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Franz Hinkelammert Das Spiel der Verrücktheiten: Ephigenie, Paulus und das kritische Denken. Walter Benjamin hinterließ ein Fragment mit dem Titel: Kapitalismus als Religion. 1 Dieses Fragment legt eine äußerst interessante These zum Entstehen des Kapitalismus vor, die in vielem die entsprechende These von Max Weber zum Entstehen des Geistes des Kapitalismus verändert. In seiner These betrachtet Max Weber das Christentum – speziell in seiner Form des englischen Puritanismus und Calvinismus – als ein förderndes Element für das Entstehen des Kapitalismus, das dann durch einen Prozess der Säkularisierung überwunden wurde. Walter Benjamin hingegen stellt die These auf, dass die Rolle des Kapitalismus anders war und sogar von noch größerer Bedeutung gewesen ist. Er sagt, dass der Kapitalismus durch eine Umwandlung der christlichen Orthodoxie entsteht, deren Grundstruktur in säkularer Form wiederkehrt mit dem Ergebnis, dass der Kapitalismus mit dem Aspekt auftritt, eine Religion zu sein, die aus dem Christentum hervorgeht, obwohl sie sich in säkularer Form ausdrückt. Die These ist auf überzeugende Weise vorgestellt. Dennoch hat sie eine Beschränkung. Benjamin selbst spricht von einer Umwandlung der christlichen (westlichen) Orthodoxie in Kapitalismus. Wenn wir uns auf dies beschränken, scheint das Christentum nicht mehr zu sein als dieser Ursprung des Kapitalismus und sonst nichts. Dennoch scheint er mehr zu sein. Wenn wir die Umwandlung des Christentums in christliche Orthodoxie analysieren, weitet sich der Begriff des Christentums aus. Fragen wir uns, was dieses Christentum ist, das in Orthodoxie transformiert wurde, können wir sehen, dass nicht nur der Kapitalismus eine Umwandlung der christlichen Orthodoxie ist, sondern dass auch die Kritik des Kapitalismus als eine Umwandlung des Christentums verstanden werden kann, wie es sich vor seiner Umwandlung in Orthodoxie, die vor allem im III und IV Jahrhundert geschah und das überlebte, wenn es auch innerhalb des orthodoxen Christentums ausgegrenzt oder als Häresie behandelt wurde. Ist dies so, so ist nicht nur der Kapitalismus als Umformung des Christentums entstanden, sondern die Moderne selbst, wie sie vom XVI Jahrhundert an antritt, entsteht als eine Umformung des Christentums; sowohl der Kapitalismus wie auch die Kritik am Kapitalismus und die Suche nach neuen Formen der Gesellschaft, die vor allem in den sozialistischen Bewegungen stattfindet. Die Spaltung selbst in der modernen Gesellschaft ist dann eine Umformung eines Christentums, das selbst in ganz ähnlicher Form gespalten ist. 1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band VI, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 100-103 siehe hierzu: Baeckder, Dirk (Hrsg.) Kapitalismus als Religion. Kadmis. Berlin, 2004

Das Spiel der Verrücktheiten: Ephigenie, Oaulus und das ... · Man kann diesbezüglich von einem Spiel der Verrücktheiten sprechen. Im Folgenden werde ich versuchen, es zu entwickeln

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Page 1: Das Spiel der Verrücktheiten: Ephigenie, Oaulus und das ... · Man kann diesbezüglich von einem Spiel der Verrücktheiten sprechen. Im Folgenden werde ich versuchen, es zu entwickeln

Franz Hinkelammert Das Spiel der Verrücktheiten: Ephigenie, Paulus und das kritische Denken. Walter Benjamin hinterließ ein Fragment mit dem Titel: Kapitalismus als Religion.1 Dieses Fragment legt eine äußerst interessante These zum Entstehen des Kapitalismus vor, die in vielem die entsprechende These von Max Weber zum Entstehen des Geistes des Kapitalismus verändert. In seiner These betrachtet Max Weber das Christentum – speziell in seiner Form des englischen Puritanismus und Calvinismus – als ein förderndes Element für das Entstehen des Kapitalismus, das dann durch einen Prozess der Säkularisierung überwunden wurde. Walter Benjamin hingegen stellt die These auf, dass die Rolle des Kapitalismus anders war und sogar von noch größerer Bedeutung gewesen ist. Er sagt, dass der Kapitalismus durch eine Umwandlung der christlichen Orthodoxie entsteht, deren Grundstruktur in säkularer Form wiederkehrt mit dem Ergebnis, dass der Kapitalismus mit dem Aspekt auftritt, eine Religion zu sein, die aus dem Christentum hervorgeht, obwohl sie sich in säkularer Form ausdrückt. Die These ist auf überzeugende Weise vorgestellt. Dennoch hat sie eine Beschränkung. Benjamin selbst spricht von einer Umwandlung der christlichen (westlichen) Orthodoxie in Kapitalismus. Wenn wir uns auf dies beschränken, scheint das Christentum nicht mehr zu sein als dieser Ursprung des Kapitalismus und sonst nichts. Dennoch scheint er mehr zu sein. Wenn wir die Umwandlung des Christentums in christliche Orthodoxie analysieren, weitet sich der Begriff des Christentums aus. Fragen wir uns, was dieses Christentum ist, das in Orthodoxie transformiert wurde, können wir sehen, dass nicht nur der Kapitalismus eine Umwandlung der christlichen Orthodoxie ist, sondern dass auch die Kritik des Kapitalismus als eine Umwandlung des Christentums verstanden werden kann, wie es sich vor seiner Umwandlung in Orthodoxie, die vor allem im III und IV Jahrhundert geschah und das überlebte, wenn es auch innerhalb des orthodoxen Christentums ausgegrenzt oder als Häresie behandelt wurde. Ist dies so, so ist nicht nur der Kapitalismus als Umformung des Christentums entstanden, sondern die Moderne selbst, wie sie vom XVI Jahrhundert an antritt, entsteht als eine Umformung des Christentums; sowohl der Kapitalismus wie auch die Kritik am Kapitalismus und die Suche nach neuen Formen der Gesellschaft, die vor allem in den sozialistischen Bewegungen stattfindet. Die Spaltung selbst in der modernen Gesellschaft ist dann eine Umformung eines Christentums, das selbst in ganz ähnlicher Form gespalten ist. 1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band VI, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 100-103 siehe hierzu: Baeckder, Dirk (Hrsg.) Kapitalismus als Religion. Kadmis. Berlin, 2004

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Man kann diesbezüglich von einem Spiel der Verrücktheiten sprechen. Im Folgenden werde ich versuchen, es zu entwickeln. Das Spiel der Verrücktheiten und seine Vorgeschichte. Wir leben eine Zeit der Verrücktheiten; aber für diese Verrücktheiten gilt, was Hamlet sagt: Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode. Wir müssen unsere Verrücktheiten im Licht einer Geschichte der Verrücktheiten und des Vorwurfs von Verrücktheiten sehen. Ich möchte daher unsere Verrücktheiten im Zusammenhang mit einigen Elementen dieser Geschichte sehen. Es gibt Spiele der Verrücktheiten. Aber was sie sind, kann nicht durch Definitionen gezeigt werden, sondern durch die Erinnerung an Geschichten in denen dies Spiel der Verrücktheiten und die gegenseitigen Beziehungen unter ihnen gezeigt werden. Ich möchte dabei von der griechischen Orestiade ausgehen. In dieser ergibt sich ein Spiel der Verrücktheiten zwischen Agamemnon, Clytemnestra und Iphigenie (sei es bei Äschylos oder bei Euripides), obwohl wir später sehen werden, dass es noch sehr einfache Form hat. Goethe geht dann in seiner Iphigenie darüber hinaus, ohne es wirklich zu vervollständigen. Diese Geschichte der Ephigenie zeigt eine Grenze des möglichen griechischen Bewusstseins. Äschylos, in seiner Trilogie über die Orestiade, erzählt das Opfer seiner Tochter Iphigenie durch ihren Vater Agamemnon. Das griechische Heer war ausgezogen zur Eroberung von Troja, aber auf dem Weg befand es sich gelähmt, weil es keinen Wind gab, um fortzufahren. Agamemnon fragte die Göttin Artemis nach dem Grunde und diese verkündete ihm, dass kein neuer Wind kommen würde, wenn er nicht seine Tochter Iphigenie ihr opferte. Agamemnon führte den Kalkül durch, wie es sein musste. Folglich opferte er seine Tochter. Das Opfer war nützlich, folglich notwendig. Er schickte die Henker, aber Iphigenie weigerte sich. Sie verfluchte ihren Vater, schrie die Henker an und nannte sie Mörder und widerstand mit aller Kraft bis sie überwältigt wurde und auf dem Opferaltar ermordet wurde. Der Text lässt klar werden das, was auch das Publikum verstand: Iphigenie war verrückt, Agamemnon der tragisch-vernünftige. Die ganze Kriegsmaschine war mobilisiert, vernünftigerweise gab es keinen Ausweg als den Tod der Iphigenie auf dem Opferaltar. Und die Reichtümer Trojas glänzten und ihr Glanz war von fern schon sichtbar. Vom Standpunkt des Nutzenkalküls her gesehen, musste Iphigenie sterben. Ihr Tod war nützlich und daher notwendig. Dies sagt die Weisheit der Welt. Es ist, wie es der General Massis im Algerienkrieg sagte: die Folter ist nützlich, folglich ist sie notwendig. Offensichtlich, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, war Iphigenie die Verrückte. Tatsächlich war sie die Vernünftige, nicht Agamemnon, Iphigenie selbst zeigt, dass er der Verrückte ist.

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Aber gerade eine solche Lösung hat keinen Platz im Denken dieser Zeit. Äschylos zeigt nur die Verrücktheit der Iphigenie, aber er vervollständigt kein Spiel der Verrücktheiten, das gezeigt hätte, dass Iphigenie, die Verrückte, in Wirklichkeit die Vernünftige war. Euripides weitet dieses Argument noch aus. Äschylos gilt als der eher Konservative, während Euripides als Autor der griechischen Aufklärung gilt. Die Geschichte die Euripides erzählt, ist bis zum Moment des Opfers die gleiche, die schon Äschylos berichtet hatte, aber jetzt hat sich Iphigenie völlig verändert. Sie ist jetzt eine Frau, die vernünftig geworden ist und ihren Opfertod bejaht. Jetzt aber widersteht ihre Mutter Clytemnestra und verhält sich so, wie bei Äschylos sich Iphigenie verhalten hatte. Jetzt sagt Iphigenie: Höret meine Worte an, Mutter; ohne Grund ja grollst du, wie ich sehe, deinem Mann. ... Aber du mußt auch verhüten, daß das Griechenheer ihn haßt... Sterben muss ich unabwendbar und vollenden will ich es auch mit Ruhm, unedle Regung tilgend aus der edlen Brust.... Mir hat Hellas’ ganzes großes Volk die Blicke zugewandt, und auf mir ruht seiner Schiffe Fahrt und Trojas Untergang; ... All dies Heil werd ich erringen, wenn ich sterbe, und mein Ruhm wird unsterblich weiterleben, daß ich Hellas' Volk befreit. Denn warum sollt’ auch das Leben mir vor allem teuer sein? Allen hast du mich geboren, allem Volk, nicht dir allein.... Sollte da mein einzig Leben alledem im Wege sein? ... Dieses einen Mannes Leben wiegt ja tausend Frauen auf. Und wofern als blutend Opfer Artemis mein Leben will, soll ich ihr entgegentreten, Göttern ich, die Sterbliche? Nein! Unmöglich! Hellas geb ich meinen Leib zum Opfer hin. Tötet mich, verwüstet Troja ... Den Hellenen sei der Fremdling untertan, doch, Mutter, nie fröne Hellas' Volk den Fremden; Knechte sind sie, Freie wir! 2 Natürlich sieht man leicht, dass dieser Text von einem Mann geschrieben und der Frau in den Mund gelegt wird. Ich glaube, eine Frau könnte ihn nicht einmal erfinden, so barbarisch ist er. So übernimmt dann die Hauptrolle der Verrückten, die bei Äschylos Iphigenie einnahm, jetzt Clytemnestra, ihre Mutter ein. Voller Zorn richtet sie sich an Agamemnon und schreit ihm zu, dass er ein Mörder ist. Alle aber verurteilen sie als Verrückte einschließlich ihrer Tochter Iphigenie selbst, die ja so aufgeklärt geworden ist. Jetzt ist die verrückte Clytemnestra die tatsächlich vernünftige. Clytemnestra bricht mit Agamemnon und nach seiner Rückkehr aus dem Krieg tötet sie ihn. Auch wenn man die These von Walter Benjamin über die heilige Gewalt nicht ohne weiteres akzeptiert, so ist klar, dass Benjamin diese Gewalt der Clytemnestra “heilige Gewalt” nennen müsste.3

