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Das Lernen von Lehrerinnen und Lehrern, Organisationen und Systemen Peter Posch, Franz Rauch, Stefan Zehetmeier (Hrsg.) Festschrift zum 60. Geburtstag von Konrad Krainer

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Das Lernen vonLehrerinnen und Lehrern,Organisationen undSystemen

Peter Posch, Franz Rauch,Stefan Zehetmeier (Hrsg.)

Festschriftzum 60. Geburtstagvon Konrad Krainer

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Peter Posch, Franz Rauch, Stefan Zehetmeier (Hrsg.)

Das Lernen von Lehrerinnen und Lehrern, Organisationen

und Systemen

Festschrift zum 60. Geburtstag von Konrad Krainer

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Waxmann 2018Münster ∙ New York

Peter Posch, Franz Rauch, Stefan Zehetmeier (Hrsg.)

Das Lernen von Lehrerinnen und Lehrern, Organisationen

und Systemen

Festschrift zum 60. Geburtstag von Konrad Krainer

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MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

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Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Inhalt

Roland Fischer Konrad, der Langstreckenläufer ............................................................................................... 7

Peter Posch, Franz Rauch und Stefan ZehetmeierEinleitung .................................................................................................................................. 11

Lernen von Lehrerinnen und Lehrern

Roland FischerProfessionalität von Lehrerinnen und Lehrern .................................................................... 17

Peter PoschLearning Studies – eine Herausforderung für die Fachdidaktik ........................................ 21

Angela Schuster, Agnes Turner und Burgi Wallner „Was möchte ich über mich und meinen Unterricht lernen?“Lehrgänge als Unterstützung für individuelle Entwicklungen ........................................... 37

Simone Mair, Gabriele Isak und Barbara HanfstinglImplementierung einer Lesson und Learning Study an einer NMS .................................. 55

Dina Tirosh, Pessia Tsamir, Ruthi Barkai und Esther LevensonReflections on the learning of a school and university team .............................................. 77

Helga RainerDie Vermessung unserer Welt: kompetenzorientierter Mathematikunterricht in der Grundschule am Beispiel Maße, Maßbeziehungen und Operieren mit Größen ...................................................................... 91

José Carrillo and Nuria ClimentReflection and professional development: a primary teacher’s story ..............................107

Lernen von Organisationen

Gertraud Benke und Florian H. MüllerAutonomie im Unterricht. Konzeptionelle Annäherungen und empirische Befunde................................................................................................................121

Herbert Altrichter Aktionsforschung und Design-Based Development .........................................................135

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Inhalt6

Marlies Krainz-Dürr und Elgrid MessnerPädagogInnenbildung NEU unter Governanceperspektive .............................................149

Stefan Brauckmann und Susanne BöseDatengestütztes Schulleitungshandeln zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Einsichten und Aussichten ...............................................165

Franz Rauch, Irina Andreitz und Mira DulleUnterstützung für Schulentwicklung: der Lehrgang ProFiL und das Netzwerk ÖKOLOG ................................................................................................179

Monika Grasser, Florian Mayer und Silke BergmoserSchulentwicklung aus der Sicht der Praxis .........................................................................199

Lernen von Systemen

Kurt Nekula, Michael Bruneforth und Florian SobanskiEntfaltung versus Reformstau: die Entwicklung des Schulsystems in der ministeriellen Wahrnehmung ...................................................................................215

Erwin RauscherUngleiche Brüder!?„PädagogInnenbildung Neu“ – Bewährungsprobe einer Zusammen arbeit von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ........................................................231

Katja MaaßOvercoming the theory-practice divide in education .......................................................247

Günter TörnerProblemfelder der gymnasialen fachlichen Mathematiklehrerinnen- und -lehrerausbildung in Deutschland................................................................................261

Ilse Bartosch und Christa KoenneGrundbildung und Grundkompetenzen sichern – eine Herausforderung für Prüfungskultur ..........................................................................277

Doris Arztmann, Christine Oschina, Franz Rauch, Heimo Senger und Stefan Zehetmeier Das Projekt IMST: Interventionen in das Bildungssystem ...............................................291

Wissenschaftlicher Werdegang von Konrad Krainer ........................................................311

Publikationen von Konrad Krainer (Auswahl) ..................................................................315

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ..........................................................................329

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Roland Fischer

Konrad, der Langstreckenläufer

Es kommt nicht oft vor, dass ein Lehrer die Möglichkeit hat, den Weg eines Schülers 40 Jahre lang zu beobachten und zu begleiten. Ich habe das Glück, Konrad Krainer seit seinem Studium in Klagenfurt zu kennen und mit ihm befreundet zu sein. Glück u.a. deswegen, weil es viele Gelegenheiten gab, sich mitzufreuen, nicht nur bei runden Geburtstagen, sondern vor allem über gelungene Unternehmungen, an denen Konrad beteiligt war, und das sind nicht wenige.

