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DAS PROBLEM EINER BIOLOGISCHEN ATOMISTIK von RUDOLF EHRENBERG (Physiologisches Institut der Universit~t GSttingen) (Eingegangen 21. I. I956) Gibt es ein spezifisch-biologisches Atomon? Der Begriff des Atoms hat seine urspriingliche Wortbedeutung als einer letzten, nicht weiter aufteil- baren Einheit der Materie durch die neueren Erkenntnisse der Physik ein- gebiisst, das Atom eines Elements ist ein kompliziertes Gebilde, zusammen- gesetzt aus einer jeweils verschiedenen Anzahl kleinerer Teilchen. Immerhin hat das ehemische Atom seine Eigenschaft, ein Grenzbegriff zu sein, nicht verloren, man braucht nur in der Definition vor ,,nieht weiter aufteilbar" die Worte ,,mit chemischen Mitteln" zu setzen. Man darf also den Atom-- begriff auch noch verwenden, wenn er seine urspriingliche w6rtliche Be- deutung nicht mehr hat, vorausgesetzt, dass er noch ein unterer Grenzbe- grill innerhalb des betrachteten Naturbereiches ist. Seit in der Quantentheorie auch die Energie atomistisch gedeutet wird, hat der Gedanke noch mehr an Gewicht gewonnen, dass jede Form der Na- turerkenntnis sich auf atomarer Basis aufbauen lassen miisse, also auch die Erkenntnis der belebten Natur. Nun ist fiir den rein mechanistiseh einge- stellten Biologen die Frage einer biologischen Atomistik kein Problem, ihm sind die Lebenserscheinungen erklS.rbar als Anwendungsf~ille der in Physik und Chemie auf atomistischer Basis erkannten Gesetzm~issigkeiten. Immer- hin wird auch ibm die Frage naeh einer kleinsten vitalen Einheit sinnvoll erscheinen, eine Frage, die fiir ihn also r~iumlieh oder stofflieh zu beant- worten w~ire. Bekanntlich hat die Suche nach der kleinsten lebenden Einheit dazu gefiihrt, yon der Zellularphysiologie und der Zellularpathologie die L6sung der Lebensprobteme zu erhoffen. Da die Einzelzelle unzweifelhaft lebendig ist, erschien sie als das geeignetste Objekt, um daran die vitalen Gesetz- m~issigkeiten zu erforschen und entweder die Zelle als die letzte lebende Einheit anzuspreehen oder in ihr nach solchen letzten Einheiten zu suchen.

Das Problem einer biologischen Atomistik

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D A S P R O B L E M E I N E R B I O L O G I S C H E N A T O M I S T I K

v o n

RUDOLF E H R E N B E R G

(Physiologisches Institut der Universit~t GSttingen)

(Eingegangen 21. I. I956)

Gibt es ein spezifisch-biologisches Atomon? Der Begriff des Atoms hat seine urspriingliche Wortbedeutung als einer letzten, nicht weiter aufteil- baren Einheit der Materie durch die neueren Erkenntnisse der Physik ein- gebiisst, das Atom eines Elements ist ein kompliziertes Gebilde, zusammen- gesetzt aus einer jeweils verschiedenen Anzahl kleinerer Teilchen. Immerhin hat das ehemische Atom seine Eigenschaft, ein Grenzbegriff zu sein, nicht verloren, man braucht nur in der Definition vor ,,nieht weiter aufteilbar" die Worte ,,mit chemischen Mitteln" zu setzen. Man darf also den Atom-- begriff auch noch verwenden, wenn er seine urspriingliche w6rtliche Be- deutung nicht mehr hat, vorausgesetzt, dass er noch ein unterer Grenzbe- grill innerhalb des betrachteten Naturbereiches ist.

Seit in der Quantentheorie auch die Energie atomistisch gedeutet wird, hat der Gedanke noch mehr an Gewicht gewonnen, dass jede Form der Na- turerkenntnis sich auf atomarer Basis aufbauen lassen miisse, also auch die Erkenntnis der belebten Natur. Nun ist fiir den rein mechanistiseh einge- stellten Biologen die Frage einer biologischen Atomistik kein Problem, ihm sind die Lebenserscheinungen erklS.rbar als Anwendungsf~ille der in Physik und Chemie auf atomistischer Basis erkannten Gesetzm~issigkeiten. Immer- hin wird auch ibm die Frage naeh einer kleinsten vitalen Einheit sinnvoll erscheinen, eine Frage, die fiir ihn also r~iumlieh oder stofflieh zu beant- worten w~ire.

