 37415 Ebd., S. 37516 Ebd., S. 178 und S. 37217 Ebd., S. 174 und S. 376

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  • 2.1 Das Aktual-Unendliche als philosophisches Fundament der Mengenlehre

    dieser Begriffe ist wesentlich fr die Theorie des Transfiniten. Der Begriff derMchtigkeit ermglicht es, Distinktionen sowie wichtige Eigenschaften inner-halb unendlicher Mengen deutlich zu bestimmen.

    5. Das Verkennen der Dedekindschen Definition von unendlichen Mengen.18 Un-endlich sind die Mengen, deren echte Bestandteile gleichmchtig mit dem Gan-zen sind. Das logische Gesetz der Teil ist kleiner als das Ganze wird aufge-geben, um das Unendliche erfassen zu knnen.

    6. Der Skeptizismus, den z.B. Kronecker reprsentierte.19 Die Zahl wird als derProzess des Zhlens definiert, somit wird das Unendliche nur als etwas po-tenzielles verstanden. Fr Kronecker existieren nur die natrlichen Zahlen,whrend Cantor die Existenz der so genannten imaginren Zahlen und seinereigenen idealen Zahlen bejaht, indem das Wesen der Mathematik und die Exis-tenz ihrer Gegenstnde auf eine objektivistisch-idealistische Weise aufgefasstwerden.20

    7. Die Endlichkeit des menschlichen Verstandes beweist die Unmglichkeit derUnendlichkeit. Diese Behauptung verneint Cantor, indem er, um diesen Zir-kelschluss zu vermeiden, dem menschlischen Verstand das Prdikat unendlichzuschreibt.21

    Wenn wir diese Reihe von Fehlern ablehnen, kann die von Cantor angegebenenAuffassung des Eingentlich-unendlichen nachvollzogen werden, solange dieser neuerBegriff das Transfinite unseres Denkens modifiziert und in diesem einen bestimm-ten, wohldefinierten Platz einnimmt.

    2.1.4 Beispiele in der Mathematik fr das Aktual-Unendliche

    Noch prziser kann unsere Vorstellung vom Transfiniten werden, wenn wir an konkre-te Beispiele aus der Mathematik anknpfen, denn es kann kein neuer Begriff gedachtwerden, ohne Fundierung in einer konkreten Anschauung,22 wie bereits Husserl ver-treten hat. So macht es auch Cantor. Die folgenden Beispiele wurden von ihm selbstangegeben.18 Ebd., S. 37919 Ebd., S. 38220 Vgl. hierzu: Purkert, Walter und Ilgauds, Hans Joachim. Georg Cantor. In: Biographien hervor-

    ragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 79. BSB B.G. Teubner Verlags-gesellschaft, Leipzig (1985). S. 65

    21 GA. S. 17622 Husserl, Edmund, Philosophie der Arithmetik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Text nach Hus-

    serliana Bd. XII, hrsg. von E. Strker. Meiner Verlag, Hamburg (1992) S. 79

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  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    2.1.4.1 Irrationale Zahlen und Fundamentalreihen

    In der Arbeit ber die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometri-schen Reihen (1872) fhrt Cantor seine Theorie der reellen Zahlen ein, die alleinhingereicht htte, ihm einen Platz in der Geschichte der Mathematik zu sichern.23

    Im 9 seiner Grundlagen werden die irrationalen Zahlen als ein angemessenes Bei-spiel fr eine eigentlich-unendliche Menge aufgefasst. Es wird ferner behauptet, dassdie transfiniten Zahlen in gewissen Sinne selbst neue Irrationalitten seien.24 DieBegrndung der Analysis durch die Arithmetik war zu Cantors Zeit eine zentra-le Aufgabe; aus diesen Grunde entschied er sich unter mehreren Arbeiten, die diearithmetische Einfhrung der reellen Zahlen darstellten, fr die Definitionen seinesLehrers Weierstrass, seines Freundes Dedekind und eine eigene. Als die grsste Ge-meinsamkeit der drei Definitionsformen hielt Cantor fest, dass alle drei die irrationaleZahl als eine wohldefinierte unendliche Menge erster Mchtigkeit25 definieren; wh-rend der grsste Unterschied im Erzeugungsmoment der Menge liege. Wir knnendie drei Definitionformen wie folgt darstellen:

    Weierstrass: Cantors Lehrer hatte die reellen Zahlen in seinen Vorlesungen als Ag-gregate eingefhrt. So wird eine rationale Zahl b als die endliche Summe derAggregate (an) definiert, whrend eine irrationale Zahl b als die unendlicheSumme der Aggregate (an) definiert wird. Das Erzeugungsmoment der unend-lichen Menge liegt offenbar in einer Summenbildung :

    n=0

    an = b

    Cantor bemerkt hier einen logischen Fehler, weil vielmehr die Definition derSumme

    an erst durch die Gleichsetzung mit der notwendig vorher schon

    definierten fertigen Zahl b gewonnen wird.26

    Dedekind: In der Schrift Stetigkeit und Irrationale Zahlen werden die irrationalenZahlen als Schnitte eingefhrt, wobei die gesamten rationalen Zahlen in zweiGruppen eingeteilt werden, so dass die Zahlen der ersten Gruppe An kleiner

    23 Purkert, Walter und Ilgauds, Hans Joachim. Georg Cantor. In: Biographien hervorragender Na-turwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 79. BSB B.G. Teubner Verlagsgesellschaft,Leipzig (1985) S. 23. Diese Meinung ist von mehreren Autoren verteidigt, wie z.B. auch vonAndor Kertsz: Htte Cantor in seinem Leben nichts anderes geschaffen als seine Theorie derreellen Zahlen, sein Name bliebe unsterblich. In: Kertsz, Andor. Georg Cantor, Schpfer derMengenlehre. Acta Historica Leopoldina, Nummer 15 (1983). Deutsche Akademie der Naturfor-scher Leopoldina, Halle-Saale (1983), S. 35

    24 GA, S. 39525 Ebd., S. 18426 Ebd., S. 185

    14

  • 2.1 Das Aktual-Unendliche als philosophisches Fundament der Mengenlehre

    als die Zahlen der zweiten Gruppe Bn sind, so dass An < Bn. Diese Teilungder rationalen Mengen ergibt einen Schnitt, der eine irrationale Zahl repr-sentiert. Cantors Kritik am Dedekindschen Schnitt liegt in der praktischenAnwendung: Solche Schnitte kommen in der Analysis nicht vor.

    Cantor: Fr die Begrndung der reellen Zahlen schlgt Cantor seine Fundamental-reihe vor, die hnlichkeiten mit der Weierstrassschen Definition erweist. Eswird der Versuch vollzogen, den logischen Fehler zu vermeiden. So fordert Can-tor, dass nach Annahme einer beliebig kleinen rationalen Zahl eine endlicheAnzahl von Gliedern der Menge abgeschieden, so dass die brig bleibendenpaarweise einen Unterschied haben, der seiner absoluten Grsse nach kleinerist als . Jede derartige Menge (a), welche auch die Forderung

    lim

    (a+ a) = 0

    (bei beliebig gelassenem ) charakterisiert werden kann, nenne ich Fundamen-talreihe und ordne ihr eine durch sie definierende Zahl b zu [...].27 Wenn bdurch die Fundamentalreihe (a) bestimmt wird, dann wird b - a mit wach-senden kleiner als jede denkbare rationale Zahl, d.h.:

    lim

    (a) = b

    So reprsentieren die Fundamentalreihen, die keinen rationalen Grenzwert ha-ben, eine irrationale Zahl.

    2.1.4.2 Limeszahl

    Um das Transfinitum zu verdeutlichen, greift Cantor auf den Begriff der Limeszahlzurck. So kann das Minimum des Transfiniten - die kleinste transfinite Zahl -als Grenze des wachsenden Endlichen28 angesehen werden. Dafr mssen wir erstdie Eigenschaften solcher Limeszahlen im Endlichen untersuchen und berprfen,ob alle Eigenschaften bei der Erweiterung ins Unendliche erhalten bleiben. Nehmenwir als Beispiel die Grenze der Zahlen z = 1 1 , in der eine endlich wachsendeGrsse bedeutet. Wir knnen zwei Merkmale zeigen: Erstens, dass die Differenz1 1

    fr hhere Zahlen stndig kleiner wird, d.h. der Grenzwert der beschriebenen

    Subtraktion wird gleich null; zweitens, dass 1 die kleinste von allen Zahlgrssen ist,welche grsser sind als alle Grssen z .

    27 Ebd., S. 18628 Ebd., S. 406

    15

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    Wenn wir diese zwei Merkmale eines Grenzprozesses fr unsere neue Zahl zu-schreiben mchten, mssen wir aber die erste Eigenschaft verndern. Das Minimumdes Transfiniten steht als der Grenzwert fr alle wachsenden endlichen Zahlen .Wenn wir die Differenz betrachten, knnen wir folgendes feststellen: Die Dif-ferenz wird nicht kleiner, da sie doch fr alle wachsenden stets = bleibt.Man kann also nicht sagen, dass die wachsenden endlichen ihrer Grenze beliebignahe kommen, sondern vielmehr sind alle Zahlen genauso weit entfernt von .Das zweite Merkmal knnen wir jedoch ins Unendliche bertragen: ist die kleinsteZahl, die grsser als alle endlichen Zahlen ist. Daher nennen wir sie das Minimumdes Transfiniten, was streng von dem Maximum des Endlichen zu unterscheiden ist -dieses existiert ja nicht -. So liegen und die folgenden transfiniten Zahlen gnzlichauerhalb der endlosen Zahlenreihe 1, 2, 3, ..., , ...; wobei sie wiederum eine neueendlose transfinite Zahlenreihe , + 1, + 2, ..., + , ... bilden.29

    2.1.4.3 Riemannsche Zahlenkugel

    Das beste Beispiel fr das Bestimmt-Sein eines Aktual-Unendlichen bietet die vonRiemann stammende Zahlenkugel der komplexen Ebene.