Die EntscheidungKonrad war ein sehr guter Mathematikstudent und entwickelte bereits im Studium ein besonderes Interesse für Didaktik, einen Schwerpunkt der Forschung und Lehre im Mathematischen Institut der Universität Klagenfurt. Das war mir und meinem Kol-legen Willi Dörfler aufgefallen, weshalb wir Konrad eine Assistentenstelle am Insti-tut angeboten haben. Konrad lehnte mit der Begründung ab, er möchte zuerst Unter-richtserfahrung erwerben, damit er ein guter und glaubwürdiger Didaktiker werden könne. Auch später konnte ich feststellen: Der schnelle persönliche Erfolg ist ihm we-niger wichtig als die längerfristige Qualität seiner Arbeit.

PFLKonrad sammelte Unterrichtserfahrung; glücklicherweise gab es noch einmal eine Gelegenheit, ihn an die Universität zu holen, und zwar als Projektmitarbeiter in ei-nem Entwicklungsprojekt. Ein Lehrgang „Pädagogik und Fachdidaktik für LehrerIn-nen“ (PFL) sollte für das Fach Mathematik entwickelt und pilotmäßig durchgeführt werden. Dem Unternehmen lag eine Idee von Peter Posch zugrunde, der auch an der Entwicklung mitwirkte. Ich war Projektleiter. Parallel gab es analoge Projekte für drei andere Fächer. Konrad war in unserem Projekt für Organisation zuständig und nach dem Motto „Lehrende als Forscherinnen und Forscher“ für den Teil „Interviews mit Schülerinnen und Schülern“. Das Konzept „Lehrende als Forscherinnen und Forscher“ spielte auch bei späteren Unternehmungen von Konrad eine Rolle. Die Lehrgänge für die vier Fächer waren erfolgreich, was dazu führte, dass einige mehrmals durchge-führt und das Konzept auf zusätzliche Fächer ausgeweitet wurde, später unter der Ge-samtleitung von Konrad und derzeit von Franz Rauch. Dank Konrads Expertise und Beharrlichkeit wurde eine Qualitätsmarke geschaffen und das Muster auch zur Kon-zeption anderer Lehrerfortbildungsmaßnahmen verwendet. Die heutige Situation der Lehrerfortbildung in Österreich wurde maßgeblich von Konrad Krainer beeinflusst.

Universitäre KarriereDie PFL-Lehrgänge wurden zur besseren organisatorischen Verankerung dem da-maligen „Institut für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung“ (IFF, heute eine

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8 Roland Fischer

Fakultät) zugeordnet. Dafür wurde an diesem Institut eine Abteilung „Schule und ge-sellschaftliches Lernen“ eingerichtet, deren Leitung Peter Posch übernahm. Konrad Krainer war Projektmitarbeiter, bis eine Assistentenstelle für ihn erwirkt werden konn-te. Nebenbei promovierte und habilitierte er in Didaktik der Mathematik. Nach dem Rückzug von Peter Posch übernahm Konrad die Leitung der Abteilung. Zunehmend setzte sich die Einsicht durch, dass Fortbildung der einzelnen Lehrkräfte nicht ausrei-chend ist, um Schule und Unterricht nachhaltig weiterzuentwickeln, sondern dass es dazu auch Maßnahmen der Organisationsentwicklung bedarf. Konrad absolvierte eine entsprechende Ausbildung und wurde etwas später „Professor für Didaktik der Wei-terbildung unter besonderer Berücksichtigung von Schulentwicklung“. Entsprechend wurde aus der Abteilung „Schule und gesellschaftliches Lernen“ das heutige „Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung“ (IUS). Konrad nahm darüber hinaus „höhe-re“ Leitungsaufgaben wahr, etwa als Gründungsdirektor der School of Education oder als Leiter des gesamten Standorts Klagenfurt der IFF; heute ist er Dekan der Fakultät.