Bekanntlich hat die Suche nach der kleinsten lebenden Einheit dazu gefiihrt, yon der Zellularphysiologie und der Zellularpathologie die L6sung der Lebensprobteme zu erhoffen. Da die Einzelzelle unzweifelhaft lebendig ist, erschien sie als das geeignetste Objekt, um daran die vitalen Gesetz- m~issigkeiten zu erforschen und entweder die Zelle als die letzte lebende Einheit anzuspreehen oder in ihr nach solchen letzten Einheiten zu suchen.

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Dabei beschritt man aber zun~ichst einen Weg yon oben nach unten, d.h. man stellte an den hSheren Lebewesen lest, welche Kriterien des status vivendi ihnen allen gemeinsam sind, resp. welche yon den Kriterien als Mindestpostulate fiir die Zuerkennung des Begriffs ,,leben.dig" zu stellen wS.ren. Solche Kriterien sind: Stoffwechsel, Energieumsatz, Selbstvermeh- rung, Wachstum, weiterhin: Erregbarkeit, Eigenbewegung, Fortpflanzung und Vererbung. Und dann untersuchte man, welche yon diesen Kriterien an der angenommenen letzten Einheit noeh festzustellen waren, wobei eine gewisse Willkiir unvermeidlich war dafiir, welche yon den Kriterien Ms die unbedingt zu erfiillenden angesehen werden sollten. Wer sich mit einem einzigen Kriterium begniigen wollte, der musste darauf gefasst sein, dass ihm Modellbeispiele aus der unbelebten Natur entgegengehalten wurden. Dass die _Einzelzelle dem Kriterientest Geniige tut, braucht nicht diskutiert zu werden, aber ist die Zelle die 1 e t z t e vitale Einheit? Lind gibt es nieht auch Leben ohne Zellstruktur? Zumindest, wenn man den Begriff Zelle morphologisch definiert.

Bevor wir aber das Problem der r/iumlich oder Stofflich definierten letzten vitalen Einheit weiter untersuchen, stellen wit die Frage: Was ist denn yon einer biologischen Atomistik zu verlangen ? Anders ausgedriickt: was w~ire ihr Erkenntniswert oder im Sinne des GoETI-IEschen Wortes ,,Was fruehtbar ist, allein ist wahr" was miisste sie heuristisch leisten ? - - Ein Anliegen der zeitgen6ssischen Physik ist es, die Empirie der chemischen Reaktionen atomphysikalisch zu verstehen; w~ire yon einer biologischen Ato- mistik zu fordern, dass sie die Lebens~iusserungen differenzierter Organis 2 men, etwa die Funktion eines Organs, verstiindlich machen miisste ? Sicher- lich nicht. Die Bildungen und Vorg~inge des Lebens stellen nieht einen Te~ausschnitt aus dem Ganzen der Natur .dar, sondern mit dem Anstieg an Differenziertheit werden immer weitere Bereiche der Natur in den Dienst des Lebens gestellt. Es w~i.re slnnloss, etwa die Funktionen der Sinnesorgane ~aus Beobachtungen an. Einzellern verstehen zu wollen: Was abet die Bioato- mistik leisten miisste, w~ire, dass sie.eine Grundstruktur oder einen Grund- vorgang des Lebens oder beides erkennen liesse. Um einen Vergleich aus der unbelebten Natur zu gebrauchen, so miisste dieses Grundphiinomen im Be- reich des Lebendigen etwa die Stellung einnehmen, welche die W~irme im gesammten Naturgesehehen innehat: es geschieht uichts, ohne dass Wiirme dabei beteiligt w~ire, sie ist gewissermassen allgegenw~irtig, aber es geschieht ?r was yon der W~irme allein aus nicht zu verstehen ist.

Es ist eine Folge des Werdeganges der biologischen Wissenschaften, dass die morphologische Einstellung die beherrschende Rolle spielte und weit- gehend heute noch spielt. Da jeder Organismus aus einer einzigen Zelle

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hervorgeht und auch die Differenzierung yon der Zellstruktur getragen wird, ist zweifellos ffir Tier und Pflanze die Zelle ein unterer Grenzbegriff, vergleichbar dem alten Atombegriff in der Chemie. Die Frage ist nur, ob die Zelle der 1 e t z t e untere Grenzbegriff im Bereich ,des Lebendigen ist, ob nicht innerhalb der Zelle noch Gebilde festzustellen sind, die nicht nur von der Zelle her den Charakter .des Lebendigen haben, sondern die eigenlebendig sind und die Zelle ebenso fiberleben k6nnen, wie die K6rperzelle in der Gewebskultur den Organismus fiberleben kann. Ffir die Beantwortung dieser Frage ist der Hinweis auf die nichtzellul/ire Struktur etwa der Bakterien kein entscheidendes Argument. Auch der Zellbegriff 1/isst sich rein r~iumlich nicht allgemein definieren sondern als alas Nebeneinander yon Zellkern und ZelIleib, und wenn man dieses Nebeneinander stofflich erfasst in Kern- substanz neben Plasma, so werden die Bakterien mit einbegriffen.

