22
1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit im Modul 4b Andreas Teltscher Masterstudiengang „Sozialarbeit in der Psychiatrie“ Dozent: Dr. Michael von Cranach Fachhochschule München Fachbereich 11 Sozialwesen Am Stadtpark 20 81243 München Abgabedatum: 01.10.2006

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

  • Upload
    others

  • View
    7

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

1

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

als Erklärungsmodell für die multifaktorielle

Genese psychischer Störungen

Seminararbeit im Modul 4b Andreas Teltscher

Masterstudiengang „Sozialarbeit

in der Psychiatrie“

Dozent: Dr. Michael von Cranach

Fachhochschule München

Fachbereich 11 Sozialwesen

Am Stadtpark 20

81243 München

Abgabedatum: 01.10.2006

Page 2: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

2

Inhalt

1 Einführung Seite 2

2 Begriffsdefinitionen Seite 3

2.1 Psychische Störung und psychische Gesundheit Seite 3

2.2 Vulnerabilität Seite 4

3 Entstehung einer psychischen Störung Seite 5

3.1 Entwicklung einer Vulnerabilität Seite 5

3.1.1 Genetische Faktoren Seite 6

3.1.2 Geburtskomplikationen Seite 8

3.1.3 Psychodynamische Faktoren Seite 9

3.1.4 Soziale Faktoren Seite 13

3.2 Auslösende Stressoren Seite 16

4 Zusammenfassung und Diskussion Seite 17

5 Literaturverzeichnis Seite 22 6 Erklärung Seite 24 1 Einführung

Page 3: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

3

Psychische Störungen zeichnen sich durch unterschiedliche Ausprägungen und Verläufe trotz

einheitlicher Diagnose aus. Die eher eindimensionalen biologischen und psychologischen

Konzepte können oft nur unzureichend die Genese psychischer Störungen erklären.

Zubin und Spring versuchten 1973 durch die Formulierung des Vulnerabilitätsmodelles die

Entstehung schizophrener Störungen besser als die bis dahin bekannten Konzepte zu erklären.

Dieses Modell geht von einer multifaktoriellen Genese mit unterschiedlichen Verläufen aus.

Es kann sich flexibel neuen Befunden anpassen und gilt heute als eines der wichtigsten Erklä-

rungsmodelle für die Entstehung psychischer Störungen. Luc Ciompi griff dieses Modell in

den frühen 80er Jahren auf und war maßgeblich für dessen Verbreitung in Europa verantwort-

lich.

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage: „Wie entsteht persönliche Vulnerabilität und wel-

chen Einfluss hat sie auf die Genese psychischer Störungen“?

Ziel dieser Arbeit ist es einen Überblick über das Wissen zur Entstehung persönlicher Vulne-

rabilität und ihren Einfluss auf die Entstehung psychischer Störungen in der Literatur zu ge-

ben.

Zu Beginn werden die Begriffe „psychische Störung“ und „Vulnerabilität“ definiert.

Anschließend wird die Entstehung persönlicher Vulnerabilität, ihre Einflussfaktoren und der

Zusammenhang mit der Entstehung psychischer Störungen beschrieben.

Zum Abschluss werden die Aussagen dieser Arbeit zusammengefasst und diskutiert.

2. Begriffsdefinition

2.1 Psychische Störung und psychische Gesundheit

Um den Begriff psychische Störung korrekt definieren zu können sollte klar sein, was als psy-

chisch gesund gilt.

Page 4: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

4

Nach Durchsicht der Literatur fällt es schwer eine brauchbare Definition für psychische Ge-

sundheit zu finden. Krankheit wird deutlich häufiger in den verschiedenen Fachgebieten wie

Medizin, Jura oder Soziologie beschrieben. So sieht das Bundessozialgericht Krankheit im

Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung als „ein regelwidriger körperlicher oder geistiger

Zustand, der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat“. Der

Bundesgerichtshof versteht unter Krankheit jede Störung der normalen Beschaffenheit oder

der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt, beseitigt oder gelindert werden kann (aus

Marschner 2005, Seite 10).

Gesundheit wird in diesen Texten nicht definiert. Selbst Aron Antonowski hat bei der Ent-

wicklung seines salutogenetischen Modells abgelehnt Gesundheit zu definieren, da Gesund-

heit und Krankheit seiner Ansicht nach ein Kontinuum bilden und es bei der Definition dieser

beiden Begriffen nicht um ein absolutes Konzept geht. Definitionen würden aber die Festle-

gung von Normen verlangen, die dem subjektiven Empfinden des Einzelnen aber eventuell

nicht entsprechen (Vgl. Skript Michael Ewers 2006, Seite 5).

Speziell „psychische Gesundheit“ wird meines Erachtens am besten durch die WHO definiert:

Psychische Gesundheit ist der „Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähig-

keiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar

arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen“ (WHO, Grünbuch

2005, Seite 4).

Folglich umfassen psychische Erkrankungen laut WHO psychische Gesundheitsprobleme und

– belastungen, Verhaltensstörungen in Verbindung mit Verzweiflung, konkreten psychischen

Symptomen und diagnostizierbaren psychischen Störungen wie Schizophrenie und Depressi-

on.

Diese von der WHO erwähnten diagnostizierbaren psychischen Störungen werden in Europa

durch zwei Klassifikationssysteme erbracht. Dem ICD 10 (International Classification of Dis-

esases and Related Health Problems) und dem DSM 4 (Diagnostic and Statistical Manual of

Mental Disorders). Die den Abkürzungen folgenden Ziffern beschreiben die jeweils aktuelle

Version.