2 Euripides, "Iphigenie in Aulis" Reclam, Stuttgart, 1984, S.52/53. 3 Walter Benjamin Gesammelte Schriften, vol. II.1, Editado por von R. Tiedemann e H. Schweppenhäuser, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1999

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Ganz offensichtlich ist jetzt Clytemnestra die einzige Vernünftige, obwohl die Zeit es noch nicht erlaubte, dies klar zu sehen. Sie gilt als die Verrückte.4 Die Form, die Euripides dem Opfer der Iphigenie gibt, hat Geschichte gemacht. In der Aufklärung des XVIII. Jahrhunderts werden viele Iphigenies geschrieben. Aber so gut wie alle stimmen mit der von Euripides vorgestellten Iphigenie in Bezug auf ihr Opfer überein. Die Aufklärungen verstehen sich untereinander. Das am meisten bekannte Drama stammt von Goethe, der wieder die Iphigenie interpretiert, wobei er allerdings weiter geht als Euripides. Im griechischen Mythos, wie ihn Euripides erzählt, rettet die Göttin das Leben der Iphigenie, ohne dass es die Griechen merkten, und bringt sie nach Tauris. Euripides geht von diesem Resultat in einem zweiten Drama aus, in dem Iphigenie jetzt als Priesterin auf der Halbinsel Tauris auftritt. Jetzt ist sie selbst Opferpriesterin geworden, die Rache nimmt für ihre eigene Opferung. Sie opfert jeden Ausländer und daher auch Griechen, der in Tauris auftaucht. Sie ist jetzt eine Furie, so wie sie es bei Äschylos vor ihrer Opferung gewesen war. Aber es handelt sich jetzt um einen Zorn aus Rache, nicht aus Widerstand und Protest. In seinem Drama Iphigenie auf Tauris korrigiert Goethe dies. Iphigenie ist auch Priesterin auf Tauris, aber sie ist jetzt ein Friedensengel. Clytemnestra bleibt die Verrückte und Unvernünftige und Iphigenie ist weiter die Iphigenie des Euripides, die ihr Opfer akzeptiert. Aber jetzt mündet alles ein in eine Friedenssuche, in der es keine Menschenopfer mehr gibt. Das Opfer der Iphigenie war das letzte, dessen Fruchtbarkeit darin besteht, alle Menschenopfer abzuschaffen. Diese Lösung ist aufgeklärter als die von Euripides. Es ist sehr offensichtlich, dass Goethe, obwohl in rein säkularer Form, die Iphigenie im Sinne der christlichen Orthodoxie christianisiert. Sie ist bei ihm ein alter Christus im Sinne dieser christlichen Orthodoxie, ohne dass Goethe auch nur die geringste Anspielung darauf macht. Er führt eine Interpretation weiter, die bereits vorher in der christlichen Tradition auftaucht, der gemäß die Iphigenie von Euripides mit ihrer Haltung ihrem Opfer gegenüber ein Vorläufer jener Haltung ist, mit der Jesus den Willen seines Vaters akzeptierte, am Kreuz geopfert zu werden. Dieser sein Tod war notwendig, um die Menschheit zu erlösen – und zu erobern. Diese in völlig säkularer Form christianisierte Iphigenie von Goethe interpretiert sehr gut die europäische Aufklärung, die sie ohne irgendwelche Zweifel zu haben akzeptierte, und nicht nur in der liberalen Tradition. 1936, während der stalinschen Säuberungen, wurde die Iphigenie von Goethe in einem Moskauer Theater aufgeführt. Die Botschaft ist: der Mord - als Menschenopfer gesehen -, mündet ein in den Frieden und in einen Garten Eden der Menschenrechte. Man könnte heute dasselbe Werk wieder in New York aufführen. Auch die USA braucht solch einen Trost.

4 Goethe ändert seine Position später. Im Faust sieht er dann den Mord von Unschuldigen im Namen solcher Nutzenkalküle einfach als solchen als Verbrechen an. (Philemon Und Baucis)

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Tatsächlich präsentiert die orthodoxe Theologie das Opfer Jesu in einer fast identischen Form im Vergleich zur Iphigenie des Euripides mit den entsprechenden Korrektionen durch Goethe. Aber die Identität ist nicht vollständig. In der christlichen Orthodoxie erscheint nicht nur der Christus nach seinem Kreuzesopfer als Friedensbringer, sondern parallel dazu ein Christus voller Furie über seine Kreuzigung. Es handelt sich um seine Furie gegen seine Kreuziger, die analog ist zur Iphigenie in Tauris des Euripides. Aber Goethe lässt diese Seite der Iphigenie völlig außer Acht. Ein berühmter Text von Bernard von Clairveau macht diesen Christus der Furie gegenwärtig:

Aber die Soldaten Cheisti kämpfen vertrauensvoll in den Schlachten des Herrn, ohne jede Furcht vor Sünde, weil sie selbst in Todesgefahr geraten oder einen Feind töten könnten. Sterben oder Töten um Christi willen ist für sie keine verbrecherische Tat und hält großen Ruhm bereit. Darüber hinaus erlangen sie zwei Dinge: Im Sterben dienen sie Christus, und beim Töten wird Christus selber ihr Lohn sein. Er nimmt den Tod des Feindes als Rache gerne an, noch lieber aber gibt er sich selbst als Trost dem Soldaten, der um seinetwillen stirbt. Das heißt, der Soldat Christi tötet ruhigen Gewissens und stirbt noch ruhigeren Gewissens.5 Hier ist jetzt der Christus, der seine Kreuziger mit Furie verfolgt. Überall sieht er Kreuziger, vor allem aber in den Juden. Seine Christen, die die Welt erobern, sehen immer die Eroberten als Kreuziger Christi an y sie vernichten, sie um die Kreuzigung zu rächen. Sie kreuzigen die Kreuziger. Dabei nehmen sie ihre Länder in Besitz, ihre Reichtümer und machen sie zu ihren Sklaven. In säkularer Form folgen ihnen die Liberalen und auch die Stalinisten. Wenn wir an den Autos die Aufkleber sehen mit ihrem: Christus kommt, handelt es sich nicht um das Versprechen einer glücklichen Zukunft. Es handelt sich um eine Drohung: wenn Du Dich nicht in die Reihen Christi einreihst, wirst Du vernichtet. Aber diejenigen, die diese Aufkleber zeigen, werden gerettet und werden voller Genugtuung diese gerechte Vernichtung betrachten. Dieser Christus ist wie eine Analogie zur Iphigenie des Euripides nach ihrer Opferung, wenn sie sich als Priesterin betätigt und jetzt ihrerseits Rache nimmt an den Griechen, die die Insel besuchen und sie ihrerseits auf dem Opferaltar darbringt. Die Iphigenie Goethes zeigt nicht diese furiose Seite der Iphigenie nach ihrer Opferung. Sie zeigt die Iphigenie auf Tauris als Priesterin des Friedens, und sie schafft dieses Eden der Menschenrechte, wie es zu seiner Zeit in der Aufklärung des XVIII Jahrhunderts vorgestellt wurden: Freiheit, Gleichheit und Bentham. Sie versteckt die Höllen, die in der ganzen Welt produziert werden im Namen dieser selben Menschenrechte. 5 Bernardo de Claraval: Liber ad milites templi de laude novae militiae. (Libro sobre las glorias de la nueva milicia. A los Caballeros Templarios.) Werke San Bernardo, BAC, Madrid l983, 2 tomos. I, p.502

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Die Reichtümer Trojas glänzen noch heute ganz so wie in der Zeit der griechischen Eroberung. Es ist heute der Glanz des Petroleum der ganzen Welt, aber besonders des Irak und des Irans. Genauso werden die Menschen geopfert und der Präsident Bush handelt genauso im Namen des Willens des Vaters im Himmel. Iphigenies gibt es überall. Und die Clytemnestras, die wiederum den Agamemnon von heute als Mörder anklagen, werden wieder so behandelt wie vorher: sie sind unvernünftig, sie sind verrückt, sie verstehen nicht. Sie sind die wahren Mörder. Als Fiktion könnten wir allerdings eine andere Haltung Agamemnons konstruieren. Wäre er so vernünftig gewesen wie es Clytemnestra war, dann hätte er die Windstille anders interpretiert, nämlich als den Willen der Göttin, den Eroberungsfeldzug abzubrechen und friedlich nach Hause zu gehen. Natürlich, in diesem Falle hätte das Heer ihn selbst für verrückt erklärt. Er hätte das sicher nicht überlebt, sondern er wäre jetzt selbst der Göttin geopfert worden. Aber sein Tod wäre ein Zeugnis gewesen, kein Opfer. In diesem Falle wäre er wirklich ein Vorgänger des Todes Jesu am Kreuz gewesen, der sich auch nicht geopfert hat, sondern ein Zeugnis gegeben hat. Agamemnon hätte dann das gezeigt, was Paulus die göttliche Verrücktheit nennt, die die Weisheit Gottes offenbart. Als Patriarch einer patriarchalischen Gesellschaft wäre er dann ebenfalls höchst verdächtig gewesen, den Verführungen seiner Frau Clytmnestra erlegen zu sein. Er wäre durch die Frau in eine Falle geraten, wie Adam im Paradies, der in die Falle seiner Frau Eva ging und vom Baum der Erkenntnis ass. Dies wäre auch die Falle Clytemnestras für Agamemnon gewesen. Er hätte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen und hätte folglich vom Verbrechen Abstand genommen, seine eigene Tochter zu ermorden und Troja zu erobern und zu zerstören. Aber er hätte damit auf seine Männlichkeit verzichtet in dem Sinne, wie das Patriarchat sie versteht. Aber diese Fiktion passt nicht in die griechische Gesellschaft und Kultur dieser Zeit. Sie wäre außerhalb ihres möglichen Bewusstseins. Aber dies würde das Spiel der Verrücktheiten vervollständigen. Paulus und das Spiel der Verrücktheit Nur in diesem Falle ist das Spiel der Verrücktheiten vollständig y ich möchte jetzt zeigen, wie es bei Paulus auftaucht. Der Grund liegt darin, dass in den erwähnten griechischen Texten einfach das herrscht, was Paulus die Weisheit der Welt und ihren strikten Nutzenkalkül nennt, dem gegenüber jede Alternative nur als Verrücktheit erscheint. So etwas wie die von Paulus so genannte Weisheit Gottes, der gegenüber diese Weisheit der Welt Verrücktheit ist, ist nicht sichtbar.

