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ZUSCHRIFTEN Das Redoxpotential von Selenocystin in konfor- mativ nicht eingeschrankten cyclischen Peptiden** Dorthe Besse, Frank Siedler, Tammo Diercks, Horst Kessler und Luis Moroder* Selenocystein (Sec) kann, bezogen auf die ribosomenvermit- telte Proteinsynthese, als die 21. Aminosaure betrachtet wer- den.", 21 Es kommt in vielen prokaryontischen und eukaryonti- schen Proteinen vor, wobei die Natur das UGA-Stopcodon zum Einfugen dieser Selenoaminosaure verwendet statt eines post- translationalen Modifikationsmechanismus. Die meisten der bislang identifizierten Selenoproteine sind Redoxenzyme, die wegen des niedrigen pK,-Werts der Selenolfunktion (5.73 fur Sec, 8.53 fur Cys) einzigartige biochemische Eigenschaften auf- weisen. Das Redoxpotential von Selenocystin sowie von Seleno- cystin enthaltenden Peptiden und Proteinen ist allerdings noch nicht bekannt. Wir haben daher das Redoxpotential von Sele- nocystin in Peptiden mit dem stark reduzierenden Dithiol Di- thiothreit (DTT) als Referenzredoxsystem gemessen. Fruhere Studien an aliphatischen und aromatischen Seleno- len haben ergeben, daB die hohe Aciditat und damit die hohe Nucleophilie der Selenolfunktion die Ursache fur die katalyti- sche Aktivitat der Selenole in Thiol/Disulfid-Austauschreaktio- nen rnit stark reduzierenden Thiolen ~ind.1~1 Diese Redoxaktivi- tat erfordert eine Regeneration des katalytischen Selenols aus dem Diselenid. Tatsachlich werden Diselenide von stark redu- zierenden Dithiolen wie DTT in wasseriger Losung bei pH 7.6 reduziert,[,I wahrend Monothiole ein Diselenid nicht zu reduzie- ren ~ermogen.~~] Dies konnte im Fall eines Selenocystin enthal- tenden Peptiddimers bestatigt werden, das mit einem 103fachen UberschuB an Glutathion bei pH 7.6 nur teilweise reduziert w~rde.[~] Doch diese partielle Reduktion durch Glutathion ist offensichtlich ausreichend, um in lebenden Zellen eine Konzen- tration an Selenocystein aufrecht zu erhalten, die genugt, um dessen Bioinkorporation in Selenoproteine zu ermoglichen. Tat- slchlich konnte kurzlich unter Verwendung von Selenocystin im Wachstumsmedium von cysteinauxotrophem E. cofi das [Se~~~,Sec~~]-Analogon des Thioredoxins, einer Thiolprotein- Oxidoreduktase, effizient exprimiert werden.['] Die Redoxei- genschaften dieser Thioredoxinmutante unterscheiden sich deutlich von denen des ursprunglichen Cysteinproteins. Es kann nur durch NaBH, oder DTT in groBem UberschuB reduziert werden, wahrend im Fall der gemischten [ S e ~ ~ ~ , C y s ~ ~ ] - und [Cy~~~,Sec~~]-Thioredoxine eine partielle Reduktion bereits rnit P-Sulfanylethanol erreicht wurde. Diese Ergebnisse fuhrten Muller et al.[21 dazu, fur Sec,Sec-Thioredoxin ein Redoxpoten- tial zwischen dem des Thioredoxins (- 270 mV)16] und dem von DTT (- 323 mV)[71 zu postulieren. In fruheren Studien untersuchten wir anhand des Glutathion- Systems als Referenzredoxpuffer das Redoxpotential der acht Aminosauren umfassenden Aktivzentrenfragmente von Thiol- protein-Oxidoreduktasen, die alle das charakteristische Cys- Xaa-Yaa-Cys-Sequenzmotiv enthalten.[81 Ein Vergleich der raumlichen Strukturen der oxidierten Fragmente mit denen der [*I Prof. Dr. L. Moroder, Dip1.-Chem. D. Besse, Dr. F. Siedler Max-Planck-Institut fur Biochemie, AG Bioorganischz Chemie Am Klopferspitz 18A, D-82152 Martinsried Telefax: Int. + 89185782847 E-mail: moroder(a,hiochem.mpg.de. DipLChem. T. Diercks, Prof. Dr. H. Kessler lnstitut fur Organische Chemie und Biochemie Technische Universitlt Miinchen, D-85747 Garching (Mo 37717-1). [**I Diese Arheit wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefordert Aktivzentren der Ursprungsproteine zeigte deutlich, daB die di- sulfidverbruckte cyclische Struktur des Aktivzentrums in Gluta- redoxin am wenigsten von der dreidimensionalen Faltung des Enzyms beeinfluBt wird; sie wird im wesentlichen von der lokalen konformativen Praferenz der Disulfidschleife be- ~timmt.