IMST, AECCsAbschließend möchte ich noch auf die nach außen am stärksten sichtbare Unterneh-mung von Konrad eingehen: IMST. Der bisherige Erfolg dieser Initiative zeigt auch die Fähigkeit Konrads, andere einzubinden und zumindest ein Stück weit auf den Weg mitzunehmen. Die „Geburt“ von IMST erfolgte im Jahre 1998: Österreich hatte an ei-ner TIMS-Studie teilgenommen und das Unterrichtsministerium erteilte an Konrad Krainer und einige Kollegen (darunter auch an mich) den Auftrag, das Abschneiden der österreichischen Schülerinnen und Schüler in Mathematik zu analysieren. Es war verbesserungsbedürftig, und wir schlugen vor, etwas zur Verbesserung der Lehrkom-petenz der österreichischen Lehrerinnen und Lehrer der Mathematik und der natur-wissenschaftlichen Fächer zu unternehmen. In intensiven Verhandlungen mit dem Mi-nisterium entwickelte Konrad gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen das Projekt IMST (Innovations in Mathematics and Science and Technology Teaching) und er-hielt den Auftrag zur Durchführung einschließlich der Finanzierungszusage. Es be-gann eine Bewegung, die sich schrittweise weiterentwickelte und in ihrer Dynamik viele Lehrpersonen und Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker erfasste, die daraus persönlichen Lerngewinn erzielten und diesen zur Unterrichtsverbesserung fruchtbar machten. Das Erfolgsmoment sehe ich darin, dass die Lehrkräfte selbst die wichtigsten Akteurinnen und Akteure sind, von einer Projektidee über die Durchführung bis zur Evaluation, und dass sie auch für die Verbreitung ihrer Ergebnisse sorgen. Die Wis-senschaft, in erster Linie Fachdidaktik, beschränkt sich auf Beratung und Begleitung, abgesehen von gelegentlichen Anregungen bei großen Veranstaltungen. Für mich ist IMST die beste Maßnahme zur Steigerung der Professionalität der österreichischen Lehrkräfte, da dieses Projekt die Selbstverantwortung der Lehrerinnen- und Lehrer-schaft für die Qualität ihres Tuns stärkt.

Es stellte sich bald heraus, dass die Fachdidaktiken in Österreich in zu gerin-gem Ausmaß existierten, was Konrad dazu veranlasste, mit dem Ministerium darü-ber zu verhandeln, wie Abhilfe geschaffen werden könnte. Herausgekommen ist der

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9Konrad, der Langstreckenläufer

Vorschlag, für jedes Schulfach ein „Austrian Educational Competence Centre“ (AECC) einzurichten, jeweils an einer dafür geeigneten Universität, mit einer Anschub-Finan-zierung durch das Ministerium. Ein erster Schritt der Umsetzung war die Einrichtung von fünf derartigen Zentren plus das IUS als überfachliches Zentrum.

InternationalesEs ist erstaunlich, dass Konrad neben den erwähnten Aktivitäten Zeit gefunden hat, auf der internationalen Bühne präsent zu sein. Er hat Gastprofessuren bzw. Scholar-ships in Australien, Deutschland, Tschechien und in den USA wahrgenommen und hat sich besonders engagiert, schulbezogene Wissenschaften in Europa voranzubrin-gen, etwa durch die Gründung der „European Society for Research in Mathematics Education“. Insgesamt geht es ihm darum, neben der Mathematikdidaktik auch eine allgemeine „Lehrerinnen- und Lehrerbildungswissenschaft“ zu etablieren.

Konrad Krainer hat eine lange Strecke in kurzer Zeit zurückgelegt, kurze Zeit ge-messen am Umfang seiner wertvollen Aktivitäten im Dienste des österreichischen Bil-dungssystems und der Wissenschaft. Dass es ihm dabei auch möglich war, an einem Wien-Marathon teilzunehmen, sei nur nebenbei erwähnt. Er wird weiterlaufen, und ich freue mich, ihn dabei begleiten zu dürfen, sofern er gelegentlich Pausen einlegt.

