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German Life and Letters 62:1 January 2009 0016–8777 (print); 1468–0483 (online) DAS ‘WAHRE’, DAS ‘GUTE’ UND DIE ‘ZAUBERLATERNE DER BEGEISTERTEN PHANTASIE’ 1 LEGITIMATIONSPROBLEME DER VERNUNFT IN DER SP ¨ ATAUFKL ¨ ARERISCHEN SCHW ¨ ARMERDEBATTE MANFRED ENGEL ABSTRACT Nach einem Abriß zur Begriffsgeschichte von Schw¨ armerei/Enthusiasmus unter- sucht der Aufsatz die Schw¨ armerdebatte der deutschen Sp¨ ataufkl¨ arung und ihre Fortf ¨ uhrung in Tiecks Roman William Lovell (1795/6). Im theoretischen Diskurs wie im literarischen Text erweist sich der Schw¨ armer als Pr¨ ufstein, an dem die epi- stemologischen, moralphilosophischen und anthropologischen Legitimationsdefi- zite der Aufkl¨ arung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kenntlich werden. Im Jahre 1776 ver¨ offentlicht Wieland, einem beliebtem Brauch der Aufkl¨ arung folgend, in seinem Teutschen Merkur drei Fragen, zu deren Be- antwortung er auffordert. Die zweite davon lautet: Wird durch die Bem¨ uhungen kaltbl ¨ utiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das was sie Enthusiasmus und Schw¨ armerey nennen, mehr oses oder Gutes gestiftet? Und, in welchen Schranken m ¨ ußten sich die Anti- Platoniker und Luciane halten, um n ¨ utzlich zu seyn? 2 Wer wenigstens ungef¨ ahre Vorstellungen von der Geschichte des Schw¨ armerbegriffes und von der kritischen Einstellung der Aufkl¨ arung Schw¨ armern gegen ¨ uber hat, 3 dem wird an dieser Frage mindestens zwei- erlei auffallen: (1) Schw¨ armerei und Enthusiasmus werden ohne jede wertende Diffe- renzierung zusammengefasst, scheinen selbst in ihrer Kombination 1 Die Formulierung geht zur ¨ uck auf einen Nachtrag Wielands als ‘Herausgeber’ zu der ihm allzu schw¨ armerisch erscheinenden Antwort Johann Caspar H¨ afelins auf die Schw¨ armer-Frage im Teut- schen Merkur (vgl. Anm. 2): ‘ ¨ Uberhaupt scheint er [H¨ afelin] [...] die Dinge dieser Welt nicht zu sehen, wie sie sich dem nat¨ urlichen gemeinen Menschensinne darstellen, sondern wie sie in der Zauberlaterne seiner begeisterten Phantasie erscheinen’; Christoph Martin Wieland, [Nachtrag zum zweiten Teil von H¨ afelins Aufsatz] in Der Teutsche Merkur , 4/3 (1776), 218–20 (219). 2 Christoph Martin Wieland, ‘Fragen’, in Der Teutsche Merkur , 4/1 (1776), 82. 3 Vgl. Victor Lange, ‘Zur Gestalt des Schw¨ armers im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts’, in Festschrift f¨ ur Richard Alewyn, hg. von Herbert Singer und Benno v. Wiese, K¨ oln 1967, S. 151–64; Manfred Engel, ‘Die Rehabilitation des Schw¨ armers: Theorie und Darstellung des Schw¨ armens in Sp¨ ataufkl¨ arung und fr¨ uher Goethezeit’, in Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-J¨ urgen Schings, Stuttgart 1994, S. 469–98; J¨ org Paulus, Der Enthusiast und sein Schatten: Literarische Schw¨ armer- und Philisterkritik um 1800 , Berlin 1998. Eine Edition mit Mate- rialien zur Schw¨ armerdebatte der Sp¨ ataufkl¨ arung befindet sich in Vorbereitung. C The author 2009. Journal compilation C Blackwell Publishing Ltd. 2009 9600 Garsington Road, Oxford, OX4 2DQ and 350 Main Street, Malden, MA 02148, USA.

Das ‘Wahre’, das ‘Gute’ und die ‘Zauberlaterne der begeisterten Phantasie’ Legitimationsprobleme der Vernunft in der Spätaufklärerischen Schwärmerdebatte

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German Life and Letters 62:1 January 20090016–8777 (print); 1468–0483 (online)

DAS ‘WAHRE’, DAS ‘GUTE’ UND DIE ‘ZAUBERLATERNE DERBEGEISTERTEN PHANTASIE’1

LEGITIMATIONSPROBLEME DER VERNUNFT IN DERSPATAUFKLARERISCHEN SCHWARMERDEBATTE

MANFRED ENGEL

ABSTRACT

Nach einem Abriß zur Begriffsgeschichte von Schwarmerei/Enthusiasmus unter-sucht der Aufsatz die Schwarmerdebatte der deutschen Spataufklarung und ihreFortfuhrung in Tiecks Roman William Lovell (1795/6). Im theoretischen Diskurswie im literarischen Text erweist sich der Schwarmer als Prufstein, an dem die epi-stemologischen, moralphilosophischen und anthropologischen Legitimationsdefi-zite der Aufklarung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kenntlich werden.

Im Jahre 1776 veroffentlicht Wieland, einem beliebtem Brauch derAufklarung folgend, in seinem Teutschen Merkur drei Fragen, zu deren Be-antwortung er auffordert. Die zweite davon lautet:

Wird durch die Bemuhungen kaltblutiger Philosophen und LucianischerGeister gegen das was sie Enthusiasmus und Schwarmerey nennen, mehrBoses oder Gutes gestiftet? Und, in welchen Schranken mußten sich die Anti-Platoniker und Luciane halten, um nutzlich zu seyn?2

Wer wenigstens ungefahre Vorstellungen von der Geschichte desSchwarmerbegriffes und von der kritischen Einstellung der AufklarungSchwarmern gegenuber hat,3 dem wird an dieser Frage mindestens zwei-erlei auffallen:

(1) Schwarmerei und Enthusiasmus werden ohne jede wertende Diffe-renzierung zusammengefasst, scheinen selbst in ihrer Kombination