Nun gibt es bekanntlich intrazellul/ire Bildungen, die fiir sich die Kriterien der Selbstvermehrung, der Teilung, des Wachstums haben wie die Gene, resp. ihre substantiellen Tr/iger, die Granula u.a. Wenn es heute noch nicht m6glich ist, sie ausserhalb der grSsseren vitalen Einheit fortleben zu las- sen, so braucht das nicht immer so zu bleiben, ein Gegenargument gegen ihre ]~igenlebendigkeit w/ire das ausserdern ebensowenig, wie es etwas gegen Existenz und Eigenschaften d e r Bestandteile des Atomkerns beweisen wfirde, wenn der Kernzerfall - - natfirlich oder kfinstlich - - nicht realisiert w/ire, Wofern aber festzustellen w/ire, dass diese intrazellul/iren Gebilde den Charakter des Lebendigen nut als Funktionstr/iger innerhalb der gr6sseren Einheit, der Zelle haben, dass sie gleichsam Organe oder Organellen der Zelle sind, dann k6nnte man ihnen allenfalls die Stellung als kleinster, nicht aber als tetzter lebender Einheit zuerkennen, diese bliebe die Zelle. Dass nicht nur d i e Zelle lebt, sondern dass auch innerhalb der Zelle gelebt wird, ist eine ebenso triviale Feststellung wie die, dass nicht nut den Orga- nismus sondern auch seine Organe lebendig sind.

Ist damit dann doch mit der Zelle das letzte Wort fiber das Problem einer biologischen Atomistik gesagt? Eine Ansicht, wie sie noch kiirzlich der Altmeister der makromolekularen Chemie SCAUm~GE~ in einem Vortrag vertreten hat. Es ist die Absicht dieser Untersuchung, eine grunds/itzlich andere Antwort auf die Frag 9 nach dem biologischen Atomon zu geben und zwar durch den Wechsel der Dimension, in der sie gesucht wird, durch den Wechsel yore Raum auf die Zeit. Wir fragen also nicht nach dem letzten vitalen Raum sondern nach der tetzten vitalen Zeit. Von den beide11 Konstituenten alles Lebendigen - - Gestalt und Geschehen - - wenden wJr uns mit unserer Frage an die letztere - - wie 1/isst sich diese Wahl be- grfinden ?

Acta Biotheoretica XI i2"

182 RUDOLF EHRENBERG

In einem in den ,,Naturwissenschaften" 1) erschienenen Aufsatz fiber ,,Das Problem des Alterns" wurde versucht, ,die These zu erNirten, dass das Altern ein allen Lebewesen gemeinsamer, die ganze Lebenszeit des Indivi- duums durchziehender Vorgang - - die ,,Biorheuse" - - sei, oder - - um eine Formutierung yon MAx BORGER ZU zitieren - - d a s s es ein ,,Urph~i- nomen des Lebens" ist. Das in jenem Aufsatz Gesagte soll jetzt nicht noch einmal wiederholt, sondern nut in der allgemeinsten Formulierung rekapitu- liert werden: Leben ist wesensgem~iss ein Ablauf, es ist in Fo.rmbildung und FormausprS.gung (Verdichtung) ein irreversibeler Vorgang. Die Belege zu dieser Aussage sind in MAX BOl~GERs Buch ,,Altern und Krankheit. Grundlagen einer biorheutischen Nosologie." 2. Auflage. 1954 zusammenge- tragen, nachzufiigen ware dort noch unsere Feststellung einer yon der Ge- burt bis zum Tode kontinuierlich und linear ansteigenden Zunahme des Bindegewebsgehaltes menschlicher Organe.

Von den beiden Constituenten des Lebensablaufs - - Formbildung und FormausprS.gung - - iiberwiegt in der Arffangszeit des Individuums die erstere, um im weiteren Verlauf ,den Vorrang mehr nnd mehr an die zweite abzutreten, zu keiner Zeit des Lebens aber ist nur eine yon beiden aktuell. Am Weitesten zeitlich yon einander abgesetzt sind die beiden Componenten im Gehirn, wo die Zellneubildung schon bei der Geburt beendet ist, immer- hin ist die Gr6ssenzunahme der Zellen, welche der Formbildung zuzurechnen ist, dort auch im weiteren Lebensablauf im Gange, wie auch unsere neueren Untersuchungen an den BETzschen Riesenzellen der Grosshirnrinde yon Menschen des Alters yon o bis 9 ~ Jahren gezeigt haben.