[~- '] Entsprechend sind die Redoxpotentiale des Gluta- redoxins und des entsprechenden Aktivzentrenfragmentes grx- [lo-171 sehr ahnlich und diese Verbindungen somit nur wenig reduzierender als Disulfiddimere wie Glutathion.[81 Mit Blick auf diese Ergebnisse verwendeten wir das Cys,Cys-Octapeptid des Glutaredoxins zur Bestimmung des Redoxpotentials von Selenocystein in einem strukturell nicht eingeschrankten disele- nidverbruckten linearen Peptid. Um die Synthese der Sec-Peptide [Se~",Sec'~]- und [Sec",Cy~'~]-grx-[l0-17] (Schema 1) zu vereinfachen, wurde der Argl6-Rest durch Lys ersetzt ; die Methoxybenzylgruppe pe wurde zum Schutz der methylsulfoxid(DMSO)/Tri- Ac-Gly-Sbc-Pro-Tyr-Sk-Val-Lys-Ala-NH, fluoressig-siiure['O' ' ' I aufge- Schema 1, Primarstruktur des Aktiv- baut, Das 77Se-NMR-Spek- zentrumfragments grx-[lO- 171 von trum (DMSO, 3oo K) des Glutaredoxin und der Selenocystein- analoga [Sec11,Cys'4,Lys16]- und [Set' ,Sec ", Lys' 6]-gr~- ~Se~",Sec'~.Lvs'~1-grx-l~O- 171. ~ ._ . [lo-171 Fragmentes in der oxidierten Form zeigt ein in- tensives Signal bei 6 = 266.6, wahrend in Gegenwart von DTT in groBem UberschuB (103fach) zwei Signale nahezu gleicher Intensitat bei 6 = - 176.2 und - 190.6 detektiert werden. Damit konnte sowohl die quantitative Reduktion der Diselenidbrucke mit DTT als auch die Abwesenheit gemischter Se-S-Spezies durch Einwirkung des reduzierenden Sulfanyls in Ubereinstim- mung rnit den berichteten Ergebnissen fur Alkandi~elenide[~I nachgewiesen werden. Versuche, die Redoxpotentiale der Sec-Peptide rnit DTT als Referenzredoxsystem uber die Umkehrphasen-HPLC-chroma- tographische Quantifizierung der einzelnen im Gleichgewicht vorhandenen Spezies zu bestimmen, wie wir es bereits fur das Glutaredoxinfragment grx-[lo- 171 beschrieben haben,"] schei- terten an teils irreversibler Adsorption der reduzierten Sec-Pep- tide an der Umkehrphasen-Matrix. Auch die Bestimmung durch NMR-spektroskopische Quantifizierung der oxidierten und reduzierten Spezien in Analogie zu der von Houk und Whitesides beschriebenen Methode" 21 konnte wegen der gerin- gen naturlichen Haufigkeit von 77Seund den damit verbunde- nen langen MeBzeiten, uber die das Redoxsystem im Gleichge- wicht gehalten werden mul3, nicht verwendet werden. Die Fluoreszenz des Tyrosins wird durch die reduktive Disulfidring- offnung nicht beeinflu& doch unterscheiden sich die CD-Spek- tren des reduzierten und des oxidierten grx-[lo- 171 deutlich voneinander. So konnten die Circulardichroismus-Intensitaten bei 230 nm verwendet werden, um die Konzentrationen an redu- zierten und oxidierten Spezien aufzuzeichnen. Die Auftragung des Anteils X,, an oxidierten Spezies gegen die Konzentration an DTT (Abb. 1) zeigt, daB bei pH 7.0 und 20 "C fur eine 50proz. Reduktion des [Cys' ',CYS'~]-, des [Sec' ',CYS'~]- und des [Sec' ' ,Se~'~]-Octapeptids molare DTT/Peptid-Verhaltnisse von 0.5, 1.15 bzw. 44 benotigt werden. Diese Ergebnisse bestatigen die hohe Stabilitat der Diselenidbrucke gegenuber Austausch- reaktionen rnit Thiolen, wahrend die Se-S-Brucke in reduzieren- den Medien deutlich schwacher zu sein scheint. Da die CD- Spektren, die bei unterschiedlichen DTT-Konzentrationen auf- genommen wurden, uber einen Zeitraum von mindestens 30 Minuten unverandert bleiben, kann dieses System als im Gleich- Angew. Chem. 1997, 109, Nr. 8 0 VCH Verlagsgesellschuft mhH, 0-69451 Weinheim. 1997 0044-8249j97jl0908-0915 $17.50+ SOj0 915