1 Die Formulierung geht zuruck auf einen Nachtrag Wielands als ‘Herausgeber’ zu der ihm allzuschwarmerisch erscheinenden Antwort Johann Caspar Hafelins auf die Schwarmer-Frage im Teut-schen Merkur (vgl. Anm. 2): ‘Uberhaupt scheint er [Hafelin] [. . .] die Dinge dieser Welt nicht zusehen, wie sie sich dem naturlichen gemeinen Menschensinne darstellen, sondern wie sie in derZauberlaterne seiner begeisterten Phantasie erscheinen’; Christoph Martin Wieland, [Nachtrag zumzweiten Teil von Hafelins Aufsatz] in Der Teutsche Merkur , 4/3 (1776), 218–20 (219).2 Christoph Martin Wieland, ‘Fragen’, in Der Teutsche Merkur , 4/1 (1776), 82.3 Vgl. Victor Lange, ‘Zur Gestalt des Schwarmers im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts’, inFestschrift fur Richard Alewyn, hg. von Herbert Singer und Benno v. Wiese, Koln 1967, S. 151–64;Manfred Engel, ‘Die Rehabilitation des Schwarmers: Theorie und Darstellung des Schwarmensin Spataufklarung und fruher Goethezeit’, in Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18.Jahrhundert, hg. von Hans-Jurgen Schings, Stuttgart 1994, S. 469–98; Jorg Paulus, Der Enthusiast undsein Schatten: Literarische Schwarmer- und Philisterkritik um 1800, Berlin 1998. − Eine Edition mit Mate-rialien zur Schwarmerdebatte der Spataufklarung befindet sich in Vorbereitung.

C© The author 2009. Journal compilation C© Blackwell Publishing Ltd. 20099600 Garsington Road, Oxford, OX4 2DQ and 350 Main Street, Malden, MA 02148, USA.

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das angesprochene Phanomen aber nur in der Terminologie derGegner adaquat zu benennen − was es zumindest moglich erschei-nen lasst, dass sich deren Angriff auf ein noch nicht zureichendbestimmtes je ne sais quoi richtet.

(2) Wieland kehrt die ubliche Zielrichtung der Schwarmerdebatte um,da es ihm nicht darum zu gehen scheint, die Schwarmerei in ihreGrenzen zu verweisen, sondern vielmehr deren Kritiker! Diese wer-den in zwei Gruppen eingeteilt: Eine bilden die ‘Lucianischen Geis-ter’ oder ‘Lucianer’, benannt nach dem (von Wieland durchausgeschatzten und ja auch ubersetzten) griechischen Satiriker Lu-kian von Samosata (ca. 120–ca. 180) − gemeint sind also: Spotterund Satiriker. Die Benennung der anderen Gruppe fallt noch pro-blematischer aus: ‘kaltblutige Philosophen’ bzw. ‘Anti-Platoniker’.‘Kaltblutig’ ist, nach rund zwei Jahrzehnten Empfindsamkeit, dieum eine Balance zwischen ‘Kopf’ und ‘Herz’ gerungen hatte, einmindestens ambivalentes Pradikat. Und die Bezeichnung als ‘Anti-Platoniker’ bringt gut-aufklarerische Empiriker, die ihre Erkennt-nisanstrengungen strikt auf die Erfahrungswelt beschranken wol-len, in eine prekare Frontstellung gegen alle Ideen und Ideale.

Schon Wielands Fragestellung zeigt also, dass in der Spataufklarung dieSchwarmerdebatte deutlich komplizierter geworden ist, dass die eindeuti-gen Wertungen von einst nicht mehr greifen und neue Frontstellungen imEntstehen begriffen sind. Den Weg dorthin will ich in einem knappen Ab-riss der Begriffsgeschichte von Schwarmerei und Enthusiasmus4 wenigstenszu skizzieren versuchen. Im Zentrum meines Interesses steht dabei der Pa-radigmenwechsel, den das Aufklarungszeitalter im Schwarmerdiskurs be-wirkt hat.

1. ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE – SCHWARMEREI UND ENTHUSIASMUS IN DERAUFKLARUNG

Der Begriff des ‘Enthusiasmus’ hat eine altehrwurdige, weit in die An-tike zuruckreichende Tradition: Grob gesprochen, steht er zunachst fur re-ligiose Inspiration. Darauf weist ja schon seine Etymologie hin: Wortlichgenommen, bedeutet Enthusiast ‘der von Gott Erfullte’ – ‘Gott in uns’

4 Ein dritter, eng verwandter Begriff, der hier ausgespart bleiben muss, ist der des ‘Fanati-kers’/‘Fanatismus’: vgl. etwa die Artikel ‘Enthusiasterey’, ‘Fanatici’ und ‘Schwarmer’ in Grossesvollstandiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Kunste, welche bishero durch menschlichen Verstandund Witz erfunden und verbessert worden, 64 Bde. u. 4 Supplementbde., hg. von Johann Heinrich Zed-ler, Halle / Leipzig 1732–54; Reprint: Graz 1961–4 u. 1994, Bd. 8, 1734, Sp.1285–90, Bd. 9, 1735,Sp.212 u. Bd. 35, 1743, Sp. 1795–6.

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werden nicht erst die Fruhromantiker ubersetzen, sondern schon Leibniz.5

Nationalsprachlich ist der Begriff seit dem 16. und 17. Jahrhundert inEuropa nachweisbar.6 Ohne dass seine schon in der Antike vorgebildeteAusweitung auf Inspiration aller Art verloren geht, gibt es nun einen festetablierten Wortgebrauch, in dem ‘Enthusiast’ einen religiosen Sektierermeint, der sich auf eine personliche, der Orthodoxie entgegenstehendegottliche Inspiration beruft, also einen Religionsschwarmer.

Die Erfindung, mindestens Popularisierung, der Begriffe ‘Schwarmer’und ‘Schwarmgeister’ wird gewohnlich Luther zugeschrieben (verwendetwerden sie etwa in seiner Auseinandersetzung mit Thomas Muntzer u.a.).Etymologisch erklart wird die Wortbildung sowohl durch den Bezug zurunregelmaßigen Bewegung des ‘Schwarmens’, wie zum ‘Schwarm bilden’,da der Schwarmer ja meist danach strebt, eine Anhangerschaft um sich zusammeln.

Mindestens in Deutschland, England und Frankreich verdanken die Be-griffe in der uns interessierenden Bedeutung ihren Ursprung also den Reli-gionskampfen des 16. und 17. Jahrhunderts, die Luther und die Erfindungdes Protestantismus ausgelost hatten. Und es ist leicht zu verstehen, warumgerade Luther und der Protestantismus den Kampfbegriff ‘Schwarmer’ bit-ter notig hatten: Wer die Auslegung der Bibel von der Autoritat kirchlicherInstitutionen lost, raumt dem Individuum einen Interpretationsspielraumein, der sich nur noch schwer eingrenzen lasst.

Fur die Begriffsgeschichte ist es ubrigens keineswegs unwichtig, dass dieenglische und franzosische Sprache nur ein Wort zur Verfugung haben,die deutsche aber zwei. Enthusiasmus und Schwarmerei konnen im Deut-schen nahezu synonym verwendet werden, laden durch die Begriffsdop-pelung aber geradezu zur Ausdifferenzierung ein. Wenn dies geschieht,so wird mehrheitlich ‘Enthusiasmus’ zur (mindestens teilweise) positiven,‘Schwarmerei’ zur deutlich negativeren Variante erklart.