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Daher möchte ich das Spiel der Verrücktheiten gegenwärtig machen, wie Paulus es im ersten Teil seines ersten Briefes an die Korinther entwickelt.6 Paulus führt sich ein, indem er sagt: Der Messias hat mich ja nicht ausgesandt zu taufen, sondern die Frohe Botschaft zu verkünden, und zwar nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz des Messias nicht zunichte gemacht werde. 1 Kor 1,17 Was Paulus gegenwärtig macht, ist ein Befreiungsprojekt. Obwohl er aktiv ist für seine Kirche, versteht er sich nicht im Dienst dieser Kirche, sondern des messianischen Projekts der Frohen Botschaft. Er geht davon aus, dass auch die Kirche im Dienst dieses Projekts steht und keineswegs umgekehrt. Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Verrücktheit erwiesen? Denn da die Welt durch ihre eigene Weisheit Gott in seiner göttlichen Weisheit nicht erkannte, hat Gott es für gut befunden, durch die Verrücktheit der Predigt diejenigen zu retten, die da glauben. 1 Kor 1,20-21 Die Übersetzungen gebrauchen gewöhnlich ein anderes Wort als Verrücktheit, wie Dummheit, Torheit, Aberwitz. Aber Paulus spricht von Verrücktheit Die Weisheit der Welt ist nicht dumm, aber sie ist verrückt. Für Paulus sind die Weisen der Welt keineswegs dumm, Aber sie sind verrückt (ver-rückt). Sie sind tatsächlich Weise, sind auch genial. Die Verrücktheit, von der Paulus spricht, ist auch keine Beleidigung, sondern die Charakterisierung als ver-rückt. Aber ihre Weisheit kann verrückt sein und, unter dem Blickpunkt dessen, was Paulus Weisheit Gottes nennt, ist sie es. Und auch für den Menschen ist sie es, wenn er vom Blickpunkt der Weisheit Gottes aus sieht. Dieses Sehen aus diesem Blickpunkt nennt Paulus auch spirituelles Sehen. Daher schließt die Verrücktheit weder Weisheit noch Intelligenz aus, sondern besagt, dass sie ver-rückt, am falschen Orte sind. Daher ist für Paulus eben auch die Weisheit Gottes Verrücktheit, wenn sie von der Weisheit der Welt her gesehen wird. Hier befindet sich offensichtlich im Hintergrund eine persönliche Erfahrung des Paulus, als er Athen besuchte und auf dem Areopag auftrat. Er stieß in den Diskussionen mit den Philosophen zusammen – Epikuräern und Stoikern – und diese lachten über ihn und behandelten ihn als Charlatan. Sie hielten ihn – obwohl die Apostelgeschichte das Wort nicht gebraucht – für verrückt. (Ap 17,16-34) Der zentrale Punkt seiner Darlegungen war die Auferstehung Jesu von den Toten. Paulus dreht dies jetzt um und mündet so in das Spiel der Verrücktheiten ein: im Licht der Weisheit der Welt ist die Weisheit Gottes eine Verrücktheit, aber im Licht der Weisheit Gottes ist die Weisheit der Welt eine Verrücktheit. In diesem Spiel der Verrücktheit verallgemeinert er seine Erfahrung in Athen.

6 Ich führe einige Änderungen der Übersetzung durch. Vor allem übersetze ich immer Christus als massias und Evangelium als Frohe Botschaft.

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Aber er tut dies gegenüber einem anderen Konflikt, der in der christlichen Gemeinde von Korinth Aufgetreten war. Es handelt sich um einen Konflikt um die Institutionalisierung der Kirche und damit um den Akt der Taufe: Wo nämlich unter euch Eifersucht und Streit herrschen, seid ihr da nicht fleischlich und wandelt nach Menschenart? Wenn nämlich der eine sagt: Ich halte zu Paulus, ein anderer: Ich zu Apollos, seid ihr da nicht (allzu sehr) menschlich? 1 Kor 3,3-4 Hierauf hatte er sich bereits bezogen, als er darauf bestand, dass er nicht gekommen sei zu taufen, sondern das Projekt der Frohen Botschaft zu verkünden. Die Korinther verlieren das Projekt, indem sie um Personen und ihre Macht streiten. Hierauf wird er dann präzisieren, was denn eigentlich der Kern der Frohen Botschaft ist: Gott hat auserwählt das Verrückte, das Schwache, das plebejische und das verachtete, und besteht darauf, dass es um das geht, was nicht ist, um das was ist zunichte zu machen. Was er sieht und was ist, ist die Institutionalisierung der Gemeinde mit ihren Machtkämpfen, die das Projekt verraten. Es handelt sich dabei um das, was Paulus die Weisheit der Welt und der Autoritäten der Welt nennt, worauf er antwortet: Niemand täusche sich selbst! Wenn einer unter euch glaubt, weise zu sein in (gemäß) dieser Welt, so werde er erst verrückt, um weise zu sein. Ist doch die Weisheit der Welt Verrücktheit bei Gott. 1 Kor 3, 18-19 Und schließt daraus: Daher mache niemand viel Rühmens mit (vor) den Menschen: alles gehört ja euch: Paulus sowohl wie Apollos und Kephas, die Welt, das Leben und der Tod, die Gegenwart wie die Zukunft – alles gehört euch, ihr aber gehört dem Messias, der Messias aber Gott. 1 Kor 3,21-23 Dies ist der Gegenpol, von dem aus er dann entwickelt, was die Weisheit Gottes ist. Zuerst gibt er seinen Hinweis: Während nämlich die Juden Zeichen fordern und die Griechen Weisheit suchen, predigen wir den Messias, den Gekreuzigten, den Juden ein Skandal, den Heiden eine Verrücktheit: den Berufenen aber, Juden wie Griechen, der Messias als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. 1 Kor 1,22-24 Folglich, ist die Weisheit Gottes den Juden ein Skandal und den Heiden (Griechen) eine Verrücktheit. Aber in Wirklichkeit ist sie der Messias, der Gottes Kraft und Gottes Weisheit ist. Ihr Ursprung ist: Denn die göttliche Verrücktheit ist weiser als die Menschen, und die göttliche Schwäche ist stärker als die Menschen. 1 Kor 1,25

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Die göttliche Verrücktheit ist Verrücktheit der Menschen, wenn sie die Weisheit Gottes erkennen und die göttliche Schwäche ist die der Menschen, die Kraft aus ihr schöpfen: Sehet, Brüder, die ihr berufen seid! Es gibt unter euch nicht viel Weise dem Fleische nach und nicht viele Mächtige noch viele Edle. 1 Kor 1,26 Weise dem Fleische nach sind die Weisen der Weisheit der Welt. Es sind auch Platon und Aristoteles, was man ausdehnen kann bis zu Heidegger. Aber es ist auch Agamemnon, der so gut den Nutzen zu kalkulieren weiß. Von hier aus fasst Paulus jetzt zusammen, was für ihn die Weisheit Gottes des Projektes der Frohen Botschaft ist: Nein, was die Welt für verrückt hält, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu verwirren; was die Welt für schwach hält, hat Gott auserwählt, um das Starke zu verwirren, und das plebejische und das Verachtete hat Gott erwählt, was nicht ist, um das, was ist zunichte zu machen 1 Kor 27-28 Dies ist: in der Schwäche liegt die Kraft und das Plebejische und Verachtete ist von Gott auserwählt. Daraus schließt Paulus auf die Dialektik von dem was ist und dem was nicht ist. Das Sein – das was ist – wird ausgehöhlt, denn das was nicht ist, ist das worum es sich handelt. Es ist wie im Märchen: der Kaiser ist ohne Kleider. Das was nicht ist, ist nicht das Nichts, sondern das, was die Welt verändert. Es ist das, was die Orientierung erlaubt und als solches die Wahrheit, die enthüllt wird. Für Paulus ist es das Reich Gottes. (1 Kor 4,20) Es handelt sich also um drei Bestimmungen, die sind: 1. in der Schwäche liegt die Kraft 2. die Auserwählten Gottes sind die Plebejer und die Verachteten 3. das, was nicht ist, enthüllt, das was ist. Es handelt sich um den epistemologischen Ort, von dem aus die Wirklichkeit erkannt wird und in ihr gehandelt wird. Es ist nicht das Ergebnis einer Analyse, sondern die Bedingung der Möglichkeit realistischer Erkenntnis. Diesen Ort nennt Paulus die Weisheit Gottes. In der Sprache des Dadaisten Picabia ist es das Unverzichtbare, das nutzlos ist. Dies ist die Spiritualität: Von ihm (Gott) aus seid ihr im Messias Jesus, den uns von Gott zur Weisheit gemacht hat, zur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung 1 Kor 1,30 Vorher hatte Paulus die Weisheit Gottes spezifiziert. Jetzt fügt er hinzu: aus ihr leitet sich die Gerechtigkeit, die Heiligkeit und die Erlösung ab. Aber die Weißheit Gottes ist der Kern. Daher kann er weiter sagen:

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Ich hatte mir nämlich vorgenommen, unter euch nichts anderes zu kennen als Jesus, den Messias, und zwar den Gekreuzigten. 1 Ko 2,2 Es ist dieser Messias, der ein Projekt für die Welt verkörpert: Weisheit aber verkünden wir unter den Vollkommenen, jedoch nicht die Weisheit dieser Welt noch jene der Herrscher dieser Welt, die abgetan werden. Nein, wir verkünden Gottes geheimnisvolle, verborgen gehaltene Weisheit, die Gott vor aller Zeit zu unserer Verherrlichung vorausbestimmt hat –keiner von den Herrschern dieser Welt hat sie erkannt, denn hätten sie sie erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt – 1 Kor 2,6-9 Dieses Zitat ist sehr wichtig, um das zu verstehen, was Paulus die Weisheit Gottes nennt. Er verbindet sie jetzt mit der Interpretation der Kreuzigung Jesu und der Verantwortung dafür. Was Paulus sagt, ist, dass Jesus von den Autoritäten der Welt gekreuzigt wurde. Was dabei mitbedeutet ist, dass Jesus gekreuzigt wurde in Erfüllung des Gesetzes. Diese Autoritäten tun dies, indem sie die Weisheit Gottes nicht anerkennen. Diese Nichtanerkennung bezieht sich nicht nur auf ein Wissen. Es bezieht sich auf existenziale Anerkennung. Paulus hatte schon gesagt, was diese Weisheit Gottes ist: dass in den Schwachen die Kraft ist, dass diese Schwachen die wichtigen sind, dass diese Weisheit Gottes die Plebejer und die Verachteten auserwählt und dass sie urteilt von dem aus, was nicht ist. Dies ist die Weisheit Gottes, die ist: geheimnisvoll und verborgen gehalten, aber bestimmt zu “unserer Verherrlichung”. Da sie im Messias Jesus verkörpert ist, töten die Autoritäten ihn, da sie diese Weisheit nicht anerkennen. Auf den Tod widerstehen sie der Weisheit Gottes, der göttlichen Verrücktheit. Hierin – der Weisheit Gottes, die zu unserer Verherrlichung bestimmt ist – ist eine Behauptung begründet, die Geschichte hat. Irineos von Lyon drückte sie im II. Jahrhundert aus: Gloria Dei vivens homo. Der Erzbischof Romero nahm sie in unserer Zeit wieder auf und spezifizierte sie: Gloria Dei vivens pauper. Der Herr der Herrlichkeit ist zum Herrn unserer Herrlichkeit geworden. Und diese Herrlichkeit – unsere – ist: vivens pauper. Es handelt sich um eine “anthropologische Wende”. Als sich dann vom III. und IV. Jahrhundert die Orthodoxie durchsetzt - dies ist der Thermidor des Christentums –wird die paulinische Interpretation der Kreuzigung und ihrer Verantwortlichen marginiert. Als das Imperium sich christianisiert, wird das Christentum imperialisiert. Die Interpretation durch Paulus wird unannehmbar, wenn die Autoritäten der Welt, die den Kaiser selbst einschließen, die Verantwortlichen für die Kreuzigung sind. Man musste daher andere als Kreuziger suchen, Die paulinische Interpretation wird praktisch nicht mehr erwähnt und wird als unbedeutend beiseite gelassen. Paulus klagt als Kreuziger die Autoritäten der Welt an. Aber er leugnet nicht, dass sie der Weisheit der Welt gemäß handeln, was einschließt, dass sie im Namen und sogar in der Erfüllung des Gesetzes handeln. Sie sind blind, aber sie handeln nicht ohne Argumente. Es entsteht ein Konflikt, aber der Konflikt ist mit denen, von denen der Römerbrief sagt,