    So bezieht sich Cantor auf diese Sphre30 in folgendem Zitat:

    Daneben hat sich aber in der neueren und neuesten Zeit sowohl in derGeometrie wie auch namentlich in der Funktionentheorie eine andereebenso berechtige Art von Unendlichkeitsbegriffen herausgebildet, wo-nach beispielsweise bei der Untersuchung einer analytischen Funktioneiner komplexen vernderlichen Grsse es notwendig und allgemein b-lich geworden ist, sich in der die komplexe Variable reprsentierendenEbene einen einzigen im Unendlich liegenden, d.h. unendlich entferntenaber bestimmten Punkt zu denken [...]31

    Dieser Punkt entspricht dem Nordpol der Kugel, deren Projektion nur durch dieunendlich entfernten Zahlen erreicht wird. Cantor verweist auf diese symbolische

    29 Ebd., S. 40730 Abb. 0.2 : Riemmansche Zahlenkugel aus http://commons.wikimedia.org31 Ebd., S. 165

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  • 2.1 Das Aktual-Unendliche als philosophisches Fundament der Mengenlehre

    Konstruktion der Mathematik der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts, weil hierein Aktual-Unendliches auftritt. Der Punkt ist eindeutig bestimmt und er ist dieeinzige Projektion der Zahlen, die unendlich weit entfernt von allen endlichen Zahlenstehen, deren Projektionen alle Punkte der Sphre decken, auer dem Nordpol.Dieses Deckungsverhltnis der Punkte aus der Ebene in der Sphre nennt manKompaktifizierung der komplexen Ebene, und sie werden mit dem Nordpol - d.h. demPunkt - vervollstndigt. So lautet die Riemannsche Zahlenkugel in der formalenSprache wie folgt:

    C {}

    Diese Zahlenkugel bedeutete fr die Mathematik des 19. Jahrhunderts eine geome-trische Veranschaulichung der komplexen Zahlen, daher hat sie sich als ein ntzlichesMittel hnlich der Zahlengerade fr die Arithmetik erwiesen.

    2.1.4.4 Infinitesimal

    Bemerkenswert ist, dass Cantor die unendlich kleinen Grssen oder Infinitesimalennicht als Eigentlich-Unendlich ansieht, sondern vielmehr als unmgliche oder in sichwidersprechende Gedankendinge bezeichnete.32 Die Existenz von unendlich grossenZahlen impliziert auf keinen Fall die Existenz von unendlich kleinen Zahlen, Cantorbehauptete sogar die Umkehrung: Mit Hilfe seiner Transfiniten Zahlen kann man dasUnendlich-Kleine widerlegen. Der Gedankengang versucht zu zeigen, dass eine solcheunendlich kleine Zahl dem Begriff der linearen Zahlgrsse widerspricht. Nehmenwir eine von Null verschiedene Zahlgrsse an, die kleiner als jede endliche kleineZahl ist. So wird ihr n-faches n nie eine endliche Zahl, egal wie gross n wird,sogar wenn n eine transfinite Zahl ist. Dies kann nicht in einem archimedischengeordneten Krper stattfinden. Aber Zermelos Anmerkung greift auf einen Gedankenvon Cantor selbst zurck, der besagt, dass fr eine Begriffserweiterung das Verlassenvon Besonderheiten - sogar von Axiomen - ntig wird. Es wird noch mehr gesagt:Ein Satz oder ein Axiom gilt innerhalb eines gegebenen Systems, verndert man dasSystem, so knnen andere Axiome und Stze gelten. So stellt beispielsweise Zermelofest:

    Die Nicht-Existenz aktual-unendlichkleiner Grssen lsst sich so wenigbeweisen, wie die Nicht-Existenz der Cantorschen Transfiniten, und derFehlerschluss ist in beiden Fllen ganz der nmliche, indem den neuenGrssen gewisse Eigenschaften der gewhnlichen endlichen zugeschrie-ben werden, die ihnen nicht zukommen knnen. Es handelt sich hier um

    32 Vgl. hierzu: Ebd., S. 172, 180, 407- 410

    17

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    die sogenannten nicht-archimedischen Zahlsysteme bzw. Krper, derenExistenz heute als einwandfrei nachgewiesen betrachtet werden kann. [...]In einem nicht-archimedisch geordneten Krper, in welchen z.B. n < 1ist fr jedes endliche ganzzahlige n, existiert auch keine obere Gren-ze dieser Grssen n, die mit bezeichnet werden knnte, weil dasIntervall ( , ) hchstens eine Grsse n enthalten knnte, und dieMultiplikation mit weiteren Transfiniten > wird gegenstandlos. Mitdem Archimedischen Axiom fllt eben gleichzeitig das Stetigkeitsaxi-om, wie z.B. in D. Hilberts Grundlagen der Geometrie hervorgehobenwird. Ob ein Satz ein Axiom ist oder nicht, hngt nicht von seinem In-halte ab, sondern vom Aufbau des ganzen Systems, von den das Systemdefinierenden Grundeigenschaften oder Axiomen.33

    Diese Eigentmlichkeit der Mathematik wurde in ihrer spteren Entwicklung alsModelltheorie bekannt. Tatschlich ist die Einfhrung von unendlich kleinen Grssenoder Infinitesimalen in der heutigen Nonstandard-Analysis formalisiert.34

    2.2 Der Mengenbegriff

    Der Begriff Menge scheint selbstverstndlich zu sein und genau diese Selbstver-stndlichkeit verleiht ihm philosophische Relevanz. Whrend der Jahrhundertwendegab es viele Logiker, Philosophen und Mathematiker, die diesen Begriff zu definie-ren versuchten. Heute ist die von Cantor stammende Namensgebung Menge dieam meisten verbreitete, weitere Termini wie Inbegriff, Mannigfaltigkeit, Gesamt-heit, System, Klasse, Vielheit, Anzahl usw. wurden damals auch hufig gebraucht.Es ist wichtig festzuhalten, dass sich zwei grosse Richtungen fr die Bestimmungdieses Begriffes deutlich von einander unterscheiden: Erstens die von Cantor undHusserl vertretene Meinung, dass die Menge durch den Akt der Zusammenfassungvon Elementen zu einem Ganzen oder durch den Akt der kollektiven Verbindungentstehe; und zweitens, die von Frege und Russell angegebene Richtung, in der demExtensionlittsprinzip und der quivalenzklasse der Vorrang zukommt. So steht dieendgltige Mengendefinition Cantors in seinen Beitrgen (1895) wie folgt:

    Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfassung M von be-stimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder

    33 Ebd., S.43934 Vgl. hierzu: Kainovei, Vladimir; Reeken, Michael. Nonstandard Analysis, Axiomatically. Springer

    Monographs in Mathematics, Heidelberg- Berlin (2004). Auf Seite 55 wird Infinitesimal auffolgende Weise definiert: infinitesimal or infinitely small, if |x| < for all standard > 0; wobeistandardization auf Seite 15 definiert wird.

    18

  • 2.2 Der Mengenbegriff

    unseres Denkens (welche die Elemente von M genannt werden) zu ei-nem Ganzen.35

    Analog vertrat Husserl in einer seiner frhen Schriften, dass die Entstehung desVielheitsbegriffes durch Reflexion auf die kollektive Verbindung zu erklren sei:

    Es ist missverstndlich zu sagen, die Inbegriffe bestnden blo aus demEinzelinhalten. Wie leicht man es auch bersieht, so ist doch ber dieEinzelinhalte hinaus etwas da, was bemerkt werden kann und was inallen Fllen, wo wir von einem Inbegriff oder Vielheit sprechen, not-wendig vorhanden ist: die Verbindung der einzelnen Elementen zu demGanzen.36

    Diese beide Definitionen fr den Begriff Menge scheinen fr viele Mathematikernicht befriedigend zu sein; sie knnen sogar problematisch werden. Was heisst Zu-sammenfassung? Und was ist das Ganze? Wie knnen diese Begriffe mathematischdefiniert werden? Von einem pragmatischen Standpunkt aus werden diese Fragen beiSeite gelassen, indem man solche Begriffe als unmittelbar klar ansieht, da sie nurphilosophisch definiert werden knnen.37 Aber etwas hnliches geschieht, wenn manden Begriff der Kardinalitt zu definieren versucht. So entstanden andere Vorstel-lungen, die sich besser der mathematischen Begriichkeit anpassten. Frege vertrateine Richtung des Extensionalittsprinzips, in der allgemein ein Begriff durch seineExtension bzw. Umfang vllig bestimmt und daher definiert wird: Die Anzahl, wel-che dem Begriffe F zukommt, ist der Umfang des Begriffes gleichzahlig dem BegriffeF 38. So ist zum Beispiel die Richtung der Geraden a, der Umfang des Begriffesparallel der Geraden a; oder die Gestalt eines beliebigen Dreiecks d, der Umfang desBegriffes hnlich dem Dreieck d ; oder die Kardinalzahl einer Menge M, die Klassealler zu M quivalenten Mengen. Dasjenige, was den Begriff ausmacht, ist seine Ex-tension und nicht die Intension, der Entstehungsakt oder das Gesetz, nach welchemdie Elemente zum Ganzen zusammengefasst werden. Diese Meinung vertrat auchRussell in seiner Typentheorie, die die Ungereimtheiten der naiven Mengenlehre zukorrigieren versuchte.