Das Redoxpotential von Selenocystin in konformativ nicht eingeschränkten cyclischen Peptiden

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ZUSCHRIFTEN

Das Redoxpotential von Selenocystin in konfor- mativ nicht eingeschrankten cyclischen Peptiden** Dorthe Besse, Frank Siedler, Tammo Diercks, Horst Kessler und Luis Moroder*

Selenocystein (Sec) kann, bezogen auf die ribosomenvermit- telte Proteinsynthese, als die 21. Aminosaure betrachtet wer- den.", 21 Es kommt in vielen prokaryontischen und eukaryonti- schen Proteinen vor, wobei die Natur das UGA-Stopcodon zum Einfugen dieser Selenoaminosaure verwendet statt eines post- translationalen Modifikationsmechanismus. Die meisten der bislang identifizierten Selenoproteine sind Redoxenzyme, die wegen des niedrigen pK,-Werts der Selenolfunktion (5.73 fur Sec, 8.53 fur Cys) einzigartige biochemische Eigenschaften auf- weisen. Das Redoxpotential von Selenocystin sowie von Seleno- cystin enthaltenden Peptiden und Proteinen ist allerdings noch nicht bekannt. Wir haben daher das Redoxpotential von Sele- nocystin in Peptiden mit dem stark reduzierenden Dithiol Di- thiothreit (DTT) als Referenzredoxsystem gemessen.