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dass sie “die Wahrheit in der Ungerechtigkeit gefangen halten” (Röm 1,18). In diesem Sinne sind sie Ideologen, die durch ihre Ideologie blind gemacht werden. Sie wissen nicht, was sie tun, erkennen die Weisheit Gottes nicht an und weisen sie zurück. Aber sie tun dies im Namen einer Weisheit der Welt. Nicht Bosheit erklärt die Kreuzigung, sondern Blindheit und sogar Verrücktheit der Weisheit der Welt. Die neuen Kreuziger aber sind die Juden. Es handelt sich um einen christlichen Antijudaismus der vom III und IV. Jahrhundert herkommt. Denn jetzt werden die Kreuziger ganz umgekehrt gesehen wie sie bei Paulus erscheinen. Die Juden werden jetzt als Kreuziger dargestellt ohne jede Gründe. Von der jetzt aufsteigen Orthodoxie her gesehen, der Orthodoxie des Thermidors, handeln sie einfach aus Bosheit. Sie haben nicht etwa falsche Gründe, sie haben überhaupt keine Gründe. Sie sind “perfide” Juden und von da an betet man in der Karwoche für und damit gegen diese “perfiden” Juden. Die Juden werden einfach als die Gegenwart der reinen Bosheit gesehen, sie sind besessen von der Macht und vom Stolz. Daher handeln sie auch nicht im Namen irgendeiner Weisheit der Welt. Daher kann die Macht sie marginieren, sogar töten, ohne selbst Gründe dafür zu geben. Im Okzident hat sich bis heute dieses Bild vom Gegner erhalten, den man einfach vernichten kann, sei er nun Jude, Kommunist, Trotzkist, Terrorist oder was es immer sonst. Dies wiederholt sich sogar gegen die Theologie der Befreiung, sobald sie als ihr Zentrum das betrachtet, was Paulus die Weisheit Gottes und die göttliche Verrücktheit nennt. Diese Umwandlung der Interpretation der Kreuzigung zwischen dem I. Und dem III. bis IV. Jahrhundert kann mit großer Klarheit das zeigen, was die Umwandlung des Christentums in Orthodoxie ist – sein Thermidor. Die Orthodoxie formt sich als ein Christentum, das sich auf das gründet, was Paulus die Weisheit der Welt nennt. Ich glaube, dass man überzeugend behaupten kann, dass von der Interpretation der Kreuzigung Jesu aus, die Paulus macht und die in den meisten Schriften der christlichen Botschaft gegenwärtig ist, sich niemals ein solch aggressiver Antijudaismus hätte entwickeln können, wie ihn dann die christliche Orthodoxie hervorbrachte. Paulus entschuldigt die Kreuzigung keineswegs, auch wenn er den Kreuzigern Gründe zubilligt. Er klagt an. Aber diese Anklage provoziert nicht Hassgefühle, sondern geht aus auf Erneuerung, auf einen Umwandlung der Art, wie die Wirklichkeit wahrgenommen wird. Dies nennt man in dieser Zeit metanoia. Sie ruft nicht zum Hass auf, sondern zur Umkehr. Paulus sagt nur, was Jesus schon gesagt hatte: Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun. Die Weisheit Gottes und die Spiritualität. Für Paulus handelt es sich um “Gottes geheimnisvolle, verborgen gehaltene Weisheit, die Gott vor aller Zeit zu unserer Verherrlichung vorausbestimmt hat”, das heißt, es handelt sich um Gott selbst der von Ewigkeit an diese Weisheit ist. Denn uns hat es Gott offenbart durch den Geist; denn der Geist erforscht alles, sogar die Tiefen Gottes. 1 Kor 2,10

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Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir erkennen, was uns von Gott in Gnaden verliehen ward. Davon reden wir auch, aber nicht in angelernten Worten menschlicher Weisheit, sondern in Worten, die wir vom Geiste lernten, indem wir Geistesgut in Geistesworten ausdrücken. Ein naturhafter Mensch aber nimmt nicht auf, was vom Geiste Gottes stammt, denn es ist ihm eine Verrücktheit, und er vermag es nicht zu begreifen, weil es geistig beurteilt werden will. Der Geisterfüllte aber beurteilt alles, wird jedoch von niemand beurteilt. 1 Kor 2,12-15 Er sieht von dem aus was nicht ist um zur Wahrheit zu kommen. Es handelt sich darum, dass, auf geistige (spirituale) Weise zu sprechen, um geistige (spirituale) Wirklichkeit auszudrücken, dasselbe ist wie von dem aus zu sprechen, was nicht ist über das was ist. Paulus hat bereits ausdrücklich gesagt (1 Kor 4,20) was nicht ist. Es ist für ihn das Reich Gottes und die Evangelien, die nach ihm geschrieben wurden, nennen es ebenso. Dies versteht er unter “Geistesgut in Geistesworten” ausdrücken. Alles soll gesehen werden unter dem Gesichtspunkt der Verträglichkeit mit dem Reich Gottes, was das gleiche ist, wie es zu beurteilen unter dem Gesichtspunkt der Weisheit Gottes, die Paulus schon definiert hat.7 Der Geist macht gegenwärtig die Abwesenheit des Reiches Gottes. Es handelt sich bei Pauls um ein Denken der Umwandlung von allem unter dem Gesichtspunkt der Weisheit Gottes. Faktisch ist dies bereits ein durchaus säkulares Denken von einer säkularen Welt aus, die selbst die Weisheit Gottes enthüllt. Daher ist es ein realistisches Denken. Es spricht über die wirkliche Welt, nicht über eine Geistigkeit (Spiritualität) von außerhalb der Welt. Paulus macht eine Entdeckung in Beziehung zur realen Welt. Niemand täusche sich selbst! Wenn einer unter euch glaubt, weise zu sein in (gemäß) dieser Welt, so werde er erst verrückt, um weise zu sein. Ist doch die Weisheit der Welt Verrücktheit bei Gott. 1 Kor 3, 18-19 Im gleichen Brief an die Korinther sagt Paulus etwas später: Wir sehen nämlich jetzt durch einen Spiegel rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht. 1 Cor 13,12. Im Spiegel sehen wir das, was ist, nicht das was nicht ist, nämlich dies von Angesicht zu Angesicht eines zum anderen (was Marx “unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst “ nennt8). Zu sehen von dem aus, was nicht ist, ist die Weisheit Gottes, die im Geist (Spiritualität) entdeckt wird. Dies ist der Blickpunkt der Wahrheit. Paulus sagt sogar: denn der Geist erforscht alles, sogar die Tiefen Gottes. 1 Kor 2,10 Sie enthüllen sich vom dem aus, was nicht ist. 7 Urs Eigenmann spricht von Reichgottesverträglichkeit. Eigenmann, Urs: Am Rand die Mitte suchen : unterwegs zu einer diakonischen Gemeindekirche der Basis. Freiburg i.Ue. : Edition Exodus, 1990Eigenmann, Urs: Nicht im Trüben fischen : Worte zum Sonntag. Luzern : Edition Exodus, 1992. Eigenmann, Urs: Marias verbrannter Prophet : theopoetische Texte. Luzern : Edition Exodus, 2006. 8 "Den letzteren (den Produzenten) erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen." S.87 (S.78)

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Vom Spiel der Verrücktheiten zum Welttheater. Nachdem er das Spiel der Verrücktheiten entwickelt hat, kehrt Paulus zum Konflikt in Korinth zurück, von dem er ausgegangen ist: Der Messias hat mich ja nicht ausgesandt zu taufen, sondern die Frohe Botschaft zu verkünden, und zwar nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz des Messias nicht zunichte gemacht werde. 1 Kor 1,17 Jetzt kann er, auf der Grundlage seiner Analyse des Spiels der Verrücktheiten, die beiden Pole entwickeln, die er hier präsentiert, die Taufe und das Projekt der Frohen Botschaft. Die Taufe weist in Richtung auf die Institutionalisierung der Kirche als Machtinstanz und das Projekt der Frohen Botschaft auf das Reich Gottes und die Weisheit Gottes. Paulus führt die Polarisierung auf die Spitze um den Konflikt aufzuzeigen: Aber ihr seid ja schon satt, ihr seid ja schon reich, ihr seid schon am Ziel – ohne mich. Wenn ihr schon da wäret, wäre auch ich mit dabei. 1 Kors 4,8 Danach wiederholt er dies mit anderen Worten: Wir sind um des Messias willen verrückt, aber ihr seid durch den Messias klug. Wir sind schwach, aber ihr seid mächtig. Wir sind verachtet, aber ihr seid geehrt…. 1 Kor 4,10 Wer sind sie? Sie sind: satt, reich, sie sind bereits am Ziel, sie sind im Reich Gottes als etwas was ist, sie sind weise, sind mächtig und sind geehrt. In der Sprache des Paulus heißt dies: sie sind nicht in der Weisheit Gottes, ihr Christentum ist von der Weisheit der Welt. Erinnern wir uns, was für Paulus die Weisheit Gottes ist: im Schwachen ist die Kraft, die Auserwählten Gottes sind die Plebejer und die Verachteten, das was ist , wird in seiner Leere erkannt von dem aus, was nicht ist. Er wirft ihnen vor, zum Gegenpol übergewechselt zu haben: sie sind mächtig und nicht schwach, sie sind geehrt und sind bereits im Reich Gottes. Das Reich ist nicht mehr das, was nicht ist. Paulus sieht die Möglichkeit eines Christentums, das zur Weisheit der Welt übergeht. Und entschieden sagt er: ohne mich. Ihnen stellt er dann sich selbst und die Apostel gegenüber: er und die Apostel sind verrückt im Messias, sind schwach, sind verachtet. Apostel bezieht sich hier auf alle, die nicht kommen um zu taufen, sondern das Projekt der Frohen Botschaft zu verkünden. Von hier aus geht er über zum Welttheater: Aber es sieht so aus, als hätte Gott uns Aposteln den allerletzten Platz angewiesen. Wir stehen da wie Verbrecher, die zum Tod in der Arena verurteilt sind. Ein Schauspiel sind wir für die ganze Welt, für Engel und Menschen. 1 Kor 4,9

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Wir sind stets als ein Fluch der Welt und Reinigungsopfer aller Leute9 1 Kor 4, 13 Er geht jetzt über von der Verrücktheit unter dem Blickpunkt der Weisheit der Welt zum Fluch unter der Weisheit der Welt, zur Verurteilung zum Tode in der Arena. Paulus weiß von der Gefahr in der er sich befindet. Paulus unterscheidet zwischen der Macht (der Welt) und Kraft Gottes, die aus der Schwäche erwächst, auch wenn er nicht immer die Worte präzisiert. Es handelt sich um die Kraft des Schwachen der Macht gegenüber. Der Gott des Paulus ist der Gott dieser Kraft, nicht der Macht der Welt. Es handelt sich um die Kraft der Schwachen, nicht um die Macht der Mächtigen. Es handelt sich ebenfalls um die Kraft der von Gott auserwählten, die die Plebejer und die Verachteten sind. Es ist die Kraft des Reiches Gottes gegenüber der Macht der Welt. Paul besteht auf dieser Kraft, wenn er dann seinen baldigen Besuch in Korinth ankündigt: Ich will aber bald zu euch kommen, so der Herr will, und erlernen, nicht die Worte der Aufgeblasenen, sondern die Kraft. Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft. 1 Kor 4,19-20 Macht mögen sie haben, aber keine Kraft. Er nimmt den Konflikt an, und tut es mit Zorn: Was wollt ihr? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder mit Liebe und Sanftmut? 1 Kor 4,21 Dies Welttheater des Paulus hat seine Fortsetzung in der christlichen Bibel selbst – im Neuen Testament. Es gibt eine große Ähnlichkeit mit dem Kapitel 8 des Johannesevangeliums. Dies Kapitel ist vielleicht der am meisten gefälschte Text der christlichen Bibel und bis heute wird er als ein antjudaischer oder antisemitischer Text verleumdet. Aber er setzt das Welttheater des Paulus in einer neuen Dimension fort. Gerade der Evangelist Johannes inspiriert sich offensichtlich in Paulus und es überrascht daher nicht, in ihm diese Fortsetzung und Radikalisierung zu finden.10 Heute gehen die Historiker davon aus, dass Paulus für seine Exekution den römischen Autoritäten durch eine christliche Gruppe in Rom übergeben wurde. Man nennt diese Gruppe die judaisierenden Christen. Der Name enthüllt schon die apologetische Absicht.