Page 5: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

5

Für Deutschland ist das ICD-10 maßgeblich. Selbst dort wird psychische Störung nicht als

exakter Begriff beschrieben. Die Verwendung dieses Begriffes soll einen Komplex von

Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die auf der individuellen und oft auch

auf der sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden

sind. Allerdings sollen soziale Abweichungen und soziale Konflikte allein, ohne persönliche

Beeinträchtigungen, nicht als psychische Störung im Sinne des ICD-10 definiert werden (Vgl.

WHO, ICD-10 2000, Seite 22f)

Im Sinne der Psychotherapie-Richtlinien und der beschriebenen Ableitung aus der Definition

von psychischer Gesundheit der WHO, werden für diese Arbeit „psychische Störungen“ als

krankhafte Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung,

der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen gesehen.

2.2 Vulnerabilität

„Vulnerabilität kann als Überempfindlichkeit gegenüber Umwelterfahrungen, Gefährdungen,

besonders gegenüber negativen, d.h. uneinheitlichen, zerrissenen, zerfließenden, schiefen

usw. zwischenmenschlichen Beziehungen inner- und außerhalb der Familie angesehen wer-

den.“ (Rudolf 2000, Seite 61).

Im Lehrbuch für Psychiatrie von Möller, Laux und Deister (1996, Seite 562) wird Vulnerabi-

lität als „Individuell unterschiedliche Verletzbarkeit und Bereitschaft für das Auftreten psy-

chischer Störungen (insbesondere Psychosen)“ definiert.

3 Entstehung einer psychischen Störung

3.1 Die Entwicklung einer Vulnerabilität

Lebens- und Krankheitsgeschichte sind eng miteinander verknüpft. Psychische Störungen

entwickeln sich nicht wie andere Krankheiten nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten, sondern

in einem Prozess, der von Menschen mit bestimmen Fähigkeiten und Erfahrungen gestaltet

wird.

Page 6: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

6

Heute geht man davon aus, dass psychische Störungen multifaktoriell bedingt sind. Der bio-

logische Anteil wird allerdings, insbesondere bei schizophrenen Störungen, häufig noch als

führend angesehen. Dies hat zur Folge, dass die Behandlung durch Medikamente dominiert.

Diese Auffassung macht es aber laut Cullberg (2003, Seite 53) schwierig die Behandlung

psychischer Störungen weiter zu differenzieren. Es gebe auch, hauptsächlich außerhalb der

akademischen Kreise, die Auffassung, dass es sich beispielsweise bei der Schizophrenie um

eine psychisch determinierte Störung handelt. Trotz des Streites welchen Ansichten der Vor-

rang gebührt, fehlt es an Modellen welche die Komplexität dieser Störungen hinsichtlich der

Ursachen und der Behandlung abbilden.

Laut Dörner (2002, Seite 172) ist über die Entstehung- und Verlaufsbedingungen schizophre-

ner Störungen viel geforscht worden. Bis heute können aber weder verbindliche Aussagen

über den psychosomatischen und psychologischen, noch über biochemische Zusammenhänge

gemacht werden.

In den folgenden Kapiteln werden die Einflussfaktoren auf die Entwicklung einer individuel-

len Vulnerabilität beschrieben.

3.1.1 Genetische Faktoren

Der Einfluss der Gene auf die Vulnerabilität eines Menschen wird in der Literatur unter-

schiedlich bewertet.

So schreiben Bosshart, Ebert und Lazarus (2001, Seite 177) lediglich „Heute wissen wir, dass

genetische Faktoren nur bedingt eine Rolle spielen. Man geht davon aus, dass die erbliche

Disposition eines Kindes nur unter ungünstigen Entwicklungsbedingungen zum Tragen

kommt“ (Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite 177).

Daraus kann geschlossen werden, dass die nach der Geburt feststehende Vulnerabilität eines

Menschen durch weitere Faktoren beeinflusst werden muss, damit eine psychische Störung

sich entwickeln kann.

Laux (1996, Seite 128) hingegen übersetzt sogar das Vulnerabilitätskonzept als „anlagebe-

dingte Verletzlichkeit“ und Möller (1996, Seite 65) schreibt „Heute wird von einer multifak-

Page 7: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

7

toriellen Atiopathogenes der Erkrankungen ausgegangen, bei der eine genetisch bedingte

Vulnerabilität im Zentrum steht“.

Zur Untermauerung dieser Behauptung dienen Familien-, Zwillings und Adoptionsstudien in

denen, laut der Autoren, eindeutig genetische Dispositionen belegt werden. So zeigte sich bei

Verwandten ersten Grades eine familiäre Häufung affektiver Störungen. Wenn beispielsweise

ein Elternteil eine affektive Störung hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind eben-

falls eine derartige Störung entwickelt ca. 10%, bei bipolaren Störungen ca. 20 %. Wenn bei-

de Eltern erkrankt sind beträgt die Morbiditätsrate der Kinder sogar 50 bis 60%. Bei ca. der

Hälfte der bipolaren Patienten haben die Eltern ebenfalls eine bipolare Störung. (Vgl. Laux

1996, Seite 65).