Fruhere Studien an aliphatischen und aromatischen Seleno- len haben ergeben, daB die hohe Aciditat und damit die hohe Nucleophilie der Selenolfunktion die Ursache fur die katalyti- sche Aktivitat der Selenole in Thiol/Disulfid-Austauschreaktio- nen rnit stark reduzierenden Thiolen ~ind.1~1 Diese Redoxaktivi- tat erfordert eine Regeneration des katalytischen Selenols aus dem Diselenid. Tatsachlich werden Diselenide von stark redu- zierenden Dithiolen wie DTT in wasseriger Losung bei pH 7.6 reduziert,[,I wahrend Monothiole ein Diselenid nicht zu reduzie- ren ~ e r m o g e n . ~ ~ ] Dies konnte im Fall eines Selenocystin enthal- tenden Peptiddimers bestatigt werden, das mit einem 103fachen UberschuB an Glutathion bei pH 7.6 nur teilweise reduziert w ~ r d e . [ ~ ] Doch diese partielle Reduktion durch Glutathion ist offensichtlich ausreichend, um in lebenden Zellen eine Konzen- tration an Selenocystein aufrecht zu erhalten, die genugt, um dessen Bioinkorporation in Selenoproteine zu ermoglichen. Tat- slchlich konnte kurzlich unter Verwendung von Selenocystin im Wachstumsmedium von cysteinauxotrophem E. cofi das [Se~~~ ,Sec~~] -Ana logon des Thioredoxins, einer Thiolprotein- Oxidoreduktase, effizient exprimiert werden.['] Die Redoxei- genschaften dieser Thioredoxinmutante unterscheiden sich deutlich von denen des ursprunglichen Cysteinproteins. Es kann nur durch NaBH, oder DTT in groBem UberschuB reduziert werden, wahrend im Fall der gemischten [ S e ~ ~ ~ , C y s ~ ~ ] - und [Cy~~~,Sec~~]-Thioredoxine eine partielle Reduktion bereits rnit P-Sulfanylethanol erreicht wurde. Diese Ergebnisse fuhrten Muller et al.[21 dazu, fur Sec,Sec-Thioredoxin ein Redoxpoten- tial zwischen dem des Thioredoxins ( - 270 mV)16] und dem von DTT ( - 323 mV)[71 zu postulieren.

In fruheren Studien untersuchten wir anhand des Glutathion- Systems als Referenzredoxpuffer das Redoxpotential der acht Aminosauren umfassenden Aktivzentrenfragmente von Thiol- protein-Oxidoreduktasen, die alle das charakteristische Cys- Xaa-Yaa-Cys-Sequenzmotiv enthalten.[81 Ein Vergleich der raumlichen Strukturen der oxidierten Fragmente mit denen der

[*I Prof. Dr. L. Moroder, Dip1.-Chem. D. Besse, Dr. F. Siedler Max-Planck-Institut fur Biochemie, AG Bioorganischz Chemie Am Klopferspitz 18A, D-82152 Martinsried Telefax: Int. + 89185782847 E-mail: moroder(a,hiochem.mpg.de. DipLChem. T. Diercks, Prof. Dr. H. Kessler lnstitut fur Organische Chemie und Biochemie Technische Universitlt Miinchen, D-85747 Garching

(Mo 37717-1). [**I Diese Arheit wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefordert

Aktivzentren der Ursprungsproteine zeigte deutlich, daB die di- sulfidverbruckte cyclische Struktur des Aktivzentrums in Gluta- redoxin am wenigsten von der dreidimensionalen Faltung des Enzyms beeinfluBt wird; sie wird im wesentlichen von der lokalen konformativen Praferenz der Disulfidschleife be- ~ t i m m t . [ ~ - ''] Entsprechend sind die Redoxpotentiale des Gluta- redoxins und des entsprechenden Aktivzentrenfragmentes grx- [lo-171 sehr ahnlich und diese Verbindungen somit nur wenig reduzierender als Disulfiddimere wie Glutathion.[81 Mit Blick auf diese Ergebnisse verwendeten wir das Cys,Cys-Octapeptid des Glutaredoxins zur Bestimmung des Redoxpotentials von Selenocystein in einem strukturell nicht eingeschrankten disele- nidverbruckten linearen Peptid.

Um die Synthese der Sec-Peptide [Se~",Sec'~]- und [Sec",Cy~'~]-grx-[l0-17] (Schema 1) zu vereinfachen, wurde der Argl6-Rest durch Lys ersetzt ; die Methoxybenzylgruppe pe wurde zum Schutz der

methylsulfoxid(DMSO)/Tri- Ac-Gly-Sbc-Pro-Tyr-Sk-Val-Lys-Ala-NH,

fluoressig-siiure['O' ''I aufge- Schema 1, Primarstruktur des Aktiv- baut, Das 77Se-NMR-Spek- zentrumfragments grx-[lO- 171 von

trum (DMSO, 3oo K) des Glutaredoxin und der Selenocystein- analoga [Sec11,Cys'4,Lys16]- und

[Set' ,Sec ", Lys' 6]-gr~- ~Se~",Sec'~.Lvs'~1-grx-l~O- 171. ~ . _ .

