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Das Sprechende Grab

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Thomas Brezina: Die Knickerbocker-Bande

Thomas Brezina – Wien; Stuttgart: Neuer Breitschopf Verl. Das sprechende Grab – Das Buch zum Film

ISBN 3-7004-3545-2

2. Auflage 1995 Fotos © Dor Film Produktionsgesellschaft m. b. H., Wien

Petro Dornenigg, Ulrike Kohl Lektorat: Wolfgang Astelbauer

Satz: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberrohrach Repros: Wohlmuth, Wien

Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg bei Wien

Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

© hpt-Verlagsgesellschaft m. b. H. & Co. KG, Wien 1995 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der

fotomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung und der Übertragung in Bildstreifen, vorbehalten.

Page 3: Das Sprechende Grab

Inhalt: Gefährliche Mutprobe ....................................................4 Das sprechende Grab ......................................................7 Unerwartete Begegnungen ...........................................11 Höchst seltsam! ............................................................16 Der Auftrag ...................................................................20 Die Pergamentrolle .......................................................24 Axels Tricks .................................................................27 Spuk im Spiegel ............................................................30 Rettung in letzter Sekunde ...........................................34 Der Dachboden des Grauens ........................................38 Ratlos ............................................................................42 In Verbindung mit dem Jenseits? .................................47 Gefangen in der Gruft ..................................................53 Die Schlangengrube .....................................................57 Der große Unbekannte .................................................61 Das Erbe .......................................................................66 Poppi macht einen Fehler .............................................72 Der Giftmischer ............................................................77 Unendlicher Haß ...........................................................81 Das Vermächtnis des Magiers ......................................84 Das tödliche Puder ........................................................89 Geburtstagsparty in der Gruft .......................................93 Das Auge des Kondors .................................................97 Nur einmal im Leben? ................................................101 Wie aus 125 Buchseiten 2590 Meter Film werden ....103

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Der Name KNICKERBOCKER-BANDE… ...entstand in Österreich. Axel, Lilo, Poppi und Dominik

waren die Sieger eines Zeichenwettbewerbs. Eine Leder­hosenfirma hatte Kinder aufgefordert, ausgeflippte und knallbunte Lederhosen zu entwerfen. Zum großen Schreck der Kinder wurden ihre Entwürfe aber verwirklicht, und bei der Preisverleihung mußten die vier ihre Lederhosen vorführen.

Dem Firmenmanager, der sich das ausgedacht hatte, spielten sie zum Ausgleich einen pfiffigen Streich. Als er bemerkte, daß er auf sie hereingefallen war, rief er den vier Kindern vor lauter Wut nach: „Ihr verflixte Knicker­bocker-Bande!“

Axel, Lilo, Dominik und Poppi gefiel dieser Name so gut, daß sie sich ab sofort die Knickerbocker-Bande nannten.

KNICKERBOCKER-MOTTO Nr. 1: Vier Knickerbocker lassen niemals locker!

KNICKERBOCKER-MOTTO Nr. 2: Überall, wo wir nicht sollen, stecken wir die

Schnüffelknollen, sprich die Nasen, tief hinein, es könnte eine Spur ja sein.

scanned by: crazy2001 @ Oktober 2003 corrected by: stumpff

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Gefährliche Mutprobe

Es war wenige Minuten vor Mitternacht, als das Taxi an der Friedhofsmauer hielt. Die Wagentür flog auf, und Dominik sprang heraus. Er bezahlte den Fahrer und sah sich suchend um.

Gegen einen Baum gelehnt stand Lieselotte und knabberte an den gefärbten Spitzen ihrer Zöpfe. Axel fuhr auf seinem Fahrrad um sie herum. „Ah, Sir Dominik ist auch schon vorgefahren – in einer Luxuslimousine!“ scherzte das Superhirn der Knicker­bocker-Bande.

„Kannst du mir bitte erzählen, warum du uns mitten in der Nacht zum Friedhof bestellst? Wozu haben wir ein neues Banden­hauptquartier, wenn wir uns dann auf dem Friedhof treffen müs­sen?“ brauste Dominik auf. „Ich mußte aus dem Fenster meines Zimmers klettern, damit meine Eltern den nächtlichen Ausflug nicht bemerken!“ fügte er heldenhaft hinzu.

„Großartig, da breche ich ja nieder vor Bewunderung!“ ätzte Lieselotte. „Du tust so, als hättest du dich aus dem zehnten Stock abgeseilt, dabei wohnst du im Erdgeschoß!“

„Äh... naja...!“ verlegen kickte Dominik einen Stein ins Gebüsch. „Trotzdem möchte ich endlich den Grund für das Treffen erfahren. Wieso hast du mir diese Nachricht geschickt?

Er zog einen linierten Zettel aus der Tasche, auf den mit schwar­zer Tinte geschrieben stand: „Um Mitternacht an der Rückseite des Friedhofes. Sei pünktlich!“

„Ich habe das nicht geschrieben!“ antwortete Lieselotte. „Und Axel auch nicht. Wir sind auch herbestellt worden. Wir dachten eigentlich, daß du etwas willst!“

Axel bremste und sprang von seinem Fahrrad. „He, wenn weder Dominik noch du, noch ich das geschrieben haben, wer war es dann?“

Ängstlich blickten sich die drei Mitglieder der Knickerbocker-Bande um. Hatte ihnen jemand eine Falle gestellt?

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„Ich wollte euch treffen!“ rief da eine Stimme über ihnen. Erschrocken schauten die drei nach oben und sahen Poppi auf

der Friedhofsmauer stehen. „Was machst du da oben? Komm sofort runter!“ rief Lieselotte. „Du wirst dir noch etwas brechen!“ meinte Axel. „Verträgst du den Vollmond nicht? Was soll das?“ fragte

Dominik. „Mir reicht’s!“ verkündete Poppi. „Mir reicht’s endgültig! Im­

mer bin ich die Kleine. Immer heißt es: ,Paß auf, Poppi!’ – ,Das ist zu gefährlich, Poppi!’ – ,Dafür bist du zu klein, Poppi!’ Immer tut ihr so, als wäre ich der totale Jammerlappen!“

„Stimmt nicht, aber steig jetzt bitte trotzdem runter, Poppilein!“ sagte Lilo.

„Ich bin nicht dein ,Poppilein’!“ tobte das jüngste Mitglied der Bande. „Ihr denkt, daß ich ein Angsthase und Schwächling bin, aber ich werde euch das Gegenteil beweisen!“

Axel, Lilo und Dominik warteten gespannt. Was hatte Poppi vor?

„Falls du die Absicht verfolgst, ein unkalkulierbares Risiko ein­zugehen, möchte ich dir dringend davon abraten!“ gab Dominik oberlehrerhaft von sich.

Axel verzog das Gesicht. „Quatsch nicht so kariert!“ schnaubte er.

„Ich werde ganz allein durch den Friedhof spazieren!“ verkündete das Mädchen. „Wartet am Haupteingang auf mich!“

Poppi ließ ihren Knickerbocker-Freunden keine Gelegenheit, sie von ihrem Vorhaben abzubringen und sprang geschickt von der Mauer in den Friedhof.

Während Poppis linker Schuh auf dem Kies landete, trat sie mit dem rechten auf etwas Weiches. Erschrocken riß sie den Fuß hoch und leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden. Es war nur eine große welke Blüte, auf die sie gestiegen war.

Das Mädchen schluckte und ließ seinen Blick über den nächtli­chen Friedhof gleiten. Hatte sie sich nicht ein wenig zuviel vorge­nommen?

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Vor ihr lagen die Gräber, über die der Bodennebel kroch. Da und dort flackerte eine Kerze, und auf einigen Grabsteinen konnte sie aus Stein gehauene Statuen erkennen. Im bleichen Mondlicht wirkten sie mahnend, fast ein wenig drohend und... lebendig.

Vorsichtig wagte Poppi die ersten Schritte. Schrill knirschte der Kies unter ihren Sohlen.

Das Mädchen hielt den Atem an, um auch bestimmt kein Ge­räusch zu überhören, das Gefahr anzeigen könnte. Langsam ging Poppi zwischen den Gräbern durch und drehte den Kopf dabei ständig nach links und nach rechts, nach links und nach rechts. Kam da jemand? War da etwas? Hatte sie nicht gerade einen Schatten gesehen?

Plötzlich hielt sie ein und lauschte. Ihr Herz pochte so laut und heftig, daß sie das Gefühl hatte, ihre Brust müsse zerspringen. Schritte!

In der nächsten Grabreihe auf der rechten Seite, von der sie durch eine hohe Hecke getrennt war, ging jemand! Poppi hatte genau gehört, wie der Kies geknirscht hatte.

Jetzt war aber wieder alles ruhig. Irgendwo, weit entfernt, rief ein Uhu. Mit zitternden Beinen wagte Poppi sich ein Stück weiter, blieb

aber nach einigen Metern wieder stehen. Sie hatte sich nicht getäuscht: Da war jemand! Da hörte sie links von sich, wo sich Grabstein an Grabstein

reihte, jemanden atmen. Entgeistert starrte sie in die Nacht, konnte aber niemanden sehen.

Das Atmen wurde heftiger. Es klang, als ob jemand nur mit Mühe Luft bekam. Das Keuchen schien näher zu kommen.

Poppi wollte schreien, bekam aber keinen Ton heraus. Es gelang ihr jedoch, alle Kräfte aufzubieten und loszurennen. Sie achtete nicht auf den Weg, kam etwas zu weit nach links, stolperte über Bretter und einen kleinen Erdwall und... stürzte in ein offenes Grab.

Von oben rieselten Erdklumpen auf sie herab.

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Das sprechende Grab

Poppis Freunde waren an der langen Ziegelmauer entlang mar­schiert, die den Friedhof umgab, und schließlich zu einem hohen schmiedeeisernen Tor gekommen. Als Poppi nach einer Viertel­stunde noch immer nicht aufgetaucht war, begannen sich Axel, Lilo und Dominik Sorgen zu machen.

„Ich verstehe das nicht. Sie müßte längst hier sein!“ murmelte Lieselotte mit einem besorgten Blick auf die Uhr.

„Wir hätten sie niemals gehen lassen dürfen!“ meinte Dominik. „Ich kann unser Handeln nur als unverantwortlich einstufen.“

Axel hob flehend die Arme und rief: „Dominik, hör endlich auf, so kariert zu quatschen!“

Sein Kumpel verzog schmollend den Mund und schwieg. „Los, wir müssen sie suchen! Vielleicht... vielleicht... hockt sie

irgendwo hinter einem Busch und traut sich nicht weiter, weil sie ein Eichhörnchen erschreckt hat!“ versuchte Axel zu scherzen.

„Es wundert mich nicht, daß Poppi plötzlich so eine verrückte Mutprobe machen wollte“, sagte Lilo und blickte Axel streng an.

„Ach, reg dich ab! Tu nicht so, als hättest du dich noch nie über Poppis Ängstlichkeit lustig gemacht!“ wehrte sich der Junge, der es nicht ausstehen konnte, wenn Lilo ihn zurechtwies.

„Hört auf, euch zu streiten, wir müssen los!“ mischte sich Dominik ein.

„Richtig!“ rief Axel, schleuderte seinen Rucksack lässig zu sei­nem Fahrrad und schwang sich auf das Friedhofstor, das aus dik­ken, kunstvoll ineinander verschlungenen Stangen bestand, an denen Axel geschickt hinauf turnte.

Lieselotte und Dominik runzelten die Stirn und blickten einan­der verwundert an.

Axel war trotz der Kühle der Nacht der Schweiß auf die Stirn getreten. Die Kletterpartie war anstrengend, und er fragte sich, wie Dominik dieses Hindernis je überwinden würde. Als er auf

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der anderen Seite des Tores zu Boden sprang, riß er die Augen weit auf.

Dort standen bereits seine Kumpel, hatten die Arme auf dem Rücken verschränkt und blickten ihn grinsend an.

„Aber... aber... wie... wie seid ihr denn…?“ stammelte Axel. „Durch die kleine Tür drei Schritte neben dem Tor! Wir mußten

nur die Klinke niederdrücken und waren schon herinnen“, verkün­dete Dominik und grinste Axel spöttisch an.

Axel wurde rot. „Manche haben es im Köpfchen, andere in den Beinen!“ fügte

Lieselotte hämisch hinzu. „Sehr witzig!“ knurrte Axel und meinte geschäftig: „Wir müs­

sen Poppi finden! Oder habt ihr Schlauberger sie vergessen?“ Die drei Knickerbocker knipsten die Taschenlampen an und lie­

ßen die Lichtkegel über die düsteren Sträucher, Bäume, Gräber und Wege gleiten. Von Poppi keine Spur!

Langsam drangen sie weiter in den Friedhof vor. „Taschenlampen aus!“ zischte Lieselotte plötzlich. Axel und

Dominik befolgten den Befehl sofort. „Was ist los?“ fragte Dominik flüsternd. Stumm deutete Lilo nach vorne, wo eine schwarze Gestalt aus

einem Seitenweg huschte. Sie trug einen wallenden Umhang mit einer breiten Kapuze, die Kopf und Gesicht verdeckte, und schritt eilig voran.

Lieselotte drängte die Jungen ein wenig zur Seite, und die drei gingen hinter einem immergrünen Busch in Deckung. Gespannt spähten sie zwischen den Zweigen durch.

Die schwarze Gestalt trat an eine Gruft, die unter den knorrigen Ästen eines uralten Baumes lag, der seine knotigen Zweige über den spitz zulaufenden, hohen Grabstein streckte. Die Junior-De­tektive konnten in der Dunkelheit vorerst nicht erkennen, was dar­in eingemeißelt war. Doch als der Mond hinter einer Wolke her­vorkam, sahen sie eine grinsende Fratze und die Umrisse eines Mannes, der die Arme vor der Brust gekreuzt hatte und einen Zylinder trug.

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Die schwarze Gestalt verneigte sich ehrfurchtsvoll vor dem Grabstein und schien auf etwas zu warten. Sekunden verstrichen, in denen nur das Säuseln des Windes und der Ruf des Uhus zu hören waren.

Dann aber geschah etwas, das den drei Knickerbocker-Freunden die Gänsehaut über den Rücken jagte. Auch die dunkle Gestalt wurde davon so überrascht, daß sie entsetzt zurückwich.

Das Grab begann zu sprechen. Es gab keinen Zweifel: Die Stim­me kam aus der Gruft. Heiser rasselnd fragte sie: „Bist du allein gekommen, wie ich es dir aufgetragen habe?“

Die schwarze Gestalt, die mit dem Rücken zu den Junior-Detek­tiven stand, nickte kurz.

„Gut! So ist es gut, mein Kind!“ sagte die Stimme. „Das klingt, als ob jemand mit allerletzter Kraft noch ein paar

Worte von sich gibt!“ ging es Dominik durch den Kopf. „Höre! Ich habe zu Lebzeiten große Schuld auf mich geladen,

und nur du kannst mich davon befreien! Willst du das tun, mein Kind?“ fragte die Stimme aus dem Grab.

Abermals nickte die Gestalt. „Tritt näher: Ich muß dir etwas Wichtiges anvertrauen. Erfülle

meinen Auftrag und verrate weder Mann noch Frau etwas davon...!“

In diesem Augenblick begann Axels Handy zu piepsen. Axel hatte das Telefon vor einiger Zeit von seinem Vater geschenkt bekommen, weil dieser wenig Zeit für seinen Sohn und deshalb ein schlechtes Gewissen hatte. Das Piepsen war nicht nur ziemlich schrill, sondern wurde auch mit jedem Mal lauter.

Mit zitternden Fingern drückte Axel die Empfangstaste. Es war seine Mutter, die mehr als sauer war, weil er sich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen hatte.

„Du hast jemanden im Gebüsch versteckt. Du hast gelogen, und dafür wirst du hart bestraft werden!“ knurrte es aus dem Grab.

Die schwarze Gestalt hob abwehrend die Arme. Über dem Friedhof lag eisiges Schweigen. Die Stimme aus der Gruft war verstummt.

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Mit schnellen Schritten ergriff die unheimliche Gestalt die Flucht und war bald in der Dunkelheit verschwunden.

Die drei Knickerbocker standen wie erstarrt da und konnten nicht glauben, was sie gesehen und gehört hatten.

„Hilfe... Hilfe, holt mich raus!“ schrie auf einmal Poppi in nächster Nähe. Axel, Lilo und Dominik hatten das Mädchen schnell gefunden: Es stand in einem offenen Grab und äugte über den Erdwall.

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Unerwartete Begegnungen

So schnell sie konnten, verließen die vier Freunde den Friedhof. Sie waren mehr als erleichtert, als sie endlich auf der anderen Seite der Friedhofsmauer unter einer Straßenlaterne standen. Axel hatte mit seinem Telefon ein Taxi gerufen, das die Mädchen und Dominik nach Hause bringen sollte. Er selbst war ja mit dem Rad unterwegs.

„Was... was haltet ihr von dem sprechenden Grab?“ fragte Poppi vorsichtig. „Kann das... kann das... ein echter Geist sein?“

Axel grinste und begann zu kichern. „Du glaubst doch nicht an Gespenster, Poppi?“ prustete er.

Seine Knickerbocker-Freundin starrte verlegen zu Boden. Was immer sie sagte oder tat, war falsch. Stets zeigten ihr ihre Freun­de, daß sie dumm, feige und einfältig war. Es war zum Verzwei­feln!

„Ich wette, die Geschichte hat eine ganz einfache Erklärung. Je­mand erlaubt sich einen Scherz, wenn ihr mich fragt!“ sagte Axel.

„Komischer Scherz!“ meinte Dominik. Eine schwarze Limousine kam näher. Es war das erste Fahr­

zeug, das sich zu dieser späten Stunde hier blicken ließ. Die Scheinwerfer waren grell und blendeten die Junior-Detektive. Schützend hielten die Freunde die Arme vor die Augen.

„Das wird das Taxi sein! Der Fahrer könnte aber wirklich abblenden!“ meinte Axel verärgert.

Der Wagen wurde langsamer und blieb stehen. Als Lieselotte auf ihn zuging, fiel ihr auf, daß auf dem Dach des Wagens kein Taxi-Schild zu sehen war. Wer hinter dem Steuer saß, konnte sie im Gegenlicht nicht ausmachen.

Das Superhirn zögerte. War das überhaupt der Wagen, auf den sie warteten?

Aus der anderen Richtung kam noch ein Fahrzeug, und schon von weitem leuchtete den Knickerbocker-Freunden das gelbe

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Taxi-Zeichen entgegen. Sofort gab der Fahrer der dunklen Limou­sine Gas und raste mit großer Geschwindigkeit davon.

„Wer war das?“ fragte sich Lieselotte. „Vielleicht der Typ in dem wallenden schwarzen Umhang!“

sagte Dominik. „Oder der Geist aus der Gruft!“ meinte Axel cool. „Oder... oder... äh...!“ Poppi fiel keine dritte Möglichkeit ein,

und sie kam sich ziemlich blöd vor. Bereits am nächsten Tag nach der Schule nahmen Axel und

Lieselotte das geheimnisvolle Grab noch einmal unter die Lupe. Dominik war nicht mitgekommen, da er im Theater Probe hatte, und Poppi hatte keine Lust verspürt, den Friedhof wieder zu betreten.

Bei Tageslicht sah der hohe, säulenartige Grabstein mit der eingemeißelten Fratze viel weniger bedrohlich aus.

Die Junior-Detektive gingen gründlich an die Arbeit, untersuch­ten nicht nur den Stein, sondern auch die Einfassung der Gruft und den Platz hinter dem Grabmal. Sie vergaßen weder den dik­ken Baumstamm noch dessen beulenförmige Wucherungen, und Axel kletterte in das Geäst.

Als er wieder herunterkam, zischte Lieselotte: „Vorsicht, wir werden beobachtet!“ Sie deutete mit dem Kopf auf eine hagere alte Frau in einem schwarzen Mantel. Sie hatte ein topfförmiges dunkles Hütchen auf und einen altmodischen Schleier vor dem Gesicht. Gebückt stand sie an einem Grab und starrte mißtrauisch zu den beiden Knickerbocker-Freunden herüber.

Verlegen stolperten Axel und Lieselotte auf den Kiesweg und befreiten ihre Schuhe von der feuchten Erde.

Die alte Frau, deren Lippen dünn wie ein Strich waren, ließ sie nicht aus den Augen. Plötzlich griff sie in die Tasche ihres Mantels und zog einen Fotoapparat hervor. Sie richtete ihn auf die Junior-Detektive und drückte mehrmals ab. Dann stöckelte sie hastig davon.

„Warum hat uns die geknipst?“ fragte Axel seine Freundin.

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Lieselotte machte ein ratloses Gesicht. „Keine Ahnung, aber sag, hast du etwas entdecken können?“ wollte sie wissen.

„Nichts, absolut nichts!“ erwiderte Axel. „Ich war felsenfest davon überzeugt, daß jemand einen ferngesteuerten Kassettenre­corder oder ein Funkgerät an dem Grabstein angebracht hat. Aber da ist nichts, und ich bin sicher, da war auch nichts. Es gibt nicht den geringsten Hinweis.“

Lilo gab ihm recht. Sie war zum selben Ergebnis gekommen. Dabei war die Erde vom letzten Regen aufgeweicht. Falls jemand um das Grab geschlichen wäre, hätte er Abdrücke hinterlassen.

Woher war die Stimme gekommen? Gab es am Ende doch Geister?

„Wir besprechen das in unserem neuen Knickerbocker-Haupt­quartier!“ beschloß Lieselotte.

Um sechs Uhr sollte das Treffen stattfinden.

Während Axel und Lieselotte am Friedhof ermittelt hatten, saß Dominik im Theater. Er war stinksauer. Die Probe war abgesagt worden, aber niemand hatte es ihm mitgeteilt. Er mußte nun zwei Stunden lang bei der Maskenbildnerin hocken, die auf ihn aufpassen sollte – so lautete die Anweisung des Direktors.

Der Knickerbocker kauerte in einem der langgezogenen Schminkräume auf einem Sofa und tat so, als würde er Hausauf­gaben schreiben. Frau Huber saß vor einem riesigen Spiegel und flickte Perücken. Dabei brabbelte sie wie ein Wasserfall vor sich hin und legte nicht einmal zum Luftholen eine Pause ein. „Hast du schon gehört? Der Herr Direktor hat eine neue Tänzerin aufgenommen!“ plapperte sie. „Er soll ganz verliebte Augen bekommen, wenn er sie sieht. Der alte Trottel! Er könnte ihr Vater sein!“

Dominik sah sich nach Watte um. Er mußte sich etwas in die Ohren stopfen, um dieses Gequatsche zu überleben! Er stand auf und schnappte nach einem Säckchen. Dabei fiel sein Blick auf die halboffene Tür. Das war doch nicht möglich!

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Dominik stürzte auf den Gang hinaus, schaute nach links, schaute nach rechts und lehnte sich dann gegen den Türrahmen. Hatte er sich getäuscht? War es nur eine Einbildung gewesen? Oder hatte er soeben tatsächlich die schwarze Gestalt in dem wallenden Umhang gesehen, die in der Nacht auf dem Friedhof aufgetaucht war?

„Und diese neue Frau, die die Kostüme flickt, die stinkt!“ quatschte Frau Huber. Es störte sie nicht im geringsten, daß Dominik den Schminkraum längst verlassen hatte.

Auf Zehenspitzen schlich Dominik über den Gang in die Rich­tung, in die er die schwarze Gestalt laufen gesehen hatte. Bald erreichte er den einzigen Seitengang, in dem sich die Garderoben der Schauspieler, Tänzer und Sänger befanden. Dort reihte sich Tür an Tür. Alle waren geschlossen, und nichts deutete darauf hin, daß jemand gerade eine der Garderoben betreten hatte.

Der Junior-Detektiv beschloß, an den Türen zu lauschen. Vielleicht konnte er so herausfinden, wo sich die schwarze Gestalt versteckte. Erst wenn er nichts hörte, klopfte er an und öffnete.

Er war fast am Ende des Ganges angelangt, als völlig überra­schend die Tür aufgerissen wurde, der er sich gerade näherte.

Zwei glühende Augen glotzten ihn an, und ein drohendes Fauchen schlug ihm entgegen. Stinkender, qualmender Atem schoß aus mächtigen Nüstern und brannte ihm wie Feuer in den Augen. Zwei haarige Pranken packten ihn an der Jacke und zerrten ihn hoch.

„Loslassen!“ keuchte der Junge und schlug um sich. „Hilfe! Hilfe!“ stieß er hervor.

Der Griff löste sich, und Dominik fiel zu Boden. Das seltsame Wesen fauchte ihn noch einige Male an und hüllte ihn in eine große Rauchwolke.

Dominik mußte husten und fuchtelte mit den Händen, um den Rauch zu vertreiben.

Als sich der Qualm verzogen hatte, war das Wesen nicht mehr zu sehen.

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So schnell er konnte, kämpfte sich Dominik auf die Beine und rannte zurück in den Schminkraum.

„...finde ja, sie hat kein Talent. Und außerdem diese Schweißfü­ße!“ sagte Frau Huber gerade und flocht einer etwas ramponierten Perücke kleine Zöpfchen.

Keuchend ließ sich Dominik auf den Stuhl neben ihr fallen. Die Maskenbildnerin blickte überrascht auf.

„Was ist denn mit dir los? Bist du bei deinen Hausaufgaben so außer Atem geraten?“

„Draußen... ein Monster! Ein Wesen mit roten Augen und rau­chendem Atem!“ stammelte Dominik. Schon im nächsten Augen­blick wurde ihm bewußt, wie lächerlich seine Worte klangen.