Doch nun endlich zum spezifisch aufklarerischen Schicksaldes Schwarmer- bzw. Enthusiasmus-Begriffes. Grundungstext desaufklarerischen Schwarmerdiskurses ist John Lockes Essay ConcerningHuman Understanding , genauer das Kapitel ‘On Enthusiasm’, das erst imJahre 1700 der 4. Auflage hinzugefugt wurde.7 Unmittelbarer Anlass dafur

5 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain, Amsterdam 1765, Livre IV,Chapitre XIX ‘De l’Enthousiasme’, S. 472: ‘l’Enthousiasme signifie qu’il y a une divinite en nous. EstDeus in nobis.’6 So belegt etwa das OED ‘enthusiasm’ erstmals fur 1759, ‘enthusiast’ bereits fur 1649; das Grimm-sche Worterbuch, fremdwortabstinent, weist Enthusiasmus nicht nach; im deutschen Sprachgebrauchfindet sich das Wort aber ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert.7 John Locke, Versuch uber den menschlichen Verstand [An Essay Concerning Human Understanding , zu-erst 1690], Dt. v. Carl Winckler, 2 Bde., 4. Aufl., Hamburg 1981 (Meiners Phil. Bibl., 75); BuchIV, Kap. XIX: ‘Uber die Schwarmerei’, erstmals in der 4. Auflage von 1700 (hier: Bd. 2, S. 404–17). Bezeichnenderweise war dieses Kapitel der erste Teil von Lockes Essay, der in deutscherUbersetzung vorlag. Wahrend die Ubertragung des Gesamttextes erst 1757 veroffentlicht wurde

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war ubrigens das Auftreten einer franzosischen protestantischen Sekte inLondon.

Die entscheidende Neuerung in Lockes Schwarmerkritik besteht darin,dass er dem Schwarmer vorwirft, die ganz personliche Erkenntnisquelle ei-nes lumen supernaturale zu beanspruchen, statt sich auf das lumen naturaleder Vernunft zu beschranken. Damit erscheint der Schwarmer nicht mehr,wie bisher, als Gegner von Orthodoxie und geoffenbarter Religion, son-dern als Gegner der Aufklarung. Er ist damit sowohl der gesteigerte Theo-loge und Metaphysiker wie auch dessen ungestraft angreifbare Variante.Der alte Kampfbegriff bleibt Kampfbegriff, erhalt aber eine neue Zielrich-tung.

Demgegenuber sind alle weiteren Bestimmungen des Schwarmens, dieLocke gibt, durchaus traditionell, da sie sich zuruckbeziehen auf die vorallem im 17. Jahrhundert fest etablierte Topik des Schwarmerdiskurses.8

Zu dieser gehoren vor allem die folgenden Argumente: Dem Schwarmerfehlt es an klarem Verstand – oder er ist zu faul, diesen zu gebrauchen.Uberproportional stark entwickelt sind bei ihm dagegen die Vermogen desGefuhls und der Einbildungskraft. Konstitutionell ist er Melancholiker, au-ßerdem eitel und herrschsuchtig.

Die Koppelung des Schwarmens an Affekt und Imagination weist bereitsdarauf hin, warum im 18. Jahrhundert dessen eindeutige Verdammung zu-nehmend schwieriger wird. Denn wenn es in der Aufklarung eine eindeu-tige Entwicklungslinie gibt, so ist es die einer zunehmenden Aufwertungvon Gefuhl und Einbildungskraft, einer zunehmenden Anerkennung vonKraft und Leistungsfahigkeit der ‘unteren’ Seelenvermogen.9

Wie die Verbindung zwischen Schwarmen einerseits, Gefuhl und Ein-bildungskraft andererseits (bei gleichzeitiger Ausschaltung des Verstan-des) gedacht wird, mag ein langeres Zitat aus dem Artikel ‘Begeisterung’in Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der bildenden Kunste (1771)illustrieren:

(eine franzosische Ubersetzung erschien bereits 1700), wurde das 19. Kapitel des 4. Teils bereits1720 in einer Ubersetzung von Georg Michael Breuen publiziert: Die Entdeckung der Enthusiastereydurch Johann Locken, Auß der frantzosischen Ubersetzung Peter Lostens ins Teutsche gebracht vonGeorg Michael Breuen, Ulm 1720.8 Lockes Text kann so als Brucke zwischen zwei Diskursphasen angesehen werden, die Elementeder fruheren Phase in die neue transferiert, ihnen aber eine neue Zielrichtung gibt. Zur Topik desSchwarmerdiskurses vgl. Ronald A. Knox, Enthusiasm: A Chapter in the History of Religion, with SpecialReference to the XVII and XVIII Centuries, Oxford 1950; Susie I. Tucker, Enthusiasm: A Study in SemanticChange, Cambridge / London 1972; Michael Heydt, ‘Be sober and reasonable’: The Critique of Enthusiasmin the Seventeenth and Early Eighteenth Centuries, Leiden / New York / Koln 1995; Lawrence E. Kleinund Anthony J. La Vopa (Hg.), Enthusiasm and Enlightenment in Europe, 1650–1850, San Marino 1998.9 Das lasst sich ubrigens schon an Shaftesbury (1671–1713) zeigen, der in seinem Letter ConcerningEnthusiasm (1708) als treuer Locke-Schuler beginnt, in spateren Schriften wie etwa den MiscellaneousReflections (Teil 2, veroffentlicht in Characteristics III, 1711) den Enthusiasmus aber schon sehr vielpositiver zeichnet. Vgl. M. Heydt (Anm. 8), bes. S. 211–27.

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Der Enthusiasmus des Herzens, oder die erhitzte Wurksamkeit der Seele,die sich hauptsachlich in Empfindungen außert, wird von wichtigen Ge-genstanden erwekt, in denen wir nichts deutlich sehen, bey denen die Vor-stellungskraft nichts zu thun findet, wo die Aufmerksamkeit von dem Ge-genstand selbst abgezogen, und auf das, was die Seele fuhlt, auf ihr eigenesBestreben gerichtet wird. Dabey verliert der Geist den Gegenstand aus demGesichte, und fuhlt desto lebhafter seine Wurkung. Alsdenn wird die Seeleganz Gefuhl; sie sieht nichts mehr als außer sich, sondern alles in ihr selbst.Alle Vorstellungen von Dingen, die außer ihr sind, fallen ins Dunkele; siesinkt in einen Traum, der die Wurkungen des Verstandes großtentheils hem-met, die Empfindung aber desto lebhafter macht. In diesem Zustand ist sieweder einer genauen Ueberlegung noch eines richtigen Urtheils fahig; destofreyer und lebhafter aber außern sich die Neigungen, und desto ungebunde-ner entwikeln sich alle Triebfedern der Begehrungskrafte.