[lo-171 Fragmentes in der oxidierten Form zeigt ein in- tensives Signal bei 6 = 266.6, wahrend in Gegenwart von DTT in groBem UberschuB (103fach) zwei Signale nahezu gleicher Intensitat bei 6 = - 176.2 und - 190.6 detektiert werden. Damit konnte sowohl die quantitative Reduktion der Diselenidbrucke mit DTT als auch die Abwesenheit gemischter Se-S-Spezies durch Einwirkung des reduzierenden Sulfanyls in Ubereinstim- mung rnit den berichteten Ergebnissen fur Alkandi~elenide[~I nachgewiesen werden.

Versuche, die Redoxpotentiale der Sec-Peptide rnit DTT als Referenzredoxsystem uber die Umkehrphasen-HPLC-chroma- tographische Quantifizierung der einzelnen im Gleichgewicht vorhandenen Spezies zu bestimmen, wie wir es bereits fur das Glutaredoxinfragment grx-[lo- 171 beschrieben haben,"] schei- terten an teils irreversibler Adsorption der reduzierten Sec-Pep- tide an der Umkehrphasen-Matrix. Auch die Bestimmung durch NMR-spektroskopische Quantifizierung der oxidierten und reduzierten Spezien in Analogie zu der von Houk und Whitesides beschriebenen Methode" 21 konnte wegen der gerin- gen naturlichen Haufigkeit von 77Se und den damit verbunde- nen langen MeBzeiten, uber die das Redoxsystem im Gleichge- wicht gehalten werden mul3, nicht verwendet werden. Die Fluoreszenz des Tyrosins wird durch die reduktive Disulfidring- offnung nicht beeinflu& doch unterscheiden sich die CD-Spek- tren des reduzierten und des oxidierten grx-[lo- 171 deutlich voneinander. So konnten die Circulardichroismus-Intensitaten bei 230 nm verwendet werden, um die Konzentrationen an redu- zierten und oxidierten Spezien aufzuzeichnen. Die Auftragung des Anteils X,, an oxidierten Spezies gegen die Konzentration an DTT (Abb. 1) zeigt, daB bei pH 7.0 und 20 "C fur eine 50proz. Reduktion des [Cys' ',CYS'~]-, des [Sec' ',CYS'~]- und des [Sec' ' ,Se~'~]-Octapeptids molare DTT/Peptid-Verhaltnisse von 0.5, 1.15 bzw. 44 benotigt werden. Diese Ergebnisse bestatigen die hohe Stabilitat der Diselenidbrucke gegenuber Austausch- reaktionen rnit Thiolen, wahrend die Se-S-Brucke in reduzieren- den Medien deutlich schwacher zu sein scheint. Da die CD- Spektren, die bei unterschiedlichen DTT-Konzentrationen auf- genommen wurden, uber einen Zeitraum von mindestens 30 Minuten unverandert bleiben, kann dieses System als im Gleich-

Angew. Chem. 1997, 109, N r . 8 0 VCH Verlagsgesellschuft mhH, 0-69451 Weinheim. 1997 0044-8249j97jl0908-0915 $17.50+ SOj0 915

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ZUSCHRIFTEN

4 x

20 - 0 20 40 60 80' 300

DTTIAquiv. - Abb. 1, Durch Circulardichroismusmessungen bei 230 nm verfolgte Reduktion von [ C y ~ ' ~ , C y s ~ ~ ] - (D), [Se~" ,Cys~~ ,Lys~~] - ( x ) und [Sec",Sect4, Ly~'~]-grx-[lO- 171 (*)in der oxidierten, cyclischen Form rnit DTT in 0.1 M Phosphatpuffer (pH 7.0) bei 20°C; 0: nach quantitativer Reduktion rnit NaBH,.