Frau Huber musterte ihn und meinte tadelnd: „Das kommt davon, daß du immer so lange fernsiehst. Deine Eltern sollten dir das verbieten!“

„Nein, ich habe mir das nicht eingebildet! Da war dieses Unge­heuer – und vorher die Gestalt im schwarzen Umhang!“ stieß Dominik hervor. „Bei den Garderoben...“

Wie einen kleinen Jungen nahm ihn Frau Huber an der Hand und führte ihn zu den Garderoben. Sie öffnete eine nach der anderen, doch alle waren leer.

„Die nächste... die war es! Dort war es drinnen... das Monster!“ sagte Dominik leise. Er blieb stehen und beobachtete Frau Huber, die anklopfte und, als keine Antwort kam, eintrat.

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Höchst seltsam!

Das neue Knickerbocker-Hauptquartier befand sich in einer dot­tergelben kleinen Villa am Stadtrand. Das Haus gehörte der schrulligen Frau Binder, die die vier Junior-Detektive ins Herz geschlossen hatte.

In dem verwilderten Garten der Villa tummelten sich zwei Dromedare, ein alter Jaguar, ein blinder Esel, zwei hinkende Ponys, drei Schafe, ein halbes Dutzend Katzen und zwei Hunde.

Einige der Tiere stammten aus einem Zirkus, der Bankrott gemacht hatte, andere waren von ihren Besitzern ausgesetzt oder grausam behandelt worden, und einige hatte Frau Binder vor dem Schlachthof bewahrt. Hier hatten alle ein neues Zuhause gefun­den, in dem es nicht nur Futter, sondern auch jede Menge Zuwen­dung gab. Dafür sorgte unter anderem auch Poppi.

Das Hauptquartier der Bande war im hinteren Teil des Hauses untergebracht und bestand aus einem großen Raum und einem versteckten kleineren Zimmer, das nur durch eine Geheimtür erreichbar war. Die Knickerbocker hatten erst vor einigen Tagen begonnen, ihren neuen Treffpunkt einzurichten, und es war noch allerlei zu tun.

An diesem Nachmittag bastelte Axel an einem kleinen Labor, während Lieselotte alle Kriminalromane, die sie schon einmal gelesen hatte, in ein Regal einräumte. Sie hatte sich aus diesen Krimis schon eine Menge Tricks abgeschaut. Allerdings wußte sie meistens schon nach einigen Seiten, wer der Täter war, und fand deshalb viele Krimis reichlich langweilig.

Poppi saß im Garten und fütterte ein paar junge Kätzchen mit einem Spezialfläschchen. Die Mutter der Kleinen war vor einigen Tagen von einem Auto überfahren worden.

„Ihr habt es gut!“ sagte Poppi. „Euch findet jeder putzig.“ Atemlos stürzte Dominik in den Garten und rannte an Poppi

vorbei.

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Page 18: Das Sprechende Grab

„He, was ist los? Du siehst aus, als würde dich ein Geist verfolgen!“ rief seine Knickerbocker-Freundin.

Dominik keuchte schwer. Er rang nach Luft und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

„Was ist denn geschehen? Was hast du?“ wollte Poppi wissen. „Ach, das... sind Axel und Lilo da?“ stieß der Junge hervor. Poppi verzog den Mund und nickte stumm. Sofort rannte Dominik weiter. Nur mit Mühe hielt das jüngste Mitglied der Bande die Tränen

zurück. Poppi beugte sich zu den Kätzchen, schmiegte ihre Wan­ge in das weiche Fell und schluchzte leise: „Seht ihr, ich bin klein und deshalb nichts wert! Sogar meine Kumpel halten mich für einen Feigling. Ich wäre schon lieber groß und stark, damit mich alle bewundern. Ich möchte auch einmal hören, daß ich etwas besonders gut gemacht habe.“

Die alte Tür quietschte, als Dominik sie aufriß und in den noch ein wenig muffigen Raum stürzte. Er ließ sich in einen Polsterses­sel fallen und schleuderte seine Sportschuhe in eine Ecke.

„Igitt! Das ist ja Luftverschmutzung!“ ätzte Lieselotte mit einem Blick auf seine Socken. Sie hielt sich demonstrativ die Nase zu und tat so, als würde sie ersticken.

„Laß diese Scherze, dafür ist jetzt keine Zeit!“ polterte Domi­nik. Noch immer völlig außer Atem, berichtete er Axel und dem Superhirn von seinen Erlebnissen im Theater.

„Heißt das, daß sich die schwarze Gestalt vom Friedhof in ein Monster verwandelt hat?“ fragte Lieselotte ungläubig.

„Ich... ich weiß nicht, ob das Monster die schwarze Gestalt war!“ schnaufte Dominik. „Aber ich habe sie auf jeden Fall gesehen. Da besteht kein Zweifel.“

„Und wie ist die Sache ausgegangen?“ wollte Axel wissen. „Das Monster war verschwunden, als Frau Huber in die Garde­

robe gesehen hat. Der Raum war leer, und ich bin mir reichlich dämlich vorgekommen. Diese dumme Pute hat mich wie einen Vollidioten behandelt!“ berichtete Dominik beschämt.

„Niemand ist vollkommen!“ witzelte Axel.

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Lilo aber knetete ihre Nasenspitze und murmelte: „Das klingt alles höchst seltsam. Wir müssen herausfinden, wer sich unter dem schwarzen Umhang versteckt!“

Vielleicht wußte der Portier, wer das Haus in der fraglichen Zeit betreten hatte. „Leider ist das Telefon des Theaters gestört. Ich kann also nicht anrufen!“ überlegte der Junge laut. „Aber ich wer­de eben noch einmal beim Theater vorbeifahren. Ich brauche auf der Stelle ein Taxi!“

„Oh, Sir Dominik ist sich für das Fahrrad und den Bus zu fein, deshalb muß es ein Taxi sein!“ ätzte Lilo.

„Milady“, hauchte Dominik und verneigte sich tief. Er hob den Blick wie ein Musketier vor der Königin und zischte: „Halten Sie die Klappe!“ Dann schnappte er seine Schuhe und verschwand.

„Poppi! Telefon!“ rief Frau Binder eine Stunde später vom Balkon. Sie war eine besonders sanftmütige ältere Dame, die gerade mit einer schweren Erkältung kämpfte und deshalb das Bett hüten mußte.

Vorsichtig setzte Poppi das grau-weiß getigerte Kätzchen in einen großen Karton zurück und lief ins Haus.

„Kommt schnell! Schnell!“ hörte das Mädchen Dominik am anderen Ende der Leitung. „Und bringt alles für Notfall und Soforteinsatz mit!“

„Was? Was ist geschehen?“ wollte Poppi wissen. „Keine Zeit für Erklärungen! Es geht um den Safe des Hotels

Sacher. Er soll ausgeräumt werden. Ich bin dem Dieb auf den Fersen. Ende!“

Und schon hatte Dominik aufgelegt. Poppi ließ den Hörer auf die Gabel fallen und raste ins Banden­

quartier. Aber weder Axel noch Lilo verstanden, was wirklich los war.

„Wir... wir fahren trotzdem sofort zum Hotel!“ beschloß Liese­lotte und ließ ihren Knickerbocker-Mini-Koffer in der Hosenta­sche verschwinden. Er war nur so groß wie eine Streichholz­schachtel, enthielt aber jede Menge nützlicher Dinge.

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Axel stopfte eine Kamera, einen Bumerang, sein Spezialta­schenmesser, das Handy und noch zahlreiche andere Sachen in seinen Rucksack und war bereit zum Abmarsch.

Ratlos sah sich Poppi um. Sie wollte auch etwas mitnehmen, was vielleicht nützlich sein konnte. Aber was? Schließlich hatte sie eine Idee.

„Poppi, was soll der Quatsch? Wozu nimmst du deine beiden Ratten mit?“ schimpfte Lieselotte.

„Weil... weil wir sie unter Umständen brauchen können!“ sagte das Mädchen trotzig und drückte die Tiere liebevoll an sich.

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Page 21: Das Sprechende Grab

Der Auftrag

Was war im Theater geschehen? Als Dominik den Bühneneingang erreicht hatte, war der Portier

gerade nicht dagewesen. Deshalb hatte der Junge beschlossen, Frau Huber aufzusuchen. Die alte Klatschtante wußte doch über alles Bescheid. Vielleicht konnte sie ihm weiterhelfen.

Da er in dem riesigen Theatergebäude eine kleine Abkürzung nehmen wollte, betrat er die Bühne, die zu dieser Zeit verlassen im Halbdunkel lag. An den Wänden brannten vereinzelt Neonröh­ren.

Mit großen Schritten überquerte Dominik die Bretter, auf denen am Abend getanzt und gesungen wurde. Er hatte das andere Ende der Bühne schon fast erreicht, als er über sich Schritte hörte.

Erschrocken blickte er nach oben, wo Kulissenteile an langen Seilen hingen. „Schnürboden“ wurde dieser Teil des Theaters in der Fachsprache genannt. Während der Vorstellung konnten die Dekorationen innerhalb von Sekunden heruntergelassen und wie­der hinaufgezogen werden.

Wer war dort oben? Dominik erkannte eine Gestalt in einer weißen Jacke und einer

grauen Hose. Das war bestimmt kein Bühnenarbeiter! Papier raschelte. Dominik preßte sich in eine Mauernische, die im Dunkeln lag. Einige Sekunden vergingen. Dann schien jemand ein Blatt Papier zu zerknüllen. Ein zusam­

mengedrückter Zettel fiel vor Dominiks Füße. Er hob ihn auf und hörte, wie sich jemand über das Geländer beugte.

Der Junge blickte nach oben und konnte das Gesicht eines Chinesen ausmachen. Der Mann hatte ein Tuch um die Stirn gewickelt und schien sehr erschrocken, den Zettel fallengelassen zu haben.

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So schnell er konnte, raste Dominik durch die nächste Tür auf den Gang hinaus, stolperte die Treppe hinunter und stürmte aus dem Theater. Der Chinese hatte ihm eine Riesenangst eingejagt. Sein Gesichtsausdruck war wild und zornig gewesen.

Mit zitternden Fingern faltete Dominik das Papier auf, strich es glatt und überflog, was darauf stand. Die Botschaft war mit Schreibmaschine geschrieben und lautete: „Ware im Hotelsafe. Tresorkombination auf Kassette. Gelegenheit heute gegen 15 Uhr günstig. Büro unbenutzt.“

Ware? Safe? Kombination auf Kassette? Es sollte also etwas aus dem Tresor eines Hotels gestohlen

werden. Aber was hatte der Chinese auf dem Schnürboden zu suchen?

Während der Junge noch überlegte, sah er den Mann an der Außenmauer des Theaters über die Feuerleiter herunterklettern. Es gab vom Schnürboden einen Ausgang, der auf das Dach führte. Dominik hatte ihn bemerkt, als er sich einmal im Theater ein wenig umgesehen hatte. Normalerweise war die Tür aber abge­sperrt. Nur im Notfall, zum Beispiel bei einem Brand, ging sie automatisch auf, und die Bühnenarbeiter konnten fliehen.

Dominik zog eine Baskenmütze und eine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte beides auf. Er schlüpfte aus seiner Jacke und drehte sie um, so daß das andersfarbige Futter nach außen zeigte. Dann zog er sie wieder an und nahm die Verfolgung des Mannes auf. Verlor er ihn aus den Augen, würde er nie erfahren, welches Hotel gemeint war. Die Auswahl in Wien war groß. Es gab sicher Hunderte.

Der Knickerbocker war gut getarnt und leistete sich beim Beschatten keinen Fehler. Er hielt sich immer hinter Erwachsenen versteckt und ging, sofern sich die Gelegenheit bot, in einer Hauseinfahrt, hinter einer Säule oder einem Würstelstand in Deckung. Er ließ den Chinesen keine Sekunde aus den Augen, kam aber nie zu nahe an ihn heran.

Es dauerte nicht lange, bis der Junior-Detektiv erkannte, was das Ziel des Mannes war. Der Chinese sah sich um und ver­

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schwand durch einen Dienstboteneingang in dem weltberühmten Wiener Nobelhotel Sacher.

Der Knickerbocker raste zum Haupteingang und stürzte keu­chend auf den Portier zu. „Ihr Safe... soll ausgeräumt werden!“ stieß er hervor.

Der Portier blickte ihn von oben herab an. Er hatte schlecht geschlafen und in der Früh Streit mit seiner Frau gehabt. Außer­dem war er in letzter Zeit mehrere Male das Opfer von Jungen­streichen geworden. Er hatte keine Lust, schon wieder auf jeman­den hereinzufallen.

„In diesem Hotel gibt es zahlreiche Tresore. Auf Sicherheit wird bei uns größter Wert gelegt!“ sagte er hochnäsig.

„Einer soll geplündert werden!“ wiederholte Dominik. „Ha-ha-ha! Haben wir heute den 1. April?“ antwortete der Por­

tier. Mit einer energischen Handbewegung gab er dem Jungen zu verstehen, daß er auf der Stelle das Hotel verlassen sollte.

Dominik sah ein, daß es keinen Sinn hatte, den Mann überzeu­gen zu wollen. Deshalb stürzte er zur nächsten Telefonzelle, um seine Knickerbocker-Freunde zu verständigen.

Als er wieder auf die Straße trat, ging ihm etwas durch den Kopf. Wo hatte er die Kleidung des Chinesen schon einmal gesehen?

Klar! So waren in großen Hotelküchen die Köche gekleidet. Sie trugen weiße Stoffjacken und Hosen mit einem winzigen schwarz-weißen Karomuster.

Nachdem Dominik seine Knickerbocker-Kumpel alarmiert hat­te, schlich er durch den Nebeneingang in das Hotel. Bereits nach wenigen Schritten erreichte er eine sehr breite Metalltür, die sich mit einem leisen Zischen automatisch zur Seite schob. Dahinter lag die Küche, in der die Speisen für das feine Restaurant des Hotels zubereitet wurden.

Dominik holte tief Luft und trat ein. Er hatte große Angst davor, bemerkt und sofort wieder hinausgeworfen zu werden. Zum Glück entdeckte er eine große weiße Schürze und eine Kochhau­

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be. Damit konnte er sich etwas verkleiden, um nicht sofort aufzufallen.

Suchend schlich der frischgebackene Koch durch die große Küche und erspähte den Chinesen schließlich in einem kleinen Nebenraum. Der verdächtige Mann arbeitete dort an einem Eis­block, aus dem er einen großen springenden Fisch schnitzte.

Um etwas zu tun, stellte sich der Knickerbocker an einen niede­ren Tisch und begann Kartoffeln zu schälen. Sehr geschickt stellte er sich dabei nicht an, und von den meisten Kartoffeln blieb nur ein kleines Stückchen übrig.

„Ob dieser Typ auch auf dem Friedhof war?“ überlegte Domi­nik. Der Verdacht lag nahe.

Da klatschte ein stattlicher Koch in die Hände und rief: „Die Frau Direktor läßt bitten! Wenn Sie alle gleich in den Roten Salon kommen wollen! Sie hat etwas Wichtiges mitzuteilen!“

Murmelnd verließen die Köche und Helfer den Raum. Dominik duckte sich hinter einen Herd, der in der Mitte der Küche stand. Vorsichtig spähte er über die Arbeitsplatte zu dem kleinen Nebenraum hinüber.

Der Chinese wollte die Gelegenheit allem Anschein nach nutzen und holte eine kleine Tasche unter seinem Arbeitstisch hervor. Er steckte sie unter seine Schürze, wo Dominik mehrere Messer, drei Ninja-Wurfsterne und eine gefährliche Drahtschlinge erkennen konnte. Der Junior-Detektiv schluckte. Dieser Mann war äußerst gefährlich!

Hastig verließ der Chinese die Küche. Dominik zögerte einen Augenblick, nahm aber dann die Verfol­

gung auf.

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Die Pergamentrolle

Der Chinese huschte mit großen Schritten in den ersten Stock des Hotels und trat durch eine schmale Tür. Als der Junior-Detektiv ihm folgte, erkannte er, daß die andere Seite der Tür, die dem Gästebereich zugewandt war, weder eine Klinke noch einen Drehknauf hatte.

Dominik befand sich nun in einem eleganten, rot-weiß-gold eingerichteten Trakt des Hotels. Der dicke Teppich schluckte jedes Geräusch.

Hinter der ersten Biegung, die der Gang machte, trat der Chine­se an eine Tür und preßte das Ohr dagegen. Er zog einen Schlüs­selbund heraus und probierte mehrere Schlüssel durch, bis er endlich den richtigen gefunden hatte.

Wie ein Wiesel schlüpfte er in den Raum dahinter. Dominik nahm allen Mut zusammen, trippelte auf Zehenspitzen zur Tür und konnte sie gerade noch aufhalten, bevor sie ins Schloß fiel.

Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, folgte er dem Chinesen in den Raum und versteckte sich hinter einer mannsho­hen Holzstatue, die einen Butler darstellte. Dominiks Herz pochte so heftig, daß er es hören zu können meinte.

Der Chinese hastete suchend durch die beiden riesigen Räume, die ein bogenförmiger Durchbruch verband. An den Möbeln, einem gigantischen Schreibtisch und den drei Telefonen konnte Dominik erkennen, daß er sich wahrscheinlich in der Direktion des Hotels befand.

„Klar... die Direktorin hält eine Besprechung mit ihren Mitar­beitern ab. Deshalb ist die Gelegenheit günstig!“

Der Chinese hatte mittlerweile hinter einem unaufdringlichen Ölgemälde die Tür des Safes entdeckt. Er schien ein Profi zu sein. Aus der kleinen Tasche zog er ein Gerät, wie es Ärzte benutzen, um den Herzschlag abzuhören. Er holte auch einen Kassettenre­corder hervor und schloß kleine Kopfhörer an. Der Mann lauschte

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nun immer wieder der Aufnahme auf der Kassette und drehte dann an dem kleinen Rad der Safetür. Die Geräusche, die dabei verursacht wurden, verfolgte er mit dem Abhörgerät.

Für den Junior-Detektiv war klar, was vor sich ging. Auf der Kassette waren die Geräusche zu hören, die der Mechanismus der Tresortür von sich gab, wenn er mit der richtigen Kombination geöffnet wurde.

Ungefähr zur gleichen Zeit betraten Lilo und Poppi das Hotel. Axel suchte die Straße ab, weil die Knickerbocker Dominik

nirgendwo hatten sehen können. „Ich muß sofort mit dem Direktor sprechen!“ sagte Lilo zu dem

Portier an der Rezeption. „Hier gibt es keinen Direktor!“ antwortete dieser kühl. „Äh... aber irgend jemand muß das Hotel doch leiten!“ „Ja, die Frau Direktor!“ „Bitte, ich muß mit ihr reden. Es ist dringend!“ rief Lieselotte. Der Portier verdrehte die Augen und meinte spöttisch: „Willst

du ihr vielleicht erzählen, daß der Tresor ausgeräumt wird?“ „Ja!“ antwortete Lilo. „Raus!“ lautete die Antwort des Portiers. Das Superhirn kochte vor Wut. Die Holzfigur, hinter der sich Dominik versteckt hatte, war nur

ein paar Fuß von einem Fenster entfernt, das einen Spaltbreit offen stand. Der Wind wehte den Vorhang ins Zimmer, und der Knickerbocker nutzte die Gelegenheit, einen Blick hinunter auf die Straße zu werfen.

Axel! Dort stand Axel und sah sich suchend um. Er mußte ihm ein Zeichen geben. Aber wie?

Dominik kramte in der Tasche seiner weiten Jacke und wurde fündig. In der Schule hatte er sein Jausenbrot gegen ein Frisbee eingetauscht. Das Ding bestand aus Stoff und Draht und konnte klein zusammengefaltet werden.

Das war die Lösung! Dominik zog das Frisbee heraus und angelte sich einen Faserschreiber vom Tisch.

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Der Chinese hatte den Tresor mittlerweile geknackt und einen kleinen Kocher aufgestellt. Aus einer Metallflasche quoll Wasser­dampf. Was wollte er? Tee kochen? Jetzt? Hatte der nicht alle Tassen im Schrank?

„Bin in der Direktion im 1. Stock. Tresor wird ausgeräumt. Dominik“, schrieb der Junge auf den Stoff des Frisbees. Er warf einen Blick auf den Mann und vergewisserte sich, daß dieser beschäftigt war. Schon in der nächsten Sekunde sauste ein rot­gelbes Frisbee aus dem Fenster auf Axel zu.

Der Wind stieß das Fenster in diesem Augenblick gerade noch weiter auf. Die Scheibe klirrte, und der aufsteigende Wasser­dampf wurde verweht.

Der Chinese sah auf. Mit schnellen Schritten kam er in den Teil des Raumes, wo sich Dominik befand. Er schaute sich um und schloß das Fenster.

Dominik hockte unter dem Schreibtisch und hörte das Blut in seinen Ohren dröhnen. Die Hosenbeine des Safeknackers kamen so nahe an sein Gesicht heran, daß ihm das schwarz-weiße Karo darauf gar nicht mehr so winzig erschien. Der Junior-Detektiv wußte, daß ein Unglück geschehen würde, wenn ihn der Mann entdeckte.

Der Chinese kehrte zum Tresor zurück. Dominik atmete erleich­tert auf und wagte wieder einen Blick.

Seltsam! Der Gauner ließ wertvolle Schmuckstücke und dicke Banknotenbündel unberührt.

Schließlich zog der Chinese eine uralte Pergamentrolle von ganz hinten aus dem Tresor. Über dem Wasserdampf löste er das rote Siegel. Er breitete das Dokument aus und knipste es mehrmals mit einer winzigen Kamera. Danach schloß er das Siegel wieder und legte die Rolle in den Safe zurück. Niemand würde bemerken, was er getan hatte.

Welches Geheimnis barg das Pergament?

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Axels Tricks

Auf der Straße fing Axel das Frisbee und las die Botschaft. Er stürmte sofort ins Hotel, traf aber Lilo und Poppi nicht mehr in der Halle an.

„Wo geht es zur Direktion?“ fragte er den Portier. Der Mann bekam einen hochroten Kopf und schnaubte: „Wie­

so? Willst du den Tresorknacker schnappen, oder was?“ Axel blickte ihn verwundert an. „Wenn Sie ohnehin davon wis­

sen, warum unternehmen Sie nichts?“ Der Mann rang die Hände und verschwand im hinteren Teil der

Rezeption. „Ist diese Treppe der einzige Weg nach oben?“ rief ihm Axel

nach. „Nein, es gibt noch den Lift, aber der ist außer Betrieb!“ ant­

wortete eine elegante Dame, die gerade ihren Schlüssel abgege­ben hatte.

„Danke!“ brummte der Junge. Als er die Treppe hinauflief, fiel sein Blick auf den Teppich, der

mit Hilfe dünner Messingstangen über die Stufen gespannt war. Axel hatte eine Idee. Er holte ein Stück Bindfaden aus der Tasche, knüpfte eine Schlinge, löste eine der Stangen aus der Veranke­rung, schob die Schlinge über die Stange und leitete das andere Ende der Schnur bis zum Fuß der Treppe. Im Notfall würde sie ihm gute Dienste leisten. Dann raste er zur Direktion.

Der Chinese hatte seine Arbeit getan und wollte sich aus dem Staub machen. Schnell ließ er seine Werkzeuge in der Tasche verschwinden.

Dominik hörte eine Tür aufgehen. Hastig kam der Junge aus seinem Versteck, blieb dabei mit dem Fuß an einem losen Kabel hängen und riß eine Schreibtischlampe und drei weiße Porzellan­figuren zu Boden. Es krachte und klirrte, und vom anderen Ende des Raums her ertönte ein Kampfschrei.

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Zu spät wurde dem Junior-Detektiv klar, daß der Chinese noch gar nicht gegangen war. Der Gauner wirbelte wie eine Kugel durch die Luft. Dominik hechtete hinter den Schreibtisch und vernahm ein dumpfes metallisches Geräusch über sich.

Doch nun verließ der Safeknacker tatsächlich den Raum. Als Dominik den Kopf hob, sah er ein Messer in der Brust der

Holzfigur stecken. Der Junge wurde käseweiß im Gesicht und spürte, wie die Kraft aus seinen Armen und Beinen wich.

Wo blieb Axel? War die Polizei schon verständigt worden? Der Knickerbocker torkelte auf den Gang – direkt in die Arme

des chinesischen Kochs, der sich offensichtlich nicht entscheiden hatte können, in welche Richtung er laufen sollte.

Lieselotte zwirbelte ihre Nasenspitze, um besser nachdenken zu können. Sie mußte unbedingt mit der Direktorin des Hotels spre­chen. Im Salon hinter der Empfangshalle saßen einige Gäste, tranken Kaffee und ließen sich die Torte des Hotels schmecken, die nach einem streng geheimen Rezept gebacken wurde.

„Ich weiß was!“ sagte das Superhirn leise zu Poppi und flüsterte ihr etwas zu.

Das Mädchen nickte und holte seine Ratten unter der Jacke her­vor. „Lauft ihr beiden, los! Es geschieht euch nichts!“ murmelte Poppi.

Die Tiere trippelten los und hatten bald das Bein einer beson­ders feinen Dame in einem edlen Kostüm erreicht. Neugierig richteten sie sich daran auf, da sie den köstlichen Geruch der Sachertorte schnupperten, die die Dame gerade verspeiste.

Irritiert blickte die Frau von ihrem Teller auf, um zu sehen, was sie so kitzelte, sah die Ratten und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Sie warf die Arme theatralisch zur Seite und fiel in Ohnmacht.