Da die Vorstellungskraft nun nicht mehr vermogend ist, das wurklich vor-handene von dem blos eingebildeten zu unterscheiden, so erscheinet das blosmogliche als wurklich; selbst das Unmogliche wird moglich; der Zusammen-hang der Dinge wird nicht mehr durch das Urtheil, sondern nach der Emp-findung geschatzt; das Abwesende wird gegenwartig, und das Zukunftige istschon itzt wurklich. Was jemals mit einiger Beziehung auf die gegenwartigeEmpfindung in der Seele gelegen, kommt itzt wieder hervor.

In dieser Art der Begeisterung liegt nichts klar in der Seele, als die Empfin-dung, und alles, was eine nahe oder entfernte Beziehung darauf hat. Daherentsteht die ungemeine Leichtigkeit, das, was in der Empfindung liegt, aus-zudruken; die Lebhaftigkeit und Starke des Ausdruks; die suße Schwatzhaftig-keit in zartlichen Affekten; der wilde, erstaunliche, oder herzruhrende Aus-druk in heftigen Leidenschaften; die große Mannigfaltigkeit lieblicher oderstarker Bilder; die vielfaltigen Schattirungen der Empfindung; die seltsamenund traumerischen Verbindungen der Gegenstande; der, jeder Empfindungso genau angemessene, Ton, und alles, was sonsten in dieser Art der Begeiste-rung sich offenbaret.10

Die immer starker betonte vermogenspsychologische Verortung desSchwarmens und ihre Verbindung mit dem Melancholiesyndrom machenden Schwarmerdiskurs anschlussfahig an den neuen aufklarerischen Leit-diskurs der zweiten Jahrhunderthalfte: den von aufklarerischer Anthropo-logie und Erfahrungsseelenkunde.

Wie sehr Schwarmen am Ende des Jahrhunderts mit exzessivem Ge-brauch der Einbildungskraft gleichgesetzt wird, mag eine bundige De-finition aus Christian Garves Schrift ‘Uber die Schwarmerei’ von 1790illustrieren:

Schwarmerey ist [. . .] eine Ueberspannung und Verirrung der Einbildungs-kraft, vermoge welcher ein Mensch Visionen fur Thatsachen halt, und sich

10 Johann Georg Sulzer, Artikel ‘Begeisterung’, in Ders., Allgemeine Theorie der schonen Kunste, in ein-zeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstworter aufeinander folgenden, Artikeln abgehandelt, 2 Bde., Leip-zig / Berlin 1771/74, Bd. 1, S. 182–8 (S. 183).

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zu Wunschen, Begierden und Handlungen verleiten laßt, welche auf die Vor-aussetzung der Wahrheit jener Thatsachen gegrundet sind.11

Diese Definition impliziert auch schon eine zweite Entwicklungslinie: dieAusweitung des Schwarmerbegriffs weit uber die Grenzen der Religions-schwarmerei hinaus. Schwarmerei und/oder Enthusiasmus zeigen sich –wenn wir etwa der anthropologischen Bestimmung aus Ludwig HeinrichJakobs Grundriß der Erfahrungs-Seelenkunde von 1791 folgen –, nicht nurals ‘metaphysische’ (Religions-)Schwarmerei, sondern auch als ‘physische’(etwa in Astrologie und Alchemie), als ‘verliebte’ (in ubersteigerter Liebeund Freundschaft), als ‘asthetische’ (in einem affektiv ubersteigerten Glau-ben an das Schone),12 vor allem aber als ‘moralische’ Schwarmerei (alsoals emotional fundierter Glaube an die Realitat moralischer Werte undIdeale).13 Fast alles, was mit dem nuchternen Verstandesblick auf die Erfah-rungswelt nicht konformiert, kann nun Schwarmerei genannt werden.14

2. DIE SCHWARMERDEBATTE DER SPATAUFKLARUNG

Die Vielfalt und Vielzahl der Texte dieser Debatte ist schierunuberschaubar; die sieben direkten Reaktionen auf Wielands Mer-kur -Frage – u.a. Beitrage von Lichtenberg, Herder und Wezel15 – bildennur die Spitze eines gigantischen Eisberges.16 Diese enorme Intensivierungdes Schwarmerdiskurses in der Spataufklarung hat naturlich ihren gutenGrund. Ihr entspricht eine ebenso große Verbreitung des ‘Schwarmens’im letzten Jahrhundertdrittel. Schwarmer scheinen allgegenwartig zu sein:Die Sturmer und Dranger werden ebenso zu ihnen gerechnet wie Lavater,Swedenborg, Cagliostro, Gaßner und Mesmer, Alchemisten, Geisterseheroder das Geheimbundwesen der Zeit.

Die zunftigen Aufklarer von altem Schrot und Korn – und die Bewegungist in der Tat alt geworden und reprasentiert langst nicht mehr die Avant-garde des Zeitgeistes – beobachten diese Entwicklung mit Missmut, Frus-tration und Sorge. Johann Heinrich Albert Reimarus – Sohn des aus demFragmentenstreit bekannten Hermann Samuel Reimarus – schreibt etwa:

11 Christian Garve, ‘Uber die Schwarmerei’ [aus dem Nachlaß, entstanden nach 1789], in Ders.,Gesammelte Werke, Im Faksimiledruck hg. von Kurt Wolfel, Hildesheim 1985, 1. Abt.: Die Aufsatzsamm-lungen. Bd. 3: Versuche uber verschiedene Gegenstande aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichenLeben, S. 335–406 (S. 339).12 Außerdem kennt man etwa noch die ‘politische’ Schwarmerei (etwa in ubersteigerter Vaterlands-liebe).13 Ludwig Heinrich Jakob, Grundriß der Erfahrungs-Seelenkunde, Halle 1791, S. 301.14 Ein weiteres Beispiel fur diese Globalisierung des Schwarmerbegriffs findet sich etwa in ErnstPlatner, Philosophische Aphorismen, Leipzig 1784, S. 140–9 (1. Theil, I. Buch, II. Hauptstuck: § 453–83).15 Detaillierte Nachweise finden sich in meinem in Anm. 3 erwahnten Aufsatz.16 Die in Anm. 3 erwahnte Quellenedition wird eine umfassende Bibliographie beinhalten.