Wenn wir nun ausgehend yon der Vorstellung des Lebens als Ablauf nach einem zeitlichen Atomon des Lebens suchen, so miissen wir uns vor der Gefahr einer schlechten Vereinfachung hiiten. Es kommt z.B. nicht in Frage, nach einem kiirzesten Lebensablauf zu fahnden. Oberhaupt ist die Zeit als Dimension des Lebendigen nicht die physikalisch-messbare Zeit, in dieser kann der - - wie wir das Atomon nennen wollen - - ,,Elementare Lebensablauf (E .L. )" g~inzlich verschiedene Gr6ssen annehmen. Ebenso- wenig diirfen wir den E.L. in einer bestimmten chemischen Reaktion oder Abfolge yon Reaktionen suchen. Allerc~ings ist dieser Warnung gegeniiber eine gewisse Einschriinkung geboten. Es kann sich bei dem E.L. nur um ein stoffliches Geschehen handeln, das sich auch morphologisch auswirken kann, und die inbetracht kommenden Stoffgruppen sind durch die Ergeb- nisse der Biochemie eindeutig definiert. Wir k6nnen unbedingt sagen: die

I) 4 I. Jahrgang, I954, S. 296.

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Haupt t r i iger des E.L. miissen Pro teinkgrper sein, du tch welche Aussage

das Problem ja wahrhaf t ig nicht vereinfacht wird.

U m in der Suche nach dem E.L. weiter zu kommen, ist es n u n nicht

geboten, zuerst die kleinsten und einfachsten Lebewesen zur Un te r suchung

heranzuziehen, in mder H o f f n u n g , dass sie in ihrem kurzen Lebensablauf dem

E.L. am n~ichsten stiinden. Sie k6nnen spiiter, wenn die Un te r suchung zu

bes t immten Kr i te r ien {iir den E.L. gefi ihr t hat, als Testobjekte dienen, diese

Kr i te r ien selbst werden besser an d e n langlebigen, hochorganisier ten Lebens-

tr~igern zu erschliessen sein. Was 15.sst sich yon deren Lebensablauf im

Ganzen im l-tinblick auf Stof{ und F o r m allgemein a u s s a g e n ?

Der gebotenen Kiirze halber so l l en 'd i e uns wichtig erscheinenden Er -

fahrungstatsachen in tabellarischer F o r m aufgef i ihr t werden, ohne dass der

Anspruch auf Vollst~indigkeit gemacht oder Quellennachweise gegeben wer-

den sollen.

i. Der Wassergehalt der Organe und Gewebe nimmt mit dem zunehmenden Alter kontinuierlich ab.

Diese Feststellung ist neuerdings umstritten, aber wenn man zwischen raumer- ffillendem und Hydratationswasser unterscheidet und die Abnahme nut ffir das letztere generell behauptet, diirfte sie zut.reffen.

2. Die Plasmakolloide gehen aus dem hydrophilen mehr und mehr in den hydropho- ben Zustand tiber, damit vermindert sich auch ihre Reaktionsfiihigkeit.

Diese Aussage ist reziprok zu der unter Nr. I aufgeffihrten, sie ist wohl nieht kontrovers, ja -- manche Autoren wie E~rBDEN und mit ihm BETHE sehen die tiysterese, das ,,Altern" yon Eiweisslgsungen in vitro als die Ursache des biologischen Alterns an.

3. Embryonale und iugendliche Zellen sind besonders reich an autolytisehen und anderen Fermenten.

Davon wird sp~iter noch zu sprechen sein, hier fflgen sich die Erfahrungen art Gewebskulturen an.

4. a. Jugendliche und undifferenzierte Zellen und Gewebe sind besser fortzfichtbar als are und hochdifferenzierte. Der Grad der Differenziertheit stellt einen Test auf das biologisehe Alter der Zellen dar, die in jedem Sinne ~iltesten Zellen sind die des Gehirns.

b. Gewebskulturen k6nnen ohne Zusatz yon Embryonalextrakt auf die Dauer nicht am Leben erhalten werden; der Ersatz des Embryonalextrakts durch Produkte der fermentativen Proteolyse ist nut fib begrenzte Zeit wirksam.

c. Im jugendlichen Blutplasma sind wachstumsf6rdernde Substanzen vorhanden, die im Blute alter Individuen fehlen oder vermindert sind resp. dutch wachstumshemmende Stoffe paralysiert werden.