9 Die Lutherbibel spricht von Fegopfer. Der Zusammenhang ist folgender: in demjenigen, der der Fluch der Welt ist, sind wegen eines ungesühnten Verbrechens, das er getan hat, die sozialen Beziehungen und die Beziehungen zur Natur für alle Menschen verflucht. Ihn als Reinigungsopfer zu opfern, nimmt diesen Fluch hinweg. Ihn zu opfern, erneuert alles. Der Zusammenhang ist ähnlich wie in der Theorie des Sündenbocks von René Girard. Der Unterschied ist, dass der Sündenbock, über den Girard spricht, unschuldig ist. Hier aber ist der Geopferte durch sein ungesühntes Verbrechen schuldig am Fluch der über der Welt liegt. S. René Girard: Der Sündenbock. Benzinger. Zürich, 1998 10 s. Hinkelammert, Franz: Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung. Exodus. Luzern, 2001 Kapitel II S. 63-121 Als ich dieses Buch schrieb, war mir noch nicht klar, dass dies Welttheater schon bei Paulus beginnt

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Tatsächlich wurde er wohl von dieser Gruppe als Häretiker angesehen und er ist vielleicht der erste Häretiker, der dem Arm der weltlichen Autorität zur Exekution übergeben wurde. Wenn man das Welttheater des Paulus betrachtet, kann man verstehen, was der Grund gewesen sein könnte. Folgender Satz aus dem Johannesevangelium könnte bereits eine Anspielung auf den Tod des Paulus sein: Ja es kommt die Stunde, wo jeder, der euch tötet, Gott damit einen heiligen Dienst zu erweisen glaubt. Joh 16,2 Hier taucht bei Paulus die Möglichkeit einer Verdoppelung des Christentums selbst auf. Paulus sieht in Korinth eine Christentum entstehen, das sich mit dem identifiziert, was er die Weisheit der Welt nennt und besteht auf seinem Christentum ausgehend von der Weisheit Gottes, das ein Christentum von den Schwachen und Verachteten aus ist. Der Evangelist Johannes sieht die Möglichkeit eines Christentums, das seine eigenen Kinder verschlingt. Ein Christentum, das jenes Christentum verurteilt, das von der Weisheit Gottes ausgeht und das verfolgt wird. Beide sehen bereits irgendwie die Möglichkeit eines christlichen Thermidors, wie er dann im III und IV Jahrhundert tatsächlich auftritt. Im Inneren des Christentums entsteht ein Konflikt, der nicht auf einen Meinungsstreit reduzierbar ist. Er durchzieht die gesamte Gesellschaft und ist Teil der Legitimation, aber auch der Kritik aller Autoritäten. Mit der Moderne verschwinden nicht die Thermidore. Den Namen Thermidor erfindet Marx in seiner Analyse der französischen Revolution. Dieser Thermidor tritt auf zuerst mit der Übernahme der Macht durch das Direktorium und danach durch Napoleon. Später benutzt Trotzki diese Bezeichnung für Stalin und den Stalinismus als Thermidor der russischen Revolution. Als sich das Wort verallgemeinert, benutzt man es dann auch für die englische Revolution, deren Thermidor Cromwell und John Locke sind.11 Der christliche Thermidor ist der erste. Es ist schwer die folgenden zu verstehen ohne diesen christlichen Thermidor. Er zeichnet die folgende Geschichte und unterliegt ihr weiterhin. Es geht daher um eine Erinnerung, die wieder gewonnen werden müsste. Dies führt uns aufs Neue zum Fragment von Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion zurück. Darin sieht Benjamin den Kapitalismus als eine Transformierung des Christentums, indem er sich auf die christliche Orthodoxie bezieht. Es ist klar, dass der Kapitalismus keineswegs durch eine Transformierung desjenigen Christentums erfasst werden kann, dass wir bei Paulus analysiert haben. Aber das ermöglicht uns, die These von Benjamin zu spezifizieren. Das was Benjamin sehr überzeugend argumentiert, ist der Kapitalismus als Transformierung der christlichen Orthodoxie, wie sie im III und IV Jahrhundert entstanden ist. Es handelt sich um eine Transformierung dieses Christentums auf eine Welt hin, die sich jetzt sieht und erfährt als säkulare Welt. 11 Diese Verallgemeinerung macht z.B. Brinton. Brinton, Crane: The anatomy of revolution. Vintage Books, New York,1965

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Aber Benjamin sieht nicht die Verdoppelung des Christentums. Wenn wir sie bei ihm einführen, können wir ganz ebenso das Auftreten des kritischen Denkens und damit der Kritik des Kapitalismus als Transformierung des Christentums auffassen. Die These von Benjamin weitet sich damit aus. Die Moderne selbst geht aus einer Transformierung des Christentums aus und reproduziert, ausgehend von einer säkular gewordenen Welt die Verdoppelung, die im Christentum die bereits vorher geschehen war. Es ergibt sich dann, dass die christliche Botschaft einmündet in eine säkulare Botschaft, die einfach menschlich ist. Das Christentum selbst trägt in sich die Transformierung der Welt in eine säkulare Welt. Das Christentum – auch so können wir es sagen – ist die berühmte Leiter, die notwendig war, um den Wandel zur säkularen Welt zu vollziehen, die aber nach dieser Umwandlung zu einem Teil der Entwicklung dieser Moderne wird.. Seine Botschaft aber ist jetzt eine säkulare Botschaft. Sie ist es, auch wenn das Christentum weiterhin gegenwärtig ist. Es ist jetzt Teil des Prozesses, nicht mehr sein Zentrum Das Spiel der Verrücktheiten in unserer Zeit. Das Spiel der Verrücktheiten führt Paulus zu einer Argumentation mit Paradoxen. Auf andere Weise könnte er es nicht aufzeigen. Solche Paradoxe gibt es hinterher und hat es vorher gegeben. Ein alter chinesischer Philosoph präsentiert ein ähnliches Spiel von Paradoxen. Es handelt sich um Chuang-tsu12, der vor etwa 2200 Jahren lebte. Bei ihm führt das, was Paulus die Weisheit Gottes nennt, den Namen Tao. Es gibt eine große Ähnlichkeit mit der Weisheit Gottes bei Paulus, ohne dass es sich um eine Identität zu handeln braucht. Für Tschuang-Tsu gibt es ebenfalls den Ort, von dem aus zu urteilen ist, als das was nicht ist, aber von dem aus man beurteilen kann, was ist. Die Sprache der Dadaisten führte zu ganz ähnlichen Paradoxen, wie sie auch Paulus benutzt. Picabia, eines der Mitglieder der Gruppe der Dadaisten, sagte: das unverzichtbare ist nutzlos. Das ist was Paulus die göttliche Verrücktheit nennt. Da ist dann auch das Problem der Sprache, das wir bereits bei Paulus fanden. Eine Sprache die der Weisheit der Welt entspricht und die Sprache, die geistige Wirklichkeit und geistige Art sagt. Letztere ist die Sprache, die von dem aus spricht, was nicht ist und nicht, wie die andere Sprache, von dem aus spricht, was ist. Daher spricht er in Paradoxen oder in Gleichnissen. Es ist diese Sprache, die das geistige (spirituelle) ausgraben kann. Dies ist auch die Sprache der Dadaisten, über die ein anderer Dadaist, Hugo Ball, sagt: die Sprache ist das Gefängnis der Poesie. Es handelt sich um die Sprache, die zerstört wurde durch ihre Reduktion auf die Übermittlung informativer Botschaften und daher eine Sprache die reduziert worden ist auf den Nutzenkalkül. Es ist die perfekte Sprache, die als Sprache ohne Ambivalenzen verstanden wird und die nicht nur die Poesie zerstört, sondern jede Weisheit. Sie zerstört sogar die Weisheit der Welt und es bleibt nur ein Skelett der Sprache oder “Sprachspiele”. Das Paradox das sich bei Ball ergibt, ist, mit Hilfe der Sprache das zu sagen was die Sprache nicht sagen kann. Dies ist: auf geistige Weise etwas Geistiges sagen.

12 Chuang-Tzu. Monte Avila. Caracas, 1991

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Dies ist auch die Sprache des Zynismus des Diogenes, die auch Jesus spricht. Er tut es zum Beispiel bei seinem königlichen Einzug in Jerusalem. Er setzt sich dabei auf einen Esel, der der jüdischen Vorstellung nach ein unreines Tier ist. Das ist geistige (spirituelle) Sprache, die geistiges geistig ausdrückt, eben auch bei Paulus. Sie geht von dem aus, was nicht ist und zeigt, dass der Kaiser nackt ist. Es ist Verrücktheit die Verrücktheiten enthüllt. Wenn Marx über Hegel spricht, sagt er, dass er auf dem Kopf steht und auf die Füße gestellt werden muss.13 Er spricht nicht von Verrücktheit wie Paulus, aber es handelt sich um dasselbe – ver-rückt. Paulus könnte auch gesagt haben, die Weisheit der Welt stehe auf dem Kopf, und ist daher ver-rückt. Etwas Ähnliches geschieht, wenn Marx folgendes sagt: Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst des Kommunismus. Das Wort Gespenst tritt an die Stelle des Wortes Verrücktheit, das Paulus benutzt. Es bezieht sich auf das, was die Mächte der Welt im Kommunismus sehen: ein Gespenst. Sie sehen Verücktkeit und ein Gespenst. Daher spricht Marx vom Kommunismus als Gespenst. Er bezieht sich darauf, was andere sehen. Die göttliche Verrücktheit spricht auch aus Marx. Der junge Marx 1844 in der 'Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie': "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." MEW, I, S.385 Daher mündet auch Marx in die Forderung ein, dass die Analyse der Wirklichkeit sich gründen muss auf das, was nicht ist und nicht davon ausgehen kann was ist. Nur so kann sie die Wahrheit entdecken. Auch dies ist göttliche Verrücktheit, die ebenfalls verloren ging mit der Formung der marxistischen Orthodoxie und die es wiederzugewinnen gilt. Paulus könnte zu seiner Zeit gesagt haben: Eine Verrücktheit geht um im Imperium: die göttliche Verrücktheit. Tatsächlich handelte es sich um eine Verrücktheit den Worten des Paulus nach. Danach, mit der Imperialisierung des Christentums, verließ dieses diese Verrücktheiten. Die Orthodoxie, die dann kommt, nimmt von Verrücktheiten Abstand und wird vernünftig. Sie wurde vernünftig so wie die Iphigenie des Euripides vernünftig wurde. Vernünftig

13 Dasselbe sagt er in anderen Worten über die klassische politische Ökonomie: "Dennoch bleiben selbst die besten ihrer (der klassischen Ökonomie FJH) Wortführer, wie es vom bürgerlichen Standpunkt nicht anders möglich ist, mehr oder weniger in der von ihnen kritisch aufgelösten Welt des Scheins befangen, und fallen daher alle mehr oder weniger in Inkonsequenzen, Halbheiten und ungelöste Widersprüche." (885) Ende des Kapitels "Trinitarische Formel". MEW, Bd. 25. S.838

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geworden, macht selbst der Papst mit dem Präsidenten Bush harmonische Spaziergänge in den Gärten des Vatikans. Damit aber ist diese selbe Kirche unfähig, etwa die Verrücktheit des Erzbischofs Romero zu verstehen, der während der Messe ermordet wurde. Aber gerade sie ist zu vernünftig. Romero gab den Tag vor seiner Ermordung folgende Erklärung ab: Kein Soldat ist verpflichtet Befehlen zu gehorchen, die das göttliche Gesetz verletzen. Niemand hat ein unmoralisches Gesetz zu erfüllen. Es ist Zeit, dass Sie ihr Gewissen wiederentdecken und Ihrem Gewissen zu gehorchen und nicht der Ordnung der Sünde. Im Namen Gottes, und im Namen dieses leidenden Volkes dessen Klagen in zunehmenden Unruhe zum Himmel aufsteigen, bitte ich Sie dränge darauf und befehle Ihnen: hört auf mit der Unterdrückung!. Dies ist göttliche Verrücktheit, aus der die göttliche Weisheit spricht. Von der Weisheit der Welt her gesehen, handelt es sich um ein Verbrechen, das die Todesstrafe verdient. Die institutionelle Kirche weiß nicht, was sie mit Figuren wie Romero oder der Gruppe der durch die Regierung von El Salvador des Jahres 1989 ermordeten Jesuiten anfangen soll. Sie neigt vielmehr dazu, diese Morde als Konsequenz einer Einmischung in die Politik zu betrachten. In diesem Fall gelten sie für diese Kirche nicht als Märtyrer, da ihr Tod nicht die Folge einer “religiösen” Problems ist. Man sieht, sie kennen nicht die göttliche Verrücktheit des Paulus. Sie sind vernünftig geworden. Allerdings, diese Vernünftigkeit ist nach Paulus Verrücktheit, wenn man sie von der Weisheit Gottes her sieht. Das Verbrechen Romeros haben auch Dietrich Bonhoeffer und viele andere begangen, einschließlich vieler Kommunisten und Sozialisten, die Widerstand gegen den Nazismus ausübten. Aber dasselbe gilt für Rosa Luxemburg, Gandhi, Martin Luther King und viele andere, die ebenfalls ermordet wurden. Hierzu gehören auch Che Guevara und Camillo Torres. Sie opferten sich nicht: sie sind die Zeugen der göttlichen Verrücktheit, aus der die Weisheit Gottes spricht. Heute könnten wir sagen: eine Verrücktheit geht um in der Welt: die göttliche Verrücktheit des ich bin, wenn du bist. Es ist die Verrücktheit, die heute notwendig ist um weise zu werden. Dostojewski schrieb ein Buch das ein verschlüsselter Jesusroman ist mit dem Titel: Der Idiot. Jesus als Idiot, wenn er von der Autorität und vom Gesetz her gesehen wird. Und als er das Gleichnis vom Großinquisitor schreibt, zeigt er ein Christentum, das diese Idiotien überwunden hat und jetzt im Namen der Autoritäten spricht. Im Gleichnis rettet Jesus sein Leben. Er rettet es, indem er sich aus der Welt zurückzieht und sie dem Inquisitor überlässt. Für Dostojewski ist dies wie ein Alptraum.