Augenblicklich herrschte in dem Salon das totale Chaos. Frauen und Männer hüpften hin und her, als tanzten sie auf glühenden Kohlen, und schrien lautstark um Hilfe.

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Es dauerte exakt neununddreißig Sekunden, bis die Direktorin des Hotels gelaufen kam.

„Die Kinder haben Ratten freigelassen!“ beschwerte sich ein Mann empört.

Die Direktorin des Hotels trat zu Lilo und Poppi und sagte streng: „Was soll das?“

„Wir haben das nur getan, weil wir Ihnen etwas sagen wollten: Ihr Tresor wird ausgeräumt! Bitte, glauben Sie uns!“ beschwor Lilo die Frau.

Dominik bewies, daß er Nerven wie Stahlseile hatte. Als er plötz­lich den Rücken des Chinesen vor sich sah, warf er sich zu Boden und tat so, als würde er etwas suchen. „Meine Kontaktlinsen... ich habe... ich habe... meine Kontaktlinsen verloren!“ stammelte er.

Doch der Koch fiel nicht darauf herein, zog ein zweites Messer aus dem Gürtel, schnappte Dominik und setzte ihm die Waffe an die Kehle. Wutschnaubend zerrte er den Jungen hinter sich her. Er wollte ihn als lebendigen Schutzschild benutzen.

Plötzlich tauchte Axel vor den beiden auf. Er sah, in welcher Gefahr sich sein Kumpel befand, und erstarrte für einen Augen­blick.

Dann aber griff er in seinen Rucksack und nahm eine stachelige Kugel heraus. Er zog an einem Draht und rollte die Kugel dem Chinesen vor die Füße.

Dieser starrte sie erstaunt an, wurde aber schon in der nächsten Sekunde in eine stinkende schwarze Rauchwolke gehüllt. Ekeliger Schleim spritzte aus dem Feuerwerkskörper.

Der Rauch löste den Feueralarm aus, und die Schutztüren be­gannen sich zu schließen. Sofort ließ der Koch Dominik los und vollführte wieder seinen Kugeltrick. Er schaffte es tatsächlich, der Falle, die die Brandschutztüren bildeten, zu entgehen.

„Mist, er entkommt uns!“ tobte Dominik. „Nein, er muß über die Treppe!“ stieß Axel hervor. Wieder

kramte er in seinem Rucksack und holte ein Mini-Funkgerät hervor. Er drückte auf einen Knopf und wartete.

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Spuk im Spiegel

Lieselottes linke Zopfspange blinkte und begann zu tuten. Sie zog eine winzige Antenne heraus und berührte einen kleinen Knopf. Axel ließ sie nicht einmal zu Wort kommen.

Sofort setzte sie sich in Bewegung. Poppi, die ihre beiden Rat­ten wieder an sich genommen hatte, wollte mitkommen.

„Nein, du bleibst da! Das ist zu gefährlich für dich!“ sagte Lieselotte und schob sie zur Seite.

Poppi hätte am liebsten geheult. Das Superhirn raste in die Vorhalle und stürzte auf den Hand­

lauf der Treppe zu. Sie packte das Ende der Schnur, die Axel angebracht hatte, und ging hinter der Mauerkante in Deckung. Schritte näherten sich. Lilo warf einen Blick um die Ecke, ließ den Chinesen herankommen und riß dann an der Schnur.

Nun halfen ihm weder seine Kung-Fu- noch seine Karate-Kenntnisse. Die Messingstange der Treppe schnellte hoch, der Mann stolperte und fiel – sich viermal überschlagend – die Treppe herunter.

Wenige Sekunden später tauchten am oberen Absatz Dominik und Axel auf. „Die Kamera... in der Tasche!“ schrien sie im Chor.

Lieselotte ließ ihre Finger in die Tasche des Mannes gleiten und zog den winzigen Fotoapparat heraus. Triumphierend hielt sie ihn in die Höhe.

Eine Stunde später war vor dem Hotel die Hölle los. Nicht nur die Polizei war gekommen, sondern auch Reporter von Fernsehen, Radio und Zeitung.

Einer von ihnen zappelte hektisch vor einer Kamera hin und her und berichtete: „Ich melde mich aus Wien, vom berühmtesten Hotel der Stadt. Nicht Wachebeamte haben einen spektakulären Diebstahl vereitelt, sondern drei Junior-Detektive namens Lilo, Axel und Dominik. Sie konnten verhindern, daß das streng ge­heim gehaltene Rezept der Wiener Sachertorte gestohlen und in

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alle Welt verkauft wird. Der Wert des Rezeptes geht in die Millio­nen. Die Junior-Detektive haben den Dieb ausgetrickst. Es handelt sich um die Knapperbocker... äh... Knipperbacker... nein, die Kopperknapper...“

„...die Knickerbocker-Bande!“ half ihm Axel weiter. Der Reporter strahlte beglückt und nickte heftig. „Das war ein

Bericht aus Wien von Mark Levin!“ schloß er. Als Poppi am Abend die Bilder im Fernsehen sah, traten ihr die

Tränen in die Augen. Der Reporter hatte sie nicht einmal erwähnt. Sie saß mit ihren Freunden im Bandenhauptquartier und versuchte sich die Traurigkeit nicht anmerken zu lassen.

Lilo und Dominik feierten ihren Kumpel Axel, dessen Tricks und Ideen sich als absolut sensationell erwiesen hatten.

„He, Leute, ich sage euch etwas: Der Fall ist nicht gelöst! Der chinesische Koch behauptet nämlich, seinen Auftraggeber nicht zu kennen. Er hat sich die Botschaften immer im Theater am Schnürboden abgeholt! „sagte Axel.

Dominik blickte Lilo fragend an. „Irgend jemand muß sie dort hinterlassen haben...“

Am nächsten Tag machte sich Dominik nach der Schule auf den Weg zum Theater. Diesmal sollte die Probe für die neue Show tatsächlich stattfinden. Dominik freute sich schon sehr darauf, daß er im neuen Programm eine eigene Tanz- und Gesangsnummer haben würde.

Als er beim Schwarzen Brett vorbeikam, wo alle Neuigkeiten angeschlagen waren, stutzte er. Das durfte doch nicht wahr sein! Die Probe war um zwei Stunden verschoben worden.

Da er nicht mehr nach Hause wollte, beschloß er, bei Erik Schauer vorbeizuschauen. Er war nicht nur der Besitzer, sondern auch der Direktor des Theaters, und sein Büro befand sich im obersten Stockwerk.

Als der Knickerbocker an die große dunkle Eichentür herantrat, hörte er aufgeregte, laute Stimmen. Die Tür stand halb offen und gab den Blick in das Büro frei.

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Dominik erkannte Herrn Schauer, der klein, gedrungen und irgendwie ekelig war. Das lag vor allem an seinen Haaren, die immer wie mit Slime beschmiert am Kopf klebten, und den schlecht sitzenden schlammfarbenen Anzügen.

Ihm gegenüber stand eine stattliche, sehr schlanke Frau mit har­ten Gesichtszügen und einer turmförmigen Frisur. Es war Tamara Turakowa, die Leiterin des Balletts. „Du hättest mich wenigstens fragen können, bevor du die Kleine engagiert hast!“ bellte sie und spielte dabei voll aus, daß sie den Direktor um fast zwei Köpfe überragte.

Dieser wich fast ein wenig ängstlich zurück und verteidigte sich: „Aber hast du die Ähnlichkeit nicht erkannt?“

Frau Turakowa rümpfte die Nase und schien keine Ahnung zu haben, wovon der Direktor sprach. „Ähnlichkeit? Die Kleine sieht wie jedes andere Gänschen aus, das zum Theater will und dir den Kopf verdreht.“

„Das muß ich mir nicht sagen lassen, Tamara!“ schrie der Direktor mit hochrotem Kopf. Er beruhigte sich jedoch schnell wieder und sagte: „Das Mädchen heißt Melissa und ist Annie Kramers Tochter!“

„Annie Kramer?“ Die Leiterin des Balletts schien den Namen irgendwo vor langer Zeit einmal gehört zu haben. Nachdenklich starrte sie vor sich hin.

„Sie wird in der neuen Show nicht nur mit den anderen tanzen, sondern eine große eigene Nummer bekommen. Ich denke da an die Geschichte eines kleinen Kükens, das sich in einen wunder­schönen Schwan verwandelt.“

„Ich werde prüfen, ob die Kleine überhaupt das Zeug dafür hat!“ sagte Tamara Turakowa kühl und wandte sich grußlos ab. Ein wenig hinkend verließ sie den Raum und stieß dabei auf Dominik. Wütend funkelte sie ihn an. „Hast du gelauscht, oder was?“

Dominik schüttelte stumm den Kopf.

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„Gut, daß ich dich treffe! Du kannst gleich in den Ballettsaal zum Training mitkommen!“ keifte Frau Turakowa und riß den Jungen am Ohr.

„Lassen Sie mich los!“ protestierte Dominik. Er haßte das Training, weil Frau Turakowa schrecklich gemein sein konnte.

Doch es half alles nichts. Mehr als eine Stunde lang mußte Dominik üben. Die Choreographin ließ ihre Wut an ihm ab und weidete sich an seiner zunehmenden Erschöpfung.

Nachdem Dominik geduscht hatte, schlüpfte er in einen Trai­ningsanzug. Er wollte sich eine Kleinigkeit zu essen besorgen. Als er am Zuschauerraum vorbeikam, hörte er Musik auf der Büh­ne. Er öffnete eine Tür und lugte in den Saal.

Auf der Bühne übte ein zartes, dunkelhaariges Mädchen vor einem großen Spiegel mit einem goldenen Rahmen. Die Musik kam aus einem Kassettenrecorder.

Dominik ertappte sich bei dem Gedanken, daß er das Mädchen äußerst anziehend und sexy fand. Ihre Bewegungen waren anmutig, ja geschmeidig.

Lautlos betrat er den dunklen Zuschauerraum und nahm Platz. Ohne sich bemerkbar zu machen, beobachtete er die junge Tänze­rin, die er noch nie zuvor am Theater gesehen hatte. War das Melissa?

Plötzlich riß die Musik ab, und das Mädchen erschrak. Dominik beugte sich verwundert vor und traute seinen Augen

nicht: Im Spiegel war eine gräßliche Gestalt aufgetaucht.

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Rettung in letzter Sekunde

Es handelte sich um einen Mann mit Frack und Umhang, der ei­nen hohen Zylinder auf dem Kopf trug. Das Gesicht des Unbe­kannten war leichenblaß, die Augen lagen in tiefen, dunklen Höh­len, die Wangen waren zerfurcht und eingefallen. Dominik mußte beim Anblick der Fratze an einen Toten denken und erschauderte.

Die Finger der Erscheinung waren lang und krallenförmig. Sie umklammerten den Knauf eines Stöckchens, auf das sich der Mann stützte. Er schien Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten.

Fassungslos taumelte das Mädchen quer über die Bühne. „Melissa!“ hob die Spukgestalt an. Jedes Wort schien sie anzu­

strengen. „Melissa, du hast mich enttäuscht! Sehr enttäuscht!“ Die Tänzerin begann am ganzen Körper zu zittern. „Aber ich...

ich... habe alles getan, was du von mir verlangt hast! Ich schwöre es!“ versicherte sie immer wieder.

„Falls du dich meinen Befehlen noch einmal widersetzt, werde ich dich dafür bestrafen!“ drohte die gräßliche Gestalt. „Willst du mir denn nicht helfen? Muß ich die Schuld, die ich auf mich geladen habe, bis zum Jüngsten Tag mit mir tragen?“

Melissa schüttelte stumm den Kopf und wankte. Sie machte den Eindruck, als würde sie im nächsten Augenblick zusammenbre­chen. Der Schock überstieg die Kräfte des zierlichen Mädchens.

„Diese Stimme... das ist dieselbe Stimme, die wir am Grab gehört haben!“ schoß es Dominik durch den Kopf. Er wollte etwas rufen, aber der Unbekannte war bereits verschwunden.

Im Spiegel war wieder das Bild des Mädchens zu sehen. Lang­sam ging Melissa darauf zu und streckte vorsichtig die Hand danach aus. Hatte sie geträumt?

Als ihre Fingerspitzen das kühle Glas berührten, ertönten knar­rende, schaurige Töne. Der neuerliche Schreck lähmte das Mäd­

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chen. Mit weit aufgerissenen Augen mußte es mit ansehen, wie sich sein Spiegelbild zu verändern begann.

Innerhalb weniger Sekunden alterte sein Gesicht. Was sonst fünfzig Jahre dauerte, vollzog sich im Spiegel innerhalb weniger Augenblicke. Melissa bekam eine Falte nach der anderen, und ihr Haar wurde immer schütterer und farbloser, bis es ihr schließlich in grauen brüchigen Strähnen vom Kopf hing.

Doch damit war der Spuk noch nicht zu Ende! Ihr Antlitz schien zu verwesen, bis nur noch ein fahler Mumienschädel übrigblieb.

Melissa stöhnte leise auf und verlor das Bewußtsein. Dominik rannte zu ihr. Er kniete sich neben die junge Tänzerin.

Was sollte er jetzt tun? „Paß auf!“ hörte er in diesem Moment Lieselotte schreien. Er

drehte den Kopf und sah das Superhirn und Axel in der Tür zum Zuschauerraum stehen. Wovor warnten sie ihn?

„Hinter dir!“ brüllte Axel. Dominik drehte sich um und erblickte die Spukgestalt im Frack.

Sie hielt eine schwere Eisenstange in den Händen, mit der sie den Junior-Detektiv niederschlagen wollte.

Als der Unbekannte die beiden anderen Knickerbocker bemerk­te, ließ er jedoch die Stange fallen und ergriff die Flucht. Er schwang sich auf eine Leiter, die an der Wand befestigt war, und kletterte zum Schnürboden hinauf.

Axel zögerte keinen Augenblick und nahm die Verfolgung auf. Geschickt wie ein Affe turnte er in die Höhe. Als er noch oben schaute, sah er, daß der Mann gerade auf einen schmalen Balken stieg, der von einer Seite der Bühne zur anderen reichte. Um das Gleichgewicht zu halten, streckte die Gestalt im Frack die Arme zur Seite und balancierte gekonnt hinüber.

Um dem Unbekannten auf den Fersen zu bleiben, mußte Axel denselben Weg nehmen. Er schluckte und warf unvorsichtiger­weise einen Blick nach unten. Auf der Bühne sah er Dominik und Lilo neben der Tänzerin knien. Sie starrten zu ihm hinauf.

Erst jetzt wurde Axel bewußt, daß er sich mindestens zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter über dem Boden befand. „Denk

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nicht daran!“ sagte er streng zu sich. Die immer leiser werdenden Schritte des seltsamen Mannes verrieten, daß dieser bereits einen großen Vorsprung hatte.

„Ich muß ihn einholen. Das ist bestimmt der Typ, der dem Chi­nesen den Auftrag gegeben hat!“ dachte Axel und stieg auf den Balken. Dieser war noch schmaler und wackeliger, als er befürch­tet hatte. Bei jedem Schritt schwang das Holz leicht zur Seite.

Axel spürte, wie seine Handflächen feucht wurden und seine Knie zu zittern begannen. Umkehren war sinnlos! Er hatte bereits den halben Weg zurückgelegt.

„Paß auf! Sei vorsichtig!“ kamen die Stimmen seiner Freunde von der Bühne. Sie schienen so unendlich weit entfernt.

Auf einmal war es Axel, als würde er von einem Strudel in die Tiefe gerissen. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen, sei­ne Beine versagten ihm den Dienst, und hilflos ruderte er mit den Armen durch die Luft.

„Aaa!“ Er verlor das Gleichgewicht und kippte ins Nichts. „Nein!“ schrie Dominik und schlug die Hände vor die Augen.

Axel stürzte ab! Lieselotte sprang zur Leiter. „Ich helfe dir!“ rief das Superhirn. Dominik schöpfte Hoffnung und wagte einen Blick nach oben.

Erleichtert erkannte er, daß sich Axel an einer dünnen Stange, die links von ihm an zwei Stahlseilen von oben herabhing, abgefan­gen hatte. Doch die Stange war zur Seite geschwungen, so daß der Junge nun schräg, fast waagrecht zwischen ihr und dem Balken hing und weder vor noch zurück konnte. Er schien sich mit aller Kraft festzuklammern, doch seine Finger begannen Stück für Stück abzugleiten.

Nach Atem ringend richtete sich Melissa auf. „Du mußt mir helfen! Los, klettere auf der anderen Seite nach

oben!“ brüllte Lilo Dominik zu. Dieser erkannte eine zweite Leiter an der gegenüberliegenden

Wand und machte sich an den Aufstieg. Als er die Stange erreicht hatte, packte er das eine Ende und Lilo das andere.

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Mit vereinten Kräften schafften sie es, ihren Kumpel aus der gefährlichen Lage zu befreien.

Kaum stand Axel aufrecht, balancierte er mit schnellen Schrit­ten weiter. Als er Dominik erreichte, klopfte er ihm auf die Schul­ter und rief: „Cool, Mann! Danke!“

Da wurde über ihren Köpfen eine quietschende Tür geöffnet. Grelles Tageslicht strömte in den schummrigen Schnürboden. Von der Spukgestalt waren nur die Umrisse des weiten Umhangs zu sehen, der im Wind flatterte.

Der Unbekannte stieg auf das Dach hinaus. Axel verlor keine Sekunde und setzte ihm nach.

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Der Dachboden des Grauens

Als der Knickerbocker durch den Notausgang nach draußen stieg, schlug ihm ein kalter Wind entgegen. Entschlossen ließ er seinen Blick über die Dächerlandschaft schweifen, die sich vor ihm erstreckte.

Dort! Der Unbekannte hatte bereits das übernächste Haus er­reicht. Mit Riesenschritten hastete er über das schräge schindelge­deckte Dach.

Axel folgte ihm und nahm sich fest vor, nicht nach unten zu schauen. Er wußte, daß er sich mindestens sechs Stockwerke über der Straße befand. Wie aus weiter Ferne drang der Lärm der Autos an seine Ohren.

Dominik und Lieselotte wollten ihren Kumpel nicht allein lassen und stiegen bald ebenfalls durch die Tür auf das Dach. Lilo, die eine hervorragende Bergsteigerin war, streckte die Arme zur Seite und begann mit sicheren Schritten über den Dachfirst zu balancieren.

Dominik spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren trat. „Li­lo, ich muß dir etwas sagen!“ rief er und kämpfte sich auf allen vieren voran. „Ich muß dir etwas sagen, was ich dir bisher verschwiegen habe!“

„Jetzt ist keine Zeit für Geständnisse!“ knurrte Lieselotte und achtete genau darauf, wo sie hintrat. Ein falscher Schritt und...

„Hilfe!“ Unter Lilos Füßen hatte sich eine Dachschindel gelöst. Sie glitt weg, und das Mädchen rutschte zur Seite. Lieselotte gelang es gerade noch, sich am First festzuhalten. Die Schindel sauste das Dach hinunter und stürzte in die Tiefe. Sekunden ver­gingen, bis ein helles Klirren anzeigte, daß sie auf dem Gehsteig zerschellt war.

Keuchend zog sich Lieselotte hoch und machte sich wieder auf den Weg. Die Spukgestalt hatte einen großen Vorsprung, und Axel war ihr dicht auf den Fersen.

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Der Unbekannte stürmte gerade eine Dachschräge hinunter und setzte zu einem mächtigen Sprung an. Wie eine schwarze Kano­nenkugel sauste er über einen Innenhof und landete auf dem gegenüberliegenden Dach.

Axel konnte sich im letzten Moment einbremsen. Die Kluft zwi­schen den Häusern war zu breit für ihn, die Absturzgefahr zu groß.

Der Knickerbocker sah sich um und erkannte eine andere Möglichkeit, auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses zu gelangen. Allerdings mußte er einen gewaltigen Umweg in Kauf nehmen.

Auf dem Hosenboden rutschte Dominik über das rauhe Dach. „Lilo, ich muß es dir trotzdem sagen!“ jammerte Dominik. „Ich... ich bin nicht schwindelfrei. Ich habe entsetzliche Angst! Es dreht sich alles. Ich... ich kann nicht mehr!“

Erschrocken wandte sich das Superhirn zu seinem Kumpel um, der sich gerade verzweifelt an einem Schornstein festklammerte.

Eine heftige Windbö brachte Lilo aus dem Gleichgewicht, und sie stürzte. Schreiend rasselte sie nach unten, dem Rand des Daches entgegen.

„Lieselotte!“ japste Dominik. Lilos Schuhe trafen auf die Dachrinne, die ihre Schußfahrt

beendete. Erleichtert atmete das Mädchen auf. Doch da brach die Dachrinne durch, und Lieselotte raste ins

Leere. Geistesgegenwärtig streckte das Mädchen die Arme zur Seite und bekam die Verankerung der Dachrinne zu fassen. Mit aller Kraft klammerte sich Lilo daran fest. Ihre Beine baumelten in der Luft. Ihre Finger schmerzten bereits, und sie wußte nicht, wie lange sie diesen Griff würde halten können.

„Dominik, hol Hilfe! Schnell!“ schrie sie und versuchte sich hochzuziehen. Doch sie schaffte es nicht.

Ihr Knickerbocker-Kumpel, der sich noch immer am Schorn­stein festklammerte, konnte vor Angst und Aufregung nicht antworten. „Ich bin auf dem Boden... ich bin nicht hoch oben!“

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sagte er sich immer wieder vor und begann über den Dachfirst zu rutschen.

Wo war Axel? Trotz des Umwegs, den Axel nehmen mußte, war er dem flüch­

tenden Unbekannten auf den Fersen geblieben. Er beobachtete, wie der Mann sich durch eine Dachluke schwang und ver­schwand.

Axel kletterte ihm nach und fand sich in einem muffigen Dach­boden wieder, der über und über mit buntem Gerümpel gefüllt war.

Mit angehaltenem Atem lauschte der Junge nach einem ver­dächtigen Geräusch.

Nein, nichts! Es war nur das Gurren der Tauben zu vernehmen. Die Spukgestalt schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Vorsichtig bahnte sich Axel einen Weg durch den Speicher und betrachtete die Kästchen, Truhen, Vasen, Fässer und Gestänge.

Erschrocken sprang er zur Seite, als neben ihm plötzlich Spiel­karten aus einer schwarzen Kiste wirbelten.

Auf einem verstaubten Kerzenleuchter entzündeten sich wie von Geisterhand sieben Flammen, und aus einer sargähnlichen Truhe schnellte ein Skelett. Es krachte zu Boden, wo es in seine Bestandteile zerfiel. Mit einem leisen Surren sauste es jedoch gleich wieder in die Höhe und setzte sich zu einem Ganzen zusammen.

Axel wich zurück und stieß dabei gegen eine menschengroße Puppe, die eine Tänzerin im Spitzenrock darstellte. Die Puppe hatte die Arme über den Kopf gehoben und stand auf den Zehenspitzen. Zu den Klängen einer Spieluhr drehte sie Axel langsam ihr Gesicht zu. Der Junge stieß einen Schrei aus: Eine mumienhafte Fratze grinste ihm mit einem zahnlosen, eingefalle­nen Mund entgegen.

Axel stolperte und landete auf einem Tisch. Er bekam gar nicht richtig mit, was nun geschah: Ein schwarzer Stoff glitt über seinen Kopf, und jemand packte ihn an den Schultern.

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Im nächsten Augenblick lag er schon ausgestreckt auf dem Tisch, und von oben klappte etwas über ihn herab, das nur seinen Kopf und seine Füße freiließ.

Mit schrillem Kreischen setzte sich über ihm eine Kreissäge in Bewegung, die sich im Zeitlupentempo auf ihn niedersenkte.

„Nicht! Hilfe!“ brüllte Axel. In diesem Augenblick schlüpfte Dominik durch die Luke in den

Dachboden. „Axel! Lilo stürzt ab!“ schrie er. „Befrei mich! Schnell!“ keuchte Axel. Dominik stürzte zu dem Tisch und wollte ihn wegschieben,

doch das Möbel bewegte sich keinen Millimeter. Mit aller Kraft versuchte der Junge, den Kasten, in dem Axel gefangen war, hoch zu stemmen, aber es war zwecklos.

Die Kreissäge senkte sich gnadenlos. Sie war kaum noch zwei Handbreit von der Kiste entfernt.

Dominik wußte nicht mehr ein noch aus. Wem sollte er helfen? Wie von allein griffen seine Hände nach einem Seil, das an der

Wand hing. Der Junge fühlte sich wie ein Schlafwandler, als er wieder durch die Dachluke nach draußen stieg, um zu Lieselotte zurückzukehren.

Holz splitterte, als die Kreissäge sich in die Kiste fraß. Axel wurde schwarz vor den Augen.

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Ratlos

Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben robbte Dominik voran.

„Schnell... ich kann nicht mehr!“ keuchte das Mädchen, das mit den Schuhen an der Hausmauer nach Halt suchte, aber immer wieder abrutschte.

Mit zitternden Beinen richtete sich Dominik auf dem Dachfirst auf und schleuderte Lilo ein Ende des Seils zu. Doch das Seil fiel nicht nach unten, sondern richtete sich kerzengerade auf und stand wie eine Stange in den Himmel.

„Was soll das... Tu was!“ Lieselottes Finger brannten wie Feuer, ihre Arme schmerzten höllisch.

Verzweifelt rang Dominik mit dem Seil, und nach mehreren Versuchen gelang es ihm endlich, es Lieselotte zuzuwerfen.

Blitzschnell schnappte Lilo nach dem Ende des Taues und beob­achtete verdutzt, wie es sich von allein um ihren Unterarm schlang.