    35 GA, S. 28236 Husserl, Edmund. Philosophie der Arithmetik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Text nach Hus-

    serliana Bd. XII, hrsg. von E. Strker. Meiner Verlag, Hamburg (1992) S. 1837 Vgl. hierzu: Fraenkel, Abraham.Mengenlehre und Logik. In: Erfahrung und Denken. Schriften zur

    Frderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften, Band 2. Duncker &Humblot, Berlin (1959), S. 13

    38 Frege, Gottlob. Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung berden Begriff der Zahl. Philipp Reclam jun., Stuttgart (2005). S. 100

    19

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    2.2.1 Die verschiedenen Mengendefinitionen

    In den achtziger Jahren benutzte Cantor einer Art seine Begriffe zu erlutern, die sichwesentlich von der spteren unterscheidet. Es wird deutlich, dass die ersten Schritteder Mengenlehre mithilfe philosophischer Gedankengnge gemacht wurden. Spterwollte Cantor seine Theorie in einem einheitlichen System, das fr die Mathematikhilfreich sein sollte, zusammenbringen, wie in seinen Beitrgen (1895) festgehaltenist. Aber die Nachfolger Cantors - von einem formalistischen Willen bewegt - hat-ten dieses System zugespitzt, um die heutige axiomatische Mengenlehre zu schaffen.Die verschiedenen Schritte beinhalten verschiedene Herangehensweisen an die men-gentheoretischen Begriffe. Genau diese Unterschiede mchten wir verdeutlichen, umdie im Hintergrund stehende Logik sichtbar werden zu lassen. So lautet die ersteMengendefinition (1882):

    Eine Mannigfaltigkeit (ein Inbegriff, eine Menge) von Elementen, dieirgendwelcher Begriffssphre angehren, nenne ich wohldefiniert, wennauf Grund ihrer Definition und infolge des logischen Prinzips von aus-geschlossenen Dritten es als intern bestimmt angesehen werden muss,sowohl ob irgendein derselben Begriffssphre angehriges Objekt zu dergedachten Mannigfaltigkeit als Element gehrt oder nicht, wie auch, obzwei zur Menge gehrige Objekte, trotz formaler Unterschiede in der Artdes Gegebenseins einander gleich sind oder nicht.39

    In dieser frhen Definition erhlt der BegriffMannigfaltigkeit und nicht derjenige derMenge den Vorrang. Es scheint so, als ob diese beide Begriffe verschiedene Konnota-tionen mit sich bringen; so ist Mannigfaltigkeit ein allgemeinerer Terminus, whrendMenge sich speziell auf Punktmannigfaltigkeiten bezieht. Dennoch knnen wir eini-ge Bestimmungen in dieser Definition finden, die spter nicht mehr auftauchen, wiez.B. die Zugehrigkeit zu einer Begriffssphre oder das Intern-determiniert-Sein. Mitder Begriffssphre meint Cantor, dass eine Menge entweder als eine Punktmannig-faltigkeit der Analysis oder der Geometrie betrachtet werden muss. Diese Ausson-derung von Mannigfaltigkeiten nach ihrer Begriffssphre kann als Grund fungieren,warum Cantor keine Mengen von Mengen bildet, die zu Widersprchen fhren. ImIntern-determiniert-Sein knnen wir einen mglichen Vorlufer seiner Theorie derimmanenten Realitt von mathematischen Objekte finden.40 Diese Theorie werdenwir im Abschnitt 2.8. behandeln.39 GA, S. 15040 Vgl. hierzu. Ferreirs, Jos. Labyrinth of Thought. A History of Set Theory and its Role in

    Modern Mathematics. Science Networks. Historical Studies, Volume 23. Edited by Erwin Hiebert,Eberhard Knobloch and Erhard Scholz. Birkhuser Verlag. Basel-Boston-Berlin (1999), S. 263-67

    20

  • 2.2 Der Mengenbegriff

    Cantor fhrt in der ersten Anmerkung seiner Grundlagen (1883) fort:

    Unter einer Mannigfaltigkeit oder Menge verstehe ich nmlich allge-mein jedes Viele, welches sich als Eines denken lsst, d.h. jeden Inbegriffbestimmter Elemente, welche durch ein Gesetz zu einem Ganzen ver-bunden werden kann, und ich glaube hiermit etwas zu definieren, wasverwandt ist dem Platonischen o oder [...]41

    Hier zeigt Cantor, dass sein Mengenbegriff auf philosophischen Quellen basiert. Sosind die Einheit und das Wohlunterschiedensein gemeinsame Merkmale der Can-torschen Menge und der platonischen Ideen. Die Zusammenfassung zu einem Gan-zen fungiert als das Moment der Bestimmtheit, die spter den Begriff der Mengevon Antinomien schtzen wird. Diese frhe Definition enthlt ein Merkmal, dasnur hier vorkommt, d.h. das spter aufgegeben wird. Dieses ist die Gesetzgebungder Menge, die entscheidet, ob ein Element zu der Menge gehrt oder nicht. Soschreibt man nach dieser Mengenbestimmung fr die Menge der quadratischen Zah-len Q := {x Q|x = n2}, gelesen: x ist Element von Q, genau dann wenn x dasQuadrat einer natrlichen Zahl n ist. Diese Mengenbestimmung, die durch eine Ei-genschaft bzw. Gesetzgebung die Menge beschreibt, ist zu unterscheiden von deraufzhlenden Mengenbestimmung, die die wohldefinierte Elemente der Menge auf-zhlt: Q := {1, 4, 9, 16, ...}. Diese zweite Schreibeweise entspricht der extensionalbeschreibenden Mengenbestimmung, whrend die erste der intensional beschreiben-den Mengenbestimmung ausdrckt. Die intensionale Mengenschreibweise kann vondem logischen Standpunkt als problematisch angesehen werden, wenn die Gesetz-gebung der Menge mittels eines nicht-prdikativen Begriffs angegeben wird42. Dieintensionale Neigung in Cantors Mengendefinition wird bis 1895 beibehalten. DasGesetz, zu welchem die Elemente einer Menge zusammengefasst werden, bleibt ber-flssig fr die Definition der Menge; so kann ein Gefhl, ein Engel, der Mond undItalien43 eine Menge bilden, auch wenn hierfr keine Gesetzgebung zu finden ist.Eine ontologische Zuspitzung findet sich in der Definition, die Cantor als Einleitungund Erluterung seiner Mitteilungen (1887) angibt:

    Hier findet sich die von mir seit etwa vier Jahren vertretene und inmeinen Vorlesungen vielfach ausgebildete Auffassungsweise der ganzenZahlen und Ordnungstypen als Universalien, die sich auf Mengen bezie-hen und aus ihnen sich ergeben, wenn von der Beschaffenheit der Ele-

    41 GA, S. 20442 Vgl. hierzu 2.7 Die Paradoxien der Mengenlehre43 Husserl, Edmund. Philosophie der Arithmetik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Text nach Hus-

    serliana Bd. XII, hrsg. von E. Strker. Meiner Verlag, Hamburg (1992), S. 16

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  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    mente abstrahiert wird. Jede Menge wohl unterschiedener Dinge kannals ein einheitliches Ding fr sich angesehen werden, in welchem jeneDinge Bestandteil oder konstitutive Element sind. Abstrahiert man so-wohl von der Beschaffenheit der Elemente, wie auch von der Ordnungihres Gegebenseins, so erhlt man die Kardinalzahl oder Mchtigkeit derMenge, einen Allgemeinbegriff, in welchem die Elemente, als sogenannteEinsen, gewissermassen organisch ineinander derartig zu einem einheitli-chen Ganzen verwachsen sind, dass keine vor den anderen ein bevorzugtesRangverhltnis hat.44(1887)

    Anknpfend an den mittelalterlichen Realienstreit bezeichnet Cantor die Zahlenals Universalien, von deren Wirklichkeit spter die Rede sein wird. Wichtig ist dienchste Behauptung, in der die ganzen Zahlen und Ordnungstypen als Unterbegriffedes Oberbegriffes Menge dargestellt werden. Es gibt einen allgemeinen BegriffMenge, dessen Merkmale folgende sind:

    - Eine Menge wird von Elementen konstituiert, d.h. ihr Wesen liegt in einerKollektion.

    - Die kollegierten Elemente mssen wohlunterschieden sein, genau so wie dieMenge an sich wohlunterschieden ist.

    - Sie ist ein einheitliches Ding in unserem Geiste, d.h. sie wird wiederum alseine Einheit gedacht. Dies erinnert an den Dedekindschen Systembegriff.

    - Vom Begriff Menge her werden die Abstraktionsvorgnge stattfinden, diedas Bestimmen von Kardinal und Ordinal ermglichen, also sie fungiert alsder primre positive Begriff.