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Peter Posch, Franz Rauch und Stefan Zehetmeier

Einleitung

Lernen ist ein übergeordnetes Ziel im Rahmen der Bildung, vollzieht sich jedoch auf verschiedenen Ebenen: auf der Ebene der einzelnen Personen, z.B. der Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Lehrerbildnerinnen und -bildner, Schulleiterin-nen und -leiter, Bildungspolitikerinnen und -politiker, Forscherinnen und Forscher. Es geschieht auf der organisatorischen Ebene, z.B. auf der Ebene von Teams, von Schu-len, Netzwerken oder Universitäten. Aber auch auf Systemebene wird gelernt, indem regionale, nationale oder internationale Systeme Wissen verarbeiten. Dieses Buch illus-triert Lernprozesse auf jeder dieser Ebenen und zeigt Felder für Forschung und Ent-wicklung auf.

Lernen von Lehrerinnen und Lehrern

Roland Fischer geht in seinem Beitrag davon aus, dass Professionalität im Lehrbe-ruf nur im Rahmen einer „professional community“ möglich ist, die für die Qualität der Tätigkeit ihrer Mitglieder sorgt. Er zeigt, dass hohe persönliche Autonomie und Selbstkontrolle durch die Profession in engem Zusammenhang stehen und einander bedingen.

Peter Posch gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die Konzepte Lear-ning Studies und Lesson Studies, welche beide auf der professionellen Zusammenar-beit von Lehrkräften beruhen. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Konzepte vorgestellt und mögliche Wirkungen und Herausforderungen der Umsetzung diskutiert. Insbesondere geht der Beitrag auf die (den Learning Studies zu-grundeliegende) Variationstheorie ein.

Im Beitrag von Angela Schuster, Agnes Turner und Burgi Wallner werden Kon-zeption und allgemeine Charakteristika der PFL-Lehrgänge (Pädagogik und Fachdi-daktik für Lehrerinnen und Lehrer) und ihr Beitrag zur Unterstützung der individu-ellen Entwicklung von Lehrkräften dargestellt. Der partizipatorische Charakter der Aktionsforschung, die konkrete Arbeitsweise der Lehrgänge und die Ergebnisse der Evaluation stehen im Mittelpunkt.

Die Fallstudie stammt aus der Unterrichtspraxis von Simone Mair. Sie hat in ei-ner fünften Klasse ihrer Neuen Mittelschule (NMS) im Fach Englisch eine Lesson Stu-dy durchgeführt, aus der beim zweiten Zyklus und in einer Parallelklasse eine Lear-ning Study geworden ist. Gemeinsam mit Gabriele Isak und Barbara Hanfstingl hat sie diesen Prozess beschrieben und analysiert.

Der Beitrag von Dina Tirosh, Pessia Tsamir, Ruthi Barkai und Esther Levenson beschreibt eine Gruppe von Lehramtsstudierenden in Israel, in der die Unterrichts-praxis ihrer Mentorinnen und Mentoren beobachtet und dann gemeinsam darüber

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12 Peter Posch, Franz Rauch und Stefan Zehetmeier

reflektiert wird. Der Inhalt dieser Reflexionen wird auf verschiedenen Ebenen (päda-gogisch, fachlich und überfachlich) diskutiert und die Perspektiven der Teilnehmerin-nen und Teilnehmer werden auf einer Metaebene (hinsichtlich ihrer Lernerfahrung in diesem Setting) untersucht.

Helga Rainer beschreibt in ihrem Beitrag aus der Praxis ihren eigenen kompetenz-orientierten Mathematikunterricht in der Grundschule. Im Rahmen des IMST-Pro-jekts „Die Vermessung unserer Welt“ untersucht sie, wie Kinder der zweiten, dritten und vierten Schulstufen in Mathe-Werkstätten Aufgaben lösen, welche Kompetenzen sie dabei entwickeln und welche Faktoren das Lernen der Kinder beeinflussen.

Der Beitrag von José Carrillo und Nuria Climent beinhaltet eine Fallstudie über die professionelle Entwicklung einer Grundschullehrerin aus Spanien. Dabei steht ins-besondere ihre Teilnahme an einem kooperativen Fortbildungssetting im Mittelpunkt, das sowohl ihre eigene Entwicklung als auch die Entwicklung der anderen Teilneh-menden nachhaltig beeinflusste. Die Fallstudie wird abschließend anhand der Dimen-sionen Autonomie, Reflexion, Aktion und Vernetzung interpretiert.