Bei den schizophrenen Störungen zeigt sich ein ähnliches Bild. So liegt die Morbidität für

Schizophrenie in den betroffenen Familien deutlich höher als in der Durchschnittsbevölke-

rung und nimmt mit steigendem Verwandtschaftsgrad zu einem Betroffenen zu. Bei Angehö-

rigen ersten Grades liegt das Risiko eine schizophrene Störung zu entwickeln bei ca. 10%, bei

Verwandten zweiten Grades liegt das Risiko bei ca. 5%. Bei Erkrankung beider Elternteile

steigt das Risiko ebenfalls eine schizophrene Störung zu entwickeln auf 40%. Am deutlich-

sten wird der genetische Einfluss aus den Vergleichsdaten von eineiigen und zweieiigen Zwil-

lingen. Bei eineiigen Zwillingen erkrankt zu ca. 50% das eine Geschwister, wenn das andere

erkrankt, zu ca. 15% bei zweieiigen Zwillingen. Die genetische Disposition wird laut Möller

als polygene Erbanlage interpretiert. Trotz großer Fortschritte molekulargenetischer For-

schung liegen die Details der verantwortlichen Gene noch im Unbekannten. (Vgl. Rudolf

2000, Seite 46 und Möller 1996, Seite 128f)

So kommt auch Alanen (2003, Seite 28) zu dem Schluss, dass wahrscheinlich die Empfäng-

lichkeit eine schizophrene Störung zu entwickeln polygenetisch bedingt ist und in den Fami-

lien von Patienten variiert und dies sowohl im Hinblick auf die Chromosomen als auch hin-

sichtlich ihrer Ausprägung. Die jeweilige Wirkung hänge von der Interaktion mit der physi-

schen und psychosozialen Umwelt ab.

Page 8: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

8

Verwandte Schizophrener Erkrankungswahrscheinlichkeit

in Prozent

Eltern

Kinder eines schizophrenen. Elternteils

Kinder schizophrener Eltern

Geschwister ohne schizophrene Eltern

Geschwister mit einem schizophrenen Eltern-

teil

Geschwister mit schizophrenen Eltern

Halbgeschwister ohne schizophrene Eltern

Großeltern

Enkel

4 – 5

12 – 14

36 – 46

8 – 10

12 – 17

35 – 45

3,5

1,6

3,5

Tabelle 1 aus: Rudolf, „Der schizophrene Patient in der ärztlichen Sprechstunde“, Wiesbaden

2000, Seite 45

Werden diese beim ersten Lesen unterschiedlichen Aussagen zur Bedeutung der Genetik auf

die Entwicklung einer Vulnerabiliät zusammengefasst, kommt man zu dem Schluss, dass die

Genetik grundsätzlich einen Einfluss auf die Entstehung einer persönlichen Vulnerabilität zu

haben scheint. Alle Autoren teilen aber die Auffassung, dass die Gene alleine eine psychische

Störung nicht auslösen. Es braucht noch weitere Faktoren, die zur Entwicklung einer psychi-

schen Störung führen.

3.1.2 Geburtskomplikationen

Schädigungen im Mutterleib können die Vulnerabilität erhöhen. So beschreibt Möller (1996,

Seite 129f) Zwillingsuntersuchungen, in denen festgestellt wurde, dass oft der Erkrankte von

Page 9: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

9

eineiigen Zwillingen die so genannte „minimal brain dysfunktion“ hat. Man versteht darunter

eine Ausreifungsstörung des kindlichen Gehirns, die sich darin zeigt, dass die für bestimmte

Fähigkeiten verantwortlichen Hirnzellverbände nicht altersgerecht heranreifen und ihre Ver-

knüpfung untereinander nur unzulässig und lückenhaft zustande kommen.

Auch virale Infektionen in der vorgeburtlichen Phase oder auch des Neugeborenen können die

persönliche Vulnerabilität beeinflussen (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite 177)

Alle Autoren sind sich einig, dass die in den letzten beiden Kapiteln beschriebenen biologi-

schen Faktoren nicht allein eine psychische Störung auslösen können. Uneinig sind sie sich

über die Gewichtung des Einflusses. Es muss also noch weitere Einflussfaktoren als die Bio-

logischen bei der Genese psychischer Störungen geben.

3.1.3 Psychodynamische Faktoren

Frieda Fromm-Reichmann hat in den 50er Jahren beschrieben was sie mit ihren schizophre-

nen Patienten erlebte. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte sie den Begriff der „schizoph-

renogenen Mutter“. Heute wird dieser Begriff abgelehnt, beschuldigt er doch die Mutter, die

Verursacherin der Schizophrenie zu sein, so wie beispielsweise Viren die Verursacher einer

Grippe sind. Diese Beschreibung und Beschuldigung der Mutter ist sehr kurzsichtig. Die Rol-

le des Vaters wird unterbewertet und wertet die Belastung der Mutter ab. Wenn professionelle

Helfer diesen Begriff benutzen, kann die Beziehung zwischen Helfer und Mutter so schwer

belastet werden, dass Angehörigenarbeit unmöglich wird (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus, Seit

2001, Seite 177).

Auch Möller (1996, Seite 130) bewertet den Einfluss der so genannten schizophrenogenen

Mutter als unzureichend, da ausreichend empirische Daten fehlen und Dörner (2002, Seite

173) schreibt „Die Ergebnisse aus der Familienforschung sind in letzter Zeit fraglich gewor-

den, zumindest so weit sie parteiisch für den Patienten sind und der Mutter die Schuld zuwei-

sen.“

Trotzdem wurde durch die Entwicklung dieses Begriffes die schizophrene Störung in einen

lebens- und erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, statt sie wie die damalige

Page 10: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

10

Schulpsychiatrie als einen unaufhaltsamen Prozess eines organisch bedingten, vererbbaren

Defektes anzusehen.