    Ferner wird gesagt, dass die Kardinalzahl entsteht, wenn man sowohl von derBeschaffenheit der Elemente wie von der Rangordnung abstrahiert. Diese psycho-logistische Definition markiert also den Abstand zwischen Realitt und Zahl45. Sowird unsere Menge aus lauter Einsen bestehen, genauso wie Euklid die Zahl definierthat: Einheit ist das, wonach jedes Ding eines genannt wird. Zahl ist dies aus Einhei-ten zusammengesetzte Menge.46 Diese Einsen sind zu einem Organismus vereinigt,der die Materie der Menge ausmacht. Abstrahiert man nur von der Beschaffenheit44 GA, S. 37945 Vgl. hierzu: Tengelyi, Lszl. Transfinite Zahl und transzendentaler Schein. Kant und Cantor

    in der Sicht von Marc Richirs Phnomenologie. In: Festschrift fr Manfred Baum. Duncker &Humboldt, Berlin (2004), S. 458

    46 Euklid. Die Elemente. Oswalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Band 235. Verlag HarriDeutsch, Frankfurt am Main (2005), S. 141

    22

  • 2.2 Der Mengenbegriff

    der Elemente, so sind die Einsen auf eine irgend geartete Weise geordnet, welchedie Form der Menge ausmacht. Man kann also von einem Ordnungstyp, der sich aufeine Menge bezieht und nur aus ihr entsteht, behaupten, dass er ein Kompositumvon Materie und Form sei.47 Diese Erklrung von Menge hatte die Mathematikernicht zufrieden gestellt, da sie viele philosophische bzw. psychologische Termini ent-hielt. Zehn Jahre spter wird Cantor seine Mengendefinition als eine mathematischeDefinition angeben, aber auf manche dieser philosophischen Termini hat er dabeinicht verzichtet:

    Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfassung M von be-stimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oderunseres Denkens (welche die Elemente von M genannt werden) zu ei-nem Ganzen.48 (1895)

    Der Sinn dieser Definition hnelt der lteren; es tauchen die Kollektion bzw. Zusam-menfassung, die Wohlunterschiedenheit, die Elemente und das Ganze auf. EinigeZeilen spter fhrt er die Kardinalitt und Ordinalitt mittels eines Abstraktions-vorganges auf. Erst vier Jahre spter, am 28.7.1899, nderte Cantor seine Definition,und zwar entsprechend der modernen Ansprche der Extensionalitt :

    Liegt eine Menge M vor, so nenne ich den Allgemeinbegriff, welcherihr und nur noch allen ihr quivalenten Menge zukommt, ihre Kardinal-zahl.49

    2.2.2 Das System Dedekinds

    Cantors Zeit der schpferischen Leistung war unmittelbar begleitet von der Freund-schaft und der intensiven Korrespondenz mit Dedekind, der sein Interesse an derlogischen Begrndung der Mathematik geteilt hat. Die zwei grossen Schriften desBraunschweiger Mathematikers ber die Grundlagen der Mathematik sind Stetig-keit und irrationale Zahlen (1872), in der die Einfhrung der reellen Zahlen mittelsdes Dedekindschen Schnitts vollgezogen wird; und Was sind und was sollen dieZahlen? (1887), in der die Begrndung der natrlichen Zahlen das Hauptthemaist. In dieser letzten Schrift knnen wir hauptschlich fnf wesentliche Beitrge zurMengenlehre und den Grundlagen der Mathematik finden:

    1. Der Begriff des Systems (oder Menge): Schon im Vorwort wird die Antwort aufdie gestellte Frage Was sind und was sollen die Zahlen? angegeben, indem sie

    47 GA., S. 38048 Ebd., S. 28249 Ebd., S. 444

    23

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    erstens fr gnzlich unabhngig von den Vorstellungen oder Anschauungendes Raumes und der Zeit und sogar als freie Schpfungen des menschlichenGeistes50 aufgefasst werden; zweitens werden die Zahlen als sehr zusammen-gesetzte Begriffe beschrieben, die einer Erklrung bedrfen, um auf diese Wei-se die Wissenschaft der Zahlen auf einheitliche Grundlage zu errichten.51 Sowird im 1 der Begriff des Systems - heute sagen wir Menge - definiert. Zu-erst wird das Ding als jeder mgliche Gegenstand unseres Denkens betrachtet.Man bezeichnet diese Dinge durch Zeichen, um bequem ber sie sprechen zuknnen. Es kommt sehr hufig vor, dass verschiedene Dinge a, b, c... aus ir-gendeiner Veranlassung unter einem gemeinsamen Gesichtspunkte aufgefasst,im Geiste zusammengestellt werden, und man sagt dann, dass sie ein System Sbilden; man nennt die Dinge a, b, c... die Elemente des Systems S, sie sind ent-halten im S; umgekehrt besteht S aus diesen Elementen. Ein solches System S(oder ein Inbegriff, eine Mannigfaltigkeit, eine Gesamtheit) ist als Gegenstandunseres Denkens ebenfalls ein Ding; es ist vollstndig bestimmt, wenn von je-dem Ding bestimmt ist, ob es Element von S ist oder nicht.52 Hier tauchenverschiedene Merkmale des Begriffes System (Menge, Gesamtheit, Mannig-faltigkeit, usw.) auf, die auch bei Cantor zu finden sind. Die Kollektion derElemente und die Einheitlichkeit sind wesentlich in Dedekinds Definition derMenge. Bemerkenswert ist, dass die Kollektion mit einer gewissen Reziprozittbetrachtet wird: die Menge besteht aus ihren Elementen, genau dann wenn dieElemente die Menge ausmachen, und sowohl die Menge wie jedes Element sindein einheitliches Ding an sich. In einer sehr abstrakten Weise wird zuerst dieGesetzgebung oder die intensionale Mengenbeschreibung ausgesprochen, wenner sagt aus irgendeiner Veranlassung unter einem gemeinsamen Gesichtspunk-te aufgefasst, im Geiste zusammengestellt werden, und man sagt dann, dasssie ein System S bilden; im Kontrast mit der Bedingung der Bestimmtheit derMenge, die auch auf der Intensionalitt beruht, ist die Gesetzgebung der Mengesehr deutlich formuliert: Es ist vollstndig bestimmt, wenn von jedem Ding be-stimmt ist, ob es Element von S ist oder nicht. Fr diese Behauptung schreibtDedekind eine Anmerkung, die gegen ein Argument Kroneckers spricht. Diefreie Begriffsbildung ist in der Mathematik wesentlich und die Beschrnkungenmssen begrndet werden. Zusammenfassend knnen wir als konstituierendeEigenschaften des Systemsbegriffes die Einheitlichkeit, die Kollektion und eine

    50 Dedekind, Richard. Was sind und was sollen die Zahlen?. Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig(1969) S. III

    51 Ebd., S. V52 Ebd., S. 1-2

    24

  • 2.2 Der Mengenbegriff

    Gesetzgebung zuschreiben.

    2. Der Begriff der Abbildung: In 2 knnen wir die Erklrung dieses Begriffesfinden. Hier wird die Abbildung oder Zuordnung auf folgende Weise definiert:Unter einer Abbildung eines Sytems S wird ein Gesetz verstanden, nachwelchem zu jedem bestimmten Element s von S ein bestimmtes Ding gehrt,welches das Bild von s heisst und mit (s) bezeichnet wird. Diese Definitionder Abbildung finden wir in der heutigen Definition der Funktion, so knntenwir sagen, dass es ein Verdienst Dedekind war, die richtige Definition des kon-fliktiven Begriffes Funktion formuliert zu haben. Interessant ist das Beispiel,das er fr die konkrete Vorstellung einer Abbildung angibt: Als Beispiel einerAbbildung eines Systems ist schon die Belegung seiner Elemente mit bestimm-ten Zeichen oder Namen anzusehen. Die einfachste Abbildung eines Systemsist diejenige, durch welche jedes seiner Elemente in sich selbst bergeht; siesoll die identische Abbildung des Systems heissen.53 Dieses Beispiel hat nichtnur eine didaktische Absicht, es sollte auch verdeutlichen, wie die Abbildungin der Konstitution des Zahlbegriffes integriert ist: So sind wir auch schon vonunserer Geburt an bestndig und in immer steigenden Mae veranlasst, Dingeauf Dinge zu beziehen und damit diejenige Fhigkeit des Geistes zu ben, aufwelche auch die Schpfung der Zahlen beruht.54

    3. Die Ketten als Hilfsmittel zur Definition der Zahlen: Im 4 Abbildung einesSystems in sich selbst wird der Begriff der Kette eingefhrt. Dedekind nennteine Abbildung eines Systems S in sich selbst, wenn (S) Teil von S ist. Fer-ner wird die Kette so definiert: K heisst eine Kette, wenn K K ist. [wobeiK = (K) ist] Wir bemerken ausdrcklich, dass dieser Name dem Teile Kdes Systems S nicht etwa an sich zukommt, sondern nur in Beziehung auf diebestimmte Abbildung erteilt wird.55 Hierbei wird eine relationale Auffas-sung der Zahlen erstellt, indem die Menge bzw. das System der natrlichenZahlen durch eine injektive Abbildung geordnet wird, und als eine einfacheunendliche Sequenz gedacht wird, deren Elemente im wesentlichen durch dieReihenfolgebeziehung bestimmt sind, in der sie zueinander stehen. Die Ketteist demnach eine zusammenhngende Sequenz: (K) = K und K K.56Der Begriff der Kette wird vor allem bei Zermelo in seinem zweiten Beweis der

    53 Ebd., S. 554 Ebd., S. V55 Ebd., S. 956 Vgl. hierzu: Wiese, Heike. Zahl und Numerale: Eine Untersuchung zur Korrelation konzeptu-

    eller und sprachlicher Strukturen. Inaugural Dissertation, Humboldt Universitt Berlin (1997).Akademie Verlag (1997) S. 55-56

    25

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    Wohlordnung ausgefhrt.