Lernen von Organisationen

Gertraud Benke und Florian H. Müller befassen sich in ihrem Beitrag mit dem Kon-zept der Autonomie im Unterricht. Dabei diskutieren sie begriffliche sowie theore-tische Konzeptionen und fassen empirische Befunde zu Wirkungen von Autonomie sowie offene Fragen des Forschungsfelds zusammen. Insbesondere nehmen sie auf Er-gebnisse der Forschungen zum österreichischen Entwicklungsprojekt IMST Bezug.

„Design-Based Development“ und „Aktionsforschung“ haben viele Gemeinsamkei-ten. Herbert Altrichter diskutiert auch die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen, die für die Weiterentwicklung der Aktionsforschung Impulse bieten können. Im Vor-dergrund stehen die „theory of action“, organisationstheoretische Überlegungen und die Transferierbarkeit der Ergebnisse.

Marlies Krainz-Dürr und Elgrid Messner beschreiben die Entwicklung der Leh-rerinnen- und Lehrerbildung als Governanceprozess und zeigen, wie das Gesetz zur PädagogInnenbildung NEU durch Vorgaben, Aushandlungsprozesse und gestaltungs-wirksame Auslegung von Seiten der unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure Ge-stalt gewonnen hat und in die Realität umgesetzt worden ist.

Stefan Brauckmann und Susanne Böse arbeiten in ihrem Beitrag unterschiedliche Forschungszugänge zum datengestützten Schulleitungshandeln auf. Dies ermöglicht ihnen eine differenzierte Betrachtung und die Formulierung von Forschungsdeside-raten zur Beziehung zwischen neuen Steuerungsansätzen einerseits und dem verstärkt eingeforderten datengestützten Schulleitungshandeln andererseits.

Im Beitrag von Franz Rauch, Irina Andreitz und Mira Dulle wird der Begriff der „Schulentwicklung“ prozessorientiert aufgefasst und im Kontext aktueller Qua-litätsevaluation und Qualitätsentwicklung in Österreich verortet. Am Beispiel von zwei Initiativen am Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung (IUS) – dem

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13Einleitung

Universitätslehrgang ProFiL und dem Programm ÖKOLOG – wird aufgezeigt, wie schulindividuelle Faktoren Einfluss auf die Qualität und den Erfolg von Schulen ha-ben.

Monika Grasser, Florian Mayer und Silke Bergmoser geben Einblicke in die Schul- und Unterrichtsentwicklung aus dem Blickpunkt von Lehrerinnen und Leh-rern. Basierend auf Daten aus dem Qualitätsmanagement der Schule von 2011 bis 2016 und Unterrichtsbeobachtungen im Rahmen von Aktionsforschung der Lehrper-son werden Kompetenzentwicklung und Klassenklima reflektiert.

Lernen von Systemen

Kurt Nekula, Michael Bruneforth und Florian Sobanski gehen aus ministerieller Sicht der These nach, dass entgegen dem medialen Diskurs zum „Reformstau im Bil-dungswesen“ in den vergangenen 15 Jahren wesentliche und umfangreiche Reformen im österreichischen Schulwesen auf den Weg gebracht worden sind. Ihre Analyse führt sie unter anderem zur Annahme, dass nicht ausreichend präzise Zieldefinitionen sowie die Anwendung einer emergenten anstelle einer geplanten und kommunizierten Stra-tegie zu dieser offensichtlichen Verständnislücke geführt haben können.

Erwin Rauscher untersucht die spannungsreiche Geschichte der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zwischen Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen bis zur Pädagogischen Hochschule als „ungleiche Brüder“. Er illustriert sie anhand von Ver-gleichen aus der Literatur und kommt schließlich zu einem versöhnlichen Postulat ei-ner „vernetzten Vielgestaltigkeit“.

Katja Maaß befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Verhältnis von Theorie und Pra-xis in Bezug auf schülerzentrierte Lehrmethoden im MINT-Unterricht. Dafür fasst sie relevante theoretische Rahmen und empirische Ergebnisse zusammen. Darüber hinaus stellt sie einen konzeptionellen Rahmen vor, welcher die Integration von Theorie und Praxis unterstützen kann. Abschließend werden zwei konkrete Projekte vor dem Hin-tergrund dieses Rahmens diskutiert.