5. Die Proliferationsf~ihigkeit aller Zellen, auch der bis ins hohe Alter teilungsf~ihig bleibenden, nimmt mit dem Alter konl;inuierlich ab (Wundheilung).

6. Die Immunisierbarkeit und damit die F~ihigkeit zur stofflichen Reaktion (Anpas- sung) auf wechselnde Umwelteinflfisse nimmt mit dem Alter ab.

Hier fehlen m.W. noeh Untersuchungen des Alternsganges, sie wiiren auch im ~irtzlichen Interesse sehr erwiinscht.

7. Der Organismus geht aus dem Zustand eines der Umwelt gegeniiber relativ offenen Systems mit der Entwicklung und dem Altern mehr und mehr in den eines geschlossenen fiber.

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8. Der ,,physiologische" (virtuelle) Tod des Organismus stellt ein stoffliches Maxi- mum dar. Ob es sich bei dieser Stoffansammlung um sog. ,,Sehlacken" handelt, wie eine verbreitete Alterstheorie annimt, oder um die Strukturelemente selbst, mag zun~ichst offen bleiben. Auf keinen Fall ist es angS.ngig, die yon der Geburt a n kontinuierlieh fortsehreitende Bindegewebszunahme als SchlaekenanhS.ufung zu bezeichnen.

9. Eine allen Zellen gemeinsame Tatsache ist das Wachstum des Zellkerns naeh der Teilung aus dem Material des Zelleibes, das ebenfalls einem Maximum, ausgedriickt in der HERTWlGschen Kern-Plasma-Relation, zustrebt.

Io. Alle Lebens~iusserungen sind an energieliefernde Reaktionen gebunden. Solche Energieumsetzungen, die als Leistungen kinetischer oder als Zunahme potentieller Ener- gie in die Erscheinung treten, sind ftmktioneller Art und einem allgemeinen vitalen Grundvorgang nicht zuzurechnen. Dieser wird vielmehr dort zu suehen sein, wo ein hoher Energieumsatz nicht als entsprechende Leistung physikaliseher oder chemischer Art imponiert. Das gilt ~iir die beiden Komponenten des Lebensablaufs und zwar am Augenf~illigsten fiir die Formbildung am Entwicklungskeim, ffir die Formauspr~igung im Zentralnervensystem. Beide F~ille stellen das Extrem eines im Verh~iltnis zur Masse hohen Ene'rgiebedarfs ohne erkennbare und messbare Leistung dar. Diese Feststellung i'iickt die Z e i t als vitale Dimension in ein helles Licht: Energieverbrauch ohne Leistungserfolg bedeutet G e s c h w i n d i g k e i t.

W e n n wi r mit diesen Io Punk ten die Zusammens te l lung der vi ta len

Kr i t e r i en , soweit sie den zei t l ichen Charak te r be t re f fen , abschliessen, so

erhebt sich die F rage , ob wi r auch die Grundta t sache al len Lebens , dass es

Gestal t und Geschehen ist, geni igend ber i icksicht ig t haben. A n d e r s aus-

gedr i iek t : d i i r f en wi r den - - hypothe t i schen - - E .L . nur innerhalb e iner

s t rukture l l de f in ie r ten vi talen Einhe i t suchen oder bieten sich Anzeichen

dafi i r , dass er auch ausserhalb e iner solchen real is ier t sein kann? Die Be-

an twor tung dieser F r a g e f i ihr t in die P rob lemkre i se der V i r e n und der

Fe rmen te .

Die nicht sehr f ruchtbare Diskuss ion fiber die F rage , ob die V i r en Lebe-

wesen seien, ist - - f i i r die molekular einhei t l ichen Vi ren ~ negat iv beendet

worden, nachdem STANLEY die Kr i s ta l l i sa t ion des T a b a k - M o s a i k - V i r u s ge-

gli ickt war. M a n a rgumen t i e r t e : ein einzelnes Molekii l , sei es auch noch so

gross, kann kein Lebewesen se in; f i ir die aus verschiedenen V e r b i n d u n g e n

zusammengese tz ten sog. , ,Pseudovi ren" liess man die F r a g e of fen.

W e n n man das P rob l em ,,belebt oder unbelebt" vom Zei tcharak te r des

Lebens aus betrachtet , So erg ib t sich die A n t w o r t : wenn das Virusmolek~il

- - kr is ta l l i s ier t oder nicht - - in einen Lebensab lauf e inget re ten und zur

Se lbs tve rmehrung i ibergegangen ist, dann ist es als lebendig zu bezeichnen.