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Von Gothen, Vandalen, Longobarden, Sarazenen und allen wilden Volkernhaben wir nicht mehr zu befurchten, daß sie das Licht der Vernunft und derWissenschaften wieder ausloschen, und Finsterniß uber Europa verbreitenmogten. Aber ein innerer Feind [. . .] scheint uns mit dieser Gefahr zu be-schleichen. Es ist die uberhandnehmende Seuche der Schwarmerey: denn, wernoch Augen hat zu sehen, der schaue um sich, wie diese Traumereyen sichjetzt ausbreiten und dem hellen Lichte der Vernunft Trotz bieten.17

In ganz ahnlichem Tonfall spricht Friedrich Gedike 1784 in einem Vortragvor der Berliner Mittwochsgesellschaft von der Schwarmerei als dem ‘Krebs-schaden unsers Zeitalters, der immer weiter um sich frißt’.18

Die entscheidende Frage war naturlich: Wie konnte es dazu kommen?Die meisten der ‘harten’ Berliner Spataufklarer entziehen sich dieser Frageund halten mit unbeirrbarer Hartnackigkeit an ihren Positionen fest. Ei-nige aber zeigen wenigstens Ansatze von Selbstkritik. Ich zitiere drei Bei-spiele dafur; die ersten beiden stammen aus der Schwarmerdebatte derBerliner Mittwochsgesellschaft von 1784:19

So oft ein Jahrhundert sich durch Neigung zur Schwarmerey und Aberglau-ben auszeichnet; so ist es Bedurfnis der Zeit. Wenn seichte Philosophie undUnsittlichkeit die Gemuther verwildert haben; so sehnen sich die Menschenwieder nach KinderEinfalt, und verfallen wieder in KinderThorheit. Man willlieber im Schlaraffenlande, als langer ohne Gott leben (Moses Mendelssohn).

Es giebt [. . .] eine Menge gutherziger Schwarmer, die vor dem leblosenAufklaren wie vor dem schneidenden Frost eines hellen Wintertages, zit-tern. Sie fuhlen von den beiden unlaugbaren und gleich wesentlichenBedurfnissen der menschlichen Natur, durch Wahrheit erleuchtet und durchEmpfindung erwarmt zu werden, das leztere so stark, daß die Furcht vor ei-ner bloß wegraumenden und austroknenden Aufklarung sie zu dem anderenAeußersten hinuber scheucht, um da, was die hoheren Grundfesten ihrer Be-ruhigung in der Beziehung auf Gott betrifft, fur ihr Gefuhl und Herz die Nah-rung zu finden, die ihnen ihrer Meinung nach, durch die bestandige Bestrei-tung deßen, was bisher sie geruhrt und ermuntert hat, bis zum Verhungern

17 Johann Heinrich Albert Reimarus, ‘Uber die Schwarmerey unserer Zeiten: Ein Schreiben an denHerausgeber’, in Gottingisches Magazin, 3/2 (1782), 237–55 (237–8).18 Die Berliner Mittwochsgesellschaft (1783–98) war eine Vereinigung maßgeblicher BerlinerSpataufklarer. Fur Mitglieder, die an den Treffen nicht teilnehmen konnten, wurden Texte derVortrage schriftlich zirkuliert, um es ihnen zu ermoglichen, dazu ihre ‘Voten’ abzugeben. EineReihe dieser Vortrage und Vota befindet sich in Abschrift im Nachlaß von Johann Carl WilhelmMohsen (1722–95), dem Leibarzt Friedrichs II.; dieser Nachlass (heute Preußische Staatsbibliothek,Berlin) bildet unsere wichtigste Quelle zur Mittwochsgesellschaft. Dort findet sich auch MohsensAbschrift eines Vortrags von Friedrich Gedike ‘Uber die heutige Schwarmerei’ (gehalten Juli oderAugust 1784) mit zugehorigen Voten von Moses Mendelssohn, Christoph Friedrich Nicolai, JohannJoachim Spalding und Karl Gottlieb Suarez. Diese bisher teils unveroffentlichten Texte wurden furdie in Anm. 3 erwahnte Quellenpublikation transkribiert. Nach diesen Transkriptionen wird im Fol-genden zitiert.19 Zitiert nach den in Anm. 18 erwahnten Transkriptionen.

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entzogen wird. Sie bedurfen also eines Ersatzes fur das, was sie an dieser Seiteverlieren. (Johann Joachim Spalding)

Daniel Jenisch schreibt drei Jahre spater:

Wir durfen [hier im Sinne von: mussen] nicht alles Wißbare, ja nicht ein-mal alles Wissenswurdige von der Natur kennen, wir durfen nur die vor-dersten Aussenseiten ihres unermeßlichen Tempels von ferne sehen, umuns zu uberzeugen, wie hochst eingeschrankt unsere Erkenntniß der Na-tur, und wie unzulanglich fur die Befriedigung der wichtigsten und letztenErkenntniß-Bedurfnisse sie ist. Von der ersten Ursache der Natur, ihrem We-sen, Eigenschaften, Einflusse auf die Welt und Zusammenhange mit uns, –welcher Neuton, oder Haller , oder Leibnitz kann auch nur dem gemeinenMann, der ihn darum befragt, befriedigende Antwort geben? Und eben sounsern großen Wunsch fur Fortdauer und Unsterblichkeit, welcher Socrates,welcher Mendelssohn kann ihn hinlanglich begrunden oder starken?20

In diesen Zitaten werden Defizite der Aufklarung eingeraumt, und zwarmindestens in dem Sinne, daß es Grundbedurfnisse des Menschen gebe,die die Aufklarung nicht befriedigen kann, zumindest nicht in ihrer em-piristischen (oder gar materialistischen) Variante, die sich im Laufe desJahrhunderts immer mehr durchgesetzt hatte. Ich versuche, diese Defizitein drei Punkten knapp zusammenzufassen und gehe dabei, das gesamteTextkorpus generalisierend, deutlich uber das Spektrum des in den dreiZitaten Angesprochenen hinaus:

(1) Das erkenntnistheoretische Defizit, also die Krise des Wahren, grundetweniger im radikalempiristischen Skeptizismus, auch nicht primarin der empiristischen Einschrankung der Formulierbarkeit vonSatzen hoher und letzter Abstraktionsstufe. Es grundet zualler-erst in der Unfahigkeit, die elementaren Sinnfragen des Warum?und des Wozu? menschlicher Existenz zu beantworten, also letzteErklarungen und Ziele zu setzen.21

20 Daniel Jenisch, ‘Uber die Schwarmerey und ihre Quelle in unsern Zeiten’, in Gnothi Sauthon oderMagazin zur Erfahrungsseelenkunde, 5/3 (1787), 23–41. Hier nach Karl Philipp Moritz, Die Schriften in30 Bden., hg. von Petra und Uwe Nettelbeck, Nordlingen 1986, Bd. 5, S. 211–24 (S. 222–3).21 Kant folgend, werden in der spataufklarerischen Schwarmerdebatte Schwarmerei und vor-kritizistische Philosophie zunehmend gleichgesetzt. Explizit gemacht wird der Kant-Bezug etwa,wenn Daniel Jenisch konstatiert, der Mensch habe ein Grundbedurfnis uber das trostlose empiristi-sche Weltbild hinauszugehen: ‘Der neueste Philosoph der Deutschen [i.e. Kant], der die Vernunftund ihre Vermogen mit einem beynahe unerreichbaren Tiefsinn erforscht und ermessen hat, hates bewiesen, daß dieselbe ein unerlaßliches Bedurfniß habe, (ohne welches sie beynahe nicht Ver-nunft seyn konne,) nachdem sie lange genug die sichtbare Kette der Natur in allen ihren Gliedernverfolgt, jenseits alles Sichtbaren und Sinnlichen, oder, wie er es nach seinem System nennt, jen-seits der Erfahrung hinauszugehen, und in einem ganz andern Felde, als dem, der in dieser sinnli-chen Organisation uns moglichen Erkenntniß, ihre Vollendung und letzte Befriedigung zu suchen’(D. Jenisch (Anm. 20), S. 219).