gewicht befindlich betrachtet werden. Es ist damit die Voraus- setzung fur die Bestimmung der KO,-Werte gegeben [Gl. ( l) , (2);

Dl-rox Peptid,, X = S, Se

Dn,d Peptid,,

Tabelle I]. Diese wurden unter Verwendung der Nernst-Glei- chung (3) mit Eo = - 323 mV (pH 7.0) und - 366 mV (pH 8.1)

= EO(Reduktand) - 0'03 l o g K o x (3)

fur DTT['I in die entsprechenden Redoxpotentiale umgerech- net. Wegen der relativ leichten Reduktion der gemischten Se-S- Briicke im [Se~",Cys'~]-Octapeptid rnit DTT und damit even-

Tabelle 1, Gleichgewichtskoustanten der Oxidation (KO,) der Cys,Cys-, Sec,Sec- und Sec,Cys-Peptide mit Thiolen [GI. (1). (211 [a].

Peptid Red.- KO. mittel pH 7.0 pH 8.5

grx-[ 10- 171 Glutathion 0 . 1 4 2 ~ [Sec11,Sec14,Lys16]-grx-[10-17] DTT 85 6.5 [Secl .Cysl 4,Lys1 6]-grx-[10 - 171 DTT 1.3 [Secl ' ,Cy~'~,Lys~~]-grx-[lO- 171 HSCH,CH,OH 15 7 0 0 ~

[a] Die Peptide wurden in der oxidierten Form in 0.1 M Phosphatpuffer (pH 7.0 und pH 8.5) bei 20°C mit Glutathion [S]. DTT oder fl-Sulfanylethanol inkubiert.

tuell nicht idealen Gleich- gewichtsbedingungen, wurde die Reduktion die- ses Peptides auch mit b- Sulfanylethanol durchge- fuhrt (Eo = - 207 mV bei pH 7.0[']). Die durch bei- de Experimente bestimm- ten Redoxpotentiale ( E = -326mV gegen DTT und - 332 mV gegen p- Sulfanylethanol) stimmen unter Berucksichtigung der Fehlergrenzen sehr gut uberein. Die Unter- schiede der Redoxpoten- tiale der Sec- und Cys- Peptide im Vergleich zu dem von Glutathion als dem Hauptredoxsystem der lebenden Zellen[13] sind in Abbildung 2 dar- gestellt.

Das Redoxpotential des Selenocystinpeptides [Sec' , Sec14, Lys16] - grx- [lo-171 ( E = - 381 mV

AE I mV

1 40 ~i

Abb. 2. Die Redoxpotentiale von [ C y ~ ~ ~ , C y s ~ " ] - , [Se~",Cys~~,Lysl~]- und [Sec1',Sec14, Ly~~~]-grx-[lO-17] bei pH 7.0 und 20°C bezogen auf Glutathion (GSSG) bei pH 7.0. Das Redoxpotential von [Cy~",Cys'~]-grx-[lO-17] ( E = - 180 mV) wurde aus dem mit Glutathion bestimmten KO,-Wert [8] berechnet, wobei fur Glutathion das von Szajewski and Whitesides [7] ermittelte Potential vou E,, = - 205 mV eingesetzt wurde.