Ihr Knickerbocker-Kumpel hatte das andere Ende um den Schornstein gewickelt, so daß sie sich an dem Seil nach oben ziehen konnte. Trotz Schmerzen und Erschöpfung schaffte sie es, bis zum First zu gelangen, wo sie keuchend liegenblieb. Der Schweiß tropfte ihr von der Stirn, und ihr Mund war trocken wie Löschpapier.

„Was ist das... für ein seltsames Seil?“ japste das Superhirn. „Axel... Axel... in der Mitte zersägt!“ stieß Dominik hervor. „Was? Spinnst du?“ schrie Lieselotte. Wie ein Roboter setzte sich Dominik wieder in Bewegung und

kämpfte sich abermals zur Dachluke vor. Lilo folgte ihm. Auf dem Dachboden hatte sich etwas äußerst Merkwürdiges

zugetragen. Axel war von der Kreissäge in der Mitte durchtrennt worden und trotzdem unverletzt geblieben. Wie war das möglich?

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Fassungslos sah er die andere Hälfte des Tisches, an der seine Schuhe aus dem unteren Ende des Kastens ragten. Sie stand mindestens zwei Meter von seinem Kopf entfernt.

Als Lilo und Dominik den Dachboden erreichten, tauchte gera­de ein junger Mann aus der Dunkelheit des Raumes auf. Seine Gesichtszüge wirkten versteinert, seine Bewegungen ruhig und kontrolliert. Er trug schwarze Hosen und einen schwarzen Roll­kragenpulli. Mit spöttischem Grinsen schob er die beiden Teile des Tisches zusammen und warf ein schwarzes Tuch darüber.

Dominik und Lieselotte, die gerade durch die Luke gekrochen waren, beobachteten mit großen Augen, wie der Mann das Tuch wegzog und die kastenförmige Abdeckung entfernte. Axel sprang vom Tisch und lief zu seinen Freunden.

„Verschwindet!“ sagte der Unbekannte mit tiefer heiserer Stimme.

„Sie haben Melissa erschreckt! Sie waren die schreckliche Gestalt!“ stieß Dominik hervor.

„Verschwindet!“ wiederholte der Mann ungerührt. Als die Knickerbocker keine Anstalten machten, den Dachboden zu verlassen, streckte er drohend die Rechte aus und richtete die gespreizten Finger auf Dominik. Wie von Geisterhand wurde der Junge in die Höhe gehoben.

Als der Mann die Hand zurückzog, plumpste der Knickerbocker wie ein feuchter Sack zu Boden.

„Zum letzten Mal: Verschwindet!“ sagte der Mann. Er drehte sich einmal im Kreis und schien sich im nächsten Augenblick schon in Luft aufgelöst zu haben.

„Wie... wie gibt es das? Wie ist das möglich?“ stotterte Domi­nik, der noch immer auf dem Boden kauerte.

„Ist doch klar, es handelt sich um Zaubertricks! Alles nur billi­ger Schwindel!“ meinte Lilo cool.

„Hättest du mir das nicht früher sagen können? Der Schwindel hat mich jede Menge Nerven gekostet!“ brummte Axel.

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Auf jeden Fall war jetzt auch klar, was es mit dem Seil auf sich hatte. Es handelte sich um ein präpariertes Tau, wie es von Zauberern benutzt wird.

„He, seht euch das an!“ rief Axel und deutete auf die Bildchen, die auf den Trickgeräten angebracht waren. Sie zeigten einen teuf­lisch grinsenden Mann mit Zylinderhut und gekreuzten Armen.

„Das ist dieselbe Figur wie auf dem Grabstein. Ich glaube, es handelt sich um den Magier Rudolpho Conte...!“ stellte Lieselotte fest. „Wahrscheinlich hat das alles einmal ihm gehört.“

Dominik entdeckte auch etwas. Achtlos in eine Ecke geworfen lag ein zottiges Kostüm. Er hob es mit spitzen Fingern auf und betrachtete die Maske, die daran befestigt war. Mittels eines klei­nen Knopfes konnte man zwei Lämpchen einschalten, die die Au­gen glühen ließen. Der Junge fand auch eine winzige Maschine, die für den Rauch gesorgt hatte, welcher aus den Nüstern des Monsters gequollen war, das ihn im Theater überfallen hatte.

Stotternd erklärte er seinen Detektivfreunden die technischen Geheimnisse des Kostüms. Lieselotte zog nachdenklich die Augenbrauen hoch und begann ihre Nasenspitze zu kneten.

„Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, wer der Typ von vorhin war! Dann sind wir der Lösung des Falles einen großen Schritt näher gekommen. Ich wette, daß hinter der Spukgestalt und dem Unbekannten auf dem Friedhof ein und derselbe Kerl steckt.“

„Aber was will er von Melissa?“ fragte Dominik. Lilo überlegte kurz und zuckte ratlos mit den Schultern. Die Knickerbocker-Freunde stießen auf eine Tür, durch die sie

den Dachboden auf normalem Weg verlassen konnten, und liefen hinunter auf die Straße. Sie wollten noch einmal ins Theater zurück, um dort nach Melissa zu sehen.

Auf der Bühne war die Tänzerin allerdings nicht mehr, doch Frau Huber, die Maskenbildnerin, wußte, wo sie sich befand. „Sie liegt in ihrer Garderobe, und der Herr Direktor hält ihr das Händ­chen!“ sagte sie spitz.

Dominik führte seine Kumpel zu dem Gang, in dem am Vortag die Gestalt im schwarzen Kapuzenmantel verschwunden und das

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zottige Monster aufgetaucht war. Dem Mädchen war die Gardero­be am Ende des Korridors zugewiesen worden.

Als die drei eintraten, sahen sie Melissa bleich und zerbrechlich auf dem Bett liegen. Direktor Schauer saß tatsächlich bei ihr und streichelte ihre Hand. Frau Turakowa, die etwas abseits stand, beobachtete mit zusammengekniffenen Lippen jede seiner Bewe­gungen.

„Ich habe es mit eigenen Augen gesehen: Es war eine gräßliche Gestalt, die da im Spiegel erschienen ist und Melissa erschreckt hat!“ begann Dominik.

Die anwesenden Erwachsenen blickten ihn zuerst überrascht an und begannen dann mitleidig zu lächeln.

Auf einmal hörte der Junge hinter sich eine Stimme und drehte sich erschrocken um. In einer Ecke der Garderobe stand der junge Mann, der vorhin auf dem Dachboden aufgetaucht war.

„Er war es! Er hat Melissa geschockt! Vorgestern habe ich ihn auch gesehen. Als Monster hier auf dem Gang!“

Melissa richtete sich vorsichtig auf und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Mir ist vorhin nur schwindlig geworden, weil ich nicht genug gegessen hatte.“

Dominik wich verblüfft zurück. Was sollte das heißen? Wieso leugnete das Mädchen, was geschehen war?

„Ich... ich habe es aber gesehen!“ stammelte er nun ein wenig hilflos.

„Wie lange müssen wir uns diesen Unsinn noch anhören? Schluß jetzt!“ sagte der junge Mann scharf und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dominik, ich habe dir bereits mehrmals verboten, andere Kin­der ins Theater mitzunehmen. Das ist kein Spielplatz! Raus!“ sag­te der Direktor.

Mit hängenden Köpfen traten die drei den Rückzug an. Sie wuß­ten, daß jeder Widerspruch zwecklos war, und sie sich in den Au­gen der Anwesenden nur lächerlich gemacht hatten. Aber weshalb war ihnen die Tänzerin in den Rücken gefallen? Grimmig beob­

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Page 47: Das Sprechende Grab

achtete Dominik, wie sich der dunkelhaarige junge Mann neben Melissa setzte und zärtlich ihre Hand drückte.

Als Lieselotte die Tür öffnete, fiel ihr Blick auf einen Wandha­ken. An ihm hing... der schwarze Kapuzenumhang.

„Raus, habe ich gesagt!“ wiederholte der Direktor böse. „Jaja!“ brummte das Superhirn und deutete – nur für ihre

Knickerbocker-Freunde sichtbar – auf den Umhang. Eilig verließen die drei die Garderobe Melissas. Einige Minuten später war die Tänzerin wieder allein. Seufzend

erhob sie sich, wischte sich mit einem Handtuch die Stirn ab und ging zu ihrem Schminktischchen. Sie warf einen Blick in den Spiegel, der von zahlreichen Glühbirnen umrahmt war, und seufzte tief. Mit zitternden Fingern öffnete sie eine kleine Lade, die bis zum Rand mit Haarnetzen, Schleifen und Spangen gefüllt war. Sie kramte eine getrocknete schwarze Rose hervor, an der ein vergilbtes Kärtchen befestigt war. Darauf war in einem schwarzen Rahmen die Fratze Rudolpho Contes in seiner typi­schen Zauberpose zu sehen.

„Ich erwarte Dich zur Mitternacht am Grab!“ – lautete der krakelige Schriftzug.

Das Mädchen musterte sich im Spiegel und senkte bekümmert die Augen. Seufzend legte es die Rose wieder in die Lade und verließ die Garderobe.

Melissa hatte soeben beschlossen, nicht mehr auf den Friedhof zu gehen.

Auf der Matte vor der Tür entdeckte sie dann aber etwas, das sie ihre Pläne sofort ändern ließ.

Dort lag eine schwarze Rose mit der Botschaft: „Stell Dich um 10 Uhr an meinem Grab ein! Sei pünktlich und verrate weder Mann noch Frau von unserem Treffen! Sonst wird meine Rache noch viel schlimmer sein, als Du es Dir in Deiner dunkelsten Stunde ausmalen kannst.“

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Page 48: Das Sprechende Grab

In Verbindung mit dem Jenseits?

Im 38. Stockwerk eines Hochhauses in einer der teuersten Wohn­gegenden New Yorks blätterte eine zarte, ein wenig verträumt wirkende Frau gerade ihre Morgenpost durch. Der ehemalige Musical-Star hatte in vielen am Broadway erfolgreichen Stücken mitgespielt und es sich daher leisten können, sich nach Beendi­gung ihrer Karriere in ein nobles Penthouse zurückzuziehen, von dem aus man einen der prachtvollsten Blicke über Manhattan hatte.

Wie jeden Morgen machte es sich Annie Kramer nach Gymnas­tik und Frühstück im Salon bequem und überflog die Absender der auch an diesem Tag zahlreichen Schreiben.

Plötzlich stutzte sie und zog einen dicken, gelblichen Brief aus dem Bündel, von dessen Rückseite ihr die schwarze Fratze Rudol­pho Contes entgegen grinste.

Die Überraschung war so groß, daß sie alle anderen Briefe fallen ließ und das Kuvert des Magiers sofort aufriß.

Da betrat ihre Sekretärin, eine herrische Frau, die ein wenig an eine Bulldogge erinnerte, den Raum. Etwas steif ließ sie es über sich ergehen, daß Annie Kramer sie umarmte und an ihrer Schulter zu weinen begann.

„Meine Tochter lebt und feiert diesen Freitag ihren 18. Geburts­tag!“ schluchzte die Schauspielerin.

„Von wem haben Sie denn das erfahren?“ wollte die eher prak­tisch veranlagte Anna Carina wissen.

„Ihr Vater hat mir eine Einladung zu ihrem Fest geschickt!“ erwiderte Frau Kramer.

Die Sekretärin wich entsetzt zurück. „Ihr erster Mann? Der ist doch seit mehr als zehn Jahren tot. Wie kann der noch Einladun­gen verschicken?“

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Page 49: Das Sprechende Grab

Im Knickerbocker-Hauptquartier wurden die drei Junior-Detekti­ve bereits ungeduldig von Poppi erwartet. „Wo ward ihr so lange? Warum seid ihr so abgekämpft? Lilo, was ist mit deinen Händen geschehen?“ überschüttete Poppi ihre Kumpel mit Fragen.

Axel, Lieselotte und Dominik beachteten sie kaum. Sie ließen sich in die etwas löchrigen Polsterstühle fallen, die sie im Keller gefunden hatten, und besprachen, was ihnen durch den Kopf ging.

„Die Gestalt auf dem Friedhof, das war Melissa!“ sagte Domi­nik.

„Und was ist mit dem eisigen Typen, der uns am Dachboden über den Weg gelaufen ist?“ fragte Lieselotte. „Stecken die bei­den vielleicht unter einer Decke?“

Dominik schob schmollend die Unterlippe vor und knurrte: „Der gelackte Affe ist dem anmutigen Mädchen auf jeden Fall zu­getan. Habt ihr gesehen, mit welch großen Augen sie ihn angese­hen hat? Er hat sie verhext, anders ist das nicht zu erklären!“

Poppi, die bisher beleidigt geschwiegen hatte, mußte grinsen. „He, du bist ja eifersüchtig! Du hast dich in diese Tänzerin verknallt!“ rief sie.

Empört schüttelte Dominik den Kopf. „Du bist verknallt! Du bist verknallt! Du bist verknallt!“

spottete Poppi. Dominik packte ein Kissen und schleuderte es nach ihr. Poppi

ging rechtzeitig in Deckung, und das Kissen landete am Fenster­brett. Als es das Mädchen von dort holte, fiel sein Blick hinaus in den Garten.

Gegen den Stamm eines alten, dicken Baums gelehnt stand ein Mann. Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Haar drahtig und lang. Er trug einen Umhang aus Leder, und sein Blick ging Poppi durch und durch.

„Wer ist der Typ vom Dachboden eigentlich?“ wollte Axel wissen.

Dominik wußte es nicht, lief aber sofort zum Telefon. Wozu gab es schließlich Frau Huber, die Maskenbildnerin? Das alte Klatsch­maul wußte über jeden im Theater Bescheid.

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Page 50: Das Sprechende Grab

„Dort draußen... seht nur!“ brachte Poppi endlich hervor. Sie wandte sich um und deutete ihren Detektivfreunden, ans Fenster zu treten. Bis Axel, Dominik und Lieselotte endlich reagierten, war der Mann verschwunden.

„Mädchen, Mädchen, wie kann man nur so spinnen?“ sagte Axel besorgt.

Nachdem Dominik sein Telefonat beendet hatte, berichtete er: „Der Typ heißt Adrian und ist Zauberer. Er wird in der neuen Revue auftreten. Übrigens: Das Kostüm mit den leuchtenden Augen und den qualmenden Nüstern gehört zu einer Nummer in seinem Programm. Er wollte es eigentlich vorgestern in die Schneiderei bringen, weil es ausgebessert werden muß, es ist aber niemals dort angekommen. Frau Huber weiß zum Glück wirklich alles.“

„Da!“ schrie Poppi auf. „Was ist denn?“ brummte Lieselotte entnervt. Stumm zeigte das jüngste Mitglied der Bande nach draußen.

Diesmal sahen auch ihre Freunde den Mann im Garten. War das die schwarze Gestalt vom Friedhof, die über den Kies­

weg auf das Haus zukam? Den Kopf hielt sie gesenkt, die Kapuze hatte sie tief ins Gesicht gezogen. Axel griff an einen Hebel neben der Tür. „Soll ich loslegen?“ fragte er Lieselotte.

Das Superhirn winkte ab. Axel hatte eine Einbrecher-Ab­schreckanlage gebaut, die es in sich hatte.

Kam ein Unbekannter dem Bandenquartier zu nahe, wurde zuerst ein Foto von ihm geblitzt. Schloß er dann überrascht die Augen, wurde ihm Niespulver ins Gesicht gepustet. Gleichzeitig ergoß sich von oben ein Eimer klebrigen Schleims über den Eindringling. Dem Schleim folgten Sägespäne, so daß das Opfer der Anlage einem Wiener Schnitzel glich, ehe es überhaupt begriff, was da vor sich ging.

Lilo glaubte zu wissen, wer ihnen einen Besuch abstatten wollte, und ließ es deshalb nicht zu, daß Axel die Anlage auslöste.

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Page 51: Das Sprechende Grab

Die Gestalt schob die Kapuze zurück: Darunter kam das Gesicht Melissas zum Vorschein. Verlegen blickte sie die vier Junior-Detektive, die nach draußen getreten waren, der Reihe nach an.

Dominik zischte wütend: „Du hast gelogen und uns zu Narren gemacht!“

„Entschuldigt bitte, das wollte ich nicht. Doch ich hatte Angst, er könnte mich hören!“

„Wer?“ wollte Lieselotte wissen. „Mein Vater!“ erwiderte Melissa. „Ist das etwa dieser Rudolpho Conte?“ forschte das Superhirn

weiter. Melissa zuckte bei dem Namen zusammen. „Ja! Aber woher

wißt ihr das?“ „Wir haben dich auf dem Friedhof beobachtet!“ gab Axel zu.

„Das warst doch du, die mit dem Grab gesprochen hat?“ Melissa nickte langsam. „Ihr hattet euch also im Gebüsch ver­

steckt! Aber warum? Habt ihr mich verfolgt?“ Die vier Knickerbocker-Freunde schüttelten den Kopf. Liese­

lotte murmelte etwas von „Mitternachtspicknick“ und bat Melissa in das Bandenhauptquartier. Dort setzten sich die vier mit dem zierlichen Mädchen an einen großen Tisch und sahen die Tänzerin erwartungsvoll an. Weshalb war sie überhaupt zu ihnen gekom­men?

„Ich... ich brauche eure Hilfe!“ begann Melissa. „Mein Vater war der große Zauberer Rudolpho Conte, der auf der ganzen Welt aufgetreten ist. Er hatte ungeheuren Erfolg, ist aber vor zehn Jahren während eines Auftritts auf der Bühne gestorben. Damals war ich noch keine acht Jahre alt. Nach seinem Tod bin ich in ein Heim gekommen: Das Leben dort war die Hölle für mich!“

„In ein Heim? Hast du denn keine Mutter?“ wollte Axel wissen. Melissa schüttelte stumm den Kopf. „Meine Mutter wollte nie

etwas von mir wissen. Mein Vater hat mir erzählt, daß sie ihn und mich verlassen hat, als ich erst ein paar Monate alt war. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.“ Melissa machte eine kurze Pause und setzte dann fort: „Vor einer Woche habe ich dem Di­

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rektor des Theaters für die neue Revue vorgetanzt, und er hat mich sofort engagiert. Ich war sehr froh, weil ich dringend Arbeit brauchte. Als ich vor drei Tagen meine Garderobe bezog, fand ich auf dem Schminktisch eine schwarze Rose und diese Karte.“ Melissa schob den Junior-Detektiven ein gelbliches Kärtchen zu, auf dem genau dieselbe Fratze zu sehen war wie auf dem Grabstein. In altmodisch wirkender Schrift stand geschrieben: „Ich erwarte Dich zur Mitternacht am Grab!“

„Und heute, nachdem ihr gegangen ward, habe ich wieder eine schwarze Rose und eine Karte entdeckt“, berichtete Melissa. „Mein Vater hat mich abermals zu seinem Grab bestellt. Diesmal um zehn Uhr.“

„Aber woher willst du wissen, daß wirklich dein Vater dir die Karten geschickt hat?“ wollte Lilo erfahren. Sie hielt die Tänzerin für nicht ganz dicht.

„Er hat sich sein Leben lang mit der Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits beschäftigt“, erklärte Melissa. „Er hat mir oft erzählt, daß es möglich ist, für kurze Zeit aus dem Reich der Toten zu den Lebenden zurückzukehren. Und ich kenne seine Schrift. Es ist dieselbe wie in diesem Buch, das er mir hinterlas­sen hat.“ Melissa holte aus dem weiten, schwarzen Mantel ein abgegriffenes Bändchen hervor.

Dominik nahm es und überflog die dünnen Seiten, die dieselbe krakelige Handschrift aufwiesen wie die beiden Einladungen. Außerdem gab es in dem Buch zahlreiche Skizzen.

„Das sind Erklärungen zu den größten Zaubertricks, die mein Vater erfunden hat. Als hätte er seinen Tod geahnt, hat er mir das Buch einen Tag vor dem schrecklichen Ereignis anvertraut“, erzählte die Tänzerin wehmütig.

„Darf ich dich fragen, warum du zu uns gekommen bist?“ meinte Dominik vorsichtig.

„Frau Huber hat mir von euren Abenteuern und eurem Mut berichtet. Deshalb wollte ich euch bitten, daß ihr mich heute abend auf den Friedhof begleitet. Nach der Erscheinung im Spiegel habe ich... Angst, allein...“

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Page 53: Das Sprechende Grab

„Wieso wir? Weshalb bittest du nicht diesen Adrian, dich zu beschützen?“ sagte Dominik schnippisch.

„Adrian? Nein, das ist unmöglich! Mein Vater hat mir aufge­tragen, keinem Mann und keiner Frau etwas von dem Treffen am Friedhof zu erzählen. Ihr aber seid Kinder – euch darf ich einweihen und um Hilfe bitten.“

Wie ein Ritter schlug Dominik den Arm vor die Brust und ver­kündete: „Milady, es wird uns ein Vergnügen sein, Sie zu beschützen.“ Er verneigte sich so tief, daß er mit der Stirn gegen die Tischplatte knallte.

Seine Freunde konnten sich das Kichern nicht verbeißen.

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Page 54: Das Sprechende Grab

Gefangen in der Gruft

Zehn Minuten vor Mitternacht erreichten Melissa, Lilo und Domi­nik fast gleichzeitig den Friedhof. Sie kamen in zwei Taxis an und baten die Fahrer zu warten.

„Wo sind Poppi und Axel?“ fragte die Tänzerin mit ängstlicher Stimme.

„Im Theater. Sie beobachten Adrian. Wir trauen dem Typen nicht!“ erklärte Lieselotte.

Dominik warf die Brust heraus und verkündete: „Keine Furcht, Melissa! Auch wenn wir nur zu zweit sind, können wir für deinen Schutz garantieren.“

Lieselotte verdrehte die Augen und schnaubte: „Dominik! Ich flehe dich an! Krieg dich ein und sprich nicht so kompliziert!“

Sowohl die Knickerbocker als auch Melissa hatten ein flattern-des Gefühl im Bauch, als sie den Friedhof betraten. Mit großen Schritten liefen sie über die Kieswege, bis sie die Abzweigung erreichten, die zum Grab Rudolpho Contes führte.

„Er darf euch nicht sehen!“ zischte Melissa. „Ich... ich fürchte seinen Zorn! Verhaltet euch ganz still! Bitte!“

Die Junior-Detektive versprachen es und verschwanden hinter einer Gruppe immergrüner Büsche. Sie beobachteten gespannt, wie Melissa auf den hohen Grabstein zuschritt. „Hier bin ich, Vater! Wie du es gewünscht hast!“ sagte das Mädchen feierlich.

Das gelbliche Licht des Mondes fiel durch die Äste der Bäume und beleuchtete den bedrohlich wirkenden Stein. Die Fratze des Zauberers schien besonders breit zu grinsen.

„Vater, sprich mit mir! Bitte!“ sagte Melissa flehend. Stille. Nur der Schrei des Uhus war wieder in der Ferne zu hö­

ren. Ein Windstoß fuhr durch die Bäume und ließ das welke Laub gespenstisch rascheln.

„Bitte Vater! Bitte, sprich mit mir!“ Melissa war den Tränen nahe. Doch das Grab blieb stumm.

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Page 55: Das Sprechende Grab

Die Tänzerin wartete noch einen Augenblick, drehte sich dann um und lief davon. Erst beim Friedhofstor holten sie Lilo und Dominik ein.

„Ich hätte euch nicht mitnehmen dürfen. Jetzt ist alles aus! Ich werde nie mehr wieder mit ihm in Verbindung treten können!“ schluchzte Melissa. Sie murmelte einen Gruß, stieg in ihr Taxi und fuhr davon.

„Geister geben nicht so schnell auf!“ sagte Lieselotte und knete­te ihre Nasenspitze.

„Knickerbocker aber auch nicht!“ meinte Dominik. Die beiden Freunde warfen einander einen kurzen Blick zu und machten sich dann noch einmal auf den Weg zum Grab des Magiers.

„Wenn meine Eltern herausfinden, daß ich nicht bei Frau Binder schlafe, sondern mich hier im Theater herumtreibe, steht mir was bevor!“ sagte Poppi zu Axel. Die beiden Freunde liefen gerade durch die leeren Gänge zur Garderobe Adrians. Dominik hatte herausgefunden, daß der Zauberer am Abend auf der Bühne probte, und die Junior-Detektive wollten die Gelegenheit nutzen und seine Sachen durchsuchen.

„Wenn du nicht sofort mit dem Gejammer aufhörst, bekommst du von mir was zu hören!“ zischte Axel genervt.

Verunsichert preßte Poppi die Lippen aufeinander. Die Knickerbocker hatten die Garderobe erreicht, aus der das

Monster gekommen war. Mittlerweile hatte Adrian, wie die Detektivfreunde in Erfahrung gebracht hatten, den Raum hoch­offiziell bezogen und seine Sachen darin ausgebreitet. Ein großes Plakat mit seinem dämonischen Gesicht und dem Schriftzug „Adrian, der Hexer“ war mit Klebestreifen an der Außenseite der Tür befestigt worden. Der Blick des Mannes hatte etwas Zurück­weisendes, Warnendes. Die beiden hielten einen Augenblick ein, als sie das Plakat entdeckten, und schluckten.

„Du wartest am Gang und warnst mich, wenn er kommt!“ schärfte Axel Poppi ein. Er wollte schon nach der Klinke greifen, als sie eine Stimme in der Garderobe hörten.

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Page 56: Das Sprechende Grab

Es war Adrian persönlich. Da bestand kein Zweifel! Er schien zu telefonieren. „Ich werde es schon schaffen... von ihr zu bekom­men. Verlaß dich darauf! Ich erledige das auf meine Art... muß ich los, ich bin spät dran!“ sagte er und legte auf.