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(2) Das moralische Defizit, also die Krise des Guten, zeigt sich zumeinen in der empiristischen Verunsicherung verbindlicher Wert-begrundung, zum anderen (und vor allem) in der empiristischenAufhebung der Willensfreiheit als unverzichtbarer (Kant wurdesagen: transzendentaler) Bedingung der Moglichkeit von Ethik-begrundung uberhaupt. Wenn Egoismus und Luststeigerung diedominanten Handlungsmotive des Menschen sind (Wezels Belphe-gor illustriert dies) und wenn der Mensch Produkt seiner Anlagenund seiner Lebenswelt ist (dies dustere Ergebnis des anthropologi-schen Blickes illustriert etwa Moritz’ Anton Reiser), dann sind Ethik,moralische Werte, Ideale obsolet geworden.

(3) Die fur die Aufklarungskritik leitmotivische Metapher der ‘Kalte’(vgl. etwa das obige Zitat Spaldings) indiziert weniger ein drit-tes Defizit als vielmehr einen Motivationsgrund, der den beidenanderen ihre besondere Virulenz gibt. Die Empfindsamkeit, diewir heute sehr zu Recht als integralen Teil der Aufklarung be-greifen, hatte mit ihrer emphatischen Formulierung von Idealeneiner gefuhlserfullten Individualitat und Intimitat ein Bedurfnisnach Warme und Nahe begrundet, das auch ein warmes, freundli-ches Welt- und Menschenbild forderte: eine anthropomorphe, mituns zusammenhangende Natur, einen zu idealem Handeln fahigenMenschen und eine angstfrei vertraute Lebenswelt. Diesen von derAufklarung selbst hervorgebrachten Bedurfnissen musste das wahr-haft trost-lose empiristische Welt- und Menschenbild als Zumutung,ja als schmerzliche narzisstische Krankung erscheinen.22

Eine der beruhmtesten Klagen uber die Diskrepanz zwischen hoch-fliegenden Sehnsuchten und Idealen einerseits und einer mechanischdeterminierten, grundlich de-idealisierten Wirklichkeit andererseits, fin-det sich in Schillers Philosophischen Briefen von 1786. Julius, aus seinemschwarmerisch harmonischen Weltbild durch den Aufklarer Raphael jahherausgerissen, klagt da in seinem zweiten Brief:

Ahnlich kantianisch argumentiert Salomon Maimon: ‘Die Schwarmerei ist ein Trieb der produktivenEinbildungskraft (das Dichtungsvermogen,) Gegenstande die der Verstand, nach Erfahrungsgeset-zen, fur unbestimmt erklart, zu bestimmen. So lang als man die Ideen dieser Art fur nichts andersausgiebt, als was sie sind, fur Ideen, die blos zum regulativen Gebrauch unserer Erkenntniß bestimmtsind, ist man kein Schwarmer . Man wird es nur alsdann wenn man die Natur dieser Ideen verkennt,und reelle Objekte dadurch zu bestimmen sucht. Hier ist die Grenzscheidung zwischen Philosophie undSchwarmerei und der Uebergang von jener zu dieser. Die Methaphysik uberschreitet diese Grenze’ (Sa-lomon Maimon, ‘Uber die Schwarmerei’, in Gnothi Sauthon oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde,10/2 (1793), hier zit. nach K. Ph. Moritz (Anm. 20), Bd. 10, S. 130–4, (S. 131–2)). Ganz ahnlichargumentiert schließlich auch Fichte in der 8. Vorlesung seiner Grundzuge des gegenwartigen Zeitalters(1804/5).22 Ein viertes Defizit liegt auf einer ganz anderen Ebene: es ist ein praktisches Versagen derAufklarung dem Schwarmer gegenuber. Denn dieser ist aufklarungsresistent. Damit beweist er ex-emplarisch die Macht der unteren Erkenntnisvermogen – und die Ohnmacht der Vernunft, dieseunter ihre Botmaßigkeit zu zwingen, ja sie auch nur zu erreichen.

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unglukseliger Widerspruch der Natur – dieser freie emporstrebende Geist istin das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Korpers geflochten,mit seinen kleinen Bedurfnissen vermengt, an seine kleinen Schiksale ange-jocht – dieser Gott ist in eine Welt von Wurmern verwiesen. [. . .] Wohin ichnur sehe [. . .], wie beschrankt ist der Mensch! Wie groß der Abstand zwi-schen seinen Anspruchen und ihrer Erfullung! – O beneide ihm doch denwohlthatigen Schlaf. Weke ihn nicht. Er war so glucklich, bis er anfieng zufragen, wohin er gehen musse [. . .]. Die Vernunft ist eine Fakel in einemKerker.23

Ein Fluchtweg aus diesem Kerker ist die schwarmerische Verwandlungder Welt. Die Variante des Schwarmens, die diesem spataufklarerischenGrundbedurfnis am besten entspricht, verkorpert die Figur des moralisch-empfindsamen Schwarmers. Nicht umsonst dominiert dieser auch in denliterarischen Schwarmerdarstellungen, auf die ich zum Schluss eingehenwill.

3. DIE SCHWARMERDEBATTE IN DER LITERATUR:TIECKS WILLIAM LOVELL (1795/6) ALS FALLBEISPIEL

Auch die Literatur der Spataufklarung ist an der Schwarmerdebatte eifrigbeteiligt. Man kann sogar sagen, dass sie sich als das uberlegene Reflexi-onsmedium erweist. Wahrend der theoretische Schwarmerdiskurs in denvorgefassten Erklarungsmodellen stecken bleibt und weder konsensfahigeDefinitionen noch gar konsensfahige Bewertungskriterien liefern kann –dazu sind die Fronten einfach zu festgefahren –, entwickeln literarischeTexte eine umfassende Atiologie und Phanomenologie des Schwarmensund differenzierte, da den Ambivalenzen des Gegenstands Rechnung tra-gende Bewertungsmodelle.