Ob al lerdings die Se lbs tve rmehrung des Vi rus als ein P r o t o t y p des E .L .

anzusprechen ist, bleibt eine Frage . Die zentrale Tatsache aus der Betrach-

tung der Lebensabl~iufe war die, dass sie einen A n f a n g und ein mi t dem

A n f a n g gesetztes E n d e haben, das Leben geht yon Zel l te i lung zu Zel l te i lung

oder yon der Bef ruch tung zum Tode, ein Ana logon h ierzu ist auch yon dem

E.L . zu fordern . Dass ein einheitl iches Moleki i l sich wie eine Zelle oder

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ein Bakterium in zwei H~ilften teilen und .diese sic,h zur alten Struktur wieder erg~inzen sollten, ist eine schwer zu vollziehende Vorstellung. Ist es denn aber irgendwie begriindet, dass in dem neu entstandenen Virusmolekfil substantielle Bestandteile des alten enthalten seien? Ist es nicht zumindest auch denkbar, dass das neue Molekiil substantiell ausschliesslich aus Mate- rial (Eiweiss) der Wirtszelle stammt? Was wird dann aber aus dem ur- spriinglichen Virusteilchen? Solche Begriffe wie Autokatalyse oder Kon- taktsubstanz sind nicht geeignet, hier weiterzuhelfen; die Frage nach dem weiteren Schicksal des Virusmolekiils ist eine echte Frage, die aber, soviel ich sehe, aus den bisherigen Forschungsergebnissen noch nicht zu beantwo.r- ten ist. Was in dem kristallisierten Virus erfasst wird, das ist im Sinne der Biorheuse-Theorie ein Anfangsstadium des Ablaufs, ein Endstadium ge- m/iss der Vorstellung yon einem stofflichen Maximum bleibt no ch hypothe- tisch. Vielleieht k6nnte die Isotopenmethode der Identifizierung des Virus- teilchens in seinen Ver/ir~derungen dienen.

Eine weitere Frage, welche beziiglich des Verh/iltnisses der Virusver- mehrung zum E.L. der Kl~irung bedarf, ist die, ob dabei wie bei der echten morphogenetischen Assimilation ein spezifischer Energieumsatz festzustellen ist. Die yon OTTO WAR~URC auf Grund seiner neueren Versuche zum Krebsproblem entwickelten Vorstellungen k6nnen hier weitere Hinweise geben. Danach ist der oxydative Stoffwechsel der Zelle an die Struktur - - im weitesten Sinne - - gebunden, der G~irungsstoffwechsel nicht, und diese Umstellung bedingt eine Entdifferenzierung, man k6nnte auch sagen: Ver- jiingung der Krebszelle und ihre gro.sse Wachstumstendenz. Wenn die Vi- rusvermehrung ein ~ihnlieher Entartungsvorgang, bier der zelleigenen Pro- teine W~ire, k6nnte auch bier die Stoffwechselumstellung zugrunde liegen. Falls diese Analogie zwischen Krebswucherung und V.irusvermehrung zu Recht bestfinde, so erg~ibe sich fiir den gesuchten E.L. die M6glichkeit der Entartung im Sinne des Fortfalls eines biorheutischen Endmaximums. Man hat die unbegrenzt fortziichtbare Gewebskultur eine ,,Wunde in Permanenz" genannt, man k6nnte bei dem E.L. ohne Maximum yon ,,Leben ohne Altern" sprechen. Das Experiment erzielt diesen Effekt dadurch, dass es das vitale System, den Kulturraum, durch die fortgesetzten iJberimpfungen offen h/ilt; die Krebszelle durchbricht die zunehmende Geschlossenheit des Systems, des Organismus, an ihrem Teile, auch sie stellt ein Leben ohne Altern dar, sie versinnbildlicht die ,,Revolution in Permanenz". Und wie bei der Gewebskultur das (;'berimpfen allein nicht geniigt, um die Kultur im Weiterleben zu erhalten, dieses vielmehr nur durch Zusatz yon Embryo- nalextrakt erm6glicht wird, so k6nnte man daran denken, dass die Krebs- kachexie ihren Grund z.T. darin h/itte, dass die wuchernde Krebsgeschwulst

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die biorheutischen Anfangsstufen verbraucht und sie den gesunden K/Srper- zellen entzieht.