Der Beitrag von Günter Törner stellt die fachliche Mathematiklehrerausbildung in Deutschland in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Dabei werden einerseits historisch gewachsene Problemfelder identifiziert und für das Fach relevante Wissenskomponen-ten dargestellt. Andererseits werden mögliche Antworten auf die grundsätzliche Fra-ge „Was ist Mathematik?“ skizziert und dabei auftretende Spannungsfelder diskutiert.

Ausgehend von der Frage nach dem Wertehorizont für die Teilhabe an einer de-mokratischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert entwerfen Ilse Bartosch und Christa Koenne auf Basis der „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen Ziele und Kompetenzen für die Grundbildung. Ergänzt werden die Ausführungen um einen Vorschlag, wie eine Prüfungskultur gestaltet werden könnte, die sowohl eine Grund-bildung für alle Lernenden sicherstellt als auch den Weg in die individuelle Experti-se begleitet.

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14 Peter Posch, Franz Rauch und Stefan Zehetmeier

In Österreich wurde 1998 eine nationale Initiative ins Leben gerufen: das Projekt IMST – Innovationen Machen Schulen Top. Im Beitrag von Doris Arztmann, Christi-ne Oschina, Franz Rauch, Heimo Senger und Stefan Zehetmeier werden Genese und Verlauf des umfangreichen Projekts mit Schwerpunkt auf den MINDT-Fächern nach-gezeichnet. Dabei werden sowohl theoretische Grundlagen als auch praktische Umset-zungen der Projektidee exemplarisch skizziert. Insbesondere werden die Regionalen Netzwerke, das Gender_Diversitäten-Netzwerk und die Themenprogramme von IMST vorgestellt und vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Begleitforschung reflektiert.

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Lernen von Lehrerinnen und Lehrern

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Roland Fischer

Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern

Abstract Dieser Beitrag ist ein Plädoyer für das „Gemeinschaftsaxiom“, d.h., dass Professionalität im Lehrberuf nur im Rahmen einer „professional community“ möglich ist, die für die Quali-tät der Tätigkeit ihrer Mitglieder sorgt. Dieses Axiom steht mit dem Autonomieaxiom nur scheinbar im Widerspruch. Lehrerinnen- und Lehrerarbeit ist zwar regelhaft-bürokratisch nicht erfassbar und erfordert daher hohe persönliche Autonomie, umso wichtiger ist aber eine Selbstkontrolle, die durch die Profession selbst ausgeübt wird. Die Gewerkschaften ha-ben sich dieser Aufgabe noch nicht gestellt.

1. Das Gemeinschaftsaxiom

Was heißt professionell? Die Tätigkeit einer Person wird meist dann professionell ge-nannt, wenn man sie als qualitativ hochwertig und nach anerkannten Regeln durchge-führt ansieht. Doch wer beurteilt die Qualität und wer erlässt die Regeln?

Von Professionalität zu sprechen, setzt meines Erachtens die Existenz einer Ge-meinschaft von Personen voraus, die ähnliche Tätigkeiten verrichten, miteinander kommunizieren und ihre Erfahrungen austauschen mit dem Ziel, die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern. Dabei kann es zur Erfindung von Regeln kommen, deren Be-folgung die Qualität der Arbeit gewährleisten soll. Die Gemeinschaft – in manchen Fällen Community oder Zunft genannt – erwartet dann von ihren Mitgliedern, dass sie die Regeln befolgen, damit das Ansehen der Gemeinschaft nicht durch schlech-te Arbeit eines Mitglieds geschmälert wird. Die Gemeinschaft kann man als Profes-sion bezeichnen. Bei diesem Zugang ist eine Tätigkeit dann professionell, wenn sie in Konkordanz mit einer Profession stattfindet, deren Regeln beachtet und von dieser überwacht wird. Qualitätsgarant ist dann nicht nur die tätige Person, sondern die Pro-fession. Ohne diese Gemeinschaft gibt es keine Professionalität. Einer allein kann kein Profi sein, höchstens ein selbsternannter. Eine gut entwickelte Profession hat Verfah-ren, etwa Prüfungen, mit denen die Mitgliedschaft interessierten Personen zuerkannt wird, manchmal auch Ausbildungsprogramme zur Nachwuchsrekrutierung. Gelingt es einer Profession, die Qualität der Arbeit ihrer Mitglieder glaubhaft zu machen, werden ihr u.U. Privilegien zuerkannt, z.B. politische Mitbestimmung bei Materien, die die Tätigkeit der Professionistinnen und Professionisten tangieren, oder eine gewisse Au-tonomie, gelegentlich auch ein hohes Einkommen.