Mir scheint es wichtig die Belastungen der Betroffenen zu sehen und ernst zu nehmen ohne

sich das Recht zu nehmen, Angehörige oder Andere zu verurteilen und Schuld zuzusprechen.

Gerade beim Lesen der folgenden Abschnitte ist es wichtig diese Haltung einzunehmen, da

sonst schnell ein Schuldiger gefunden ist und weitere Zusammenhänge unentdeckt bleiben.

Störungen in den ersten Lebensmonaten

Die Kinderpsychoanalytikerin Margret Mahler bringt Psychosen mit Störungen in den ersten

Lebensmonaten (symbiotische Phase), in Zusammenhang. Die Bedürfnisse des Kindes wur-

den nicht erfüllt und dies führte zu großen Spannungen. Die Psychose ist eine Folge dieser

unbefriedigten Bedürfnisse in den ersten Lebensmonaten und kann folglich auch nicht wirk-

lich aufgelöst werden. Psychose hat laut der Autorin zu tun mit der nicht gelungenen Grenz-

ziehung zwischen Mutter und Kind (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite 178)

Double bind

Gregory Bateson (1995, Seite 190ff) beschrieb, wie durch ständig wiederkehrende wider-

sprüchliche Botschaften dem Kind gegenüber eine schizophrene Störung gefördert werden

kann. Bateson beobachtete häufig in Familien eines schizophrenen Patienten, dass beispiels-

weise die Mimik des Gegenübers etwas völlig anderes ausdrückte als seine Worte. Wenn kei-

ne andere Person zur Verfügung steht die erklärt, Orientierung gibt und entlastet und wenn

das Kind keine Möglichkeit hat nachzufragen, bleibt es in Verwirrung und lernt nicht seinen

eigenen Wahrnehmungen zu trauen. Diese Kinder können nicht vermeiden ihren Eltern zu

missfallen. Was sie auch tun, es ist nie richtig. Kinder, die sich ständig in solchen Bezie-

hungsfallen befinden, reagieren unter Umständen mit schizophrenen Symptomen. Laut Batson

umfasst jede Double-Bind-Botschaft eine verbale Ebene und eine widersprüchliche nicht-

verbale Ebene. Wenn beispielsweise jemand bei der Begrüßung sagt: „Ich freue mich dich zu

sehen“, es aber vermeidet den Anderen anzusehen oder die Hand zu geben, dann passen diese

Botschaften nicht zusammen. Bateson verfasste die Theorie, dass Kinder, die wiederholt sol-

chen Double-Bind Situationen ausgesetzt sind, eine besondere Lebensstrategie entwickeln,

um mit ihrer Umwelt klar zu kommen. Eine Strategie wäre, die inhaltliche Ebene zu ignorie-

Page 11: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

11

ren und nur auf die non-verbale Ebene zu achten. Solche Menschen sind misstrauisch gegen

das was andere sagen, sie suchen nach Gesten oder Tonfällen, die das Gegenteil des Gesagten

„beweisen“. Menschen die verstärkt in dieser Weise auf die Kommunikation anderer reagie-

ren entwickeln leicht die Symptome einer paranoiden schizophrenen Störung.

Menschen die einer solchen Kommunikationsstruktur ausgesetzt sind, entwickeln also eben-

falls eine gewisse Vulnerabilität für psychische Störungen.

Expressed Emotions

Ein heute anerkanntes Konzept zur Beschreibung des familiären Umfeldes eines Menschen

mit psychischen Störungen ist das Messen des Expressed Emotions (EE) Indexes. Der EE-

Index misst die Intensität der in der Familie gegenüber dem Patienten zum Ausdruck gebrach-

ten negativen Gefühle. Es wird die Intensität des emotionalen Engagements, vor allem von

geäußerter Feindseligkeit, Kritik und gefühlsmäßiges Überengagement beobachtet. Familien

mit einem niedrigeren EE geben dem Patienten die nötigen Rückzugsmöglichkeiten, tolerie-

ren Verhaltensauffälligkeiten und hören mehr zu. In Familien mit hohem EE hat das betroffe-

ne Mitglied weniger Autonomie und Handlungsspielraum, die Mitglieder reagieren eher ge-

reizt, ängstlich und hilflos auf Veränderungen und irritierende Verhaltensweisen. In ca. 50 %

der Familien mit einem betroffenen Mitglied wird ein erhöhter EE gemessen. Die Rückfall-

quote in einer Familie mit hohem EE ist größer. (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite

178f).

Von den psychosozialen Faktoren bei der Genese von schizophrenen Störungen gelten für

Möller (1996, Seite 130) die Untersuchen zu den Expressed Emotions als am besten gesichert.

Dies gelte aber nur für die Rezidive. Welchen Einfluss die EE auf die Ersterkrankung hat, sei

noch zu wenig erforscht.