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Auch Bartolomé de Las Casas ist ein Idiot in diesem gleichen Sinne und das Buch von Gustavo Gutierrez zeigt dies meisterhaft.14 Er hatte das Glück, nicht dem weltlichen Arm übergeben zu werden. Dies in einer Situation, in der das Christentum nach Amerika kam, um zu taufen und nicht um ein Projekt der frohen Botschaft zu verkünden. Die Neue Botschaft, die es brachte, war eine schlechte Botschaft. Aber es taufte. Die Rechte in Lateinamerika veröffentlichte ein Buch, das mit großem Aufwand vertrieben wurde. Es hatte den Titel: Manual des perfekten lateinamerikanischen Idioten. Die Idioten waren vor allem alle Intellektuellen, die kritisch sind. Das Vorwort schrieb der Schriftsteller Mario Vargas Llosa.15 In der Sowjetunion kamen dieser Art Idioten in die Klapsmühle. Es handelt sich immer um die gleichen Idioten. Und oft haben sie direkt zu tun mit dem Idioten von Dostojewski. Das Welttheater des Paulus und seine Umkehrung durch Nietzsche. Mit Nietzsche kommt das paulinische Spiel der Verrücktheiten ganz explizit zurück. Nietzsche sieht Paulus insbesondere seit seiner Genealogie der Moral als zentralen Gegner und Feind. Er dreht sich immer mehr um Paulus. Sein Buch Der Antichrist ist in Wirklichkeit ein Antipaulus. Er sieht in Paulus eine große Umkehrung aller menschlichen Werte und er fühlt sich berufen, diese Umkehrung der Werte durch Paulus seinerseits wieder umzukehren. Ihm gemäß ist Paulus das große Unglück der Geschichte und Nietzsche will eine Welt zurückgewinnen, die in die Falle des Paulus gegangen ist. In dieser Gegenposition gegen Paulus zentriert sich Nietzsche gerade in die ersten Kapitel des ersten Korintherbriefs von Paulus, die wir bisher kommentiert haben. Er nimmt das Spiel der Verrücktheiten auf, um es dann umzudrehen und es gegen Paulus zu wenden. Er tut dies sehr ausdrücklich, obwohl nur in Anspielungen und ohne den Text zu zitieren. Er sagt: "Alles, was auf Erden gegen 'die Vornehmen', 'die Gewaltigen', 'die Herren', 'die Machthaber' getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie getan haben; die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt geistigster Rache Genugtuung zu schaffen wusste.... Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut= vornehm = mächtig = Schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten

14 Gutiérrez, Gustavo: En Busca de los pobres de Jesucristo. El pensamiento de Bartolomé de Las Casas. Instituto Bzartolomé de Las Casas. CEP. Lima, 1992 15 Plinio Apuleyo Mendoza, Carlos Alberto Montaner y Alvaro Vargas Llosa: Manual del perfecto idiota latinoamericano Mit einem Prolog des Schriftstellers Mario Vargas Llosa Editorial Atlántida Barcelona, 1996

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Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich 'die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!.. Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht hat..."16 Die Polarisierung, die Nietzsche hier vorstellt, ist offensichtlich eine Reproduktion der Polarisierung, die Paulus in seinem Spiel der Verrücktheiten analysiert. Außerdem bezieht sich Nietzsche in diesem Text ausdrücklich auf Paulus, wenn er zum Schluss sagt: Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht hat.. Es ist ein Verweis auf Paulus. Nietzsche stellt eine aristokratische Wertgleichung (gut= vornehm = mächtig = Schön = glücklich = gottgeliebt) heraus. Das was Nietzsche hier positiv herausstellt, ist eben das, was Paulus an den Korinthern kritisiert und die Weisheit der Welt nennt. Sie sind: satt, reich, sie leben im Reich als etwas das ist. Sie sind weise, mächtig und voller Ehren. Nietzsche ändert nur die Worte. Nietzsche stellt dem den anderen Pol gegenüber derer, die mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich 'die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!.. Es handelt sich um den Pol dessen, was Paulus die Weisheit Gottes nennt: diejenigen, die die Weisheit Gottes verkünden, sind verrückt im Messias, sind schwach, sind verachtet. Sie sind es, weil sie die Weisheit Gottes verkünden: in der Schwäche ist die Kraft, die Plebejer und Verachteten sind von Gott auserwählt und das was ist wird erkannt von dem aus, was nicht ist. Aber Nietzsche bezieht sich herauf in einer völlig verächtlichen Sprache, die rein denunziatorisch ist. Es sind seine Schlecht-weg-gekommenen, sein Tschandala. Er gesteht nicht Minimum von Würde zu. Sie sind einfach Repräsentanten geistigster Rache und des jüdischen Hasses der Ohnmacht , sie sind einfach Neid und Ressentiment und sonst gar nichts. Sie sind etwas zu annullierendes, denn sie sind null. Wenn Paulus ausdrückt, wie er vom Blickpunkt der Weisheit der Welt gesehen wird, so sagt dies jetzt Nietzsche über ihn:

16 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung. Nr.7, II, S.779/780

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Aber es sieht so aus, als hätte Gott uns Aposteln den allerletzten Platz angewiesen. Wir stehen da wie Verbrecher, die zum Tod in der Arena verurteilt sind. Ein Schauspiel sind wir für die ganze Welt, für Engel und Menschen. 1 Kor 4,9 Wir sind stets als ein Fluch der Welt und Reinigungsopfer aller Leute. 1 Kor 4, 13 Nietzsche benutzt eine Menschen verachtende Sprache, die Paulus nicht kennt. Aber eben deswegen handelt es sich um das paulinische Spiel der Verrücktheiten, das jetzt von Nietzsche genau umgekehrt gespielt wir. Nietzsche annulliert diejenigen, die er kritisiert. Selbst die Werte, die sie vertreten, sind nichts mehr als die andere Seite ihres Hasses:

"Das aber ist das Ereignis: aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses - des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werte umschaffenden Hasses, dessengleichen nie auf Erden dagewesen ist - wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue Liebe, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe -... Daß man aber ja nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit! Die Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone, als die triumphierende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit und breiter entfaltende Krone, welche mit demselben Drange gleichsam im Reiche des Lichts und der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf Beute, auf Verführung aus war, mit dem die Wurzel jenes Hasses sich immer gründlicher und begehrlicher in alles, was Tiefe hatte und böse war, hinuntersenkten."17 Alles ist einfach nur Boshaftigkeit, jüdischer Hass, lügnerische Form des Willens zur Macht und was gesucht wird, auch unter dem Deckmantel der Liebe geht auf Sieg, auf Beute, auf Verführung aus. Auf die gleiche Art behandelt Nietzsche das dritte Element der paulinischen Weisheit Gottes: das was nicht ist, enthüllt das was ist: "Schaffen wir die wahre Welt ab: und um dies tun zu können, haben wir die bisherigen obersten Werte abzuschaffen, die Moral... 18

Problem: warum die Vorstellung von der andern el immer zum Nachteil, resp. zur Kritik “dieser” Welt ausgefallen ist – worauf das weist? III, 719 Das ist eine jammervolle Geschichte: der Mensch sucht nach einem Prinzip, von wo aus er den Menschen verachten kann, -er erfindet eine Welt, um diese Welt verleumden und beschmutzen zu können: tatsächlich greift er jedes Mal nach dem Nichts und konstruiert das Nichts zum “Gott”, zur “Wahrheit” und jedenfalls zum Richter und Verleumder dieses Seins… 739/740 Dritter Satz: Von einer “andren Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung

17 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung. Nr.8. II,780 18 Nietzsche, Aus dem Nachlass, III,737

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des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines “anderen” eines “besseren” Lebens. III, 960/961 Alles wird benutzt um den Andern zu annullieren. Die Thermidore, die wir kommentiert haben, tun dies nicht. Was sie tun, in den Termini von Paulus ausgedrückt, ist, die Wahrheit in der Gefangenschaft der Ungerechtkeit zu halten. (Rom 1,18) In diesem Sinne gehen sie ideologisch vor. Aber immer noch behalten sie eine gewisse Verbindung mit der Weisheit Gottes, da sie sie gefangen halten. Nietzsche annulliert diese Wahrheit selbst. Es ist nicht ideologisch, sondern zynisch. Wir müssen daher sehen, was das Zentrum des Christentums ist, das Nietzsche angreift. Er sagt es, wenn auch auf rätselhafte Weise: "Paulus, der Fleisch-, der Genie-Gewordene Tschandala-Haß gegen Rom, gegen die 'Welt', der Jude, der ewige Jude par excellence .... Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen Christen-Bewegung abseits des Judentums einen 'Weltbrand' entzünden könne, wie man mit dem Symbol 'Gott am Kreuze' alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. 'Das Heil kommt von den Juden.' - " (Der Antichrist, S.,II,1230) Auf diese Weise tritt Nietzsche in das Welttheater ein. Es ist ein Weltbrand entzündet, alles Verachtete in der Welt rebelliert. Es rebellierte im römischen Imperium und es rebelliert zur Zeit Nietzsches. Seine Bezugnahme af das Symbol Gott am Kreuz ist effektiv paulinisch. Nach Paulus kreuzigten die Autoritäten Jesus im Namen ihrer Weisheit der Welt. Für Paulus ist das Kreuz – das er immer mit der Auferstehung verbindet - das Symbol des Schwachen, in denen die Kraft ist; eine Kraft an der die Macht der Mächtigen zerschellt. Nietzsche sucht nicht zu bestimmen, wer die Verantwortung trägt für die Kreuzigung. Er will mit der Bedeutung der Kreuzigung selbst Schluss machen. Er will Schluss machen damit, dass die Kreuzigung ein Verbrechen war, dessen Verantwortliche zu suchen sind. Er will Schluss machen mit dem Weltbrand, den das Symbol Gott am Kreuz entzündet. Deshalb muss dieses Symbol selbst abgeschafft werden, damit die Macht das Mächtige und die Schwachheit das Schwäche ist und nichts mehr. Der Antijudaismus Nietzsches hat neue Gründe. Er beschuldigt die Juden, in ihrer eigenen Geschichte jene Werte entwickelt zu haben, die Paulus vorstellt, wenn er von der Weisheit Gottes spricht. Der Weltbrand, den das entzündet, kommt für Nietzsche nicht nur von Paulus, sondern stammt aus der Wurzel des Judentums. Indem Nietzsche sich gegen Paulus stellt, glaubt er, sich gegen die wahre Wurzel des Weltbrands zu stellen. Indem er Paulus ausschaltet, glaubt er, die “anarchistischen Umtriebe” aus aller Geschichte auszuschalten. Daher mündet sein Welttheater in den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen ein. Diese Analyse Nietzsches zwingt dazu, an einige der vorherigen Reflektionen anzuknüpfen. Nietzsche scheint wirklich überzeugt, dass er hiermit dem Weltbrand und den anarchistischen Umtrieben der Vergangenheit und von heute einen tödlichen Schlag