bei pH-7.0 und - 389 mV bei pH 8.5 und 20 "C) war zwar im Gegensatz zu friiheren Spek~lationen[~] deutlich kleiner als das von DTT ( E = - 323 mV), aber in guter Ubereinstimmung rnit dem von Selenocystamin ( E = - 349 mV, errechnet aus dem gegen DTT bestimmten K,,-Wert von 7.14 ,-lu3]). Im Unter- schied hierzu sind die Redoxeigenschaften der Sec,Cys-Peptide ( E = - 326 mV) denen von DTT ( E = - 323 mV) sehr ahnlich, die damit eine deutlich hohere reduzierende Wirkung aufweisen als Glutathion ( E = - 205 mV[']). Da der KO,-Wert des Sec,Sec- Peptides erheblich hoher ist als der des Sec,Cys-Peptides (Tabelle l), ist die Bildung einer gemischten Se-S-Briicke gegen- iiber der einer Se-Se-Brucke deutlich benachteiligt. Dieser Be- fund kann einen interessanten neuen Ansatz zum Design pro- duktiver Intermediate auf dem oxidativen Faltungspfad von synthetischen Peptiden und rekombinanten Proteinen eroffnen, da die Se-Se-Verbriickung unabhangig von der Anwesenheit zu- satzlicher Cysteinreste verlaufen sollte. Daruber hinaus ist be- kannt, da13 Alkanselenole die Thiol/Disulfid-Austauschreaktio- nen beschleunigen konnen;[3s 14] der Einbau solcher chemischer ,,Wegweiser" in Proteinsequenzen konnte den oxidativen Fal- tungsprozeo durch Nachahmung der Funktion der Protein- Disulfid-Isomerase beschleunigen.

Eingegangen am 14. November 1996 1297721

Stichworte: Peptide * Redoxreaktionen * Selen

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916 0 VCH Verlugsgesellschuft mbH, 0-69451 Weinheim, 1997 0044-8249197jl0908-0916 $17.50+ 3010 Angew. Chem. 1997, 109, Nr. 8

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Die absolute Konfiguration von Bromchlor- fluormethan aus experimentellen und rnit ab-initio-Methoden berechneten Daten des optisch-aktiven Raman-Effekts"" Jeanne Costante, Lutz Hecht, Prasad L. Polavarapu,* Andrk Collet* und Laurence D. Barron*

Bromchlorfluormethan 1 ist eines der einfachsten moglichen Beispiele fur das Konzept des asymmetrischen Kohlenstoff- atoms von Le Be1 und van't Hoff und seit seiner ersten Synthese durch Swarts vor uber hundert Jahren"] wurde wiederholt ver- sucht, es in seine Enantiomere zu trennen und deren Drehwerte zu messen. Diese Anstrengungen gipfelten 1985 in der ersten analytischen Trennung['] einer geringfugig enantiomerenange- reicherten Probe, die von Wilen et al.[31 erhalten worden war, so daL3 eine maximale spezifische Drehung (d.h. die Drehung durch das reine Enantiomer) von [a]:5 = f1.6 (in Substanz, p = 1.91 kgdm-3) geschatzt werden konnte.L4] Inzwischen wur- den uber die absolute Konfiguration von 1 viele Vermutungen angestellt. Die einfache empirische Regel von Bre~s te r , ' ~ ] die auf den Atompolarisierbarkeiten basiert, sagt die (S)-( + )-Kon- figuration voraus, wobei angenommen wird, daD die Reihenfol- ge der Polarisierbarkeiten H > F ist.[61 Die gleiche Voraussage wurde von Applequist unter Verwendung eines Atom-Dipol- Wechselwirkungsmodells gemacht ;"I in diesem Model1 ist je- doch die Reihenfolge der Polarisierbarkeiten umgekehrt : F > H. In Anbetracht seiner einfachen Struktur ist Bromchlor- fluormethan lange als ideales Objekt fur Untersuchungen zur schwingungsspektroskopischen optischen Aktivitat (IR- und Raman-Effekt) angesehen worden, und mit semiempiri- schen Verfahren wurden sowohl sein Schwingungs-CD-Spek- trum (vibrational circular dichroism = VCD)[8* als auch sein optisch-aktiver Raman-Effekt (Raman optical activity =

[*I Prof. Dr. L. D. Barron, Dr. L. Hecht Chemistry Department, The University, Glasgow G12 SQQ (GroBbritannien) Telefax: Int. + 1411330-4888 E-mail: [email protected] Prof. Dr. P. L. Polavarapu Department of Chemistry, Vanderbilt University Nashville, TN 37235 (USA) Telefax: Int. + 6151322-4936 E-mail: [email protected] Prof. Dr. A. Collet, Dr. J. Costante Ecole Normale Superieure de Lyon, Sttreochemie et Interactions Moleculaires (UMR CNRS 117) F-69364 Lyon Cedex 07 (Frankreich) Telefax: Int. + 472728483 E-mail: andre.collet(~stim.ens-1y011.fr