Auf Grund der angestellten Betrachtungen kommen wir zu der M6glich- keit, zwischen einem strukturgebundenen und einem strukturfreien E.L. zu unterscheiden, oder auch zwischen einem solchen, der das Maximum, auf das hin er tendiert, erreicht, und einem anderen, bei dem der Ablauf vor diesem Ziel den substantiellen Triiger wechselt, wobei fiir das Virus .die Frage, wohin es geh6rt, noch of fen bliebe.

Gibt es noch einen andren Erfahrungsbereich; in dem wir nach dem strukturfreien E.L. suchen k6nnten? Es ist der Problemkreis der Fermente. Die Fermentforschung hat sich ebenso wie die Virusforschung als ihre Hauptaufgabe die der Reindarstellung gestellt, und ebenso wie bei den Viren (STANLEY) ist es bei den Fermenten (NORTHORP) gelungen, sie zur Kristal- lisation zu bringen. Aber ebenso wie das weitere Schicksal des urspriing- lichen Virusteilchens im Zuge der Selbstvermehrung unerforscht blieb, wurde die Frage der VerSnderung des Ferments bei der Auswirkung auf das Substrat nicht beantwortet. Schreiber dieser Zeilen hatte sich vor mehr als drei Jahrzehnten dieses Problem zur Aufgabe gemacht und eine Reihe yon Experimentaluntersuchungen dariiber ver6ffentlicht, die wenig Beachtung fanden, well sie weder die Reindarstellung des Ferments noch die Kinetik der fermentierten Reaktionen zum Gegenstande hatten. Den Untersuchungen lag die Arbeitshypothese zugrunde, dass der Prozess der Selbstinaktivierung des Ferments, der beim Stehen in L6sung, beschleunigt durch Temperatur- erh6hung, ablSuft und die fermentative Wirkung mit einander gekoppelte VorgSnge seien. Die wesentlichen Ergebnisse tier Versuche sollen wiederum in tabellarischer Form wiedergegeben werden, wobei beziiglich der Methodik und Diskussion auf die Origina!arbeiten verwiesen werden muss.

I. Die Ergebnisse wu.rden ausschliesslich mit proteolytischen Fermenten erzielt, in der Hauptsache mit denen des Pankreas, einige auch mit Pepsin und autolytischen Fermenten.

2. Ir~ Dialyseanordnung mit eiweissdichten Membranen (Pergament und Collodium) gehen aus einer ~risch bereiteten Fermentl6sung proteolytisch wirksame Substanzen in die Aussen16sung fiber. Durch kurzdauernde Vorerwiirmung der Fermentlgsung und Dialyse in abgekiihlte Aussenl/Ssung wird die Ausbeute im Dialysat erhiSht.

3. -Wenn die Fermentl6sung einige Tage bei Zimmertemperatur oder einige Stun- den bei 37 ~ gestanden hat, so geht kein Ferment mehr durch die Membran, obgleich die Wi.rksamkeit der Binnenl6sung praktisch nicht abgenommen hat. Zugleich hat sich die Fermentl6sung anfangs rein, spS.ter gr6ber getrfibt, schliesslich kommt es zu Flockenbildung. Ffigt man der getrfibten Binnenl6sung frische Fermentlgsung nach, so resultiert wiederum ein wirksames Dialysat.

4. Es ist seit langem bekannt, dass die Gegenwart des Substrats (Eiweiss) in der Fermentl6sung der Ititze-Inaktivierung des Ferments entgegenwirkt. Man hat diese

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Tatsache durch die Annahme einer Schutzkolloid-Wirkung zu erklS.ren gesucht. Danach miisste eine Vergr/Ssserung der fermentwirksamen Teilchen eintreten und die Ausbeute im Dialysat geringer werden. Das Gegenteil ist der Fall: aus einer Ferment-Substrat- L6sung (Trypsin und Casein) resultiert ein wesentlich wirksameres Dialysat als aus der gleichen Fermentl6sung ohne Substrat-Gegenwart.

5. Einen analogen Effekt zeigten Versuche mit Ultrafiltration durch eiweissdichte ZSIGMONDY-BACHMANN-Filter: die Trypsin-Casein-L6sung ergab ein wirksameres Ult.ra- filtrat als die Trypsin-L6sung allein. Noch mehr: wenn man die Ultrafiltration bis zu Ende durchffihrt und danach mehrfach mit der Pufferl6sung nachwS.scht, so erhS.lt man keine wirksamen Filtrate mehr. Bringt man nunmehr reine Caseinlgsung auf das Filter, so ergeben sich wiederum wirksame Filtrate, nnd diesen Versuch kann man mehrmals - - unter Einschalttmg yon Pufferdurchspfilungen und Nachf/igen von Casein- 16sung - - wiederholen.