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versetzt. Wahrscheinlich ist Paulus tatsächlich der erste, der die Grundkategorien des kritischen Denkens zusammenfasst. Aber heute ergibt sich das kritische Denken in anderen Zusammenhängen. Vielleicht hilft zum Verständnis eine Reflektion, die Max Weber über die Beziehung zwischen dem englischen puritanischen Calvinismus und dem Kapitalismus macht, der zusammen mit ihm entsteht. Max Weber behauptet, dass dieser Calvinismus eine entscheidende Bedeutung hat für das Entstehen des Kapitalismus und für das, was Weber den Geist des Kapitalismus nennt. Aber ebenso behauptet er, dass mit der Entstehung des Kapitalismus als System dieser sich unabhängig von seiner Wurzel reproduziert und auch die Werte reproduziert, die ihn konstituiert haben. Der Calvinismus verliert damit seine Ursprungsbedeutung. Wenn das kritische Denken sich vor allem von Marx aus wieder konstituiert, tut es das nicht von Paulus aus. Die objektive Kritik am kapitalistischen System impliziert als Antwort darauf die Entwicklung eines Denkens, das ausgehend davon die Werte in dieser Wirklichkeit entdeckt, die vorher bereits Paulus entdeckt hatte. Die Wirklichkeit selbst setzt sich durch und fördert diese Entdeckung einfach deshalb, weil sie vom menschlichen Subjekt aus, das sich befreien will, beurteilt wird. Dieses Subjekt ist historisch entwickelt worden vom Christentum aus, aber es ist durch die historische Entwicklung Teil geworden der Wirklichkeit selbst und fordert das Seine von ihr aus. Das Christentum in seiner Verdoppelung erkennt sich in diesem System der Moderne. Soweit es von der christlichen Orthodoxie herkommt und besonders vom Calvinismus her, der das kapitalistische System begründete, erkennt er sich in diesem System, ohne dass das System existentiell von dieser Anerkennung abhinge. Aber wenn es vom Befreiungschristentum her kommt, wie es Paulus vorstellt, erkennt es sich in der Kritik an diesem selben Kapitalismus, ohne dass das kritische Denken von dieser Anerkennung abhinge. Aber das Gleiche gilt heute von allen Religionen in dem Grade, in dem sie Elemente eines befreienden Denkens haben, die sich aktivieren, wenn die Notwendigkeit auftaucht und bewusst wird für die Entwicklung eines kritischen Denkens dem System gegenüber. Die geschieht heute mit der Befreiungstheologie, die in allen Religionen der Welt entsteht. Dies nimmt natürlich dem kritischen Denken nicht seine Autonomie in unserer säkular gewordenen Welt. Dieses, in seiner heutigen Form, tritt auf vor allem seit dem XIX. Jahrhundert in der Kritik am Kapitalismus und der Entwicklung einer Kritik der politischen Ökonomie. 19 Diese Kritik entwickelt das kritische Denken in völliger

19 Für Marx öffnet die Kritik der bürgerlichen Ökonomie den epistemologischen Ort für ein Projekt der Umwälzung des Kapitalismus. Wir haben versucht, diese Art Kritik der politischen Ökonomie weiterzuführen von der Kritik der bürergerlichen Ökonomie heute: neoklassische und neoliberale Wirtschaftstheorie. Siehe: Hinkelammert, Franz/Mora, Henry: Economía para la vida. Preludio a una reconstrucción de la economía. Tecnológico de Costa Rica. Cartago, Costa Rica, 2008 Wir haben weiter oben das zitiert, was Marx den kategorischen Imperativ nennt, d.h. , alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Hierum geht es. Aber diese Forderungen bekommen nur konkreten Gehalt, wenn sie innerhalb des Rahmens einer Kritik der politischen Ökonomie verstanden werden. Andernfalls können sie alles Mögliche bedeuten.

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Autonomie, obwohl es sich durchaus in seinen Vorgängern, wie etwa in Paulus, erkennen kann.20 In diesem Sinne könnte man sagen, dass dieses kritische Denken an die Stelle dessen tritt, was im christlichen Mittelalter das aristotelisch-thomistische Naturrecht war. Dieses spielte eine bedeutende Rolle in dieser christlichen Gesellschaft, aber es wurde nicht als etwas angesehen, dass direkt vom christlichen Glauben abhing, sondern das eine davon autonome Gültigkeit hatte. Heute nimmt das kritische Denken diesen epistemologischen Ort ein. Es ist Resultat der objektiven und säkularen Welt, in der wir leben und hat autonome Gültigkeit einfach deswegen, weil es dem Realismus des Lebens entspricht.21 Das Spiel der Verrücktheiten und der Manichäismus. Diese Polarisierung, die mit dem Spiel der Verrücktheiten erscheint, ist als solche keineswegs ein Manichäismus, sondern eher die Erklärung dafür, wie Manichäismen entstehen. Diese Polarität ergibt sich im Inneren der Wirklichkeit und es geht darum, sich ihr gegenüber zu verhalten, ohne selbst dem Manichäismus zu verfallen. Das Spiel der Verrücktheiten ist nicht einfach irgendein Einfall, sondern ergibt sich in der Wirklichkeit. Es erklärt etwas, das tatsächlich existiert: die Tatsache, dass sich dieses Spiel der Verrücktheiten ergibt, sobald das, was Paulus die Weisheit Gottes nennt, die Wirklichkeit selbst durchdringt. Es ist unmöglich, dass diese Polarisierung nicht entsteht. In diesem Sinne gibt die Analyse des Paulus die Erklärung von etwas, das tatsächlich existiert. In diesem Sinne handelt es sich um eine Theorie der Wirklichkeit. Aber damit werden auch Probleme aufgezeigt. Paulus gibt darauf kaum eine Antwort. Er stellt nicht die Frage, die gestellt werden muss.

20 Frigga Haug in ihrem Buch über Rosa Luxemburg zeigt gerade einen solchen Fall aus dem Leben Rosa Luxemburgs. Sie weiß Ende des Hagres 1918, dass ihr Leben bedroht ist. Sie reflektiert diese ihre Situation in der Form einer Selbstklärung. Sie argumentiert – und gerade sich selbst gegenüber – ihre Bereitschaft, ihren Weg weiterzugehen, auch wenn dies den Tod bedeutet. Die Argumentationsform findet sie im christlichen Mythos der Kreuzigung. Frigga Haug schreibt: “Jetzt schreibt Rosa Luxemburg die sozialistische Geschichte in die christliche Tragödie ein. Sie wählt die Metapher des ‘Golgathawegs eigener bitterer Erfahrungen’ und wiederholt viermal die Anrufung ‘Kreuziget ihn’ als Forderung der Kapitalisten… Bei Luxemburg lesen wir verzweifelte Hoffnung, dass der sozialistische Geist überlebt, auch wenn seine Akteure als revolutionäre Realpolitiker Umgebracht werden. Dafür findet sie Vorläufer in der christlich-ethischen Tradition und übersetzt die ~Passion in die Geschichte der Klassen kämpfe.” Haug, Frigga:Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik. Argument. Hamburg, 2007 S.93-94 Hervorzuheben ist, dass Rosa Luxemburg die Kreuzigung in selben Sinne interpretiert, wie Paulus, in dem die Kreuziger die Autoritäten der Welt sind und nicht die Umkehrung, die die Orthodoxie macht. Das bedeutet nicht, dass sie dies etwa bei Paulus gelesen hat, sondern dass sie von einer Situation her interpretiert, die der von Paulus vergleichbar ist. Es ist der gleiche Grund, der es erklärt, dass auch die Befreiungstheologie die Kreuzigung ganz im gleichen Sinne interpretiert.~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 21 s hierzu auch Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt, 1963. Bloch sieht dies ganz klar.

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Es folgt aber die Frage nach den Vermittlungen zwischen den Polen. Wie ist es möglich, extreme Polarisierungen des manichäischen Typs zu vermeiden? Wie ist es möglich, diese Polarisierung in eine konfliktive Beziehung zu transformieren, die ständig zu lösen ist durch eine relative Anerkennung beider Positionen? Simple Aufrufe zur Toleranz sind nicht mehr als Moralin. Es muss gezeigt werden, dass beide Positionen einen rationalen Kern haben, obwohl sie sich bei blinder Durchsetzung in verrückte Irrationalitäten verwandeln. Die eine verwandelt sich – mythisch gesprochen – in Satan, die andere in den Dämonen Luzifer. Nur die gegenseitige Anerkennung ihrer rationalen Wurzeln erlaubt es, beide Positionen zu moderieren, um die Polarisierung zu entschärfen. Keiner von beiden Polen kann irrational in seiner Wurzel sein und ist es nicht. Obwohl es um Verrücktheiten geht, haben sie einen rationalen Kern. Mythisch gesprochen, handelt es sich um die Polarisierung zwischen dem Satanischen und dem Luziferischen (und nicht dem Apolynischen und dem Dionysischen). Indem er nur wenig diese Vermittlungen entwickelt, mündet Paulus ständig in Ambivalenzen ein. Es sind auch die Ambivalenzen des danach kommenden Christentums und ganz ebenso der säkularen Gesellschaften, die ihm in der Moderne folgen. Jeden der beiden Pole kann man legitimieren. Werden sie allerdings in ihrer Absolutheit einer dem andern gegenüber legitimiert, verwandeln sie sich – wieder mythisch gesprochen – in die Polo des Satanischen und des Luziferischen. Paulus denkt von persönlichen Erfahrungen aus, die immer Erfahrungen in kleine Skalen sind - Mikrokosmos. Die Erfahrung von Athen und die des Konflikts in Korinth sind besonders bemerkenswert. Paulus enthüllt vom Mikrokosmos her das was der Makrokosmos ist. Daher spricht er vom Mikrokosmos her über den Makrokosmos. Dies ist natürlich eine allgemeine Situation, alle machen wir das und können auch nichts anderes machen. Nur vom Mikrokosmos aus, in dem wir leben, können wir über den Makrokosmos urteilen. Aber in Paulus ist dies sehr merkbar und auch sehr bewusst. Er entdeckt bewusst den Makrokosmos vom Mikrokosmos aus, denn der Makrokosmos ist letztlich nur im Mikrokosmos für uns gegenwärtig. Dies ist ja auch das, was mit dem Leben und dem Tod Jesu in Palästina geschieht. Jerusalem ist in dieser Zeit absolute Peripherie, ohne jede Bedeutung für das Imperium, aber dieser Mikrokosmos enthüllt den Makrokosmos und verändert ihn vollkommen. Auch hier ist die Kraft in der Schwäche. Und das was aus dieser Schwäche kommt, kann nicht von der Macht in Rom bestimmt werden, weder damals noch heute. Paulus weiß den Makrokosmos im Mikrokosmos zu sehen, weil er weiß, dass im Kleinen das Grosse ist und in der Schwäche die Kraft. Das aber nennt er die Weisheit Gottes. Das was New York ist, sieht man in Harlem und in der Bronx, nicht in den Kuppeln der Macht von Manhattan und der Börse. Auch nicht in Hollywood. Was in Europa geschieht, sieht man darin, was mit den Einwanderern gemacht wird, mit seinen Konsequenzen von Lager ohne Gesetz und den afrikanischen Toten im Meer, und was die Strategie der Globalisierung ist, sieht man klarer in Afrika oder Haiti und in andern