    4. Die induktive Definition der natrlichen Zahlen: Schon vor Peano hatte Dede-kind das strkeste Beweismittel der Mathematik - die vollstndigen Induktion- bewiesen und als logische Grundlage der Zahlen betrachtet. Der Schluss vonn auf n+1 wird mittels des Kettenbegriffes erlutert: Um zu beweisen, dassalle Elemente der Kette A0 eine gewisse Eigenschaft = besitzen (oder dass einSatz =, in welchem von einem unbestimmten Dinge n die Rede ist, wirklichfr alle Elemente n der Kette A0 gilt), gengt es zu zeigen:

    %. dass alle Elemente a des Systems A die Eigenschaft = besitzen (oder dass= fr alle a gilt), und

    . dass dem Bilde n jedes solchen Elementes n von A0, welches die Eigen-schaft = besitzt, dieselbe Eigenschaft = zukommt (oder dass der Satz =,sobald er fr ein Element n von A0 gilt, gewi auch fr dessen Bild ngelten muss.)57

    5. Die Definition von unendlichen Mengen: Ein System S heisst unendlich, wennes einem echten Teile seiner selbst hnlich ist; im entgegengesetzten Falle heisstS endlich.58 Wobei der Begriff hnlich auf Seite 8 folgendermaen definiertwird: Die Systeme R, S heissen hnlich, wenn es eine derartige hnliche Abbil-dung gibt, dass (S) = R wird. hnlich bei Dedekind und gleichmchtigbei Cantor haben dieselbe Bedeutung und Funktion. So ist diese Definition vonunendlich wie im folgenden Beispiel zu verstehen: Sei die Menge der natr-lichen Zahlen N. Wenn eine Abbildung zwischen N und einem seiner echtenTeile wie z.B. Q = Menge der quadratischen Zahlen mglich ist, dann ist Nunendlich. Die Abbildung N Q ist bijektiv, da fr alle n N einem n2 zu-geordnet wird, mit n n2; d.h. die Menge N ist hnlich oder gleichmchtigmit ihrer Teilmenge Q. Also ist N unendlich. Wenn wir die Menge der natr-lichen Zahlen von 1 bis 100 betrachten, ist eine solche Abbildung n n2ab n 11 nicht mehr mglich. Cantor teilte Dedekind in einem Brief mit,dass er sie zuerst in einer seiner Schriften verwendet hatte; deswegen scheintDedekind im Vorwort zur zweiten Auflage (1893) Folgendes festzuhalten: DieEigenschaft, welche ich als Definition des unendlichen Systems benutzt habe,ist schon vor dem Erscheinen meiner Schrift von G. Cantor (Ein Beitrag zurMannigfaltigkeitslehre, Crelles Journal, Bd.84; 1878), ja sogar von Bolzano

    57 Dedekind, Richard. Was sind und was sollen die Zahlen?. Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig(1969) S. 12

    58 Ebd., S. 13

    26

  • 2.2 Der Mengenbegriff

    (Paradoxien des Unendlichen, 20; 1851) hervorgehoben. Aber keiner der ge-nannten Schriftsteller hat den Versuch gemacht, diese Eigenschaft zur Definiti-on des Unendlichen zu erheben und auf diese Grundlage die Wissenschaft vonZahlen streng logisch aufzubauen, und gerade hierin besteht der Inhalt meinermhsamen Arbeit.59 Die Dedekindsche Definition des Unendlichen betrachtetdieses als primren positiven Begriff, von dem das Endliche als spezieller Fallhergeleitet werden kann. Auf diese Weise hat Dedekind nicht nur die Definitiondes Unendlichen neu formuliert, sondern auch die des Endlichen.

    2.2.3 Die dialektische Begriffserzeugung.

    Um die Bildung von transfiniten Zahlen zu beschreiben, greift Cantor auf eine dia-lektische Begriffserzeugung zurck. Diese besteht aus drei Prinzipien, die natrlicheAbschnitte in der absolut unendlichen Folge der realen ganzen Zahlen60 erzeugen,was Cantor die verschiedenen Zahlenklassen nennt. Die folgenden drei Prinzipiensind in ihrer Zusammenwirkung als das Grundgesetz der transfiniten Zahlen zu ver-stehen, das die Sukzessivitt, Generativitt und Iterativitt in diesen ungeheurenMengen sehr deutlich zeigt:

    I. Erzeugungsprinzip: Es handelt sich hierbei um nichts anderes als die Nachfol-geroperation, d.h. die Hinzufgung einer Einheit zu einer vorhandenen schongebildeten Zahl61. Auf diese Weise knnen wir Zahlen nach der ersten transfi-niten Zahl definieren: , +1, +2, +3, . . .Mit diesem Erzeugungsprinziperhalten wir keine grsste Zahl oder Maximum innerhalb einer Zahlenklasse,dafr bentigen wir das nchste Prinzip.

    II. Erzeugungsprinzip: Mit diesem Prinzip legen wir die Limeszahl einer Zahlen-reihe oder das Minimum der nchsthhere Reihe fest, wie bei der endlichenganzen Zahlenreihe die neue Limeszahl ist. So wird in Kombination beiderPrinzipien die Reihe der transfiniten Zahlen auf folgende Weise gebildet:

    , + 1, + 2, + 3, . . . , + , . . .

    2, 2 + 1, 2 + 2, 2 + 3, . . . , 2 + , . . .

    3, 3 + 1, 3 + 2, 3 + 3, . . . , 3 + , . . .

    ...59 Ebd., S. X60 GA, S. 16761 Ebd., S. 195

    27

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    , + 1, + 2, + 3, . . . , + , . . .

    ...

    Das zweite Erzeugungsprinzip ermglicht die Bildung der ersten Zahlen jederZahlenreihe wie , 2, 3, oder , die als Limeszahlen der durch das ersteErzeugungsprinzip gebildeten Zahlen + 1, + 2, + 3, . . . fungieren. Fernerknnen wir mittels des zweiten Erzeugungsprinzips eine neue grssere Limes-zahl bilden, die grsser als alle + ist, und die wir 2 nennen knnen.Wiederum in Kombination beider Prinzipien knnen wir noch eine bestimmteSukzession in der Form 2 + + beobachten; von dieser Sukzession er-halten wir durch das zweite Erzeugungsprinzip eine neue Limeszahl . Es istoffenbar, dass diese beiden Erzeugungsmomente Teile eines grenzlosen Prozes-ses sind, der aber eine bestimmte wohldefinierte Sukzession ergibt. Grenzlosist dieser Prozess, erstens, weil durch das erste Erzeugungsprinzip keine aller-grsste Zahl mglich wird; zweitens, weil durch das zweite Erzeugungsprinzipjede Schranke in der Begriffsbildung der realen ganzen Zahlen62 durchbro-chen wird. Diese Grenzlosigkeit der Bildung durch die beiden Erzeugungsprin-zipien knnte den transfiniten Zahlen eine gewisse Potenzialitt zuschreiben,im Sinne des Potenziell- bzw. Uneigentlich-Unendlich.63 Um diese Wirkungzu verhindern, greift Cantor auf das dritte Moment oder Hemmungsprinzipzurck.

    I. Hemmungs- oder Beschrnkungsprinzip: Dieses Prinzip stellt sich den beidenErzeugungsprinzipien entgegen, wodurch dem durchaus endlosen Bildungs-prozess sukzessive gewisse Schranken auferlegt werden, so dass wir natrlicheAbschnitte in der absolut unendlichen Folge der realen ganzen Zahlen erhal-ten, welche Abschnitte ich Zahlenklassen nenne.64 Dieses Prinzip ist nicht nurzustndig dafr, dass die absolute Zahlenreihe in Abschnitte bzw. Zahlenklas-sen geteilt wird, sondern vielmehr, dass die Sukzession dieser Abschnitte bzw.Zahlenklassen zugleich eine Sukzession von Mchtigkeiten ist, d.h. dass diezweite Zahlenklasse der nchst grsseren Mchtigkeit zukommt als die ersteZahlenklasse. So bekommt die erste Zahlenklasse die Mchtigkeit 0, d.h. dieMchtigkeit der N, whrend die zweite Zahlenklasse die nchsthhere Mch-tigkeit 1 hat, d.h. die Mchtigkeit der R nach der Kontinuumshypothese.

    62 Ebd., S. 19763 Vgl. hierzu: Tengelyi, Lszl. Transfinite Zahl und transzendentaler Schein. Kant und Cantor

    in der Sicht von Marc Richirs Phnomenologie. In: Festschrift fr Manfred Baum. Duncker &Humboldt, Berlin (2004), S. 463

    64 GA, S. 167

    28

  • 2.3 Die quivalenz

    Diese drei Prinzipien sind als logische Momente in der Schpfung von neuen Zahlenzu verstehen, die nach Cantor mit der grssten Sicherheit und Evidenz zu immerneuen Zahlenklassen und mit ihnen zu allen in der krperlichen und geistigen Na-tur vorkommenden, verschiedenen, sukzessive aufsteigenden Mchtigkeiten gelangen,und die hierbei erhaltenen neuen Zahlen sind dann immer durchaus von derselbenkonkreten Bestimmtheit und gegenstndlichen Realitt wie die frheren.65 Zermelomerkt hier an, dass fr die Bildung der ten Klassen die drei Cantorschen Prinzi-pien nicht ausreichen wrden. Wichtig ist bei dieser dialektischen Begriffserzeugungihr philosophisch-logischer Gehalt, auf den wir im zweiten Teil dieser Arbeit nhereingehen werden.