So schnell sie konnten, ergriffen die beiden Knickerbocker die Flucht. Sie stürmten zum Stiegenhaus und ein Stockwerk nach unten. Hinter ihnen hörten sie die Garderobentür zufliegen und die schnellen, wuchtigen Schritte des Zauberers. Mist! Er kam in ihre Richtung! Axel und Poppi huschten in einen Seitengang.

„Verdammt! Genau hierher!“ stellte Axel entsetzt fest. Der Gang war eine Sackgasse. Sie konnten nicht weiter! Verzweifelt sah sich der Junge nach einem Ausweg um und entdeckte eine Tür. Goldene Buchstaben verkündeten, daß es sich um das Büro des Direktors handelte.

Axel nahm allen Mut zusammen und klopfte. Es kam keine Antwort. Der Junge öffnete die Tür und stellte fest, daß im Büro kein Licht brannte. „Los, rein da!“ flüsterte er.

„Nein, ich... ich habe Angst!“ sagte Poppi mit heiserer Stimme. „Komm schon!“ drängte Axel, aber Poppi blieb stocksteif

stehen. Ein Schatten fiel in den Gang und kündigte an, daß Adrian im

nächsten Moment vor ihnen stehen würde. „Dann mach, was du willst!“ zischte Axel wütend und schloß

fast lautlos die Tür. Poppi wollte ihm folgen, doch es war zu spät.

Als sich Lilo und Dominik dem sprechenden Grab näherten, hör­ten sie ein Knirschen, das ihnen durch Mark und Bein ging.

„Ich... ich traue meinen Augen nicht!“ flüsterte Dominik und zeigte auf die tonnenschwere Marmorplatte der Gruft. Im Zeitlu­pentempo schwenkte sie in die Höhe. Aus der Tiefe drang schummriges Licht in die Nacht.

„Tretet ein, es wird euch nichts geschehen! Ihr könnt Melissa helfen. Wollt ihr das nicht?“ sprach das Grab.

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Page 57: Das Sprechende Grab

Zögernd näherten sich die Junior-Detektive der Öffnung und blickten nach unten. Eine schmale Treppe führte in das Innere der Gruft.

„Warum zögert ihr? Wollt ihr Melissa ins Verderben stürzen?“ fragte die Stimme aus dem Grab, und die Worte hallten über den nächtlichen Friedhof.

Dominik war von der Fratze wie hypnotisiert und im Augen­blick nicht in der Lage, sich zu bewegen. Lieselotte aber stieg die Treppe hinab, und als ihr Kumpel keine Anstalten machte, ihr zu folgen, packte sie ihn an der Jacke und zerrte ihn hinter sich her.

Es kostete beide Junior-Detektive einige Überwindung, der Auf­forderung der Stimme nachzukommen. Schließlich erreichten sie eine gemauerte Grabkammer, in deren Mitte ein Sarkophag auf einem Podest aus schwarzem Marmor stand. An den Wänden waren Leuchter angebracht, in denen elektrische Kerzen brannten, und von der Decke des Raumes hing ein Kristalleuchter.

Plötzlich knirschte es über ihren Köpfen. „Die Platte!“ schrie Lieselotte und rannte die Treppe wieder

hinauf. Dominik stürzte hinter ihr drein. Langsam, aber unaufhaltsam senkte sich die schwere Steinplat­

te. Die Knickerbocker stemmten sich mit aller Kraft dagegen, aber es war zwecklos. Donnernd schlug der Stein auf die Einfas­sung der Gruft.

Die Junior-Detektive saßen in der Falle.

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Page 58: Das Sprechende Grab

Die Schlangengrube

In der Falle saß auch Poppi. Um die Ecke bog nämlich Tamara Turakowa, die Leiterin des Balletts. Wie immer trug sie ein enges graues Kostüm und hatte das dunkle Haar hochgesteckt. Sie warf Poppi einen erstaunten Blick zu und sagte grußlos: „Was hast du hier zu suchen? Wieso bist du nicht im Bett, Kind?“

„Äh... ich... ich... suche Dominik!“ schwindelte Poppi. „Der spielt heute nicht. Das Theater hat geschlossen.“ „Äh... na, so etwas! Er hat gesagt... ich... äh... ich... !“ Poppi trat

der Schweiß auf die Stirn. „He, sind Sie nicht die berühmte Schauspielerin – wie war doch der Name? Ich habe Sie einmal im Fernsehen gesehen!“

Tamara Turakowa runzelte die Stirn und murmelte: „Das muß eine Verwechslung sein.“

„Klar: Tänzerin!“ stieß Poppi hervor. Zum Glück war ihr gerade noch eingefallen, mit wem sie es zu tun hatte. Dominik hatte sich schon mehrfach über die strenge Ballettleiterin beklagt.

„Ja, ich war eine bekannte Tänzerin!“ antwortete Tamara. „Willst du auch Tänzerin werden?“

„Nein, Tierärztin.“ „Mein Leben war das Tanzen!“ hauchte die Frau und schien in

Erinnerungen zu versinken. Im Büro des Direktors krachte es. Axel mußte gegen etwas

gestoßen sein. Das Geräusch riß Tamara aus ihren Gedanken. „Bist du allein?“ fragte sie.

„Ja... warum?“ stammelte Poppi. Frau Turakowa schob Poppi zur Seite und riß die Tür zur Direk­

tion auf. Poppi stockte der Atem. Jetzt würde sie Axel entdecken und... ?

Dominiks finstere Miene erhellte sich plötzlich. „Lieselotte, ich weiß, wie wir hier wieder rauskommen!“ verkündete er stolz. Er

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Page 59: Das Sprechende Grab

zog Axels Telefon aus der Tasche und streckte es dem Superhirn vor die Nase. „Zum Glück hat er mir das da geborgt. Wir rufen Polizei und Feuerwehr und lassen uns befreien.“

Dominik tippte die Notrufnummer ein und hielt das Handy ans Ohr. Ein langes Pfeifen ertönte, und der Junge ließ das Gerät wieder sinken.

„Was ist?“ wollte Lieselotte wissen. „Hier unten funktioniert das Telefon nicht. Die Platte der Gruft

ist zu dick!“ sagte Dominik leise. „Wir können nur hoffen, daß Axel und Poppi uns suchen kom­

men, wenn sie nichts von uns hören!“ meinte Lieselotte. „Los, wir nutzen die Zeit und sehen uns einmal in der Grabkammer um!“

Die Knickerbocker liefen nach unten, wo Dominik gleich neben dem Treppenabgang ein altmodisches Gerät entdeckte. Dominik musterte es und murmelte schließlich: „Ein Periskop!“ Der Junge staunte, als er den Weg vor dem Grab sah. Das Fernrohr endete also im Maul der Fratze, die in den Stein eingemeißelt war.

Dominik setzte seinen Rundgang fort und schien bald abermals auf etwas gestoßen zu sein. „Jetzt wissen wir auch, wie sich der Geist mit Melissa unterhalten hat!“ rief er und hielt triumphierend ein Mikrophon in die Höhe.

Lilo wunderte sich: „Wozu läßt jemand so eine Anlage in eine Gruft einbauen? Die Geräte sind nicht mehr die jüngsten. Ich glaube nicht, daß das Mikro installiert wurde, um Melissa zu erschrecken.“

Dominik hatte eine Erklärung: „Ich habe in einem Buch einmal ein ähnliches Gerät gesehen, mit dem Scheintote ein Zeichen ge­ben können. Wahrscheinlich hatte Rudolpho Conte Angst davor, lebendig begraben zu werden.“

„Ich wette, der Geist wollte Melissa schon beim ersten Rendez­vous hier runter in die Gruft locken!“ kombinierte Lieselotte. „Aber warum?“

„Um sie fertigzumachen!“ vermutete Dominik. Gleich darauf riß er die Augen weit auf: „Vorsicht... Vorsicht, beweg dich nicht!“

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„Was hast du?“ wollte das Superhirn wissen. Dominik mußte etwas Grauenhaftes entdeckt haben.

Tamara Turakowa knipste das Licht im Büro des Direktors an und sah sich um. „Erik hat heute seinen Spielabend. Ich weiß, daß er nicht hier sein kann. Also muß sich in diesem Raum jemand versteckt haben!“ sagte die Frau listig.

Doch das Büro war leer. Frau Turakowa durchschritt es und drehte dann das Licht wieder ab. Kopfschüttelnd schloß sie die Tür.

Dahinter stand Axel, der ziemlich ins Schwitzen geraten war. In seiner Hand hielt er etwas, das er auf dem Schreibtisch des Direk­tors entdeckt hatte. Er konnte den Fund noch gar nicht fassen.

Der Junge preßte das Ohr an die Tür und hörte, wie Frau Tura­kowa mit Poppi abzog. „Au! Diese Schmerzen! Sie kommen im­mer wieder. Wie Messerstiche!“ stöhnte die Frau und hielt sich das rechte Bein. Sie hinkte und murmelte bitter: „Die Bühne war mein Leben. Seit damals, als es passiert ist, bin ich so gut wie tot.“

„Seit was passiert ist?“ wollte Poppi wissen. „Scher dich raus!“ fuhr sie die Frau an. „Marsch nach Hause ins

Bett, wo kleine Mädchen um diese Zeit hingehören!“ Poppi senkte den Kopf und zog Leine. Als Axel feststellte, daß die Luft rein war, schlüpfte er aus dem

Büro und hastete auf Zehenspitzen nach unten. Im Stiegenhaus traf er seine Freundin, die sich noch immer über die Verabschie­dung Frau Turakowas ärgerte.

„Da! Der Direktor hat einen ganzen Berg davon auf seinem Tisch liegen!“ keuchte der Junge und streckte Poppi eine der gelb­lichen Kärtchen mit dem Kopf von Rudolpho Conte entgegen.

„Was? Und ist er auch der Absender der beiden Einladungen?“ fragte Poppi entsetzt.

Axel zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Er stürmte zu einem Münzfernsprecher und wählte die Nummer seines Handys. Er mußte seinen Detektivfreunden sofort von seiner Entdeckung

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berichten. Axel wartete ein bißchen und hängte dann den Hörer wieder ein. „Es rührt sich niemand. Lilo und Dominik muß etwas zugestoßen sein. Los, wir müssen sofort zum Friedhof!“

Mit schreckgeweiteten Augen starrten die beiden Junior-Detek­tive auf eine Schlange, die sich durch eine Öffnung von oben in die Gruft herabließ. Die Schlange plumpste auf den Boden, und eine zweite folgte ihr. Dann kam eine dritte, eine vierte, eine fünfte, bis schließlich zehn an die drei Meter lange Schlangen über den Boden krochen.

„Das sind Vipern! Ihr Biß ist tödlich!“ hauchte Dominik. „Rühr dich nicht von der Stelle! Dann beißen sie vielleicht nicht

zu! Starr ihnen zwischen die Augen: Das soll sie angeblich vertreiben!“

Lieselotte fürchtete wenig, aber Schlangen waren für sie der totale Horror. Sie zitterte von Kopf bis Fuß, als die glatten Körper der Tiere über ihre Schuhe glitten und sich zwei der Schlangen vor ihr aufrichteten und drohend zu zischen begannen.

„Sie sind nicht da. Bestimmt liegen sie schon im Bett!“ kam auf einmal Poppis Stimme aus dem Lautsprecher der Gegensprechan­lage.

„Unsere Kumpel! Sie suchen uns!“ jubelte Dominik und machte eine ruckartige Bewegung auf das Gerät zu.

Eine Schlange, die sich bedroht fühlte, schlug ihre Giftzähne in Dominiks Bein. Der Junge brüllte auf.

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Der große Unbekannte

Vor dem Grab standen Axel und Poppi. Der Junge zog an den ros­tigen Metallringen der Platte, die den Zugang zur Gruft abdeckte, und versuchte sie in die Höhe zu ziehen.

„Gib auf, das schaffst nicht einmal du!“ sagte Poppi. „Ich will endlich zu Frau Binder und schlafen!“

Axel schüttelte den Kopf. „Irgend etwas stimmt hier nicht!“ „Du spinnst! Glaubst du vielleicht, Lilo und Dominik sind im

Grab?“ fragte Poppi spöttisch. Axel schwieg. Er war sich da überhaupt nicht sicher. Er hatte so

ein Gefühl, aber Hinweis gab es keinen. „Wie hätten denn Lilo und Dominik die Platte wegschieben

können? Das Ding wiegt bestimmt ein paar Tonnen!“ meinte Poppi.

Der Knickerbocker ließ noch einmal seinen Blick über das gespenstische Grabmal schweifen und sagte dann: „Du... du hast wahrscheinlich recht. Gehen wir!“

Die Worte ließen die beiden in der Tiefe der Gruft gefangenen Junior-Detektive erschaudern.

„Alles in Ordnung?“ fragte Lieselotte ihren Kumpel zum zehn­ten Mal.

Dominik nickte, obwohl er am ganzen Körper zitterte. „Glückli­cherweise haben meine Lederstiefel verhindert, daß die Schlange meine zarte Haut erreicht!“ stieß er keuchend hervor. „Ich fürchte, das Tier hat sich die Zähne an mir ausgebissen.“

Lieselotte begann noch heftiger zu schwitzen. Sie trug keine Stiefel. „Los, ruf nach Poppi und Axel!“ trug sie Dominik auf.

Der Junge stelzte über die Schlangen hinweg und packte das Mikrophon. „Holt uns raus, wir sind hier unten im Grab!“ schrie er hinein. Durch das Periskop konnte er sehen, was sich vor der Gruft des Magiers tat. Axel und Poppi drehten sich gerade um und

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gingen langsam davon. „He, hört ihr mich nicht? Ich bin’s! Domi­nik!“ brüllte der Junge.

Aber seine Kumpel reagierten nicht. Ohnmächtig erkannte Dominik, daß das Kabel des Mikrophons

aus der Anlage herausgerissen worden war. Um Lilos Beine wanden sich zwei besonders dicke Schlangen.

„Die... die beißen mich gleich!“ stieß das Superhirn fast tonlos hervor.

„Nein, das sind keine Giftschlangen!“ sagte Dominik. „Das sind Würgeschlangen.“

Nachdenklich gingen Poppi und Axel über den Kiesweg Rich­tung Ausgang. Beide machten sich Sorgen um ihre Kumpel. Wo steckten die beiden nur? Wieso meldete sich Dominik nicht am Handy?

Bei den beiden zu Hause anzurufen, war ausgeschlossen. Be­stimmt gingen ihre Eltern ans Telefon, und dann gab es wieder jede Menge Ärger, falls die Knickerbocker nicht in ihren Betten lagen.

Noch einmal drehte sich Poppi um und warf einen letzten Blick zum Grab Rudolpho Contes zurück. Der Mond ging in dieser Nacht schon früh unter und senkte sich bereits über die Wipfel der Bäume gegenüber der Gruft. Lange geisterhafte Schatten legten sich auf den silbrig schimmernden Stein.

Da! Plötzlich hatte etwas aufgeblitzt! Es war, als hätte der offe­ne Mund der Fratze einen Goldzahn, der das Mondlicht reflek­tierte.

„Was ist? Ich dachte, du willst sofort ins Bett?“ brummte Axel mürrisch.

„Ich... dort... in dem Gesicht im Stein... ein Goldzahn!“ stam­melte Poppi.

„Bei dir ist wohl eine Schraube locker!“ lautete Axels Kommen­tar.

Poppi aber fühlte sich plötzlich überhaupt nicht mehr müde. Sie hatte es genau gesehen und ließ sich nicht schon wieder als

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Spinnerin abtun. Im Maul des grinsenden Gesichts war etwas. Das Mädchen nahm allen Mut zusammen und machte kehrt.

„Die Kleine dreht völlig durch!“ schnaubte Axel ärgerlich. „Ich habe doch schon festgestellt, daß es nichts Besonderes an dem Grab zu entdecken gibt!“

Poppi kämpfte sehr mit sich, als sie den Fuß auf die Gruft setzte. Sie spürte, wie sie die Angst packte und ihre Knie weich wurden. Dennoch biß sich das Mädchen auf die Unterlippe und trat an den hohen Grabstein heran. Der grinsende Schädel des Magiers war jetzt nur einen halben Meter von ihrem Gesicht ent­fernt, und sein aufgerissener Mund schien Poppi im nächsten Augenblick verschlingen zu wollen.

„Ein... da... ist... ein... ein Spiegel!“ japste Poppi. Sie sprach aber so leise, daß Axel sie nicht hören konnte. Mit

den Händen in den Hosentaschen stand er etwas abseits und beob­achtete seine Knickerbocker-Freundin mit spöttischen Blicken.

Poppi wollte auf Nummer Sicher gehen. Vorsichtig streckte sie ihre zitternde Hand aus. Langsam, ganz langsam ließ sie die Fin­ger zwischen die steinernen Zähne gleiten, um den Spiegel abzu­tasten. In der Dunkelheit des Maules stieß sie dann plötzlich ge­gen etwas Eiskaltes, Hartes. Sofort zog sie die Hand zurück, blieb aber dabei an dem Ding hängen. Sie zog und zerrte und spürte, wie das Ding nachgab, sie die Finger jedoch trotzdem nicht frei bekam.

Unten in der Gruft hatten Dominik und Lieselotte allen Mut verloren. Die Schlangen krochen noch immer zischend und zün­gelnd über den Boden und schienen zusehends unruhiger und gereizter zu werden.

Über den Köpfen der Junior-Detektive knirschte und quietschte es. Dann trat für einige Sekunden Stille ein.

„Hallo... Lilo... Dominik! Seid ihr da unten?“ kam auf einmal von oben Axels Stimme.

Die beiden Gefangenen waren über ihre Rettung so glücklich, daß sie alle Vorsicht vergaßen und mit einem großen Sprung zur

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Treppe sausten. Immer zwei der glitschigen Stufen auf einmal nehmend, rannten sie nach draußen.

„Eins, zwei, drei, vier Knickerbocker!“ riefen die wiederverein­ten Freunde und schlugen die Hände zusammen.

„Danke, Axel! Wir haben schon gedacht, du läßt uns da unten verschimmeln!“ keuchte Lieselotte.

„Unser wertvolles Leben war in Gefahr. Durch Vipern be­droht!“ sagte Dominik geschwollen.

„Vipern?“ staunte Axel. „Eine hat sogar Dominik in den Stiefel gebissen! Und ein paar

Würgeschlangen waren auch dabei!“ berichtete Lieselotte aufge­bracht.

„Die will ich sehen!“ meinte Axel cool und verschwand in der Gruft.

„Nicht! Vorsicht!“ warnte ihn das Superhirn. „Ich... ich bin zurückgekommen, weil ich im Maul der Fratze

etwas aufblitzen sah. Dort ist ein Hebel, mit dem man die Gruft öffnen kann“, sagte Poppi, aber keiner ihrer Freunde hörte ihr zu.

„Wollt ihr angeben, oder was?“ kam Axels Stimme von unten. „Hier ist nicht einmal ein Regenwurm!“

„Was?“ Dominik und Lieselotte sahen einander ratlos an. Noch einmal stiegen sie in die Gruft, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen.

Poppi wollte ihnen folgen, aber Lilo hielt sie zurück. „Da unten steht ein Sarg, und außerdem muß einer Wache halten. Sonst kommt vielleicht wieder jemand, der uns einschließt.“

„Aber... ich will auch...!“ wehrte sich das Mädchen. Doch Lieselotte duldete keinen Widerspruch. Wütend und verzweifelt ließ sich Poppi auf die Einfassung der

Gruft sinken. Sie stützte den Kopf in die Hände und begann zu schluchzen. Warum waren ihre sogenannten Kumpel nur so ge­mein zu ihr? Warum?

Hinter Poppi knirschte etwas. Erschrocken wandte sich das Mädchen um, konnte aber nichts entdecken. Poppi hatte plötzlich so große Angst, daß sie am liebsten davongerannt wäre.

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Page 66: Das Sprechende Grab

Da raschelte es auf der anderen Seite. Poppi öffnete den Mund, um zu schreien, bekam jedoch keinen Ton heraus. Stumm wie ein Karpfen bewegte sie den Unterkiefer auf und zu und starrte mit großen Augen den Mann an, der aus dem Gebüsch getreten war.

Er hatte langes dunkles Haar und trug einen Lederumhang. Man konnte sich seinem Blick nicht entziehen. Lange sah er mit seinen dunklen Augen das verängstigte Mädchen an.

Poppi erkannte den Mann wieder. Es war derselbe, der beim Hauptquartier der Bande aufgetaucht war.

Ohne ein Wort zu sprechen, ging er auf Poppi zu.

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Page 67: Das Sprechende Grab

Das Erbe

Lilo und Dominik machten ratlose Gesichter, als sie aus der Gruft wieder in die kalte Nachtluft hinaufstiegen. Die Schlangen waren verschwunden. Wären nicht auf Dominiks Stiefeln deutlich die Kratzspuren der Giftzähne zu erkennen gewesen, hätten die bei­den Junior-Detektive nicht einmal einen Beweis für ihr Erlebnis gehabt. „Wenigstens wissen wir jetzt, wie die Schlangen in die Gruft gekommen sind!“ sagte Dominik. „In der Decke der Grab­kammer ist ein Loch, das mir eine Art Belüftung zu sein scheint.“

„Aber sie können doch durch dieses Loch nicht wieder ver­schwunden sein! Oder hast du schon einmal von einer Schlange gehört, die drei Meter in die Höhe springt?“ fragte Lilo.

Dominik seufzte. Es gab Springschlangen, aber die Tiere, mit denen sie es zu tun gehabt hatten, waren sicher keine gewesen.

„Der Geist, der aus dem Grab spricht... ich meine... das ist doch kein echter Geist!“ sagte Axel. „Er hat euch in die Gruft gelockt, und da ihr seine Stimme gehört habt, muß er auch unten gewesen sein. Als ihr aber die Grabkammer betreten habt, war er ver­schwunden. Wie jetzt die Schlangen.“

Lilo knetete ihre Nasenspitze und meinte: „Das läßt auf einen zweiten Ausgang schließen. Trotzdem kapiere ich nicht, wie so viele Schlangen so schnell verschwinden können.“

„Poppi!“ rief Dominik erschrocken. Das jüngste Mitglied der Bande lag leblos am Boden. Besorgt

kniete sich Lieselotte neben das Mädchen und hob es sanft in die Höhe. Poppi schien tief und fest zu schlafen. „Poppi, wach auf...!“ rief Lilo und rüttelte ihre Freundin heftig an den Schultern.

Mühsam hob Poppi die Lider und blinzelte verschlafen. „Das Auge des Kondors!“ murmelte sie, wie im Traum. „Das Auge des Kondors! Es muß wieder sehen können.“

Ratlos blickten Axel, Lieselotte und Dominik einander an.

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Page 68: Das Sprechende Grab

Axel war der erste, der schließlich zu lachen anfing. „Unsere kleine Poppi träumt!“ kicherte er. „Mitten auf dem Friedhof ein­zuschlafen ist eine Meisterleistung, das muß ich schon sagen!“

In dieser Nacht konnte Lieselotte keine Ruhe finden. Der Schreck, den ihr die Schlangen eingejagt hatten, hatte sie völlig aufgewühlt. Sie lag auf dem Rücken und starrte zur Zimmerdecke hoch, als könnte jeden Augenblick eine Schlange auf sie herab fallen.

„Warum läßt jemand das Grab sprechen?“ fragte sie sich immer wieder. „Warum wird Melissa zum Grab gelockt? Ist ihr Vater vielleicht gar nicht tot? Versteckt er sich gar in der Gruft? Oder handelt es sich doch um einen Geist?“

Nein, diese Idee verwarf sie sofort wieder. Es war bestimmt kein Geist. Es gab keine Geister. Doch der Gedanke, daß Rudol­pho Conte vielleicht noch am Leben war, ließ sie nicht mehr los. Sie wollte unbedingt am nächsten Tag den Wächter des Friedhofs aufsuchen und befragen, ob er etwas von einem versteckten Zugang zur Gruft wußte.

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages fuhren Lieselotte und Axel auf ihren Rädern zum Friedhof. Neben der Halle, wo die Särge vor dem Begräbnis aufgebahrt wurden, fanden sie ein Häuschen mit der Aufschrift „Friedhofsbetreuung“.

Axel zog an dem altmodischen Glockenzug, und im Inneren des Gebäudes schrillte es. Schlurfende Schritte näherten sich, und die Tür wurde einen kleinen Spalt geöffnet. Die alte Frau mit den verkniffenen Lippen, die die Knickerbocker vor einigen Tagen fo­tografiert hatte, lugte heraus. Als sie die Junior-Detektive sah, begannen ihre kleinen Augen böse zu funkeln.

„Verschwindet, oder ich rufe die Polizei! Ihr seid die Vandalen, die die Kerzen aus den Laternen stehlen! Wahrscheinlich steckt ihr sogar mit den Grabräubern unter einer Decke, die den Toten die Goldringe von den Fingern ziehen!“

Lieselotte runzelte die Stirn. „Sie müssen uns verwechseln!“ sagte sie kühl. „Wir besuchen nur das Grab unseres Großonkels.

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Page 69: Das Sprechende Grab

Er heißt Rudolpho Conte. Wir müssen für die Schule eine Arbeit über unsere Vorfahren schreiben.“

Die Frau sagte kein Wort. Axel stieg auf Lilos Trick ein und setzte fort: „Wir wissen

bereits, daß unser Großonkel ein sehr schrulliger Mann gewesen ist. Er hatte immer Angst, lebendig begraben zu werden, und wollte deshalb in seine Gruft verschiedene Hilfsmittel eingebaut haben, um von innen auf sich aufmerksam machen zu können.“

„Davon weiß ich nichts!“ keifte die Frau. „Eine Großtante hat uns berichtet, er hätte sogar einen unterirdi­

schen Zugang graben lassen. Stimmt das?“ „Davon weiß ich nichts!“ wiederholte die Frau nur scharf.