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Ländern der dritten Welt. Die Weisheit Gottes urteilt von da aus. Ein Afrikaner sagte in einem treffen: Afrika ist nicht das Problem, Afrika ist die Lösung. Zumindest ist nichts eine Lösung, was nicht für Afrika eine Lösung ist. Alles das sehen wir täglich in diesem GULAG der freien Welt, der die Elendsviertel aller unserer Städte durchzieht. Auch da sehen wir und erfahren wir die Wahrheit dessen, was die Strategie der Globalisierung ist. Es ist ihre körperliche Grundlage. Was ist die Weisheit dieser Welt? Es ist nicht ihre Irrationalität als solche. Es ist die Irrationalität des Rationalisierten und sie ergibt sich gerade dann, wenn die Rationalisierung funktioniert. Je besser sie funktioniert, umso irrationaler ist sie. Die Kritik negiert daher nicht diese Rationalität, sondern erkennt in ihrem Innern die Irrationalität: wer sein Leben in der Erfüllung des Gesetzes dieser Rationalität sucht, findet den Tod. In meiner Jugend (1949-1950 war ich ein Jahr lang in einem Noviziat der Jesuiten. Ich erinnere mich sehr an eine Diskussion mit unserem Pater Magister, als er einmal in einem Kursus zur Ordensregel Ignatius zitierte in folgendem Sinne: wenn ich die Option habe, den Hauptmann der Truppe oder den Schützen Asch zu bekehren, ziehe ich es vor, den Hauptmann zu bekehren. Denn bekehre ich den Hauptmann, bekehre ich die ganze Kompanie. Ich protestierte und behauptete, dass man den Schützen Asch bekehren müsse, denn von ihm aus kommt das Licht der frohen Botschaft. Der Pater Magister antwortete: Im Grunde haben Sie Recht mit dieser Kritik, aber man muss Ignatius aus seiner Zeit heraus verstehen. Ich war völlig einverstanden, und bin es heute noch. Aber immer würde ich darauf bestehe, dass in einem solchen Fall aus Ignatius die Weisheit der Welt spricht und nicht die Weisheit Gottes. Die Weisheit Gottes ist göttliche Verrücktheit und greift ein in den Nutzenkalkül der Weisheit der Welt. Dieser Kalkül sagt: was unter dem Gesichtspunkt des Nutzenkalküls und des Kalküls der Macht nützlich ist, ist notwendig. Er radiert die Weisheit Gottes aus. Ignatius tut genau dies in diesem seinem zitierten Urteil. Diese wahre Geschichte zeigt das Problem der christlichen Orthodoxie mit der Weisheit der Welt, aber es zeigt ebenso auch, dass sie durchaus durchlässig ist. In seinem Römerbrief kommt Paulus auf die Verrücktheit zurück. Dies zeigt dass er sich in diesem Brief an das anschließt, was er Korintherbrief entwickelt hat: Gottes Zorn enthüllt sich vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in der Ungerechtigkeit gefangen halten. Röm 1,18 Sie rühmen sich weise zu sein, aber sie sind verrückt geworden. Röm 1,22 Dies können wir eine Definition der Ideologie durch Paulus nennen – obwohl Paulus natürlich dieses Wort nicht kennt : die Ungerechtigkeit hält die Wahrheit in Gefangenschaft, sie hat sie verhaftet, sie stellt sich ihr in den Weg. Es ist letztlich der gleiche Ideologiebegriff, den auch Marx hat. Faktisch, können wir den gesamten Römerbrief synthetisieren durch diese Bestimmung, alles wird von ihr her entwickelt. Jetzt ist die Verrücktheit der Weisheit der Welt diese Gefangennahme der Wahrheit durch

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die Ungerechtigkeit.22 Es ist Ideologie. Hier wird zum ersten Mal das Ideologieproblem angesprochen. Auch zu taufen anstatt die Frohe Botschaft zu verkünden, nimmt die Wahrheit in Gefangenschaft und tut dies immer durch die Ungerechtigkeit. Die Irrationalität des Rationalisierten ist die Irrationalität im Inneren des Nutzenkalküls. Sie besteht darin, die Wahrheit durch die Ungerechtigkeit in Gefangenschaft zu halten. Was ist in diesem Kontext die Verrücktheit der Weisheit Gottes? Es ist jene Vernunft, die die Rationalität der Welt mit der Irrationalität in ihrem Innern transzendiert und dieses nur tun kann im Namen dessen, was nicht ist. Vom Standpunkt der Weisheit der Welt, die diese Irrationalität in ihrem eigenen Inneren nicht anerkennt, ist dies reine Irrationalität. Dies ist so, weil die Weisheit Gottes nicht in den Termini einer instrumentalen und diskursiven Vernunft argumentieren kann. Sie operiert auf dem Gebiet der mythischen Vernunft. Sie kann nur argumentieren, indem sie die instrumentale Vernunft transzendiert. Aber auch diese Vernunft kann ihre eigene Irrationalität entwickeln immer dann, wenn sie ihre Verwirklichung als Endziel über jede menschlichen Möglichkeiten hinaus sucht. Was sich dann polarisiert, ist der Satanismus der Macht und der Luziferianismus der Befreiung, der Nutzenkalkül – auf den sich alle Macht gründet – und die Bestätigung des Anderen: ich bin wenn du bist, du bist, wenn ich bin. Aber diese Polarisierung kann nicht vermittelt werden durch eine einfache Versöhnung dieser Pole oder durch Aufrufe zur Toleranz. Sie hat eine Seite, die die Wahrheit der Weisheit Gottes ausdrückt und die die Wahrheit auch des anderen Pols der Weisheit der Welt und daher der Macht ist. Aber der Pol der Weisheit Gottes kann den entgegengesetzten Pol der Weisheit der Welt nicht abschaffen oder substituieren. Daher braucht es Vermittlungen, damit dieser erste Pol bestimmen kann und die Legitimität des Ganzen verwirklicht. Die Vermittlung mündet in einen Konflikt ein, der so 22 Es gibt heute eine breite Diskussion über die Beziehung zwischen dem Denken des Paulus und dem heutigen kritischen Denken. Siehe: Taubes, Jacob: Die politische Theologie des Paulus. Fink Verlag. München, 1995 Zizek, Slavoj: El frágil absoluto. ¿Por qué merece la pena luchar por el legado cristiano? PRE-TEXTOS. Valencia, 2000 Zizek, Slavoy: Die Tücke des Subjekts. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 2001 Zizek, Slavoy: Visión de paralaje. FCE. Buenos Aires, 2006 Zizek, Slavoy: Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 2003 Badiou, Alain: Saint Paul. La fondation de l’universalisme, París, Presses Universitaires de France, 1997 (Ed. deut.: Paulus. Die Begründung des Universalismus. Sequenzia. München, 2002) Agamben, Giorgio: Il tempo che resta. Un comento alla Lettera ai Romani. Bollati Boringhieri. Torino, 2000 Ed. Deutsch: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 2006) Ver también: Hinkelammert, Franz J.: Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus. Exodus. Freiburg (Schweeiz)/ Münster, 1985 Tamez, Elsa: Contra toda condena. La justificación por la fe desde los excluidos. DEI. San Jose, 1991

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unvermeidlich und endlos ist wie die conditio humana selbst, der aber eingeschrieben sein muss in einen Konsens über die Bereiche, Formen und die ratio des Konflikts. Das Entstehen der beiden Pole muss man verstehen als eine interne Aufspaltung der Rationalität des menschlichen Handelns selbst, die unvermeidlich ist und von der sich ableitet sogar die Aufspaltung selbst Gottes in einen Gott der Macht und einen Gott der Befreiung. Wir können hierbei einen Begriff benutzen, den Althusser entwickelt hat, obwohl sein Inhalt durchaus wechselt. Es handelt sich um den Begriff der Überdeterminierung. Die Weisheit Gottes muss die Gesamtheit der Konflikte, die aus dem menschlichen Handeln entspringen, überdeterminieren. Auf diese Weise kann sie emanzipatorisch werde. Sie reduziert die Konflikte nicht auf Konflikte nackter Interessen, sondern überdeterminiert und durchdringt sie durch dieses Kriterium, das Paulus die Weisheit Gottes nennt, die göttliche Verrücktheit gegenüber der Weisheit der Welt. Geschieht hingegen die Negation eines Pols im Namen des anderen, so drückt sich dies auch im Denken aus. Wenn Marx die Irrationalität im Inneren der formalen Rationalität des Rationalisierten entdeckt, spricht er von der bürgerlichen Wissenschaft als einer Wissenschaft, die diese Irrationalität leugnet oder überspielt. Die bürgerliche Wissenschaft, die diese Irrationalität leugnet, sieht nur Irrationalität in der Position, von der aus sie kritisiert wird. Sie antwortet gar nicht auf den Vorwurf, bürgerliche Wissenschaft zu sein, indem sie etwa sagen könnte, dass Marx sozialistische Wissenschaft macht. Sie behauptet daher, das die marxsche Analyse überhaupt keine Theorie ist, sondern rein zirkuläres Denken, nur bla bla, wie Popper dies am extremsten ausdrückt: sie ist nicht einmal Wissenschaft. Daher antwortet er auf den Vorwurf von Seiten von Marx, bürgerliche Wissenschaft zu sein mit der Leugnung aller Wissenschaftlichkeit des marxschen Denkens, dass reine Tautologie sei. Diese Verurteilung, wie sie Popper macht, ist total, wie es dann auch der Konflikt ist, der daraus entsteht. Die Verurteilung von Seiten Marx aber ist relativ. Daher lässt sie den Weg offen für Vermittlungen, wenn diese auch noch zu entwickeln sind. Heute versuchen neue Regierungen in Lateinamerika solche Vermittlungen zu schaffen. Aber die Logik der bürgerlichen Wissenschaft, die solche Entwicklungen absolut ablehnt, ist reine Negation des Anderen mit der Konsequenz ihrer totalitären Tendenzen. Man lehnt nicht die Gründe des anderen ab, man lehnt ab, dass er überhaupt diskutierbare Gründe hat. Auch wenn man von einer Haltung glaubt, sie sei verrückt, muss immer auch bewusst bleiben, dass selbst die Verrücktheit Wurzeln in irgendwelchen überzeugenden Gründen hat. Das Labyrinth der Moderne Wenn wir ein Paradigma der Moderne suchen, so ist es dies: es ist ein Spiel der Verrücktheiten, das in ein Welttheater einmündet. Schließlich aber ist es nicht nur ein Welttheater, sondern ebenso ein Labyrinth. Es hat eine mythische Struktur, die sie umfasst. Es wird argumentiert mit Gründen, die einer mythischen Vernunft folgen, in deren Innerem die instrumentale Vernunft ihren Ort hat. Dass die Argumentation mythisch ist, bedeutet nicht, dass sie keine Argumentation ist. In diesem Sinne ist das

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Paradigma ein kategorialer Rahmen der Moderne selbst. Als kategorialer Rahmen kann er nur das Ganze umfassen, weil er mythisch ist. Es handelt sich um den Einbruch eines universalen Subjekts, das sich allen Strukturen der menschlichen sozialen Welt gegenüberstellt. Es bricht ein und polarisiert. Aber das, was einbricht, ist nicht eine externe Essenz, die in die Wirklichkeit eingeführt wird. Es entsteht ein Bruch in der Wirklichkeit selbst, der vorher nicht erkennbar war. Daher ist das, was entsteht, auch ein Labyrinth, in dessen Innerem wir Wege suchen. Dies Labyrinth ist die Welt selbst, aus der wir nicht ausbrechen können. Wir müssen uns in ihm einrichten. Man lebt in ihm, überlebt in ihm und man versuchen auf die menschlichste Weise zu leben und zu überleben. Der Faden der Ariadne in diesem Labyrinth ist die dauernde Wiedergewinnung des Humanen. Wir sind von dem Entwurf des Paradigmas von Texten von Paulus ausgegangen. Dieses Paradigma ist die Entdeckung von etwas, das dann der ganzen späteren historischen Entwicklung unterliegt. Seine Pole hingegen entwickeln sich zu immer neuen Formen, aber das Paradigma kommt immer und immer wieder zurück, obwohl sich die Worte, die man gebraucht, ändern. Von diesem Paradigma aus wird die Welt als säkulare Welt entdeckt. Das Wort Säkularisierung gibt dies gerade nicht entsprechend wieder. Es täuscht einen Verlust vor. Es handelt sich nicht um eine Säkularisierung, sondern um die Entdeckung, dass die Welt säkular ist. Die Art, wie Walter Benjamin dies behandelt, ist die entsprechende Form. Es handelt sich um Transformierungen, die sich im Innern des konkreten historischen Prozesses vollziehen. Um diesen Prozess in seinen verschiedenen historischen Etappen aufzuzeigen, wäre eine viel detailliertere Analyse notwendig, die wir in diesem Text nicht vorlegen können. Daher versuche ich es hier nicht einmal. Daher lege ich diese Analyse vor im Sinne einer Skizze für ein Forschungsprogramm. Das erwähnte Fragmente von Walter Benjamin Kapitalismus als Religion ist dies im Grunde ebenfalls. Ich versuche, es ernst zu nehmen und auszuweiten.