6. Auch Versuche mit freier Diffusion ergaben den Membranversuchen analoge Resultate: Vorerw~irmung der Pankreasextraktl6sung bewirkte ein steileres Diffusions- gefiille und dieses wurde welter gesteigert, wenn zu der Fermentl6sung Casein hinzu- geffigt war.

7. t?;s hatte den Anschein, als ob bei Verwendung verschiedener Eiweisssubstrate in Parallelversuchen mit ein- und derselben Fermentl6snng eine relative Spezifizierung des Ferments auf das Snbstrat eintrat. Diese Versuche mfissten in gr6sserer Breite und mit kristallisierten Fermenten fortgeffihrt werden.

8. Inaktivierte FermentI6sung setzt die Wirksamkeit frisch bereiteter Fermentl/Ssung nach Massgabe der quantitativen Verh~iltnisse herab; das Dialysat oder Ultrafiltrat daraus ist wirksam.

9. Fiigt man zu einer Trypsinl/Ssung einmal ein koaguliertes Eiweiss (Fibrin) allein, das andermat zugleich mit einem gel/Ssten Protein (Casein), so wird das Coagulum in der eiweisshaltigen L6snng wesentlich schneller aufge16st.

A u s den Un te r suchungen wurden die nachfo lgenden Schlfisse gezogen:

L Das F e r m e n t durchl~iuft beim Stehen in L6sung, beschieunigt durch

Tempera tu re rh6hung , e inen Prozess , bei welchem die Tei lchen sich ver-

gr6ssern , dabei zunS.chst noch f e rmen twi rksam bleiben, sp/iter unwi rksam

werden.

2. Bei der E i n w i r k u n g des proteolyt i schen F e r m e n t s auf das Subs t ra t

entsteht aus dem letzteren proteolyt i sch wi rksame Substanz neu, die dann

wiede rum in den Ab lau f mit zunehmende r Tei lchengr6sse eintr i t t .

3. Die rteu en ts tandenen proteolyt i sch wi rksamen Tei lchen sind kleiner als

die des Subs t ra tpro te ins , da sie f i i r dieses undurchl~issige M e m b r a n e n pas-

sieren.

4. Die Frage l ob der Fe rmen tab l au f mi t energ ie l ie fe rnden Reakt ionen ge-

koppel t ist, bleibt - - ebenso wie bei der V i ru s -Se lb s tve rme hrung - - unent-

schieden; einige Vorversuche , in welchen die Fe rmen t l6 sung einmaI mit

Sauers to f f , ,das andremal mit S t icks tof f ges~ittigt wurde , schienen dafi.ir zu

sprechen, ebenso, solche mit Zusa tz von Traubenzucker .

WS.hrend man f r i iher die F e r m e n t e al lgemein als K a t a l y s a t o r e n bezeich-

nete, ist man heute dazu i ibergegangen, zwischen Biokata lysa toren und

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eigentlichen Fermenten zu unterscheiden, die letzteren haben sich ausnahms- los als zu der Gruppe der Proteink6rper geh6rig erwiesen. Schon vor l~ingerer Zeit hat ABDERHALDEN die Beobachtung gemacht, dass ferment-

haltige Organextrakte beim Stehen in L6sung neue fermentative Eigen- schaften hinzugewinnen kSnnen, wie sie ja auch alte verlieren. Es sieht doch so aus, als ob wir in den Fermenten und ebenso in den Viren so etwas wie ein Modell des E.L. vor uns hiitten und dass wir somit dazu k~imen, den Begriff des ,,lebenden" Eiweisses anzunehmen. Die Frage, ob das Ferment oder das Virus etwas Lebendiges sei, scheint mir nieht richtig gestellt zu sein. Das kristallisierte Virus- oder Ferment-Molekiil ist ohne Zweifel nicht lebendig, aber ,,es lebt", wenn es entweder in einen strukturierten Lebensablauf eintritt - - das Virus - - oder aus einem solchen hervorgeht und ihn ausserhalb der Struktur ausliiuft - - das Ferment - - . Dass es nicht nur einen einzigen, substantiell, strukturell oder so nstwie eindeutig definierten E.L. gibt, braucht kaum besonders betont zu werden, hier herrscht die gleiche unendliche Mannigfaltigkeit wie iiberall im Reiehe des Lebendigen.

Zum Abschluss sei nur noch eines gesagt: es liegt in der Natur dieser Anschauung vom Leben, dass sie nicht durch ein einmaliges experimentum crucis bewiesen werden kann, sie muss ihre Berechtigung in der Bew~ihrung

bei tier Deutung der Lebenserscheinungen erweisen.

LITERATURVERZEICHNI S

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