Ich bin außerstande, die zahllosen literarischen Texte auch nur zu be-nennen, in denen im spaten 18. Jahrhundert Schwarmerfiguren auftre-ten. Von Wieland erwahne ich nur Der Sieg der Natur uber die Schwarmereioder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764), den Agathon (Erstfas-sung 1766/7) und den Peregrinus Proteus (1791), von Schiller den Geisterseher(1787–9), Karl aus den Raubern (ED 1781) und Ferdinand aus Kabale undLiebe (1784), von Goethe den Werther (1774), von Moritz den Anton Reiser(1785–90). Die Liste ließe sich naturlich um viele Titel verlangern.24

23 Friedrich Schiller, Werke: Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen u.a., Bd. 20: Philosophische Schrif-ten, Erster Teil, hg. von Benno von Wiese unter Mitwirkung von Helmut Koopmann, Weimar 1962,S. 112. Vgl. eine sehr ahnliche Passage von Christian Garve, die explizit den Bezug zur Schwarmereiherstellt: ‘Ware der Mensch ganz sinnlich, ware er bloß Thier; so hatte die Schwarmerey gar keinenZugang zu ihm. Sie ist also der Fehler einer hoheren Natur, sie ist die Ausartung edlerer Krafte’(C. Garve (Anm. 11), S. 340).24 Vgl. etwa die folgenden, in meinem in Anm. 3 genannten Aufsatz behandelten Texte: FriedrichHeinrich Jacobi, Eduard Allwills Papiere (erw. Fassung 1776) und Woldemar (1779); Johann Hein-

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Zumindest uberblicksweise behandeln kann ich aus dieser umfangrei-chen literarischen Schwarmer-Bibliothek nur einen Band: Tiecks RomanWilliam Lovell , der, ohne Verfasserangabe, 1795/6 veroffentlicht wird.25

Die Handlung des Textes ist relativ unwichtig (und in vielen ihrer Motivedem damals popularen Geheimbundroman verpflichtet).26 Im Mittelpunktdes Lovell stehen die Charaktere, wobei es Tieck allerdings nicht um eineDarstellung individueller Charaktervielfalt geht, sondern um die Reflexionvon Grundfragen der Spataufklarung. Der Roman kann deshalb geradezuals Krisenprotokoll dieser Epoche gelesen werden.

Das komplizierte Figurengeflecht des Lovell basiert auf einer einfachenGrundopposition, die vielfach abgewandelt und nuanciert wird und die ih-rerseits eine krisenhafte Zuspitzung der Polaritat von ‘Kopf’ und ‘Herz’ dar-stellt, die die Aufklarung in ihrer empfindsamen Phase noch zu versohnenkonnen geglaubt hatte. Bei Tieck stellt sich das so dar: ‘Kalten Menschen’mit ‘viel Erfahrungen und einem sehr ausgebildeten Verstand’, stehenMenschen ‘mit gluhenden Gefuhlen’, ‘Enthusiasmus’ und hochfliegendenIdealen gegenuber (WL, 105). Wahrend die ersteren zu materialistischemEgoismus neigen und außerst berechnend handeln konnen, sind die letz-teren wenig wirklichkeitstuchtig, leicht zu tauschen, schwankend in ihrenGefuhlen und durch desillusionierende Weltbegegnungen leicht in Melan-cholie zu versetzen – also typische Schwarmer.

Ich kann hier nur auf William und seine Entwicklung eingehen. Dieseverlauft in drei Phasen: William beginnt als moralisch-idealistischer Schwarmer ,der sein individuelles Gefuhl und seine Einbildungskraft hoher bewertet alsdie allgemeine Vernunft und den ‘Prufstein’ der Erfahrung und der kalt-rationalistische Zeitgenossen von Herzen verachtet.

In der zweiten Phase wechselt er zum anderen Extrem, dem einer radikal-hedonistischen Sinnlichkeit − was fur desillusionierte Schwarmer, der Heldvon Wielands Agathon (1766/67) demonstriert es in abgeschwachter Form,ja keineswegs untypisch ist. William bekennt sich nun zu einer ‘egoisti-schen sinnlichen Philosophie’ (WL, 176), einer ‘epikurischen Freigeiste-rei’ (WL, 218), in der er ‘das Aufsuchen meines eigenen Glucks’ (WL, 273)zum Maßstab aller Dinge macht − mit den aus dem Roman bekanntenverhangnisvollen Folgen, die bis zum mehrfachen Mord reichen.

Auf Dauer kann der Sensualismus William aber nicht befriedigen: Derradikal sinnliche Mensch ist auch radikal todverfallen (z.B. WL, 354); er istSpielball seiner standig wechselnden Wunsche und Triebe (WL, 264), keine

rich Jung-Stilling, Lebensgeschichte (1777–1817) und Theobald oder die Schwarmer (1784); Jean-JacquesRousseau, Les Confessions (1782–9) und Les Re veries du Promeneur solitaire (1782); Christoph MartinWieland, Agathodamon (1799); Johann Carl Wezel, Belphegor (1776).25 Ludwig Tieck, William Lovell , hg. von Walter Munz, Stuttgart 1986 [Textgrundlage ist der Erst-druck]; Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden mit der Sigle WL.26 Eine knappe Inhaltsangabe und eine ausfuhrlichere Interpretation findet sich in meinem Beitrag‘Tiecks fruhe Romane: William Lovell und Franz Sternbalds Wanderungen’, in Ludwig-Tieck-Handbuch,hg. von Stefan Scherer und Claudia Stockinger, Heidelberg 2008.

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einzelne sinnliche Erfullung kann dieses Getriebenwerden zum Stillstandbringen. So wird William (unter dem direkten Einfluss des mysteriosenGeheimbundfuhrers Waterloo alias Cosimo) schließlich zum metaphysischenSchwarmer . Er glaubt nun an eine hinter den Erscheinungen existierendeund wirkende ‘wunderbare Welt’, ‘eine fremde Geisterwelt’ (WL, 378, 417).Doch dieser Glaube steht auf den tonernen Fußen – er verdankt sich einerbloßen Intrige, da das gesamte Geheimbundwesen und seine Geheimleh-ren ja nur auf Betrug und Kalkul grunden.

An Williams (hier nur grob skizziertem) Lebensweg werden im Ro-man die Grundprobleme der Spataufklarung modellhaft veranschaulichtund verhandelt. So illustriert der Roman mit Hilfe des Schwarmerthemaseben die Krisensituation, die ich aus den theoretischen Schriften derSchwarmerdebatte hergeleitet hatte.