Comer (2001, Seite 397) beschreibt ebenfalls das höher Risiko zur Wiedererkrankung von

Patienten, die in eine Familie mit hohem EE entlassen werden. Allerdings weist er darauf hin,

dass das höhere Maß an Kritik, ängstlicher Überbesorgtheit oder Feindseligkeit oft vom Ver-

halten des schizophrenen Verwandten beeinflusst wird. So fühlen sich häufig Angehörige von

dem starken sozialen Rückzug ihres Verwandten gestört. Verhaltensweisen der Menschen mit

schizophrenen Störungen, wie etwa Ruhelosigkeit, Umherschreiten, seltsame Körperhaltun-

Page 12: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

12

gen und Selbstgespräche können so störend sein, dass Feindseligkeiten auftreten, die norma-

lerweise in der Familie nicht auftreten würden. Auch variieren die Expressed Emotions je

nach Verfassung des erkrankten Familienmitgliedes.

Auch wenn die Untersuchungen laut Möller unzureichend sind, um einen Hinweis auf die

Entstehung schizophrener Störungen daraus ableiten zu können und es auch unklar bleibt, ob

als Erstes die Expressed Emotions in der Familie auftraten oder sich die EEs aus der Störung

eines Familienmitgliedes entwickelt haben, kann doch festgestellt werden, dass High Expres-

sed Emotions die Symptome einer schizophrenen Störung fördern.

Ungünstige Entwicklungsmöglichkeiten des Neugeborenen, verwirrende Kommunikations-

strukturen und belastende Emotionen in der Familie haben einen entscheidenden Einfluss auf

die persönliche Vulnerabilität eines Menschen. Die biologische Vulnerabilität wird durch die-

se Faktoren erhöht oder erniedrigt. Neben den biologischen und psychodynamischen Faktoren

wird in der Literatur auch ein Einfluss sozialer Faktoren beschrieben.

3.1.4 Soziale Faktoren

Die in den letzten Kapiteln beschriebenen Beziehungen spielen sich in Sozialräumen ab. For-

schungen der letzten Jahrzehnte zeigten, dass die Diagnose Schizophrenie bei Arbeitern sehr

viel häufiger vorkommt als in anderen sozialen Schichten. So wurde in diesen Studien deut-

lich, dass in betroffenen Familien nur eine kleine Minderheit der Familienmitglieder am ge-

sellschaftlichen Leben aktiv teilnimmt. Ihr gesellschaftliches Leben spielt sich innerhalb der

Familie und der nächsten Nachbarschaft ab. Die Löhne sind niedrig und es bestehen kaum

Ersparnisse zur Überbrückung von Krisen. Die Eltern ärgern sich laut diesen Studien häufig

über ihre Vorgesetzten und die Repräsentanten der höheren Schichten. Die Kinder überneh-

men die feindselige Einstellung der Eltern und werden dann noch durch ihre eigenen Erfah-

rungen darin bestärkt.

Bosshart, Ebert und Lazarus folgern daraus, dass soziale Ohnmacht, die existenzielle Unsi-

cherheit, die soziale Isolation der zum Teil brüchigen, unvollständigen Familien und das ge-

nerelle Misstrauen nach Außen belastend für das Familienmilieu sind. So schreiben die Auto-

Page 13: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

13

ren (2001, Seite 180): „Es ist gut vorstellbar, dass in solchen Sozialräumen die Familie als

Schutz- und Entwicklungsraum überfordert sein kann. Vermutlich ist die Entwicklung von

Kindern in solchen Sozialräumen eher durch Verlorenheit, existenzielle Verunsicherung,

emotionale Instabilität, Reizüberwältigung und Mangelerfahrungen aller Art, Verwirrung und

Ohnmacht bestimmt als woanders.“

Wieder wird aber betont, dass auch soziale Verhältnisse allein nicht zu psychischen Störungen

führen, da diese auch in anderen sozialen Schichten diagnostiziert werden. Die Häufung in

niedrigeren Schichten kann nicht als Ursache sondern nur als ein ungünstiger Rahmen für

psychische Gesundheit gesehen werden.

Auch Dörner (2002, Seite 174) beschreibt dass ständiges materielles und geistiges Belastet-

sein, Perspektivlosigkeit und mangelnde Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe, zu ständigem

Stress führen. Laut dem Autor haben Arme weniger Möglichkeiten zur Bindung an ihr Leben,

an die Zeit, an die Zukunft, an andere Menschen, aber auch an Interessen.

Möller bewertet die Sozialraumstudien allerdings anders als die oben genannten und be-

schreibt die so genannte Drift-Hypothese.

Drift Hypothese

„Aufgrund weiterer Forschungsergebnisse ist aber eher davon auszugehen, dass Schizophrene

im Verlauf einer Erkrankung in die Unterschicht abgleiten (…) Wenn man nicht die aktuelle

Schichtzugehörigkeit zugrunde legt, sondern die Schicht der Herkunftsfamilie, so ergibt sich

ein der Schichtverteilung entsprechendes Erkrankungsrisiko.“ (Möller 1996, Seite 130)

Die Gedanken zur Drift-Hypothese“ stellt auch Dörner (2002, Seite 174f) vor. Er sieht die

Schlussfolgerungen dieser Hypothese auf dem Hintergrund des hohen Prozentsatzes von psy-

chisch erkrankten Obdachlosen als erwähnenswert an. Auch verhindere Versagen in Schule,

Ausbildung und Beruf das Erreichen eines höheren Status.