    2.3 Die quivalenz

    Der quivalenzbegriff fungiert als eine der wichtigsten Grundlagen des Gebudesder Mengenlehre. Es war schon davon die Rede, dass das Vergleichen zwischen un-endlichen Mengen auf der Basis der quivalenz als Bijektion beruht. So knnenwir eine eindeutige Zuordnung (bzw. Abbildung im Sinne Dedekinds bzw. Bijekti-on in der modernen Sprache bzw. eindeutige Paarenbildung im Sinne Hausdorffs,etc.) zwischen der Menge der natrlich Zahlen N und der Menge der quadratischenZahlen Q machen, diese Bijektion liefert uns die Gleichmchtigkeit zwischen beidenMengen, d.h. die Gleichheit ihrer Kardinalzahlen. Dieses Beispiel zeigt uns, warumderjenige Begriff, auf dem sich die Einfhrung unendlicher Zahlen und das Rechnenmit ihnen in erster Linie aufbaut,66 der Begriff der quivalenz ist. Dedekind undHausdorff sehen diesen Begriff als die wesentlichste Grundlage der Entstehung derZahl an.67 Die verschiedenen Mengen werden verglichen, um eine quivalenzrelati-65 Ebd., S. 19966 Fraenkel, Abraham. Einleitung in die Mengenlehre. Verlag von Julius Springer, Berlin (1928). S.

    1567 Dedekind behauptete: So sind wir auch schon von unserer Geburt an bestndig und in immer

    steigende Masse veranlasst, Dinge auf Dinge zu beziehen und damit diejenige Fhigkeit des Geis-tes zu ben, auf welche auch die Schpfung der Zahlen beruht. Dedekind, Richard. Was sindund was sollen die Zahlen. Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig (1969), S. V; Dinge auf Dingezu beziehen ist nichts anderes als eine Abbildung, deren einfachsten Beispiel die Namengebungist. Hausdorff spitzt diesen Gedanken zu und greift die Paarbildung an, aber die genetische Ana-lyse der quivalenz bleibt erhalten: Wenn man eine Menge von pfeln mit einer Menge vonBirnen in bezug auf die Anzahl der Gegenstnde vergleichen will, so geschieht dies auf dem pri-mitiven Standpunkt in der Weise, dass man einen Apfel mit einer zweiten Birne zusammenlegt,dann einen zweiten Apfel mit einer zweiten Birne, und dieses Verfahren bis zu seinem Ende fort-setzt, d.h. bis eine von beiden Menge erschpft ist. [...] Das Vergleichen wird damit zum Zhlen,und quivalente Mengen erhalten nun eine gemeinsame Eigenschaft, die Anzahl ihrer Elemente.Diese Bemerkungen, die weder nach psychologischen noch nach kulturgeschichtlicher Seite hinirgendwelchen Anspruch erheben wollen, sollen nur verstndlich machen, dass die quivalenz dienatrliche Grundlage der Vergleichung von Mengen ist und dass mit ihrer Hilfe sogar der an-

    29

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    on zu stellen. Die quivalenzrelationen liefern die verschiedenen quivalenzklassen.Diese sind berall in der Mathematik zu finden: Zahlenklassen, Modulklassen bzw.Restklassen in der Arithmetik, hnliche Figuren in der Geometrie, Affinitten, usw.Warum der Begriff der quivalenz eine wesentliche Rolle in der Mengenlehre spielt,liegt in ihrem logischen Hintergrund begrndet.

    2.3.1 Die quivalenz als Bijektion

    Cantor fhrt den Begriff der quivalenz auf folgende Weise in seinen Beitrgen(1895) ein:

    Zwei Mengen M und N nennen wir quivalent und bezeichnen dies mit

    M N oder N M,

    wenn es mglich ist, dieselben gesetzmssig in eine derartige Beziehungzueinander zu setzen, dass jedem Element der einen von ihnen ein undnur ein Element der andern entspricht.68

    Hier wird die quivalenzrelation als eine Funktion definiert, und zwar als eine bi-jektive. Eine Funktion - im Sinne einer Abbildung bzw. einer Zuordnung - kannnach Injektivitt, Surjektivitt oder Bijektivitt untersucht werden. Die Funktionf : A B nennen wir:Injektiv: falls fr alle a1, a2, b gilt:

    f(a1) = b und f(a2) = b folgt a1 = a2

    D.h. kein Wert wird in B mehrfach angenommen. Unser Beispiel der Abbildungder natrlichen Zahlen in dem der quadratischen Zahlen N Q ist injektiv,da zwei verschiedene natrliche Zahlen n1, n2 zwei verschiedenen zugeordnetenquadratischen Zahlen q1, q2 zukommen. Wenn wir aber anstatt der Menge dernatrlichen Zahlen N die Menge der ganzen Zahlen Z betrachten, ist unsereAbbildung nicht mehr injektiv, da fr alle ganze Zahlen zn Folgendes gilt:

    f(zn) = f(zn) wobei zn 6= (zn)

    Z.B. haben die Werte 2 und -2 dasselbe Bild 4.scheinend paradoxe Versuch unternommen werden konnte, auch unendliche Mengen zu zhlen.Hausdorff, Felix. Grundzge der Mengenlehre. Chelsea Publishing Company, New York (1962),S. 45-46

    68 GA, S. 283

    30

  • 2.3 Die quivalenz

    Surjektiv: falls fr alle b B ein a A existiert mit f(a) = b. D.h. jeder Wert inB (Wertebereich) angenommen wird.

    Bijektiv: falls f injektiv und surjektiv ist. D.h., es gibt eine vollstndige umkehr-bare Paarbildung von A nach B.

    Die Beziehung, die Cantor in der quivalenzdefinition meinte, knnen wir daher alseine Bijektion begreifen. Wenn wir sagen, dass zwei Mengen quivalent sind, mei-nen wir zugleich, dass eine Bijektion zwischen beiden mglich ist. Daraus knnenwir auch schliessen, dass beide dieselbe Kardinalzahl haben: Von fundamentalerBedeutung ist es, dass zwei Mengen M und N dann und nur dann dieselbe Kardi-nalzahl haben, wenn sie quivalent sind.69 So wird aufgrund einer Bijektion, diewir auch eindeutige vollstndige umkehrbare Paarbildung nennen knnen, das Ver-gleichen von Mengen und die Bestimmung der Kardinalitt mglich. Hierin bestehtdie Relevanz der formalen Einfhrung der quivalenz in der Mengenlehre. DieserVergleich von Mengen mittels einer Paarbildung knnen wir auch den Algorithmusdes Abtragens70 nennen. Analog wie Hausdorff, stellen wir uns zwei Haufen vor, dererste mit pfeln, der zweite mit Birnen. Nehmen wir je einen Apfel aus dem erstenHaufen und ordnen wir ihn einer Birne aus dem zweiten Haufen zu. Wir knnendiese Paarbildung solange wiederholen, bis einer der Haufen erschpft ist. Auf dieseWeise haben wir die Anzahl von pfeln und Birnen verglichen, ohne dabei beideMengen aufzhlen zu mssen und dann zu vergleichen. Man knnte sagen, dass dasVergleichen mittels der Paarbildung ein simultanes Aufzhlen beider Mengen schafft,daher bezeichnen wir die quivalenz als eine zweistellige Relation.

    2.3.2 Die Grundeigenschaften der quivalenz

    Die quivalenz ist eine zweistellige Relation, da sie sich - wie wir gerade gesehenhaben - auf eine Bijektion bzw. eindeutige vollstndige Paarbildung sttzt. DieseRelation besitzt folgende Eigenschaften:

    Reflexivitt: Jede Menge ist sich selbst quivalent. Dedekind nannte diese Bezie-hung die identische Abbildung, und stellte sie als das einfachste Beispiel einerAbbildung dar.

    Symmetrie: Die Beziehung der quivalenz zwischen zwei Mengen ist eine gegen-seitige oder symmetrische, d.h. aus M N folgt N M . Aufgrund dieserEigenschaft sagen wir, dass eine Bijektion umkehrbar ist.

    69 Ebd., S. 28370 Deiser, Oliver. Einfhrung in die Mengenlehre. Friedr. Springer Verlag, Berlin-Heidelberg (2002),

    S. 46

    31

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    Transitivitt: Betrachten wir drei Mengen A, B, C. Aus A B und B C folgtA C. Die quivalenz ist also eine fortwirkende Beziehung.

    Die quivalenz wird als eine reflexive, symmetrische und transitive Relation de-finiert. Dieses Trio taucht sehr oft in der Mathematik auf, da die quivalenzrelationsich als ein sehr ntzliches Mittel bewiesen hat.

    2.3.3 Der quivalenz- und Vergleichbarkeitsatz

    Der quivalenzsatz wurde von Cantor im Jahre 1883 ausgesprochen, dennoch nichtbewiesen. Dieser Satz besagt, dass je zwei Mengen, deren jede einer Teilmenge deranderen quivalent ist, selbst einander quivalent sein mssen. Der Beweis wurde erstim Jahre 1896 von Schrder und 1897 von seinem Schler Felix Bernstein bewiesenund ist seitdem zu einem der wichtigsten Stze der Mengenlehre geworden. Dasfolgende Zitat stammt aus Cantors Grundlagen. In den Beitrgen ist weder dieserSatz noch sein Beweis zu finden.

    Hat man irgendeine wohldefinierte Menge M von der zweiten Mchtig-keit, eine Teilmenge M von M und eine Teilmenge M von M und weissman, dass die letztere M eindeutig abbildbar ist auf die erste M, so istimmer auch die zweite M gegenseitig eindeutig abbildbar auf die ersteund daher auch auf die dritte.

    Ich spreche diesen letzten Satz hier wegen des Zusammenhanges mit denvorangehenden unter der Voraussetzung aus, dass M die Mchtigkeit von(II) hat; offenbar ist er auch dann richtig, wenn M die Mchtigkeit von(I) hat; es scheint aber mir hchst bemerkenswert und hebe ich es daherausdrcklich hervor, dass dieser Satz allgemeine Gltigkeit hat, gleichvielwelche Mchtigkeit der Menge M zukommen mag.71

    Heute schreibt man diesen Satz so: Seien M, Q Mengen mit |M | |Q| und |Q| |M |. Dann gilt |M | = |Q|.