„Wenn ihr nicht sofort verschwindet, hole ich auf jeden Fall die Polizei! Und laßt euch nie wieder hier blicken!“

Sie knallte den Junior-Detektiven die Tür vor der Nase zu. „Ich glaube, die gute Frau lügt!“ faßte Lilo ihren Eindruck

zusammen. „Die weiß etwas.“ Die Knickerbocker blieben noch einen Moment vor dem Häus­

chen stehen und überlegten. Von drinnen kamen Geräusche. Telefonierte die Frau?

„Ruft sie wirklich die Polizei?“ fragte Axel ängstlich. Lieselotte zuckte mit den Schultern und preßte das Ohr an die Tür.

„...sind wieder da! Ja, dieselben Kinder wie vor ein paar Tagen. Sie wollten etwas über den geheimen Zugang wissen, aber ich habe natürlich nichts verraten!“ hörte sie die Frau sagen. „Ich hof­fe, Sie wissen, daß mein Schweigen Geld kostet. Gut, stecken Sie das Geld in die Blumenvase beim Grab. Ich hole es mir dort ab.“

Lieselotte gab Axel ein Zeichen, schleunigst zu verschwinden. Sie hatte genug gehört.

Im Theater waren die Proben in vollem Gange. In den Ballettsä­len und auf der Bühne übten die verschiedenen Artisten, Tänzer und Schauspieler für die Revue, die unter dem Motto „Zauber­welt“ stand.

Als Dominik den dunklen Zuschauerraum betrat, stand gerade der Magier Adrian auf der Bühne. Er warf ein glitzerndes Tuch

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Page 70: Das Sprechende Grab

über ein Klavier, machte eine schnelle Handbewegung und ließ einen Feuerball durch die Luft sausen. Als er das Tuch wegzog, war das Klavier spurlos verschwunden.

Adrian zauberte Tauben unter seinem Umhang hervor, verwan­delte weiße Papierschnipsel in Kaninchen und zündete zum Ab­schluß eine dünne Kerze an. Als er sie auspustete, wurde sie zu einer prachtvollen roten Rose, die er in eine der vorderen Reihen schweben ließ.

Erst jetzt erkannte Dominik, daß dort Melissa saß und die Blume auffing. Sie schnupperte daran und lächelte verschämt.

Der Zauberer kam von der Bühne und schritt etwas steif auf das Mädchen zu. Er kniete sich wie ein Märchenprinz vor Melissa hin und küßte ihr die Hand.

„Wä, bestimmt ekelt Melissa davor, von diesem Typen berührt zu werden!“ dachte Dominik.

„Du bist wunderschön!“ sagte Adrian leise. Dominik war sicher, daß Lieselotte den Zauberer als „gutausse­

hend“ und „tollen Kerl“ bezeichnen würde. Diese Mädchen! Sie hatten ja keine Ahnung von Männern!

„Ich muß dir etwas sagen!“ setzte Adrian fort. Das klang nach einem Geständnis! Dominik huschte in eine der

Logen, um das Gespräch aus nächster Nähe belauschen zu können.

„Was willst du mir sagen?“ fragte Melissa leise und blickte verlegen zu Boden.

„Ich habe erfahren, daß dein Vater der große Magier Rudolpho Conte war. Das ist doch so, oder?“

Die Tänzerin nickte stumm. „Dein Vater hat großartige Zaubertricks erfunden und in seiner

Bühnenshow vorgeführt. Nach seinem Tod waren aber nicht nur die Trickgeräte, sondern auch die Erklärungen der Illusionen ver­schwunden“, erzählte Adrian, ohne Melissa dabei aus den Augen zu lassen. Sein Blick schien sie zu hypnotisieren.

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Page 71: Das Sprechende Grab

Mit geheimnisvoller Stimme setzte Adrian fort: „Vor einem Jahr wurden mir die Zaubergeräte deines Vaters zum Kauf angeboten. Ich habe sie erstanden und auf einem Dachboden gelagert.“

Melissa blickte auf. „Wirklich? Wer hat sie denn gehabt?“ Der junge Zauberer erwiderte: „Ich weiß es nicht. Die Transak­

tion ging recht merkwürdig vonstatten. Ich hatte nicht einmal eine Adresse, sondern nur die Nummer eines Postfaches.“

Melissa wischte sich über das zarte Gesicht. „Ich dachte immer, mein Vater hat mir überhaupt nichts hinterlassen. Aber schön langsam glaube ich, daß jemand das Erbe an sich gebracht hat...“

Adrian schien ihr nicht zuzuhören. „Ich habe die Maschinen und Geräte, mit denen dein Vater die großartigsten Illusionen erzeugt hat. Aber ich weiß nur von sehr, sehr wenigen, wie sie bedient werden. Hast du vielleicht ein Tagebuch oder Aufzeichnungen deines Vaters...?“

„Sag nein!“ flehte Dominik still. Melissa zögerte und sagte dann: „Ich... nein, nicht daß ich

wüßte.“ Als sie Adrians flehenden Blick sah, fügte sie hinzu: „Aber ich kann einmal nachsehen. Vielleicht finde ich etwas.“

„Bitte, es wäre sehr wichtig!“ meinte Adrian. „Wieso übst du nicht? Du wirst nicht dafür bezahlt, daß du hier

herumsitzt!“ zischte eine Stimme, die Dominik kannte und fürch­tete. Die Worte galten Melissa. Hinter ihr und dem Zauberer war Tamara Turakowa aufgetaucht. Unsanft zerrte sie das Mädchen hoch.

„Es ist meine Schuld! Ich habe Melissa aufgehalten!“ rief Adri­an, aber Frau Turakowa machte nur eine unwirsche Handbewe­gung.

Dominik hatte genug gehört und wollte sofort seine Knickerbocker-Freunde benachrichtigen. Er lief hinter die Bühne, wo sich ein Münztelefon befand. Als er den Apparat fast erreicht hatte, trat ein Mann aus einer Tür, den er nie zuvor im Theater gesehen hatte. Die Haut des Mannes war dunkel, sein Gewand wirkte indisch, und um den Hals hatte er drei große Schlangen gelegt.

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Page 72: Das Sprechende Grab

Dominik wich erschrocken zurück. „Keine Bewegung! Der Biß der Schlangen ist tödlich, und sie

sind sehr gereizt. Ein kleiner Schreck – und sie schnappen zu!“ warnte ihn der Mann.

Es gab keinen Zweifel. Das waren die Schlangen aus der Gruft.

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Page 73: Das Sprechende Grab

Poppi macht einen Fehler

Poppi war für zwei Wochen zu Frau Binder übersiedelt, da ihre Eltern eine längere Geschäftsreise angetreten hatten. Das Mäd­chen wohnte gerne bei der schrulligen alten Dame, deren Grippe allerdings nicht besser werden wollte.

Gleich nach der Schule hatte Poppi begonnen, das Futter für die verschiedenen Tiere zuzubereiten und zu den Gehegen zu tragen. Dann versorgte sie ihre Schützlinge mit Wasser.

Begleitet wurde sie dabei die ganze Zeit von ihrem Bernhardi­ner Puffi. Er war zwar keine große Hilfe, da er meistens wild um sie herumtollte und mit ihr spielen wollte, aber das Mädchen freu­te sich trotzdem über seine Gesellschaft. Vor allem konnte sie dem Hund ihren Kummer über die Knickerbocker-Bande klagen. Sie fühlte sich von Lilo, Axel und Dominik besonders dumm und gemein behandelt.

Es war kurz nach vier, als Poppi endlich mit allen Arbeiten fer­tig war. Sie hatte es sogar geschafft, die meisten Käfige auszumis­ten, und stellte zufrieden die Mistgabel in den Geräteschuppen.

Ein leises Hüsteln hinter ihr erschreckte sie so sehr, daß sie sich umdrehte und den unerwarteten Besucher mit der Mistgabel bedrohte.

„Na, was soll denn das?“ fragte eine etwas schrille Stimme vorwurfsvoll.

Im Garten des Tierheims stand ein kahlköpfiger Mann in einer schwarzen Lederjacke. Sein Gesicht wirkte, als hätte jemand den Kopf des Mannes links und rechts mit schweren Gewichten zusammengequetscht. Seine Lippen waren aufgesprungen, und die Zähne bräunlich und schief.

„Ich habe geläutet, doch weil niemand zum Tor gekommen ist und nicht abgesperrt war, habe ich mir erlaubt einzutreten!“ sagte der Mann besonders höflich.

Poppi ließ die Mistgabel sinken und entschuldigte sich.

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Page 74: Das Sprechende Grab

„Frau Binder schläft!“ erklärte sie. „Aber vielleicht kann ich Ihnen helfen?“

„Ich hätte gerne einen Affen!“ sagte der Mann. „Einen Affen? Wir haben keinen Affen. Außerdem ist es Tier­

quälerei, einen Affen als Haustier zu halten“, meinte Poppi. Der Mann zog die Augenbrauen hoch: „Du kennst dich bei Tie­

ren gut aus, nicht wahr?“ Poppi strahlte. Endlich jemand, der sie ernst nahm! „Ja, ich bin

Tierschützerin und helfe hier“, sagte sie stolz. „Na gut, dann rate mir, welches Tier ich nehmen soll. Ich... ich

möchte gerne eines, dessen Haut... na ja, ich weiß nicht, wie ich sagen soll…“, stotterte der Mann. „Ich lasse mich gerne von dir...“

„Die kleinen Katzen suchen ein neues Zuhause!“ unterbrach Poppi und zeigte auf die große Pappschachtel, in der die Kleinen gerade spielten.

Der Mann holte ein Kätzchen heraus und drückte es an sich. „Niedliches Tierchen... jaja... Ich nehme ein Kätzchen... oder

nein, ich nehme besser gleich alle fünf. Ich habe fünf Kinder. Jedes soll eines bekommen.“

„Gut, ich bringe Ihnen nur ein Formular, das Sie ausfüllen müs­sen. Frau Binder kontrolliert immer, ob die Tiere auch wirklich gut untergebracht sind!“ erklärte Poppi und verschwand im Haus.

Der Mann trug auf dem Blatt, das ihm das Mädchen reichte, seinen Namen und seine Adresse ein. Er hieß Hugo Brunntaler und wohnte in der Balkenstraße. Dann schnappte er den Karton mit den Kätzchen, verabschiedete sich hastig und ging.

Plötzlich durchzuckte Poppi ein schrecklicher Gedanke. Sie raste in das Hauptquartier der Bande und holte einen Plan von Wien heraus. Hinten im Buch befand sich ein Verzeichnis aller Straßennamen, und Poppi mußte feststellen, daß ihr Verdacht zutraf: Es gab keine Balkenstraße. Der Mann hatte eine falsche Adresse angegeben. Poppi hatte im Lauf des Gesprächs Angst bekommen, daß der Besucher mit den Tieren etwas Übles vorhaben könnte, hatte den Gedanken jedoch verdrängt. „Man

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Page 75: Das Sprechende Grab

sollte einen Menschen nicht gleich für einen Verbrecher halten, nur weil er seltsam aussieht!“ hatte sie sich gesagt.

Ein Motor wurde lautstark angelassen. Poppi raste um das Haus und konnte gerade noch einen grauen Kastenwagen sehen, der mit großer Geschwindigkeit davonfuhr. „W 702 244“ las Poppi. Sie sagte die Autonummer auf ihrem Weg ins Bandenhauptquartier ständig vor sich her.

Was sollte sie jetzt tun? Sie mußte die Kätzchen retten. Was wohl der Mann mit ihnen vorhatte? Vielleicht wollte er sie an ein Labor verkaufen, das Tierversuche anstellte.

„Wo bleiben nur meine Kumpel?“ dachte das Mädchen verzwei­felt.

In diesem Augenblick trafen Lilo und Axel gerade Dominik vor dem Theater. Der Junge war sehr aufgebracht.

„Die Schlangen aus der Gruft stammen von einem Schlangenbe­schwörer, der in der neuen Revue auftritt. Der Mann hat mir anvertraut, daß die Schlangen völlig harmlos sind. Sie gehorchen übrigens auf ein bestimmtes Zeichen!“ berichtete der Knicker­bocker. „Wenn man mit einem Stock auf den Boden klopft, kommen sie sofort angekrochen. Das könnte erklären, weshalb sie so schnell aus der Gruft verschwunden sind!“

„Aber wie sind die Schlangen überhaupt auf den Friedhof gekommen?“ wollte Lieselotte wissen.

Dominik mußte passen. „Der Inder spricht kaum Deutsch, und als ich ihn danach fragen wollte, kam diese lästige Frau Turakowa und hat mich zur Tanzprobe geholt. Ich hatte keine Chance.“

„Und danach? Wieso hast du ihn dann nicht gefragt?“ wollte Axel wissen.

Dominik schlug sich gegen die Stirn. Wie dumm von ihm! So schnell sie konnten, rasten die drei ins Theater und suchten

nach dem Schlangenbeschwörer. Doch sie konnten ihn nirgendwo finden. Frau Huber, die Maskenbildnerin, wußte wie immer mehr. „Gefeuert! Er ist rausgeflogen, weil er etwas gestohlen hat“, er­

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Page 76: Das Sprechende Grab

zählte sie Dominik und konnte eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen.

„Ist er schon abgereist?“ fragte der Junge. „Zum Glück! Mit seinen Schlangen. Ich bin froh, daß die Mist­

viecher aus dem Haus sind.“ Lilo stieß einen enttäuschten Pfiff aus. „He, der Direktor weiß bestimmt, wo wir den Mann finden kön­

nen!“ fiel Axel ein. „Wir müssen ihn aufstöbern und mit ihm reden. Ich wette, dieser Adrian hat sich die Schlangen gestern ausgeborgt und sie zur Gruft gebracht. Er steckt hinter allem.“

Dominik stimmte ihm sofort zu. „Ja, er will Melissa erpressen, damit sie ihm die Geheimnisse der großen Zaubertricks ihres Vaters verrät. Deshalb hat er den Spuk veranstaltet. Aber als statt dessen wir aufgetaucht sind, mußte er Melissa auf andere Art und Weise bezirzen.“

„Be… was?“ fragte Lilo. „Bezirzen? Ihr den Kopf verdrehen, bis sie alles ausplaudert“,

schäumte Dominik. Als die Knickerbocker beim Büro des Direktors ankamen, hör­

ten sie durch die Tür, daß dieser mit jemandem sprach. „Ich komme bald... klar, du kannst alles herrichten.“

„Was hat der vor?“ fragte Axel seine Kumpel leise. Lilo und Dominik verzogen das Gesicht. Keiner der beiden hatte

auch nur die geringste Ahnung. „Los, wir verfolgen Herrn Schauer!“ beschloß Lieselotte. Seit

Axel die geheimnisvollen Kärtchen in seinem Büro gefunden hatte, erschien er dem Superhirn höchst verdächtig.

Da ihre Detektivfreunde weder auftauchten noch anriefen, ent­schied sich Poppi, auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Sie hatte einen Plan entwickelt und hoffte, daß ihre Idee aufgehen würde.

Das Mädchen legte ein Taschentuch über den Telefonhörer und rief bei der Polizei an. Poppi verstellte ihre Stimme und setzte alles daran, möglichst erwachsen zu klingen. Sie sagte nicht einmal die Unwahrheit, als sie behauptete, eine Mitarbeiterin des

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Page 77: Das Sprechende Grab

Tierheims Binder zu sein. „Ein Mann hat gerade ein Kätzchen abgeholt, und nur eine halbe Stunde später hat der Arzt bei den anderen Tieren des Wurfes festgestellt, daß sie Leukose haben. Das ist Katzen-Aids. Deshalb müssen wir den Mann unbedingt warnen, aber wir haben leider seine Adresse nicht. Nur seine Autonummer. Können Sie mir bitte sagen, auf wen der Wagen gemeldet ist? Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“

Der Trick klappte. Poppi bekam die Adresse des Mannes, der tatsächlich Hugo hieß, aber einen anderen Nachnamen hatte.

„Ich muß die Tiere retten!“ sagte das Mädchen leise, nachdem es den Hörer aufgelegt hatte, und pfiff Puffi.

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Page 78: Das Sprechende Grab

Der Giftmischer

Lilo und Axel verfolgten Direktor Schauer durch den dichten Verkehr der Wiener Innenstadt. Obwohl der Direktor im Auto unterwegs war und die beiden Knickerbocker auf Fahrrädern, konnten sie ihm auf der Spur bleiben. Zur Sicherheit hatte Dominik ein Taxi angeheuert, in dem er dem Direktor folgte.

In einer besonders engen Gasse parkte Herr Schauer und stieg aus. Er blickte sich nach allen Seiten um und verschwand dann in einem etwas baufälligen Haus.

Die Knickerbocker warteten, bis er nicht mehr zu sehen war, und liefen dann zu dem Gebäude. Als sie an der Außenmauer nach oben blickten, stellten sie fest, daß das Haus unbewohnt sein mußte. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt oder hatten zerbrochene Scheiben.

Sie öffneten das schwere Haustor, das schief in den Angeln hing, durchquerten eine muffige Einfahrt und traten in einen schmalen Innenhof. Eine Tür stand offen, und aus der Wohnung dahinter drang die Stimme des Theaterdirektors: „Heute mach’ ich dich fertig! Das verspreche ich dir!“

Poppi brauchte lange, um die Adresse zu erreichen, die ihr die Polizei genannt hatte. Sie mußte zweimal umsteigen, bis sie schließlich im Wiener Prater landete.

Der Prater war ein riesiger Vergnügungspark, in dem zu dieser Jahreszeit nur mehr wenig Betrieb war.

Hugo Kotterpollinger bewohnte ein schmales Haus direkt neben einer der Geisterbahnen. Der graue Lieferwagen stand direkt davor.

Es war bereits dunkel und ziemlich kalt. Einige der Achterbah­nen, Schießbuden und Todesschleudern waren noch geöffnet, und grelle Neonreklamen luden zu einem Besuch ein. Der Abendwind wehte ein Gemisch aus Musik, Motorenlärm, Krachen und Heulen

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zu Poppi herüber. Sie fröstelte. Das Mädchen hatte Puffi an der Leine und holte ihn nahe zu sich heran.

Was sollte sie jetzt tun? Läuten und verlangen, daß der Mann die Katzen zurückgab?

Während sie so dastand und überlegte, legte sich plötzlich von hinten eine Hand über ihren Mund und ihre Nase. Ein stinkender Lappen wurde ihr ins Gesicht gepreßt, und der stechende Geruch von Chloroform strömte in Poppis Lungen. Das Mädchen wollte sich wehren, aber die Dosis war so hoch, daß es sofort das Bewußtsein verlor.

Mit einem kräftigen Tritt wurde Puffi, der sein Frauchen retten wollte, zur Seite befördert. Poppi wurde in das Haus gezerrt, die Tür sofort zugeschlagen. Es nützte nichts, daß Puffi immer wieder dagegen sprang und bellte. Weit und breit war niemand, der seine Aufregung bemerkt hätte. Ratlos lief der Bernhardiner vor dem Haus auf und ab.

Die Junior-Detektive zögerten. Sollten sie die Wohnung betreten? Die Tür stand schließlich offen.

Herr Schauer nahm ihnen die Entscheidung ab. Völlig unerwar­tet tauchte er auf einmal hinter ihnen auf und packte Dominik und Lilo an der Schulter. „Wußte ich doch, daß ihr mir nachspioniert! Ihr haltet euch wohl für besonders schlau, nicht wahr?“

Wo war der Mann plötzlich hergekommen? Herr Schauer schien ihre Gedanken erraten zu haben und sagte:

„Hier unten sind alle Wohnungen miteinander verbunden. Ich kann von einer in die andere gehen, bis ich wieder in der Einfahrt angelangt bin. Aber jetzt will ich endlich wissen, was diese lächerlichen Detektivspiele sollen?“

Lieselotte schwieg beleidigt. Axel aber wagte eine Frage: „Also... diese Karten... Warum haben Sie die?“ stieß er hervor und holte den Fund, den er in der vergangenen Nacht gemacht hatte, aus seiner Tasche.

Direktor Schauer riß Axel grob an den Haaren und knurrte: „Woher hast du die Karten?“

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„Lassen Sie mich los!“ protestierte der Junge. Der Mann schien sich sehr schnell wieder zu beruhigen. Er

entschuldigte sich für seinen Wutausbruch und sagte gefaßt: „Die­se Karten haben einmal einem der größten Magier der Welt gehört. Sein Name war Rudolpho Conte, und ich hatte die Ehre, ihn zu kennen. Leider ist er vor zehn Jahren gestorben. Diese Karten hat er für einen Hellsehertrick verwendet, den er in mei­nem Theater zeigte. Ich habe sie damals für ihn drucken lassen. Was übrig blieb, habe ich als Erinnerung behalten.“

„Haben Sie Melissa schwarze Rosen geschickt und sie zum Friedhof bestellt?“ fragte Dominik frech.

„Was? Was soll ich getan haben?“ Direktor Schauer schien nicht zu verstehen, wovon der Knickerbocker sprach.

„Nichts... gar nichts... ich meine... Könnte jemand die Karten aus Ihrem Büro entwendet haben?“ setzte Dominik nach.

Der Direktor machte ein unwissendes Gesicht. „Möglich ist alles. Ich habe keine Geheimnisse in meinem Büro und schließe deshalb kaum je ab.“

„Wissen Sie, daß jemand an Ihrem Theater mit Rudolpho Conte verwandt ist?“ erkundigte sich Lilo schlau.

„Natürlich. Melissa ist seine Tochter“, erwiderte Herr Schauer sofort. „Als sie zu mir kam, habe ich mich sofort ihrer angenom­men. Das Mädchen braucht Hilfe. Ich wußte gar nicht, daß es in einem Heim aufwachsen mußte.“

Axel wagte noch eine letzte, aber besonders wichtige Frage: „Was... was machen Sie eigentlich hier?“

Erik Schauers Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Es geht euch zwar nichts an, aber ich fröne hier meinem Hobby. Ich spiele mit Zinnsoldaten und stelle mit Freunden große Schlachten nach. Heute ist es Napoleons Kampf bei Waterloo. Dort hat der große Feldherr die schwerste Niederlage seines Lebens erlitten. Ist dieses Spiel verboten?“

Die Junior-Detektive lachten auf. „Natürlich nicht!“

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„Bin ich froh, daß ihr mir mein Steckenpferd nicht untersagt!“ scherzte der Direktor. „Und jetzt wäre ich froh, wenn ihr mich in Ruhe laßt!“

Es gab nun keinen Grund mehr, dem Mann zu mißtrauen. Für Lilo hatte sich das Karussell der Verdächtigen weitergedreht.

Es dauerte eine Weile, bis Poppi die Augen öffnen und sich um­sehen konnte, als sie zu sich kam. Das Mädchen lag, fachmän­nisch gefesselt, auf dem staubigen Boden eines Zimmers. Im schummrigen Licht sah sie Regale an den Wänden, in denen sich Totenköpfe, menschliche Knochen, ausgestopfte Krokodile, eini­ge präparierte Riesenspinnen und jede Menge dreckige Papp­schachteln stapelten. Waren die Dinge echt, oder handelte es sich um Ersatzteile für die Geisterbahn?

„Das Gift wirkt langsam. Erst nach ungefähr drei bis vier Stunden tritt durch Herzversagen der Tod ein!“ hörte sie die Stimme Hugos. Er mußte sich in der Nähe befinden.

Poppi richtete sich auf. Ungefähr drei Schritte entfernt war eine Tür. Sie stand etwas offen, so daß das Mädchen in den nächsten Raum sehen konnte. Es erspähte einen großen Tisch, auf dem Apparaturen mit vielen Glasröhrchen, Kolben und Schläuchen aufgebaut waren. Poppi erinnerten die Geräte an ein Chemielabor.

Durch die spitz zulaufenden Fenster in der Wand fiel das bunt blinkende Licht des Rummelplatzes. Der Sturm fegte um das Haus, und in den verschiedenen Gefäßen brodelte und rauschte es.

„Das ist doch genau, was Sie wollten! Nicht wahr?“ fragte Hugo und kicherte hämisch.

Mit wem sprach er?

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Unendlicher Haß

Poppi versuchte, trotz der Fesseln näher zur Tür zu robben. Eine hohe Stufe im Boden hinderte sie am Weiterkommen. Sie mußte sich mit dem Blickwinkel begnügen, der sich ihr bot. Ein zerschlissener Lehnstuhl mit hoher Rückenlehne stand so, daß sie unmöglich erkennen konnte, wer darin saß.

„Wenn das Pulver aufgetragen wird, geschieht ungefähr zwei Stunden lang gar nichts. Jeder, der damit in Berührung kommt, ist freilich ebenfalls dem Tod geweiht. Ein Kuß oder ein Streicheln genügt! Nach zwei Stunden beginnt sich dann die Haut zu lösen. Ein schrecklicher Anblick, und natürlich auch für das Opfer eine Qual! Was weiter geschieht, habe ich Ihnen schon geschildert.“

Hugo Kotterpollinger zapfte aus verschiedenen Kolben Flüssig­keiten ab, mischte sie in einem Blechnapf und tropfte schließlich noch eine Substanz dazu, die in einem spiralförmigen Glasrohr aus Dampf gewonnen wurde.