Erstes Krisenphanomen ist auch hier die epistemologische Verunsicherung :Unsere Erkenntnis der sinnlichen Welt erweist sich als bloßes Konstruktunseres Perzeptionsapparates und unseres Verstandes. In Williams Wor-ten: ‘Freilich kann alles, was ich außer mir wahrzunehmen glaube, nur inmir selber existieren. Meine außern Sinne modifizieren die Erscheinun-gen, und mein innerer Sinn ordnet sie und gibt ihnen Zusammenhang’(WL, 167).

Zweites Krisenphanomen ist das radikal deterministische Weltbild, indas empiristische und materialistische Philosophie munden − und dasauch die Anthropologie nur bestatigen kann. In der ‘Maschinerie’der Wirklichkeit − eine Leitmetapher von Roman wie zeitgenossischerAufklarungskritik − ist ‘das Bedurfnis die erste bewegende Kraft’ (WL,390). Der Mensch wird angetrieben von ‘Eitelkeit’, ‘Selbstsucht’ und ‘Ei-gennutz’ (WL, 512, 547); er ist bestimmt durch Anlagen und Umwelt-einflusse. Freier Wille und moralische Verantwortlichkeit werden damit zuhaltlosen Fiktionen: ‘alles [ist] eine blinde, von Notwendigkeit umgetrie-bene Muhle’ (WL, 216).

Der Verlust erkenntnistheoretischer Gewissheit wie praktischer Hand-lungsfreiheit fuhrt, drittens, zum Bankrott aller verbindlichen und verbindli-che Werte vorgebenden Weltbilder : ‘jeder Mensch hat seine eigene Philoso-phie, und die langsamere oder schnellere Zirkulation des Blutes machtim Grunde die Verschiedenheit in den Gesinnungen der Menschen aus’(WL, 256).

All dies mundet, viertens, in eine radikalisierte Dualismuserfahrung , wieich sie, schon mit dem Zitat aus Schillers Philosophischen Briefen (1786) il-lustriert hatte. In einer nahezu exakten Parallelformulierung wird im Lovelldie nach Idealen und Sinn strebende ‘Seele’ des Menschen als ‘ein einge-kerkerter Engel’ bezeichnet (WL, 364), ein Gefangener in der ihr fremdensinnlichen Welt.

Der moralisch-enthusiastische Schwarmer – den Lovell am Anfang desRomanes verkorperte – hat so zwar vom Standpunkt der theoretischenVernunft her deutlich Unrecht. In einer der eindruckvollsten PassagenC© The author 2009. Journal compilation C© Blackwell Publishing Ltd. 2009

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des Romans erzahlt Lovell eine Kindheitserinnerung: Einst ‘ergriff’ ihn,ebenso plotzlich wie anlasslos, eine ‘unbegreifliche Lust’, seinen Jugend-freund Eduard von einem Felsen herabzustoßen (WL, 314). Lovell folgert:‘Wer sich selbst etwas naher kennt, wird die Menschen fur Ungeheuer hal-ten’ (WL, 315) – und der Roman gibt ihm recht.27 Praktisch gesehen je-doch, bleibt der fruhe moralische Schwarmer Lovell der entschiedensteVerfechter eines wertorientierten Lebens. Sobald er von diesem morali-schen Schwarmertum kuriert ist, mutiert er zum radikalen Egoisten.

4. ZUSAMMENFASSUNG

Die Bedeutung der spataufklarerischen Schwarmerdebatte liegt sowohl indem Neuen, was sich in ihr vorbereitet, wie in der Erhellung der Legi-timationsdefizite, in die das alte aufklarerische Establishment geraten ist.Gesellschafts- wie bewußtseinsgeschichtlich ließe sich dies als eine typischeModernisierungskrise beschreiben. Bezogen auf die Entwicklungsfigur desJahrhunderts ließe es sich auf die bekannte Formel einer ‘Dialektik derAufklarung’ bringen: In radikaler Zuspitzung der ‘Kritik’ – nicht umsonstdas Leitwort des Jahrhunderts –, wurden auch die fundierenden erkennt-nistheoretischen, moralischen und metaphysischen Gewissheiten der ratio-nalistischen Fruhaufklarung durch konsequenten Empirismus und Mate-rialismus zunehmend untergraben. Zudem produzierte die Erfindung desIndividuums neue Bedurfnisse nach Intimitat und Authentizitat, die wederdie Aufklarung noch eine wie auch immer geartete Lebenswelt je hattenbefriedigen konnen.

Der einzige Zeitgenosse, der eine Antwort auf die zunehmend prekareSituation der Aufklarung geben konnte, war naturlich Kant – den manallerdings besser nicht einfach als Aufklarer, sondern, mindestens eben-sosehr, als den Grundungsvater der neuen Bewegung ansehen sollte,die die Aufklarung beerben wird. Kant hatte die Aufklarungsproblemedurch einen strategischen Ruckzug zu losen versucht: Die theoretischeVernunft mußte ihre Truppen zurucknehmen und Terrain aufgeben; siewurde weitgehend auf den Verstand reduziert und tauschte ihre ontologi-sche Kompetenz gegen eine bloß intersubjektiv-anthropologische ein. Dieuberlebenden Resttruppen der alten Metaphysik zogen sich in die Bas-tion der praktischen Vernunft zuruck. Das Wahre wurde zum fur den Men-schen Wahren, die Willensfreiheit, als unverzichtbares Fundament des Gu-ten, wurde zusammen mit der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit derSeele zum blossen Postulat der praktischen Vernunft.

27 Eine genuin romantische Antwort ist noch nicht vorhanden (alles ‘Wunderbare’ ist im Lovellbloßer Trug, die Welt bleibt aufklarerisch entzaubert). Die alten Antworten aber sind nicht mehrtragfahig, funktionieren allenfalls noch im gegen die moderne Lebens- und Erwerbswelt abgeschot-teten Raum einer landlichen Idylle nach dem (schon seinerseits prekaren) Modell von Clarens inRousseaus Nouvelle Heloıse (1761). Der Weltkontakt ist verunsichert, das Subjekt ein Abgrund.

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Es blieb der nachsten Generation vorbehalten, einen kuhnen Ausfall ausdieser Ruckzugsbastion zu wagen und mit neuen Waffen die Welt neu zuerobern. Alle Literaten dieser Generation (aber auch ein Philosoph wie derjunge Schelling) nutzten fur ihren Ausfall die Pforte, die Kant mit der Kritikder Urteilkraft noch eigenhandig in seine Festungsmauer gesetzt hatte, ohnesie selbst wirklich zu durchschreiten: die der Kunst. In der nun anbrechen-den neuen Zeit wird auch der Schwarmer in neuer Gestalt und glanzendrehabilitiert wiedergeboren: namlich als Romantiker. Nun erst kann die‘Zauberlaterne der Phantasie’ ungestort leuchten.

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