Labeling Theorie

Page 14: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

14

Der Labeling (Etikettierung) Ansatz betont die gesellschaftlichen Einflüsse bei der Entsteh-

tung der Schizophrenie. Vertreter dieses Ansatzes wie Modrow und Szasz glauben, dass viele

Symptome der Schizophrenie von der Diagnose selbst hervorgerufen werden. Es wird die

Ansicht vertreten, dass Menschen, die von Verhaltensnormen abweichen, das Etikett von

„Schizophrenie“ aufgestempelt bekommen. Dieser Stempel kann zu einer sich selbst erfüllen-

den Prophezeiung werden, die die Ausbildung schizophrener Symptome fördert. Laut der Au-

toren wird von den Betroffener ein schizophrener Verhaltensstil erwartet und dies bestärkt sie

darin einen schizophrenen Verhaltensstil zu zeigen. Sie lernen immer mehr die ihnen zuge-

wiesene Rolle zu akzeptieren und sie überzeugend zu spielen.

Die berühmte Rosenhan-Studie von 1973 bestätigt diesen Labeling-Effekt. Als sich acht Men-

schen ohne erkennbare psychische Störung in verschiedenen psychiatrische Kliniken vorstell-

ten und darüber klagten, dass sie Stimmen hörten und weitere Symptome einer Schizophrenie

schilderten wurde sie aufgenommen und als schizophren diagnostiziert. Obwohl die Pseudo-

patienten nach der Aufnahme alle Symptome aufgaben und sich normal verhielten blieb ihnen

das Etikett der Schizophrenie. Während des gesamten Klinikaufenthaltes beeinflusste die

Diagnose die Art und Weise wie Pflegepersonal und Ärzte mit ihnen umgingen. Auf und Ab-

gehen auf dem Flur aus Langeweile wurde beispielsweise als Nervosität gedeutet. Das Perso-

nal verhielt sich oft überheblich und autoritär. Mit der Zeit entwickelten die Pseudopatienten

Gefühle wie Ohnmacht, Depersonalisierung und Langeweile und verhielten sich oft lustlos

und apathisch.

Diese umstrittene Studie hat dazu geführt, dass selbst Kritiker dieser Studie den negativen

Einfluss der Diagnose anerkennen. Manche Theoretiker gehen sogar soweit, dass Schizophre-

nie zum größten Teil ein Produkt der Gesellschaft ist. Laut dieser Kritiker variieren die Nor-

men und Erwartungen zwischen Gesellschaften. Demzufolge definiert jede Gesellschaft an-

ders, was krankhaft abweichendes Verhalten darstellt. Also müssten Symptome die in westli-

chen Gesellschaften als schizophren gelten sich in anderen Ländern und Kulturen von schi-

zophrenen Symptomen unterscheiden. Dies wurde allerdings in entsprechenden Forschungs-

arbeiten nicht bestätigt. Offensichtlich haben die meisten Gesellschaften ein ähnliches Etikett

von Schizophrenie. Die beschriebenen Symptome in den verschiedenen Kulturen und Gesell-

schaften ähneln sehr stark den in westlichen Ländern beschriebenen Symptomen einer schi-

zophrenen Störung.

(Vgl. Comer 2001, Seite 380f)

Page 15: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

15

3.2 Auslösende Stressoren

Psychologische Stressoren

Die Stress-Faktoren, die zum Aufflammen der akuten Symptomatik führen sind nicht irgend-

welche unspezifischen Belastungen. Jeder vulnerable Mensch hat für ihn spezifisch belasten-

de Situationen, auch wenn diese Situationen für andere objektiv nicht nachvollziehbar sind.

Viele Ereignisse verursachen Stress, da sie in der Gefühlswelt des Menschen eine Rolle spie-

len. Diese Stressoren haben oft eine so große psychologische Bedeutung, da sie unerträglich

erscheinende Gefühle auslösen können.

Ein solcher individueller Stress kann der übermäßig gefühlsbetonte Umgang in der Familie

oder eine Double-Bind-Kommunikation mit dem Betroffenen sein.

Stoffliche Stressoren

Neben den psychologischen Stressoren können auch Drogen das vulnerable Gleichgewicht

des Menschen ins Schwanken bringen. Durch Alkohol und andere Drogen kann ein Prozess in

Gang gebracht werden, der mehr und mehr, aber nicht unbedingt schnell außer Kontrolle ge-

rät. Es ist gut vorstellbar laut Bosshard, Ebert und Lazarus (2001, Seite 180), dass die Basis-

störung durch den Konsum von Drogen verstärkt wird, auch wenn viele Konsumenten sich

durch den Konsum von Drogen eine Erleichterung der Symptomatik erhoffen.

Laut Möller (1996, Seite 130f) scheint jede Form von psychosozialer Überstimulation, sei es

durch emotionale Anspannung und beruflichen oder sozialen Stress, das Auftreten schizoph-

rener Produktivsymptomatik zu begünstigen. Er zeigt aber auch auf, dass psychosoziale Un-

terstimulation die Ausprägung eine bleibenden Negativsymptomatik fördert.

Page 16: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

16

Laux (1996, Seite 66) schreibt, dass sich kritische Lebensereignisse gehäuft im Vorfeld von

depressiven Episoden befinden. Empirische Untersuchungen zeigen, dass depressive Patien-

ten häufiger von kritischen Ereignissen vor Ausbruch der Erkrankung berichten. Typische

Auslöser sind der Verlust von nahen Bezugspersonen, Entwurzelungen, anhaltende Konflikte,

aber auch Entlastung und Veränderungen der gewohnten Lebensweise, wie Beginn der Rente

oder Wohnortwechsel. Der Zusammenhang zwischen Ereignis und Störung wird von Laux

nicht als kausal gesehen, sondern als unspezifische Stressreaktion. Längerandauernder Stress

führt zu einem Rückzugssyndrom, einhergehend mit Erschöpfung, „gelernter Hilflosigkeit“

und Selbstaufgabe.