    Der Beweis erfolgt auf folgende Weise: Seien f : M Q injektiv und g :Q M injektiv. [Das ist gleichbedeutend mit M ist Teilmenge von Q und Qist Teilmenge von M, da die Injektivitt die vollstndige Belegung vom Bildbereichnicht fest macht] Sei N = rng(g f), N = rng(g). [Also ist N der Bildbereich derverketteten Funktion (g f). Diese Funktion beschreibt folgende Abbildung:

    (M Q) M71 GA, S. 201

    32

  • 2.3 Die quivalenz

    Und N ist der Bildbereich der Funktion g : Q M . Man bemerkt, dass beideBildbereiche gleich M sind]. Dann gilt N N M und |M | = |Q|,

    denn (g f) : M N ist bijektiv. [Dies ist offensichtlich, wenn wir dochbemerken, dass N = M , also ist M M aufgrund der Reflexivitt offensichtlichquivalent und daher bijektiv] Nach dem Satz oben existiert also h : M N bijektiv. 72

    Auf analoge Weise kann man den Vergleichbarkeitssatz charakterisieren. Wh-rend der quivalenzsatz eine interne Beziehung zwischen Bijektion und quivalenzfeststellt, untersucht der Vegleichbarkeitssatz das grsser und das kleiner beiMchtigkeiten. Was passiert, wenn wir den Versuch vollziehen, zwei Mchtigkeitenzu vergleichen? Dieser Satz spricht eine intuitive Wahrheit aus, dennoch ist er wedertrivial noch leicht zu beweisen:

    Wir haben gesehen, dass von den drei Beziehungen

    a = b, a < b, b < a

    jede einzelne die beiden anderen ausschliesst.

    Dagegen versteht es sich keineswegs von selbst und drfte an dieser Stel-le unseres Gedankenganges kaum zu beweisen sein, dass bei irgend zweiKardinalzahlen a und b eine von jenen drei Beziehungen notwendig rea-lisiert sein msse. Erst spter, wenn wir einen berblick ber die aufstei-gende Folge der transfiniten Zahlen gewonnen haben werden, wird sichdie Wahrheit des Satzes ergeben:

    A. Sind a und b zwei beliebige Kardinalzahlen, so ist entweder a=b oderab.73

    Diese Trichotomie wurde erst von Zermelo im Jahr 1904/08 bewiesen, als ein Ko-rollar seines Wohlordnungssatzes in seiner Schrift Beweis, dass jede Menge wohlge-ordnet werden kann. Dieser Beweis in der heutigen Form ist lang und kompliziert.Die Beweisidee beruht auf dem Algorithmus des Abtragens und auf dem Dedekind-schen Kettenbegriff. Man bildet Paare mit den Elementen aus den zu vergleichendenMengen. Nach n-vielen Schritten ist eine der Mengen erschpft oder beide gleichzei-tig. Darin sind die drei angegebenen Mglichkeiten enthalten. Zermelo bemerkt alsSchluss seiner Schrift Folgendes:

    72 Deiser, Oliver. Einfhrung in die Mengenlehre. Friedr. Springer Verlag, Berlin-Heidelberg (2002),S. 52

    73 GA, S. 285

    33

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    Der vorliegende Beweis beruht auf der Voraussetzung, dass Belegungen berhaupt existieren, also auf dem Prinzip, dass es auch fr eine un-endliche Gesamtheit von Mengen immer Zuordnungen gibt, bei denenjeder Menge eines ihrer Elemente entspricht, oder formal ausgedrckt,dass das Produkt einer unendlichen Gesamtheit von Mengen, deren jedemindestens ein Element enthlt, selbst von Null verschieden ist. [...] Sokann z.B. die Allgemeingltigkeit des Satzes, dass die Anzahl der Teile,in die eine Menge zerfllt, kleiner oder gleich ist der Anzahl aller ihrerElemente, nicht anders bewiesen werden, als indem man sich jedem derbetrachteten Teile eines seiner Elemente zugeordnet denkt.74

    In dieser Schrift konnte Zermelo beweisen, dass fr jede Menge M (insbesondere frjede unendliche Menge M) eine Wohlordnung definiert werden kann, d.h., eine Ord-nungsbeziehung, die analog vorstellbar ist mit dem Grsser oder dem Kleiner derElemente, mit folgender Eigenschaft charakterisiert: jede nicht leere Teilmenge vonM hat ein kleinstes Element, und konkreter fr jedes Paar von Elementen a und bknnen wir feststellen, welches grsser und welches kleiner ist. In der Tat, was Zerme-lo bewiesen hatte, ist nichts anderes, als die Tatsache, dass eine Menge wohlgeordnetwerden kann, wenn die Existenz einer Funktion f bejaht wird, die jeder TeilmengeM von M ein konkretes Element m aus M zuordnet. Diese Auswahlfunktion oder-Belegung verwandelte die unerschpfliche Potenzialitt der Ordnungsoperation ineine statische Wirklichkeit.75 Wie bereits am Anfang dieser Arbeit gesehen, ist es diestatische Wirklichkeit des Aktual-Unendlichen, welche die erfolgreichen Ergebnissebei der Untersuchung ermglicht.

    2.4 Kardinalzahlen oder Mchtigkeiten

    Der Begriff der Kardinalitt bzw. Mchtigkeit wurde merhfach in der vorliegendenArbeit gebraucht, ohne eine endgltige Definition davon angegeben zu haben. Einesolche Definition ist ebenso problematisch wie der Mengenbegriff. Die Kardinalitteiner beliebigen Zahl ist mit der Intuition einfach vorzustellen: Die Zahl 3 kann nachihrer Kardinalitt - oder nach der Wieviel? -Frage - und nach ihrer Ordinalitt - odernach der Wievielte?-Frage - gefragt werden. Es ist nicht gleichbedeutend zu sagendrei oder drittes. Wie knnen diese Unterschiede mathematisch formuliert werden?Cantors Definition der Kardinalzahl lautet in seinen Beitrgen:74 Zermelo, Ernst. Beweis, dass jede Menge wohlgeordnet werden kann. Mathematische Annalen.

    514-516. Gttinger Digitalisierungszentrum: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/, S. 51675 Vgl. hierzu: Zellini, Paolo. Breve historia del infinito. Biblioteca de ensayo 35. Ediciones Siruela,

    Madrid (2004), S. 189-191

    34

  • 2.4 Kardinalzahlen oder Mchtigkeiten

    Jeder Menge M kommt eine bestimmte Mchtigkeit zu, welche wirauch ihre Kardinalzahl nennen. Mchtigkeit oder Kardinalzahl vonM nennen wir den Allgemeinbegriff, welcher mit Hilfe unseres aktivenDenkvermgens dadurch aus der Menge M hervorgeht, dass von der Be-schaffenheit ihrer verschiedenen Elemente m und von der Ordnung ihresGegebenseins abstrahiert wird.76

    Es war schon davon die Rede, dass diese Art von Definitionen selten in derMathematik zu finden ist. Weyl bezeichnete sie als eine aufbauende Definition, Car-nap als eine Gebrauchsdefinition. Eine solche Begriffsbildung durch Abstraktion gehtschon auf Leibniz zurck.77 Ferner haben Russell und Frege die Kardinalitt als Klas-se definiert, also nach dem Extensionalittsprinzip (die Kardinahlzahl einer Mengesei die Klasse aller zu ihr quivalenten Mengen), wie schon gezeigt wurde. Diese De-finition beruht auf dem Satz, dass zwei quivalente Mengen dieselbe Kardinalzahlhaben, der auch umgekehrt gilt: Zwei Mengen, die dieselbe Kardinalzahl haben, sindquivalent. Dieser letzte Satz, der die quivalenz und die Kardinalitt vereinigt, istwesentlich fr die Theorie der transfiniten Kardinalzahlen, deren ausgezeichnetstesErgebnis die Kontinuumshypothese ist. Wie sind diese drei Momente verbunden?Kardinalitt und quivalenz sttzen sich auf die Bijektion, da zwei Mengen qui-valent sind bzw. ihnen dieselbe Kardinalzahl zukommt, wenn eine eindeutige um-kehrbare Abbildung zwischen beiden mglich ist. So knnen wir unendliche Mengennach ihrer Kardinalitt untersuchen, wenn wir eine Funktion konstruieren, die siemit einer Menge schon bekannter Mchtigkeit bzw. Kardinalzahl abbildet. So knnenwir die Menge der natrlichen Zahlen als unsere erste unendliche Menge auffassenaufgrund ihrer Ursprnglichkeit, um von nun an alle andere unendlichen Mengen zuuntersuchen.