Es gab einen grellen Blitz, und eine gelbe Rauchwolke stieg auf. Teuflisch grinsend zerrieb der Mann den Stoff, den er erzeugt hat­te, mit einem Stößel und sagte: „Ich werden Ihnen die Wirkung des Giftes gerne vorführen. Ich habe mir einige kleine Katzen be­sorgt.“

Poppi riß entsetzt die Augen auf, als der Mann eines der Kätzchen aus der Pappschachtel holte. Sie wollte schreien, aber plötzlich hörte sie Hugo sagen: „Aha... keine Demonstration also! Schade, es hätte bestimmt viel Spaß gemacht, denn bei einem Tier geht es natürlich viel schneller.“

Der Giftmischer schüttete das Pulver in eine flache Puderdose, auf deren Deckel sich eine Stickerei befand. Obwohl sie einige Meter entfernt war, konnte Poppi erkennen, daß das gestickte Bildchen einen Hirten darstellte, der auf einer Flöte spielte.

Hugo klappte die Dose zu und überreichte sie seinem Besucher. Ein weißer Handschuh tauchte am Rand des Lehnstuhles auf und

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wollte sie in Empfang nehmen. Schnell zog der Giftmischer die Dose noch einmal zurück und forderte seinen Lohn. Ein ganzes Bündel Banknoten wurde ihm überreicht. Nun übergab der Gift­mischer die Dose seinem Besucher und zählte das Geld nach. „Danke, genau wie vereinbart. Sie müssen Ihr Opfer ja unendlich hassen! Mir ist das natürlich gleichgültig, Hauptsache, Sie sind zufrieden und kommen bald wieder.“

Das Schlagen einer Tür zeigte an, daß der Besucher grußlos gegangen war. Hugo stopfte das Geld in seine Hosentasche und bemerkte Poppi. „Oh, bist du aufgewacht, Schätzchen? Na, magst du deinen neuen Onkel!“ säuselte er und hob das Mädchen hoch.

Poppi wehrte sich, versuchte zu strampeln und zu boxen, aber die Fesseln ließen es nicht zu. Hugo schleppte sie zu dem Lehn­stuhl und ließ sie hineinfallen. Er drückte sie mit einem Knie nieder und griff nach der Metallschale, in der er das tödliche Pulver gemischt hatte. Mit der anderen Hand packte er einen Pinsel, tauchte ihn ein und hob ihn gegen das Licht. Ein braunes Puder klebte an den Haaren.

„Ich kann keine Zeugen gebrauchen und möchte doch zu gern sehen, ob meine kleine Mixtur tatsächlich so gut wirkt, wie ich denke!“ kicherte der Mann und seine zerschrammten Lippen verzogen sich zu einem widerlichen Grinsen.

Wieder startete Poppi einen Versuch, sich zur Wehr zu setzen, aber sie hatte keine Chance. Hugo war viel stärker als sie. Lang­sam näherte er den Pinsel mit dem Gift ihrem Gesicht. Er weidete sich an ihrer Angst und begann immer lauter und irrer zu lachen.

„Hilfe!“ stieß Poppi hervor, aber aus ihrem Hals kam nur ein tonloses Röcheln. „Hilfe!“ wiederholte sie, aber ihre Stimme war so leise, daß niemand den Ruf hören würde. „Hilfe!“ Endlich hatte Poppi einen Schrei zustande gebracht.

In diesem Augenblick ließ Hugo den Pinsel vorschnellen. Poppi warf den Kopf zur Seite. Der Pinsel zischte wenige Zentimeter an ihrer Haut vorbei in den Stoff des Lehnstuhles. „Halt still, du Luder!“ zischte der Giftmischer wütend und umklammerte Poppi mit seiner ganzen Kraft. Seine Nägel bohrten sich in ihre Wangen.

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Abermals nahm er das tödliche Pulver auf den Pinsel, um Poppi damit zu behandeln.

„Aaah!“ Hugo schrie auf und sprang hoch. Ein tiefes Knurren verriet, wem Poppi das zu verdanken hatte.

„Puffi!“ jubelte sie. Der Bernhardiner mußte ins Haus geschlüpft sein, als der Besu­

cher es verlassen hatte. Er hatte Hugo ins Bein gebissen und ließ ihn nicht mehr los.

Das Mädchen versuchte, sich aus dem Lehnstuhl zu erheben, scheiterte aber.

Der Giftmischer ruderte mit den Armen und suchte nach einem schweren Gegenstand, mit dem er den Hund niederschlagen konn­te. Dabei stieß er gegen die Apparatur. Sie kippte um und fing am Brenner Feuer. Es gab eine kleine Explosion, und schon stand der Tisch in Flammen.

Puffi erschrak und lockerte seinen Biß. Hugo nutzte die Gele­genheit und versetzte dem Bernhardiner wieder einen Tritt. So schnell er konnte, ergriff er nun die Flucht. Die Flammen leckten wie gierige Zungen über die Tischplatte und sprangen schnell auf die schmutzigen Vorhänge über. Innerhalb weniger Sekunden brannte es lichterloh.

Schwarzer Qualm stieg auf und machte es für Poppi fast unmöglich zu atmen. Sie hustete und wand sich verzweifelt. Da Hugo ihre Hand- und Fußfesseln mit einem Strick verbunden hatte, schaffte sie es einfach nicht, auf die Beine zu kommen.

Die kleinen Kätzchen miauten in Panik, und Puffi bellte, so laut er konnte. Poppi sah keinen Weg, der Feuerhölle, in die sich das Haus verwandelte, zu entkommen. Immer höher schlugen die Flammen, und immer glühender und beißender wurde die Luft. Fiel denn niemandem auf, was hier los war?

„Hilfeee!“ brüllte Poppi mit letzter Kraft und verlor die Besin­nung.

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Das Vermächtnis des Magiers

Auf der Heimfahrt machte Lieselotte noch einen kurzen Abste­cher in eine Bibliothek der Stadt. Es gab dort einen Computer, in den man Begriffe eingeben konnte, zu denen man mehr erfahren wollte. Lilo tippte den Namen Rudolpho Conte ein und wartete gespannt.

Nach einigen Minuten meldete der Computer, daß es zu diesem Stichwort vor allem zahlreiche Berichte in alten Zeitungen gab und listete diese auf. Lieselotte betätigte zwei Tasten und ließ sich die Information ausdrucken. Sie übergab das Blatt einem Ange­stellten der Bibliothek, der ihr die betreffenden Bände aus dem Archiv besorgte.

Lilo studierte an die zwanzig Berichte, in denen Rudolpho Con­tes großartige Auftritte und spektakuläre Tricks gepriesen wurden. Sonst allerdings war nichts Wichtiges daraus zu ersehen.

Erst in einem der letzten Artikel stieß sie auf etwas, das sie interessierte. „Rudolpho Conte hat vor einem peruanischen Mil­liardär eine Sondervorstellung gegeben. Angeblich soll er von diesem etwas sehr Wertvolles als Honorar erhalten haben. Nie­mand scheint zu wissen, was es war!“ notierte das Superhirn.

Lilo verließ den Lesesaal, schwang sich wieder auf das Fahrrad und fuhr zum Theater. Im Ballettraum fand sie Melissa, die mit großer Disziplin probte. Sie freute sich über Lieselottes Besuch.

„Sag, hat dir dein Vater überhaupt nichts hinterlassen?“ fragte das Oberhaupt der Knickerbocker-Bande.

Melissa schüttelte den Kopf. „Nein, nichts! Aber... es ist so... heute habe ich einen Brief erhalten... von einem Notar. Stell dir vor, ich soll an meinem 18. Geburtstag – der ist übermorgen – in die Gruft meines Vaters kommen. Dort soll mir sein Letzter Wille eröffnet werden.“

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„Das Vermächtnis... die Gruft...“, Lieselotte zwirbelte ihre Nasenspitze auf Hochtouren. „Und du hast keine Ahnung, worum es sich handeln könnte?“

„Nein, und ehrlich gesagt habe ich große Angst. Wer weiß, vielleicht ist alles nur eine böse List. Ich... ich weiß selbst nicht mehr, was ich von den Ereignissen der letzten Tage halten soll. Mein Vater... ich habe das Gefühl, er spricht aus dem Jenseits zu mir und meint es nicht gut.“

Lilo winkte ab. „Dein Vater hat damit nichts zu tun. Es gibt jemanden, der etwas von dir will. Langsam habe ich auch einen Verdacht, was es sein könnte. – Noch eine letzte Frage: Du hast doch in einem Heim in der Schweiz gelebt. Warum bist du nach Wien gekommen?“

Melissa senkte den Blick. „Bestimmt hältst du mich für ver­rückt, aber... aber... ich habe einen Anruf bekommen. Von mei­nem verstorbenen Vater. Er hat mir den Tip gegeben, es an die­sem Theater zu versuchen, an dem er große Erfolge gefeiert hat.“

„Dein Vater? Aber Melissa... er ist tot!“ Die Tänzerin nickte. „Ich weiß, aber... es war... es war seine

Stimme. Glaub mir! Es war dieselbe Stimme, die aus der Gruft zu mir gesprochen hat!“

Lieselotte konnte es nicht glauben. Sollte der Zauberer tatsäch­lich noch leben?

Kalte Luft strich über Poppis Haar, als das Mädchen wieder zu sich kam. Es mußte kräftig husten und hörte das jämmerliche Miauen der Kätzchen. Eine rauhe Zunge berührte Poppis Wange.

Das jüngste Mitglied der Knickerbocker-Bande sah sich um und stellte fest, daß es auf einer Parkbank saß. Links neben ihr hatte Puffi die Pfoten auf die Sitzfläche gestellt und leckte sein Frau­chen stürmisch. Auf der anderen Seite stand der Karton mit den Kätzchen. Die Fesseln waren verschwunden. Die Druckstellen bewiesen allerdings, daß sie nicht geträumt hatte.

Das Mädchen sprang auf und sah sich um. Sie befand sich am Rande des Praters in einer langen Allee. Nicht weit entfernt sah

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Poppi die brennende Geisterbahn. Die Feuerwehr war bereits eingetroffen.

Als sich Poppi umdrehte, zuckte sie zusammen. Da war wieder der seltsame Unbekannte mit den langen schwarzen Haaren. Mit ruhigen Schritten ging er durch die Allee. Sein langer Umhang flatterte im Wind.

„Hallo... Sie... Hallo!“ rief Poppi, aber der Mann wandte sich nicht um. Hörte er sie nicht?

„Der Typ muß mich aus dem Haus geholt haben... Woher er wohl plötzlich gekommen ist?“ Poppi erinnerte sich nur sehr undeutlich an die Vorfälle im Haus des Giftmischers. Sie wußte nur, daß sie die Kätzchen aus den Händen Hugos hatte retten wollen. Und dann war ein Feuer ausgebrochen.

Die Kälte der Herbstnacht kroch durch Poppis Jacke und ließ sie erschaudern. Schnell schnappte sie Puffis Leine und die Schachtel mit den Kätzchen und lief auf die Straße zu. Ein Stückchen weiter leuchtete das gelb-schwarze Schild eines Taxis. Poppi eilte darauf zu und kehrte in das Tierheim zurück.

Am nächsten Tag durften Axel, Lilo und Poppi bei einer der Proben für die neue Revue zusehen. Dominiks Auftritt war tat­sächlich hitverdächtig. Ihr Kumpel fetzte über die Bühne, daß selbst Lieselotte – die sonst mit Lob eher knauserig umging – anerkennend nicken mußte.

„Pssst!“ zischte der Assistent des Regisseurs, als es unter Poppis Jacke immer wieder laut miaute.

Poppi hatte eines der Kätzchen mitgenommen. „Es hat Durst!“ flüsterte sie entschuldigend und schob sich aus der Sitzreihe. Sie wollte zur Toilette, um ihren Schützling mit Wasser zu versorgen.

Auf dem Weg dorthin begegnete sie Adrian. Als der Zauberer das Mädchen sah, senkte er die dunklen Augenbrauen und starrte sie drohend an. Dabei streifte er weiße Lederhandschuhe über seine langen, geschickten Finger. „Kinder haben hier nichts verlo­ren!“ zischte er.

„Der Herr Direktor hat uns erlaubt, bei der Probe zuzusehen!“ sagte Poppi und hob stolz die Nase.

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Als Adrian kopfschüttelnd an ihr vorbeigegangen war, drehte sie sich um und streckte ihm die Zunge heraus.

Sie wußte, daß sich direkt neben Melissas Garderobe eine Toi­lette befand, und diese suchte sie auch auf. Nachdem sie den Durst des Kätzchens gestillt hatte, trat sie wieder auf den Gang hinaus.

Die Tür zu Melissas Garderobe stand offen, und Poppi warf ei­nen Blick hinein. Auf dem Schminktisch stand ein Strauß schwar­zer Rosen. Er sah einfach schaurig aus.

Poppis Blick streifte über die übrigen Schminksachen und blieb an einer Puderdose hängen. Auf dem Deckel war das gestickte Bildchen eines Hirten mit einer Flöte zu sehen. Irgendwie kam Poppi das Bild bekannt vor. Wo hatte sie es nur schon einmal ge­sehen?

Auf der Bühne wurde die Probe unterbrochen, was den Regis­seur zu einem Tobsuchtsanfall veranlaßte. Er kreischte und raufte sich die Haare. „So kann ich nicht arbeiten!“ brüllte er.

„Reg dich ab, Ferry!“ sagte Direktor Schauer, der der Grund für die Unterbrechung war, ruhig. Er kannte den Regisseur und wuß­te, daß sein Zorn schnell wieder verflogen sein würde. Es war bloße Wichtigtuerei.

„Melissa, Kind: Deine Mutter kommt. Sie trifft in einer Stunde auf dem Flugplatz ein. Wir müssen los“, verkündete Herr Schauer.

Das Mädchen zuckte zurück. „Meine Mutter? Meine Mutter kommt? Wieso? Sie hat nie etwas von mir wissen wollen! Warum jetzt plötzlich?“

Während sich Herr Schauer weiße Handschuhe überstreifte, sag­te er: „Ich erzähle dir alles im Taxi, aber jetzt komm! Bitte schnell!“

„Ich... ich will nicht!“ „Du mußt!“ meinte der Direktor streng. Er hatte schon die

Presse in die Ankunftshalle bestellt und hoffte auf große Bilder in allen Zeitungen. Das war die beste Werbung für die neue Show. Das Wiedersehen des großen Broadway-Musical-Stars Annie

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Kramer mit ihrer Tochter – nach 17 Jahren, in denen die beiden nichts voneinander gehört hatten!

Melissa gehorchte schließlich. „Ich... ich ziehe mich nur schnell um. Ich komme sofort wieder!“ sagte sie und lief davon.

Auf der Bühne wurde sie für die Probe von einem der Tänzer ersetzt. Tamara Turakowa schimpfte mit dem Regisseur im Duett, daß man so nicht arbeiten könne und Direktor Schauer eine Katas­trophe sei. Schließlich wurde jedoch weitergetanzt.

Poppi mußte immer wieder an die entsetzlichen schwarzen Ro­sen denken. Und außerdem war da noch etwas! Etwas, das ihr nicht aus dem Kopf ging...

„Das Gift!“ schrie sie plötzlich. „In der Puderdose!“ „Pssst! Sonst fliegst du raus!“ drohte der Assistent des Regis­

seurs. Poppi wollte ohnehin nicht bleiben. Sie mußte Melissa warnen.

Als sie in die Garderobe stürmte, wurde sie aschfahl. Die Puder­dose war verschwunden! Melissa mußte sie mitgenommen haben.

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Das tödliche Puder

Die Knickerbocker kletterten in ein Taxi, das von einem ungeheu­er fetten Mann gelenkt wurde. Sein Hinterteil war so dick, daß es über den Sitz hinausquoll.

„Zum Flughafen, so schnell wie möglich!“ rief Axel. „Schnell geht heute gar nichts!“ brummte der Mann. „Überall

Stau!“ „O nein!“ stöhnten die Junior-Detektive. Während der Fahrt berichtete Poppi ihren Freunden, was sie am

Vortag erlebt hatte. „He, du warst spitze!“ lobte sie Lieselotte. „Obwohl du natür­

lich auf uns hättest warten sollen.“ „Ich bin kein Jammerlappen, auch wenn ihr mich so seht!“ erwi­

derte Poppi. „Ich habe die Kätzchen gerettet und bin hinter die Geschichte mit dem Gift gekommen. Wenn Melissa sich damit das Gesicht pudert, ist sie verloren! Und küßt sie ihre Mutter, ist es um die auch geschehen!“

Die Junior-Detektive begriffen, daß sie nichts tun konnten. Sie würden Melissa erst auf dem Flugplatz gegenüberstehen. Ob es dann schon zu spät war?

Die Tänzerin saß im Mercedes des Direktors, der den Wagen durch den dichten Verkehr lenkte. „Ich... ich will meine Mutter nicht sehen. Ich kenne die Frau nicht. Sie hat sich mein ganzes Leben lang nicht um mich gekümmert!“ meinte Melissa leise.

„Aber nur, weil dein Vater ihr etwas Entsetzliches vorgegaukelt hat!“ sagte Erik Schauer. „Ich habe gestern mit deiner Mutter telefoniert und endlich erfahren, weshalb sie vor 17 Jahren nach Amerika gegangen ist. Dein Vater war ein sehr eifersüchtiger Mann und hat sie verdächtigt, ein Verhältnis mit einem anderen Künstler zu haben. Als Rache hat er ihr vorgespielt, daß du zu Tode gekommen bist. Deine Mutter war so entsetzt, daß sie auf und davon ist. Sie ging in die USA und ist dort ein großer Star

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geworden. Sie hat erst vor wenigen Tagen erfahren, daß du lebst. Ein Notar hat ihr einen Brief geschickt, den dein Vater vor seinem Tod bei ihm hinterlegt hatte und der kurz vor deinem 18. Geburts­tag versendet werden sollte.“

Melissa konnte das alles nicht glauben. Ihre Mutter hatte also all die Jahre gar nicht gewußt, daß sie lebte. Mit zitternden Fingern griff das Mädchen in seine Handtasche und holte die Puderdose heraus. Sie stutzte und betrachtete sie mißtrauisch. Die Stickerei war plötzlich so dunkel... Wie kam das?

Melissa ahnte nicht, daß die Dose vor einer Stunde ausgetauscht worden war.

Sie zögerte einen Moment und öffnete sie dann. Immer wenn sie aufgeregt war, puderte sie sich das Gesicht: Sie haßte es, wenn ihre Haut glänzte. Und wenn sie ihrer Mutter nun gleich gegen­überstehen würde, wollte sie besonders gut aussehen.

Das Taxi, in dem die Knickerbocker-Bande unterwegs war, steckte im Stau. Rund um sie tobte ein wildes Hupkonzert, das den Taxifahrer allerdings nicht im geringsten zu stören schien. Seelenruhig packte er eine Wurstsemmel aus und begann es sich schmecken zu lassen.

„Wir müssen weiter! Bitte, tun Sie etwas!“ rief Poppi und schüt­telte den Mann an den Schultern.

„Keine Chance! Am besten ihr geht zu Fuß!“ sagte der Mann. „Das werden wir auch machen!“ schnaubte Dominik, warf einen

Geldschein nach vorne und sprang aus dem Wagen. „Spinnst du, bis zum Flughafen sind es zehn Kilometer!“ schrie

ihm Axel nach. „Du denkst doch nicht, daß ich zu Fuß gehe!“ erwiderte Domi­

nik. „Es dürfte deiner geschätzten Aufmerksamkeit entgangen sein, daß wir uns vor einer Schnellbahn-Station befinden. Wir nehmen den Zug zum Flugplatz. Damit sind wir sicher schneller.“

Auf das Augenrollen seiner Kumpel reagierte Dominik mit den Worten: „Ich weiß: ,Dominik, quatsch nicht so kariert!’“

Es dauerte noch 47 Minuten, bis die vier endlich den Flugplatz erreichten. Sie stürmten sofort in die Ankunftshalle, in der sich

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eine große Menschenmenge drängte. Dutzende Reporter warteten mit gezückten Kameras auf Annie Kramer.

„Melissa! Melissa, wo bist du?“ riefen die Junior-Detektive, so laut sie konnten. Sie versuchten sich nach vorne zu schieben, aber die Schaulustigen standen so dicht, daß sie nicht durchkamen.

Axel sah keinen anderen Ausweg, als zwischen den Beinen der Leute durchzurobben. Er erreichte die vorderste Reihe genau in dem Augenblick, als sich die riesige Tür zur Seite schob und eine schlanke Frau in einem wallenden weißen Mantel heraustrat. Sie hatte ein rotes Tuch um den Kopf geschlungen und trug eine große Sonnenbrille.

Ein Aufschrei ging durch die Menge. Die Frau winkte den Leu­ten flüchtig zu und blickte sich um. Axel sah Direktor Schauer auf sie zueilen. Einige Meter entfernt stand Melissa.

„Nein, nicht küssen!“ brüllte Axel und versuchte, sich an den Schultern des Mannes vor ihm hochzuziehen.

Der wütende Fotograf versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. „Rotznase, jetzt hast du mir das beste Bild verpatzt!“ schnaubte er.

Entsetzt sah Axel, daß Mutter und Tochter sich umarmt hatten und Annie Kramer ihre Tochter innig auf die Wange küßte. Es war zu spät!

Als es den vier Knickerbockern endlich gelang, zu Melissa vor­zudringen, wußten sie nicht, was sie sagen sollten. Schließlich mußten sie ihrer Freundin eine schreckliche Nachricht überbrin­gen.

„Du und deine Mutter... ihr... ins Krankenhaus... sofort... viel­leicht kann euch ein Arzt helfen!“ stammelte Dominik.

„Das Puder ist ein Gift, ein gefährliches Gift!“ stieß Poppi hervor.

„Ich habe mein Gesicht nicht gepudert!“ sagte Melissa. „Herr Schauer mußte plötzlich bremsen, und dabei ist mir die Dose aus der Hand gefallen. Das ganze Puder liegt im Wagen.“

Die Junior-Detektive atmeten erleichtert auf.

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„Trotzdem läuft jemand herum, der dich und deine Mutter entsetzlich haßt. So sehr haßt, daß er euch beide umbringen will!“ sagte Lilo leise.

Melissa griff sich ans Herz und wurde sehr blaß. „Aber warum? Ich habe niemandem etwas getan.“

„Es könnte sein, daß du an deinem 18. Geburtstag eine große Überraschung erlebst und von deinem Vater etwas Ungeheueres erbst!“ erklärte Lieselotte. „Dein Erbe ist irgendwo versteckt, da bin ich mir sicher. Ich glaube sogar, daß es sich in der Gruft be­findet.“

Dominik konnte sich das nicht vorstellen. „Da käme doch nur der Sarg in Frage – sonst wären wir doch darauf gestoßen!“

Melissa wurde immer blasser. „Ich weiß auch nicht, wo. Ich habe nicht einmal eine Ahnung,

worum es sich handelt!“ gestand Lilo, die sich sehr darüber ärger­te, keine Antwort parat zu haben. „Auf jeden Fall will jemand Melissa und ihrer Mutter ans Leben! Jemand, der das Erbe an sich reißen will...“

„Adrian!“ sagte Dominik leise. „Er ist es! Bestimmt! Aber das würde bedeuten, daß er mit Melissa verwandt ist. Vielleicht ist er... ihr Bruder, und sie weiß es gar nicht.“

„Morgen sollst du zur Gruft kommen!“ sagte Lieselotte nach­denklich. „Morgen ist dein 18. Geburtstag. Wir werden dich begleiten, und ich habe da eine Idee. Wir werden herausfinden, wer hinter allem steckt.“

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Geburtstagsparty in der Gruft

Es war die schaurigste Geburtstagsparty, die die Knickerbocker-Bande je erlebt hatte. In der kalten Grabkammer der Gruft des Magiers standen nicht nur die Junior-Detektive, sondern auch Melissa, deren Mutter, Direktor Schauer, Frau Turakowa, Adrian, einige Tänzer aus dem Theater, Frau Huber und natürlich der Notar, ein kleiner, recht hektischer Mann, der ständig seine Brille putzte.

Zuerst klang es recht zaghaft, als Dominik ein „Happy Birth­day“ anstimmte, aber schließlich sangen alle mit. Unbehaglich fühlten sich die Gäste der gespenstischen Party jedoch trotzdem.

Melissa versuchte ihre Aufregung zu verbergen. Lilo hatte ihr mehrfach eingeschärft, was sie zu tun hatte, und die Tänzerin hoffte, alles behalten zu haben.

„Das Testament des Rudolpho Conte. Seinem Willen gemäß wird es heute, am 18. Geburtstag seiner Tochter Melissa, bekannt gemacht!“ verkündete der Notar mit leiernder Stimme. Er zog ei­nen Kassettenrecorder aus der Aktentasche und schaltete ihn ein.

„Da ich weiß, daß ich nicht mehr lange zu leben habe, und viel zu früh gehen muß, möchte ich mich heute bei euch melden, die ihr euch an meinem Sarg versammelt habt. Ihr hört die Stimme Rudolpho Contes!“ begann die Ansprache feierlich. „Annie, ich habe keinen Menschen so geliebt und so gehaßt wie dich. Du warst die einzige, die mich aus der Bahn werfen konnte, und als ich fürchten mußte, daß du mit einem anderen Mann weggehen wirst und mir meine Tochter nehmen könntest, habe ich beschlos­sen, dir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Verzeih mir!“ Annie Kramer seufzte tief.

Lieselotte lehnte sich gegen die feuchte Steinwand und stieß dabei mit dem Ellbogen gegen ein kleines Metallkreuz, das im Stein eingelassen war. Es schwenkte zur Seite und die elektrische Beleuchtung begann zu flackern. Erstaunt sahen sich die Anwe­

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senden um. Als Lilo das Kreuz in seine ursprüngliche Stellung brachte, war wieder alles beim alten.