Anders als bei Neurosen und Psychosen sehen allerdings Bourne und Ekstrand (2005, Seite

476) Persönlichkeitsstörungen in der Regel nicht mit Stress verknüpft. Die Autoren sehen

zwar auch auffällige Reaktionen bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, wenn sie Stress

ausgesetzt sind, aber sie sehen diese Stressreaktionen nicht als bezeichnend für diese Störun-

gen. Persönlichkeitsstörungen basieren laut der Autoren auf tief sitzenden Gewohnheiten oder

auf persönlichen Charakter.

4 Zusammenfassung und Diskussion

Der Zusammenhang zwischen Genetik und der Genese psychischer Störungen wird durch

Familien- und Zwillingsstudien belegt. Aber nicht alle eineiige Zwillinge erkranken an der

selben Krankheit, es besteht lediglich ein erhöhtes Risiko eines Zwillings ebenfalls zu erkran-

ken. Falls es doch zu einer psychischen Störung bei beiden Zwillingen kommt, sind die Ver-

läufe und Ausprägungen der Erkrankungen meist sehr unterschiedlich. Daraus lässt sich

schließen, dass weitere Faktoren auf die Vulnerabilität einen Einfluss haben.

Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die bereits im Mutterleib oder während der Geburt

geschädigt wurden zur Ausbildung psychischer Störungen neigen. Es lässt sich also feststel-

len, dass Geburtskomplikationen die Vulnerabilität eines Menschen ebenfalls beeinflussen.

Die unbefriedigten existentiellen Bedürfnisse in den ersten Lebensmonaten und die Form der

Kommunikation sowie der Umgang mit Emotionen in der Familie, haben starken Einfluss auf

die Entwicklung der psychischen Gesundheit eines Menschen. Schädigende Einflüsse dieser

Page 17: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

17

Art erhöhen die bestehende individuelle Vulnerabilität und begünstigen somit die Entstehung

psychischer Störungen.

In niedrigeren sozialen Schichten werden psychische Störungen häufiger diagnostiziert als in

Höheren. Bei der Bewertung dieses Sachverhaltes sind sich die Autoren so uneinig wie sonst

kaum in der Vulnerabilitätsforschung. Bosshart, Ebert und Lazarus (2001) sind der Auffas-

sung, dass Armut und niedriger sozialer Status krank machen. Möller und Laux (1996) hinge-

gen vertreten die Auffassung, dass psychisch Kranke im Verlauf ihres Lebens einen sozialen

Abstieg durchmachen. Dörner (2002) beschreibt beide Thesen und gibt zum Teil beiden An-

sichten Recht. Ähnlich unterschiedlich betrachtet wird die so genannte „Labeling Theorie“.

Zwar sind sich alle Autoren einig, dass eine psychiatrische Diagnose negative Auswirkungen

auf den Betroffenen haben kann, wie Stigmatisierung und Diskriminierung, aber dass die

Diagnose diagnosespezifische Symptome selbst hervorrufen kann wird doch an vielen Stellen

in der Literatur bezweifelt. Diese Zweifel untermauern Untersuchungen die zeigen, dass ver-

gleichbare Symptome unabhängig von Gesellschaft und Kultur auftreten.

Der Mensch hat also nach der Geburt eine bestimmte Vulnerabilität gegenüber psychischen

Erkrankungen. Diese Verletzlichkeit wird durch die beschriebenen psychodynamischen Fak-

toren grundsätzlich erhöht oder erniedrigt, d. h. wenn beispielsweise ein Kind ständig einer

Double-Bind Kommunikation oder einer High-Expressed-Emotion in der Familie ausgesetzt

war, wird der Betroffene grundsätzlich anfälliger sein eine Störung zu entwickeln als jemand

der günstigeren Faktoren ausgesetzt war.

Spezifischer Stress spielt bei dem Auftreten einer akuten Symptomatik eine Rolle. Jeder

Mensch erlebt Stress individuell. Für Außenstehende ist der Stress oft nicht erkennbar. Wenn

jemand unbewusst auf der „Suche“ nach non-verbalen Hinweisen ist, die ihm bestätigen sol-

len, dass das Gegenüber das Gegenteil von dem meint was es sagt und dann wirklich Double-

Bind findet, vielleicht noch in einer emotional heiklen Interaktion, dann kann ein Beobachter

nicht den individuellen Stress nachvollziehen, da er eine andere Biographie und damit andere

Erfahrungen hat, für den Betroffenen ist es aber ein realer belastender Stress.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell versucht nun die organischen und psychologischen Hypo-

thesen über die Entstehung psychischer Störungen zu integrieren. Unter Anerkennung somati-

scher Faktoren für die Entstehung und den Verlauf gilt beispielsweise die Schiziophrenie bei

Page 18: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

18

den psychischen Störungen nicht als vererbt, sondern laut Dörner (2002) lediglich als Vulne-

rabilitätsmerkmal. Durch Einwirkungen auf den Interaktionsebenen Körper, Umwelt und so-

ziales Umfeld bilden sich dann die schizophrenen Symptome. Es handelt sich also um keine

Entweder-Oder Problematik. Immer geht es um einen somatisch-psychisch-sozialen Zusam-

menhang.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell wird in der Literatur hauptsächlich für die Erklärung schi-

zophrener und depressiver Störung verwendet. Bourne und Ekstrand (2005) weisen darauf

hin, dass Stress und die Symptome einer Persönlichkeitsstörung nicht in direktem Zusam-

menhang stehen. Diese Meinung kann ich nicht teilen. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell ist

in seinem Konzept so breit angelegt, dass damit jede Erkrankung erklärt werden kann, die

keinen linearen und vorhersehbaren Verlauf nimmt. So ist das Risiko an Krebs zu erkranken

bei eineiigen Zwillingen nicht gleich hoch, nicht jeder Raucher bekommt Asthma oder Lun-

genkrebs. Überall, ob bei psychischen oder somatischen Erkrankungen, spielen Umwelt- und

Sozialeinflüsse eine Rolle.