[**I Wir danken dem BBSRC und der NATO (Nr. 950763) fur finanzielle Unter- stutzung und dem EPSRC fur ein Forschungsstipendium fur L. D. B., auBer- dem Dr. C. S . Ewig fur Diskussionen uber die fur Brom geeigneten Basissatze und fur das Uberlassen der Basissatze, die in dieser Arbeit verwendet wurden, und dem Pittsburgh Supercomputer Center fur Rechenzeit.

ZUSCHRIFTEN

ROA)['-' 'I berechnet; aber diese Berechnungen konnten we- gen des Mangels an ausreichend enantiomerenangereicherten Proben nicht experimentell bestatigt werden. Geeignete Sub- stanzproben sind vor kurzem zuganglich geworden, und wir berichten hier aus unserer Arbeit mit dem (-)-Enantiomer uber das erste experimentelle ROA-Spektrum von 1 sowie eine ab-in- itio-Berechnung, die es uns ermoglicht hat, auf einer fundierten Basis die absoluten Konfigurationen von 1 als (S) - (+) und (R)-( -) zu bestimmen.

F F F

Diese Untersuchung wurde dank Arbeiten von Doyle und Vogl[' '1 moglich, die berichtet hatten, daD enantiomerenange- reicherte Strychninsalze der Bromchlorfluoressigsaure 2 leicht bei 120 "C in Ethylenglycol decarboxylieren und enantiomeren- angereichertes 1 unter erstaunlicher Erhaltung der optischen Aktivitat liefern. Die fur die ROA-Messungen verwendete Pro- be von (-)-1 wurde durch Decarboxylierung eines Strychnin- salzes von (R)-( -)-2 rnit 51 % de erhalten (siehe Experimentel- les). Ihr [a]i5-Wert war - 0.64 f 0.03 (c = 6.5 in Cyclohexan), und ihr ee-Wert wurde 'H-NMR-spektroskopisch rnit (+)- Cryptophan C als chiralem Verschiebungsreagens['] (Abb. 1) auf (36 2)% geschatzt. Daraus ergibt sich als extrapolierte maximale spezifische Drehung von 1 in Cyclohexan [a]:5 = f (1.78 f 0.18), was rnit dem oben genannten Wert von f 1.6 fur die reine Flussigkeit ubereinstimmt.

I I 7.6 7.4

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Abb. 1. 'H-NMR-Spektrum (JH,F = 52 Hz) der Probe von (-)-1, die in den ROA- Experimenten verwendet wurde, in Gegenwart von (+)-Cryptophan C. Das g rok- re Doublett (tieffeldverschoben) stammt von (-)-1, das kleinere von (+)-1.

In ROA-Spektren wird die optische Aktivitat einer Schwin- gung als die geringe Differenz gemessen, die zwischen den Inten- sitaten der Raman-Strahlung chiraler Molekule bei rechts und links circular polarisierter einfallender Laserstrahlung auf- tritt." - 16] . Di eses Prinzip ist seit uber zwanzig Jahren be- kannt,["] doch seine Anwendung war zunachst durch die gerin- ge Empfindlichkeit und die langen MeDzeiten der damals gebrauchlichen ROA-Instrumente eingeschrankt. Dank Fort- schritten in der Gerateentwicklung ["] sind ROA-Messungen jetzt jedoch schnell und routinemaL3ig an einer Vielzahl von Proben moglich. Parallel dazu wurden ab-initio-Verfahren ent- wickelt, rnit denen man das Vorzeichen und die GroBe der ROA-

Angew. Chem. 1997, 109, Nr. 8 0 VCH Verlugsgesellschuft mbH. 0-69451 Weinheim, 1997 0044-8249/97/10908-0917 $17.50+ .SO10 917