Rudolpho Conte fuhr fort: „Melissa, heute, an deinem 18. Ge­burtstag lernst du deine Mutter kennen. Du kannst selbst entschei­den, ob du sie magst oder besser meiden willst.“

Das Mädchen lächelte Annie Kramer zu und faßte ihre Hand. Sie hatte sich entschieden.

„Ist dein Herz rein, dein Verstand klar und dein Geist wach, so wirst du das Licht finden, das dich aus der Dunkelheit führt! Ich liebe dich. Mach es gut in deinem Leben! Dein Vater. Ende der Aufnahme.“

Der Notar schaltete das Gerät aus und meinte sachlich: „Das war’s. Auf Wiedersehen!“

„Was?“ brauste Adrian auf und wurde knallrot im Gesicht. „Das war’s? Warum verrät dein Vater seine Geheimnisse nicht?“

Lilo verschränkte die Arme vor der Brust und spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten. Seelenruhig nahm Melissa ihre Puder­dose aus der Tasche und begann sich zu schminken. „Ich hatte meine geliebte Puderdose verlegt. Zum Glück habe ich sie wieder gefunden!“ sagte Melissa beiläufig. Jedes Wort war mit Dominiks Hilfe genau einstudiert worden.

Melissa näherte sich dem schäumenden Adrian und faßte ihn sanft an den Armen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen.

„Nicht, ich will das nicht!“ brummte der junge Mann und wich aus.

„Es ist mein Geburtstag, und ich wünsche es mir!“ sagte Melissa und lächelte ihn unwiderstehlich an.

„Er ist es! Er will sie nicht küssen, weil er sich vor dem Gift fürchtet!“ jubilierte Dominik in Gedanken. Er hatte sich tatsäch­lich ziemlich in Melissa verknallt.

„Was ist?“ fragte Melissa fordernd. Adrian zögerte noch immer, und die Knickerbocker-Freunde

machten sich bereit, ihn aufzuhalten, wenn er flüchten wollte.

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Plötzlich aber beugte sich Adrian zu Melissa und küßte sie. Als er sie wieder losließ, funkelte er sie mit seinen schwarzen Augen an und sagte: „Zufrieden? Tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß ich vor allem an den Geheimnissen deines Vaters interessiert war. Ich hoffe, du bist nicht zu sehr enttäuscht!“

Die Tänzerin blickte traurig zu Boden. Adrian bahnte sich einen Weg und verließ die Gruft. Peinlich berührt, wollten auch die anderen Gäste gehen. Alle mußten an Melissa vorüber, und das Mädchen forderte von jedem einen Kuß auf die Wange.

Direktor Schauer zierte sich nicht und küßte sie väterlich. Auch die Tänzer gratulierten alle herzlich.

Frau Huber wich jedoch zurück. „Nicht, ich mag das nicht!“ brummte sie.

Hinter ihr wollte sich Tamara Turakowa vorbeischieben, aber Axel versperrte ihr den Weg. Melissa war einen Augenblick ver­wirrt, wandte sich dann aber der Ballettchefin zu.

Als sie ihr Gesicht dem Kopf der Frau näherte, stieß diese sie unsanft weg. „Nicht... du sollst sterben... du und deine Mutter, die mein Leben ruiniert hat!“ Tamara Turakowa riß Melissa die Tasche aus der Hand und holte die Puderdose hervor. Sie öffnete sie und schleuderte der völlig überraschten Annie Kramer das braune Pulver ins Gesicht.

„Tamara! Du?“ fragte Annie Kramer ungläubig. „Ja, ich! Du hast mich damals vor zwanzig Jahren beim Tanzen

von der Bühne gestoßen! Du hast mein Leben zerstört! Noch heu­te sind die Schmerzen unerträglich!“ schrie die ehemalige Tänze­rin.

„Du weißt doch, daß es ein Unfall war! Du hättest auch wieder tanzen können! Aber du hast den Unfall als Ausrede benutzt, weil dir klar war, daß du nie ein Star werden wirst“, antwortete Melis­sas Mutter.

„Lüge, alles Lüge!“ kreischte Frau Turakowa außer sich. „Aber jetzt wirst du für deine Lügen bezahlen! Du wirst sterben! Es gibt keine Rettung!“

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„Irrtum! Das Puder ist harmlos. Das Gift ist längst vernichtet!“ sagte Axel cool.

Tamara Turakowa stieß ihn brutal zur Seite und stürmte aus der Gruft. Draußen wurde sie bereits von zwei Kriminalbeamten erwartet, die sie festnahmen. Lilo hatte an alles gedacht.

„Also das muß ich sofort meiner Freundin erzählen!“ sagte Frau Huber und wieselte davon.

„Komm, Kind!“ meinte Annie Kramer und legte ihrer Tochter sanft den Arm um die Schulter. „Komm, wir wollen die Schatten der Vergangenheit hinter uns lassen!“

Dominik stieß Lilo an und sagte: „Die darf kariert quatschen, und keiner sagt ein Wort!“

Lieselotte aber hörte ihn gar nicht. Ihr war etwas eingefallen. Als Melissa bemerkte, daß die Junior-Detektive nicht nachka­

men, fragte sie nach dem Grund. „Äh... wir... Bleib noch einen Augenblick hier, bitte!“ murmelte

Lieselotte. Melissa nickte und bat ihre Mutter vorauszugehen. „Was ist?“ wollte Melissa nun wissen. „Mir geht etwas durch den Kopf“ sagte Lilo, „es war nie dunkel

in der Gruft, wenn wir hier waren – immer brannte Licht. Es muß sich automatisch einschalten, sobald jemand die Gruft betritt. Ganz egal, ob von oben oder durch den Geheimgang!“ Das Super­hirn hatte mittlerweile auch den Zugang entdeckt. Öffnen konnte es ihn allerdings nicht.

„Los, blast die Kerzen aus!“ trug Lieselotte ihren Kumpels auf. Zur Feier des Tages waren große Leuchter mit zahlreichen Kerzen aufgestellt worden.

Nachdem die Knickerbocker die Kerzen gelöscht hatten, faßte Lieselotte das Kreuz, das sie vorhin durch Zufall entdeckt hatte. Sie drehte es bis zum Anschlag, und die Lampen gingen aus.

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Das Auge des Kondors

Im nächsten Augenblick fiel ein greller bläulicher Lichtstrahl aus der Öffnung in der Decke, durch welche die Schlangen in die Gruft eingedrungen waren. Der Strahl traf auf den riesigen Kris­tallüster, in dem er einen besonders großen tropfenförmigen Stein zum Leuchten brachte. Ein magisches Feuer schien von dem Kristall auszugehen.

Axel ließ sich von Lieselotte die Räuberleiter machen und griff nach dem Stein. Im Unterschied zu den anderen Steinen war er nicht durchbohrt und mit Draht am Lüster befestigt, sondern ließ sich mühelos abziehen.

„Das ist ein blauer Diamant! Blaue Diamanten gehören zu den wertvollsten und seltensten Edelsteinen, die es gibt!“ sagte Domi­nik. „Melissa, der Fund ist viele Millionen wert!“

Staunend betrachtete das Mädchen den Stein und drehte ihn zwischen den Fingern. Schließlich blickte es mit feuchten Augen von einem Knickerbocker zum anderen und sagte: „Ich... ich freue mich, aber... viel wertvoller ist es für mich, eine Mutter zu haben und... vier so großartige Freunde wie euch!“

Die Junior-Detektive umarmten das zarte Mädchen und riefen im Chor: „Wir Knickerbocker lassen niemals locker!“

Freudestrahlend verließen die fünf die Gruft und traten auf den Friedhof hinaus, über dem inzwischen die Dämmerung hereinge­brochen war. Die anderen Gäste waren längst gegangen. Melissa und die Junior-Detektive eilten dem Ausgang zu.

Kaum aber hatten sie sich von der Gruft des Magiers abge­wandt, ertönte eine Stimme. Es war die Stimme des Grabes, die rasselnd und heiser sagte: „Ihr habt den Stein gefunden! Doch er gehört mir! Legt ihn sofort nieder und verschwindet!“

„Auseinander! Jeder rennt in eine andere Richtung! Wir treffen uns beim Ausgang!“ flüsterte Lieselotte und faßte Melissa an der Hand.

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Die Junior-Detektive hatten diese Verwirrtaktik schon einige Male angewandt. Wer auch immer sie jetzt verfolgen wollte, mußte sich für eine von vier Möglichkeiten entscheiden.

Schaurig knirschte der Kies unter den Schuhen. Lilo und Melis­sa erreichten eine gemauerte Galerie, an der eine Gedenktafel ne­ben der anderen prangte, als plötzlich Adrian aus einer Nische trat.

Lieselotte griff nach einem Pflock und fauchte: „Verschwinde! Laß Melissa in Ruhe, du mieser Kerl!“

„Aber ich... ich will mich doch nur entschuldigen. Ich habe das vorhin nicht so gemeint!“ sagte der Zauberer. „Ich... ich habe gehofft, daß Rudolpho Conte seine Geheimnisse preisgibt.“ Lang­sam kam Adrian näher.

Als er nach Melissas Arm griff, packte ihn Lilo und beförderte ihn mit einem Schulterwurf zu Boden. War er die Stimme aus dem Grab?

Dominik rannte und rannte, ohne auch nur ein einziges Mal stehenzubleiben und sich umzudrehen. Er wollte den Friedhof so schnell wie möglich verlassen. Plötzlich aber hielt er ein. Da war jemand! Er begann vor Angst und Aufregung mit den Zähnen zu klappern. Wie ein Kreisel wirbelte er herum und versuchte den Verfolger zu erspähen.

Als wäre er aus dem Boden gewachsen, stand dieser plötzlich neben ihm. Es war ein Mann mit langem schwarzem Haar und einem Lederumhang.

Als Dominik erschrocken zurückwich, streckte der Unbekannte die Hand nach ihm aus und sagte: „Keine Angst! Keine Angst! Ich tu dir nichts. Ich will nur das Auge des Kondors haben. Bitte gib es mir! Es muß über mich und mein Volk wachen und uns vor Unheil und bösen Geistern bewahren. Es ist das Zeichen unseres Freiheitskampfes, den wir noch immer nicht gewonnen haben.“

„Das Auge des Kondors?“ stammelte Dominik. Hatte Poppi nicht einmal davon phantasiert?

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„Mein Volk, das im Süden Perus lebt, braucht es. Es wurde uns gestohlen und Rudolpho Conte geschenkt. Wir suchen seit vielen Jahren danach und wußten, daß wir es hier finden werden.“

„Ich habe es nicht!“ antwortete Dominik und wußte im selben Augenblick, daß er zuviel gesagt hatte.

Axel war in eine andere Richtung unterwegs. Als er an einem Grabmal mit einer großen Steinvase vorbeikam, in der einige ver­welkte Blumen standen, hatte er eine Idee. Er wollte den Diaman­ten, den er bei sich trug, hier verstecken. Als er ihn aus der Tasche holte, hörte er ein Rascheln hinter sich. Erschrocken drehte er sich um und sah Direktor Schauer vor sich stehen.

Er hatte eine Pistole auf ihn gerichtet und sah völlig aufgelöst aus. Schweißnaß klebte ihm das Haar am Kopf. Seine Hände zitterten.

„Her damit!“ befahl er, und seine Stimme klang ungewohnt blechern.

Axel erkannte den Grund dafür. Der Mann trug ein kleines Gerät um den Hals und sprach in ein Mikrophon. Das Gerät verzerrte seine Stimme.

Ärgerlich schleuderte Herr Schauer das Ding zu Boden und ging auf Axel zu. „Her mit dem Stein!“

Er war noch ungefähr zehn Meter von dem Junior-Detektiv entfernt, als plötzlich Poppi auftauchte.

„Hau ab!“ schrie Axel. Doch seine Knickerbocker-Freundin blieb stehen und starrte den

Direktor mit weinerlichem Gesicht an. Dieser fuchtelte mit der Waffe unentschlossen zwischen ihr und Axel hin und her. Mit steifen Schritten setzte sich Poppi in Bewegung.

„Sie dreht durch!“ schoß es Axel durch den Kopf, als er sah, daß Poppi auf den Theaterdirektor zumarschierte.

„Bleib stehen, oder ich... drücke ab!“ drohte der Mann. „Ich bin doch ein kleines Mädchen. Auf mich schießen Sie

nicht. Das können Sie nicht. Niemals!“ sagte Poppi. „Ich... habe

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Angst. Große Angst. Bitte, tun Sie mir nichts!“ Ihr kleiner, zarter Körper wurde durch ein Schluchzen geschüttelt.

„Bleib endlich stehen!“ zischte Herr Schauer, aber Poppi ging weiter auf ihn zu. Sie schien völlig die Nerven verloren zu haben.

„Halt sie auf, sie ist verrückt!“ brüllte der Mann. Axel wollte zu ihr, aber das ließ Herr Schauer nicht zu. Als

Poppi höchstens noch fünf Schritte von dem Direktor des Thea­ters entfernt war, begann er nach hinten zu taumeln. Er wollte unter keinen Umständen von diesem Kind berührt werden, das allem Anschein nach ausgerastet war.

„Was soll das? Poppi, spinnst du?“ schrie Axel. „Ich bin ein armes Mädchen, das Angst hat!“ weinte Poppi.

„Bitte, beschützen Sie mich. Bitte!“ Der Theaterdirektor geriet aus der Fassung. Er wußte nicht

mehr, was er sagen sollte. Immer weiter wich er zurück. Als er sich gerade dazu durchgerungen haben schien, Poppi

durch einen Schuß in die Luft zur Vernunft zu bringen, geschah es. Er trat mit einem Fuß ins Leere und stürzte nach hinten in ein offenes Grab. Er war so überrascht, daß er die Waffe losließ. Sie flog in einem hohen Bogen durch die Luft und landete auf dem Kiesweg. Herr Schauer krachte hart auf den nassen Lehm und blieb bewußtlos liegen.

Axel stürmte zu seiner Knickerbocker-Freundin und legte ihr den Arm um die Schultern. „Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten!“ sagte er tröstend.

Poppi grinste ihn an und sagte stolz: „War doch alles nur gespielt, weil ich weiß, daß niemand auf ein kleines Mädchen schießt.“

„Poppi, du bist einfach Megaspitzenklasse!“ lobte sie ihr Kum­pel, der aus dem Staunen nicht herauskam.

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Nur einmal im Leben?

Eine Woche später fand in einem Wiener Museum eine unge­wöhnliche Übergabe statt. Der Indianer, der die Knickerbocker-Bande seit ihrer Entdeckung des sprechenden Grabes beobachtet und Poppi das Leben gerettet hatte, sollte den wertvollen Diaman­ten wiederbekommen. „Das Auge des Kondors“ hieß der Stein deshalb, weil er ursprünglich ein Standbild des Vogels ge­schmückt hatte.

Alle Leute aus dem Theater kamen. Jeder bewunderte, daß Melissa auf das kostbare Stück verzichtete und es seinen wahren Besitzern zurückerstatten wollte.

„Da seid ihr ja endlich! Dominik, wieso hast du dich nicht blicken lassen?“ empfing Frau Huber die Knickerbocker-Bande vor dem Museum. „Ich wollte dir schon die ganze Zeit erzählen, daß ich genau weiß, warum Herr Schauer so wild auf die Erbschaft war.“

„Das wissen wir doch längst!“ sagte Lieselotte. „Er hat nämlich nicht mit Zinnsoldaten, sondern um Geld gespielt. In dem Ab­bruchhaus ist ein verbotener Klub für Glücksspiele untergebracht, und dort hat der Herr Direktor Millionen verspielt. Das Theater hat längst nicht mehr ihm gehört, und er wollte es unbedingt zurückkaufen und seine Spielschulden begleichen. Deshalb wollte er auch das wertvolle Rezept der Sachertorte stehlen lassen. Und natürlich war er es, der Melissa nach Wien gelockt hat. Er hat gehofft, daß sie mehr über die geheimnisvolle Erbschaft weiß und ihn zu dem Stein führt. Er selbst hat ihn nämlich in der Gruft nicht finden können, obwohl er lange danach gesucht hat.“

Frau Huber schnappte nach Luft. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn jemand besser Bescheid wußte als sie.

„Außerdem wissen wir“, fuhr Axel fort, „daß Herr Schauer sich die großen Tricks des legendären Magiers unter den Nagel geris­sen hat. Sie gehören Melissa und sind ebenfalls ein Vermögen

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wert. Rudolpho Conte hat seinen sogenannten Freund beauftragt, die Geräte für Melissa aufzubewahren, doch Erik Schauer hat sie verkauft, weil er das Geld brauchte.“

„Und einer der Spieler hat Melissa anonym einen hohen Geld­betrag überwiesen, als er aus der Zeitung von der Sache erfuhr. Er wollte nicht, daß sie für die Spielleidenschaft des Direktors büßen muß!“ ergänzte Dominik.

Abermals schnappte Frau Huber nach Luft. „Sie werden bald eine Fliege schlucken, wenn Sie nicht aufpas­

sen!“ sagte Poppi grinsend. Die Frau drehte sich kurzerhand um und stöckelte ins Museum. „Hallo!“ hörten die Knickerbocker eine bekannte Stimme. Es

war Melissa, die von ihrer Mutter begleitet wurde. „Da die neue Show erst gezeigt werden soll, wenn endgültig ge­

klärt ist, wem das Theater nun gehört, werde ich mit meiner Mut­ter nach New York fliegen!“ erzählte das Mädchen begeistert.

„Kinder, ich muß euch gratulieren!“ sagte Frau Kramer. „Ich bewundere, wie ihr das alles gemacht habt. Aber so etwas erlebt man nur einmal im Leben!“

„Darüber wären meine Eltern froh!“ warf Poppi ein. „Worüber?“ fragte Annie Kramer erstaunt. „Wenn wir so etwas nur einmal erlebten. Aber das ist nicht so“,

erwiderte das Mädchen. „Was? Nicht?“ Melissas Mutter konnte es nicht fassen. „Merken Sie sich unseren Namen. Sie werden bald wieder von

uns hören!“ meinte Dominik. In diesem Augenblick schrillte die Alarmanlage des Museums. „Entweder falscher Alarm oder... ein neuer Fall für die Knicker­

bocker-Bande!“ sagte Lieselotte grinsend, und ihre Freunde stimmten in ihr Gelächter ein.

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WIE AUS 125 BUCHSEITEN 2590 METER FILM WERDEN

Warum gibt es noch immer keinen Knickerbocker-Film? Wann kommt die Knickerbocker-Bande endlich ins Fernsehen? – Diese Fragen sind mir oft gestellt worden. Die Antwort ist einfach: Es muß sich ein Produzent finden, der einen Kinofilm oder eine Fernsehserie drehen möchte und das Geld dafür beschaffen kann. Eine einzige Minute Kinofilm kostet nämlich ungefähr soviel wie ein Mittelklassewagen.

Im Frühjahr 1993 war es soweit. Die Planungen für den ersten Knickerbocker-Kinofilm begannen. Zuallererst habe ich die Geschichte geschrieben, die Du in diesem Buch gelesen hast. Daraus mußte dann ein Drehbuch gemacht werden.

Wenn Du im Buch liest:

In diesem Augenblick begann Axels Handy zu piepsen. Axel hatte das Telefon vor einiger Zeit von seinem Vater geschenkt bekom­men, weil dieser wenig Zeit für seinen Sohn und deshalb ein schlechtes Gewissen hatte. Das Piepsen war nicht nur ziemlich schrill, sondern wurde auch mit jedem Mal lauter.

Mit zitternden Fingern drückte Axel die Empfangstaste. Es war seine Mutter, die ziemlich sauer war, weil er sich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen hatte.

„Du hast jemanden im Gebüsch versteckt. Du hast gelogen, und dafür wirst du hart bestraft werden!“ knurrte es aus dem Grab.

Die schwarze Gestalt hob abwehrend die Arme. Über dem Friedhof lag eisiges Schweigen. Die Stimme aus der Gruft war verstummt.

Mit schnellen Schritten ergriff die unheimliche Gestalt die Flucht und war bald in der Dunkelheit verschwunden…

sieht das im Filmdrehbuch so aus:

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FRIEDHOF: AUSSEN – NACHT

Penetrantes LÄUTEN von Axels Handy. Die vermummte Gestalt dreht sich erschrocken zu den Kindern um. Man kann ihr Gesicht unter der Kapuze nicht erkennen. Axel klappt das Telefon auf.

AXEL (flüstert): Ja?

DOMINIK: Spinnst du?

AXEL: Ich komme gleich...

DOMINIK: Hörst du endlich auf?

Axel klappt das Telefon wieder zu, zuckt entschuldigend mit den Achseln.

STIMME AUS DEM GRAB (wütend): Wen hast du im Gebüsch versteckt? Du hast mich verraten! Das wirst du bereuen!

Die vermummte Gestalt läuft davon.

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Im Frühjahr 1994 war das Drehbuch schließlich fertig. Mindes­tens zehnmal war es überarbeitet und verändert worden.

Nach der Fertigstellung des Drehbuchs begann die Suche nach den vier Kindern, die die Knickerbocker spielen sollten. In Öster­reich, Deutschland, Schweden und England wurden sogenannte „Castings“ veranstaltet – das sind Tests, bei denen sich Junior­schauspieler vorstellen und zeigen, was sie können. Der Regisseur hat dann überlegt, welche der Bewerber, die in die engere Wahl kamen, für eine der vier Rollen geeignet sind. Diese Mädchen und Jungen mußten kurze Szenen aus dem Film spielen und wurden dabei mit einer Videokamera aufgenommen.

Einen Film zu drehen, ist nicht einfach. Es ist eine lange, mühevolle Arbeit, zu der nicht nur Talent, sondern viel Geduld und Ausdauer nötig sind.

Unter mehr als 1700 Kindern wurden nach langem Suchen die vier Hauptdarsteller ausgewählt:

Rebecca Keeling (Lilo): Sie kommt aus der Grafschaft Kent in England, geht gern ins Kino, mag Latzhosen, besucht eine Thea­terschule in London, hat bereits in dem Musical „Les Mise­rables“ mitgespielt und Werbespots gedreht. Lieselotte ist ihre erste große Filmrolle.

Mathias Rothammer (Axel): Wie andere zum Fußballplatz gehen, marschiert er zu Filmdreharbeiten. Er hat bereits in mehreren Fernsehserien und Filmen mitgespielt: „Pumuckel und der blaue Klabauter“, „Tierärztin Christine“, „Donauprinzessin“ usw. Mathias ist absolut cool und immer gut aufgelegt. Er ist ein Profi, wenn es um Computer geht, und hat sich mit seinen Knickerbocker-Kumpeln sofort angefreundet.

Aled Roberts (Dominik): Er kommt aus Wales in Großbritannien und hat bereits in mehreren Theaterstücken, Fernsehspielen und Filmen mitgewirkt. Aled spielt Dominik nicht, er ist Dominik. Auch er spricht manchmal kompliziert, verschlingt ein Buch

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nach dem anderen, weiß unglaublich viel und ist bei Computer­spielen ein Meister. Die „Robots“ sind seine Favourites.

Olivia Hallinan (Poppi): Sie kommt aus London und mag Tiere, wie Poppi. Auch sie hat schon viel Erfahrung am Theater und beim Film gesammelt. Ihr macht die Schauspielerei ungeheuren Spaß. Olivia liest viel und ist auch eine Meisterin am Gameboy. Sie ißt gerne, und das Essen in Österreich hat ihr besonders geschmeckt.

Die Vorbereitungen für die Dreharbeiten haben zwei Monate gedauert. Es mußten die erwachsenen Schauspieler engagiert, die richtigen Schauplätze gefunden, die Kostüme ausgesucht, die Tricks entwickelt und das Team zusammengestellt werden. Am Knickerbocker-Film haben vor und hinter der Kamera an die 120 Personen mitgewirkt.

Im Oktober ging es dann los. Acht Wochen lang wurde gedreht. Mindestens fünf Tage pro Woche, und oft bis spät in die Nacht hinein. Manche Szenen, die im Film wenige Sekunden dauern, mußten viele Stunden vorbereitet und bis zu zehnmal gedreht werden; erst dann war die Szene „im Kasten“.

Für Mathias, Aled, Rebecca und Olivia waren die Dreharbeiten keine Ferien. In jeder Drehpause wurden sie von einer Lehrerin unterrichtet (sogar am Friedhof in einem Wohnwagen).

Die vier waren bald so gute Freunde wie die echten Knicker­bocker, und sie haben sogar einen „Fall“ gelöst. Als eine der (ungiftigen) Schlangen verschwand, fanden die vier sie wieder. Sie hatte sich unter einem Stein verkrochen, weil ihr zu kalt war.

Im Dezember 1994 waren die Dreharbeiten zu Ende. Bei einem großen Abschlußfest mußten die Mitwirkenden voneinander Abschied nehmen. Den meisten fiel das schwer, weil das Team sich großartig verstanden und die Arbeit Spaß gemacht hatte.

Doch der Film war noch lange nicht fertig. Jetzt mußten die Szenen erst zusammengestellt und geschnitten werden. Der Knickerbocker-Film besteht aus mehr als 1250 Teilen. Es fehlten

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auch noch die deutschen Stimmen für die englischen Schauspieler sowie die Geräusche und die Musik.

Nach vier weiteren Monaten war es endlich geschafft! Der Knickerbocker-Film konnte ins Kino kommen. 2590 Meter Film rattern durch die Projektoren, damit Du eineinhalb Stunden Hochspannung auf der Leinwand erlebst.

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