Obwohl das Vulnerabilitäts-Stress-Modell seit fast 35 Jahren Gültigkeit bei der Erklärung zur

Entstehung psychischer Störungen hat, ist es auch mit diesem Modell nicht gelungen, die Ur-

sachen für die individuelle Vulnerabilität aufzudecken. Offene Fragen nur mit der Genetik zu

beantworten ist meines Erachtens genauso kurzsichtig, wie der Umwelt oder den sozialen

Beziehungen zuviel Verantwortung für die Entstehung psychischer Störungen zuzuweisen.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell hat das große Verdienst, anderen Interventionsmethoden

als den medizinischen eine Berechtigung zu geben. Die letzten dreißig Jahre haben gezeigt,

dass psychologische und soziale Interventionen genauso und oft mehr Wirkung zeigen wie

medizinische.

In den Zwillingsstudien der letzten Jahrzehnte wird versucht die Vulnerabilität eines Men-

schen in Prozenten auszudrücken. Ich sehen aber nicht, wie eine Vulnerabilität eines Men-

schen festgestellt werden kann. Es kann lediglich eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufges-

tellt werden, ob ein Kind später an einer psychischen Störung erkranken wird. Dazu ob dieses

Kind tatsächlich erhöht vulnerabel ist kann zunächst keine Aussage gemacht werden. Ver-

schiedene Zwillingsstudien brachten auch keine einheitlichen Ergebnisse.

Page 19: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

19

Auch heute weiß die Wissenschaft nicht genau wie psychische Störungen entstehen. Es wurde

viel über den Gehirnstoffwechsel geforscht, die Genforschung hat in den letzten Jahren viele

Fortschritte gemacht und die psychologischen und soziologischen Forschungen zur Entste-

hung psychischer Störungen haben ähnliche Fortschritte gemacht. Viele neu entwickelte Kon-

zepte, wie die des Double-Bind- oder des Expressed-Emotions leuchten ein, aber können die

Entstehung psychischer Störungen nur sehr unzureichend alleine erklären.

Psychische Störungen sind multifaktioriell, daran besteht kein Zweifel. Ich bin aber über-

zeugt, dass viele maßgebliche Faktoren noch unbekannt oder unterschätzt werden. Das Vulne-

rabilität-Stress-Modell hat es geschafft die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu

integrieren. Dadurch ist der professionelle Umgang mit psychischen Störungen effektiver ge-

worden. Es gilt noch mehr Disziplinen, wie beispielsweise Pädagogik und Gesundheitswis-

senschaften in die Forschung über die Entstehung, Behandlung und Verhütung psychischer

Störungen zu integrieren.

Page 20: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

20

Literaturverzeichnis:

Aderhold V./ Alanen Y. O./ Hess G./ Hohn P., „Psychotherapie der Psychosen“, Gießen: Psy-

chosozial Verlag 2003

Bateson G./ Ruesch, J., „Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychatrie“, Heidelberg:

Carl Auer Systeme Verlag 1995

Bosshart M./ Ebert U./ Lazarus H., „Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie“,

Bonn: Psychiatrie Verlag 2001

Bourne L./ Ekstrand B., „Einführung in die Psychologie“, Eschborn: Verlag Dietmar Klotz, 4.

Auflage 2005

Comer R. J., „Klinische Psychologie“, 2. deutsche Auflage, Heidelber-Berlin: Spektrum Aka-

demischer Verlag 2001

Dörner K./ Plog U./ Teller Ch./ Wendt F., „Irren ist menschlich“, Bonn: Psychiatrie Verlag

Neuausgabe 2002

Ewers M., Skript Vorlesung „public health“ im Master Studiengang „Sozialarbeit in der Psy-

chiatrie“, München 2006

Kissling W./ Pitschel-Walz G., „mit Schizophrenie leben“, Stuttgart: Schattauer GmbH 2003

Marschner Rolf, „Psychisch Kranke im Recht“, Bonn: Psychiatrie-Verlag GmbH, 4. Auflage

2005

Möller H-J./ Laux G./ Deister A., „Psychiatrie“, Stuttgart: Hippokrates Verlag 1996

Rudolf G. A. E., „Der schizophrene Patient in der ärztlichen Sprechstunde“, 4. Auflage,

Wiesbaden: Deutscher Universitäts- Verlag, 2000

Weltgesundheitsorganisation, „Grünbuch“, Brüssel: 2005

Page 21: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

21

Weltgesundheitsorganisation, „Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10

Kapitel V (F), 4. Auflage, Genf: Huber-Verlag 2000

Page 22: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Modell für die ... · 1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit

22

Erklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als

die angegebenen Hilfsmittel verwendet habe.

Bad Tölz, den 23.09.2006 Andreas Teltscher