    2.4.1 Abzhlbare und berabzhlbare Mengen

    Die erste Unterscheidung zwischen unendlichen Mengen erfolgt mit den BegriffspaarAbzhlbar und berabzhlbar. Heute werden sie auf folgender Weise eingefhrt:

    Eine Menge M heisst abzhlbar, falls gilt:

    1. M ist endlich, oder

    2. es existiert ein f : N M bijektiv.7876 GA, S. 28277 Vgl. hierzu: Fraenkel, Abraham. Einleitung in die Mengenlehre. Verlag von Julius Springer, Berlin

    (1928), S. 5878 Deiser, Oliver. Einfhrung in die Mengenlehre. Friedr. Springer Verlag, Berlin-Heidelberg (2002),

    S. 72

    35

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    Der Begriff unendlich abzhlbar kann auch als Einbettbarkeit in die natrlichenZahlen begriffen werden, dagegen ist eine Menge berabzhlbar, falls sie nicht indie natrlichen Zahlen eingebettet werden kann. Die Konstruktion einer Bijektionmit den natrlichen Zahlen oder die sogennante Einbettbarkeit entspricht folgenderAnschauung: Eine Menge M ist abzhlbar, wenn wir alle ihre Elemente x, y, z, . . .von M auf N-vielen Pltzen unterbringen knnen, d.h. wenn wir sie mit der Folgeder natrlichen Zahlen indexieren knnen:

    x 1; y 2; z 3, . . .

    x1, y2, z3, . . .

    Die Indexierung mit den natrlichen Zahlen irgendeiner Menge ermglicht eine Auf-zhlung solch einer Menge, deswegen sagen wir, dass sie abzhlbar sei, wenn sie indie natrlichen Zahlen eingebettet werden kann. Zunchst knnen wir uns fragen,welche Mengen sind abzhlbar und welche berabzhlbar? Oder anders formuliert:Mit welchen Mengen knnen wir eine Bijektion mit den natrlichen Zahlen N bilden,also welche Mengen haben die Mchtigkeit der natrlichen Zahlen N? Anschlieendwerden wir eine Reihe von Mengen nach Abzhlbarkeit untersuchen; die CantorschenBeweise fr die Abzhlbarkeit bzw. berabzhlbarkeit von bestimmten Mengen ge-hren zu den originellsten Werken des Hallenser Mathematiker, die schon in frherenArbeiten wie Ein Beitrag zu Mannigfaltigkeitslehre (1878) zu finden sind:

    Die Menge der ganzen Zahlen Z: Wir betrachten zunchst diese Menge in ihreraufzhlenden Schreibweise:

    Z = {. . . ,1, 0, 1, . . . }

    Um ihre Abzhlbarkeit festzustellen, mssen wir folgende Bijektion definierenf : Z N durch

    f(x) =

    {2x, falls x 0

    2x 1, falls x < 0

    Fr alle x Z, die negativ sind (also x < 0), werden alle ungerade Zahleny N zugeordnet, whrend fr alle x Z, die positiv sind (also x 0), allegerade Zahlen y N zugeordnet werden. Damit ist die umkehrbare Eindeutig-keit der Bijektion versichert. Im Bezug auf diesen Beweis knnen wir den Satzeinfhren, dass die Vereinigung von zwei abzhlbaren Mengen wieder eine ab-zhlbare Menge ist. (Die Menge Z der ganzen Zahlen kann als die Vereinigung

    36

  • 2.4 Kardinalzahlen oder Mchtigkeiten

    (AB) von der Menge N = A und der Menge B = (A) betrachtet werden.)

    Das cartesiche Produkt N N: In Ein Beitrag zu Mannigfaltigkeitslehre (1878)beweist Cantor, dass alle ausgedehnten n-Dimensionalen Punktmannigfaltig-keiten dieselbe Mchtigkeit bekommen, und zwar die zweite. So knnen wirdie Punkte eines Quadrats mit den Punkten einer Strecke eindeutig zuordnen.Um dies zu beweisen, greift Cantor auf Kettenbruchentwicklungen der reellenirrationalen Zahlen und die mechanischen Zusammensetzung zweier solcherEntwicklungen

    (1, 2, 3, . . . ) und (1, 2, 3, . . . )

    zu einer dritten(1, 1, 2, 2, 3, 3, . . . )

    Hieraus ergibt sich aber zunchst nur die quivalenz der in einem Quadratbzw. einer Strecke enthaltenen irrationalen Punktmengen. Um das Ergebnisnun auch auf die (abgeschlossenen) Punktmengen (einschliesslich der rationa-len Punkte) auszudehnen, bedient sich Cantor hier eines etwas umstndlichenSystems von Hilfsstzen, welche alle die Abzhlbarkeit der in einer Streckeenthaltenen rationalen Punkte benutzen.79 Einer dieser Hilfsstze stellt diesogenannte Paarungsfunktion dar:

    pi : N N N bijektiv durch

    pi(a, b) = 1/2(a+ b)(a+ b+ 1) + a

    z.B. pi(0, 0) = 0; pi(0, 1) = 1; pi(1, 0) = 2; pi(0, 2) = 3; pi(1, 1) = 4; . . . 80

    Diese Funktion stellt alle natrlichen Zahlen und jede nur einmal, daher kn-nen wir die Abzhlbarkeit von N N feststellen.

    Die Menge der rationalen Zahlen Q: Obgleich zwischen zwei benachbarten Punk-ten unserer ursprnglichen Menge N immer unendlich viele rationale Punkteliegen (wie z.B. zwischen 0 und 1 unendlich viele Punkte in der Form 1/nliegen), ist die Menge Q der rationalen Zahlen auch abzhlbar, also von der-selben Mchtigkeit wie N. Man kann einen Z2-Gitter konstruieren, in demdie Koordinaten m,n den Nenner und Zhler der rationalen Zahlen m

    n Q

    entsprechen, und die mittels einer spiralfrmigen Bewegung durch das Git-

    79 Anmerkung von Zermelo in GA, S. 13380 Vgl. hierzu: Deiser, Oliver. Einfhrung in die Mengenlehre. Friedr. Springer Verlag, Berlin-

    Heidelberg (2002), S. 74-75

    37

  • 2 Grundzge der Theorie der transfiniten Zahlen und ihre philosophische Begrndung

    ter erreicht werden. Die Abzhlung durch das Gitter ermittelt eine Folge vonrationalen Zahlen, die nicht der Grsse nach angeordnet ist. Sie beginnt mit

    1

    1,0

    1,(

    1

    1

    ),2

    1,1

    2,(

    1

    2

    ),(

    2

    1

    ),3

    1,3

    2,2

    3,1

    3,(

    1

    3

    ), . . .

    Eine umkehrbare eindeutige Zuordnung zwischen den natrlichen Zahlen undsmtlichen rationalen Zahlen ist damit hergestellt.81

    Die Menge der algebraischen Zahlen A: In der Schrift ber eine Eigenschaft desInbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen (1874) beweist Cantor die Ab-zhlbarkeit der algebraischen Zahlen und zugleich die berabzhlbarkeit derreellen Zahlen durch Intervallschachtellung. Eine reelle Zahl x R heisst al-gebraisch, falls x Nullstelle eines Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten ist,d.h. es existieren ein n N und ai Z mit:

    P (x) = anxn + an1xn1 + + a1x1 + a0 = 0

    Cantor behauptet am Anfang dieser Schrift, dass man den Inbegriff () [hierbezeichnet das kleine Omega eine reelle algebraische Zahl und nicht die erstetransfinite Ordinalzahl] dem Inbegriffe aller ganzen positiven Zahlen , [...] ein-deutig zuordnen kann.82 Also hier wird die Abzhlbarkeit der algebraischenZahlen ausgesprochen. Wie erfolgt der Cantorschen Beweis dieses Satzes? Be-trachten wir zunchst die Gleichung P (x). Wir nennen die Summe ihrer abso-luten Betrge plus die Zahl n 1, wobei n den Grad von P (x) angibt, ihrerHhe N :

    N = n 1 + |a0|+ |a1|+ + |an|

    Jede algebraische Zahl x hat eine bestimmte positive ganzzahlige Hhe N undumgekehrt hat jede Hhe N eine endliche Anzahl von algebraischen Zahlenaufgrund des Satzes, dass jedes Polynom vom Grad n bekanntlich hchstens nreellen Nullstellen besitzt. So knnen wir eine Funktion bilden, die jede HheN einer algebraischen Zahl zuordnet. Damit ist die Abzhlbarkeit bewiesen.

    Die Menge der reellen Zahlen R: In derselben Schrift (1874) befindet sich - wiebereits erwhnt - der erste Beweis fr die berabzhlbarkeit der reellen Zah-len. Hier erfolgt dieser durch Intervallschachtellung. Aber erst 1891 lieferte

    81 Vg. hierzu: Fraenkel, Abraham. Einleitung in die Mengenlehre. Verlag von Julius Springer, Berlin(1928), S. 30-35 und Deiser, Oliver. Einfhrung in die Mengenlehre. Friedr. Springer Verlag,Berlin-Heidelberg (2002), S. 77-78

    82 GA, S. 115

    38

  • 2.4 Kardinalzahlen oder Mchtigkeiten

    Cantor sein berhmtes Diagonalverfahren in der Schrift ber eine elemen-tare Frage der Mannigfaltigkeitslehre. Hier wird der Versuch vollzogen, eineein-eindeutige Zuordnung zwischen dem reellen Intervall 0 < x 1 und dennatrlichen Zahlen zu stellen. Dieser Intervall hat dieselbe Mchtigkeit wie diegesamten reellen Zahlen aufgrund dieser Bijektion: x 1

    x, mit x R und

    die natrliche Indexierung der Dezimalzahlen des Intervalls wird durch einetabellarische Erstellung ermittelt, da die Zeilen bzw. Spalten einer Tabelle dieganzen positiven Zahlen reprsentieren. Der Satz und der Beweis erfolgen wiefolgt:

    Sind nmlich m und w irgend zwei ausschliessende Charaktere, sobetrachten wir einen Inbegriff M von Elementen:

    E = (x1, x2, . . . , x , . . . )

    welche von unendlich vielen Koordinaten x1, x2, . . . , x , . . . abhn-gen, wo jede dieser Koordinaten entweder m oder w