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18 Roland Fischer

2. Das Autonomieaxiom

Der hier verwendete Zugang zum Thema Professionalität basiert auf dem Gemein-schaftsaxiom, d.h. auf der Annahme, dass Tätigkeiten durch Vergemeinschaftung verbessert werden können. Es gibt auch andere Zugänge, die z.T. dem Gemein-schaftsprinzip diametral entgegenstehen. Ein solcher Zugang sieht die Professionali-tät der Lehrerinnen- und Lehrerarbeit z.B. darin begründet, dass sie nicht regelhaft-bürokratisch erfassbar ist und daher hohe persönliche Autonomie und Verantwortung erfordert, alles Eigenschaften, die in eine andere Richtung weisen als das Gemein-schaftsprinzip. Vorbild für diese Art von Professionalität sind Berufe wie Advokatin und Advokat oder Therapeutin und Therapeut, bei denen es außerdem freie Vertrags-bildung zwischen den „Professionistinnen und Professionisten“ und ihren „Klientin-nen und Klienten“ gibt (vgl. Schrittesser, 2013). Dass es diese bei der Lehrertätigkeit nicht gibt, wird als Defizit an Professionalität gedeutet. M.E. liegt hier eine verkürzte, einseitige Auffassung von der Lehrertätigkeit vor. Diese erfolgt nämlich nicht nur im Interesse des Schülers/der Schülerin, sondern auch im Interesse der Gesellschaft, etwa in Richtung der Eingliederung des jungen Individuums. Dabei ist auch Machtaus-übung gegenüber dem Individuum vorgesehen. Das Vertragsverhältnis besteht nicht zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern, sondern zwischen Lehrper-sonen und Staat. Unter dieser Perspektive sind Lehrerinnen und Lehrer Mediatorin-nen und Mediatoren zwischen Individuen und der Gesellschaft und für diese Tätigkeit sind sie mit bestimmten Machtbefugnissen ausgestattet. Dies entspricht auch folgen-der Definition von Bildung: Bildung ist die reflexive Selbst-Gestaltung von Individuum und Gesellschaft in wechselseitiger Bezugnahme (vgl. Fischer, 2017).

Eine „Versöhnung“ von Autonomie- und Gemeinschaftsaxiom sieht so aus: Gerade wenn es um Tätigkeiten geht, deren Qualität durch formale Vorschriften nicht erfass-bar ist, braucht man die Peers, also die Kolleginnen und Kollegen, die Gleichartiges tun, für Beurteilung und Weiterentwicklung und auch zum Schutz der individuellen Autonomie. Eingriffe von Personen, die in das Geschehen nicht eingebunden sind, stellen ein Qualitätsrisiko dar.

3. Gibt es eine Profession der Lehrpersonen in Österreich?

Es gibt Lehrerinnen- und Lehrergewerkschaften. Diesen ist es aber noch nicht gelun-gen, glaubhaft zu machen, dass die Qualität der Tätigkeit ihrer Mitglieder für sie ein zentrales Anliegen ist, selbst wenn man anerkennt, dass Bemühungen, die Arbeitsbe-dingungen zu verbessern, als Qualitätsermöglichung interpretiert werden können. Was fehlt, ist ein öffentlich diskutiertes Qualitätskonzept sowie die kritische Beobachtung der Mitglieder und allenfalls Sanktionen. All dies überlässt man staatlichen Organen, die sich damit aufgrund der Natur der Tätigkeit der Lehrkräfte aber schwertun.

In Summe stellt sich die Frage, wie ein Zusammenwirken von freiwilliger professi-oneller Selbstkontrolle und Aufsicht durch staatliche Organisationen zu gestalten ist.

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19Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern

Dabei ist zu beachten, dass das Gemeinschaftsaxiom nicht nur im Hinblick auf Pro-fessionalität von Bedeutung ist. Die Tätigkeit von Lehrerpersonen wird immer an-spruchsvoller und findet in zunehmend komplexeren Kontexten statt, sodass für das Tun selbst Gemeinschaften benötigt werden. Dies beginnt beim Teamteaching in he-terogenen Klassen und setzt sich fort, wenn die Aufgabe gestellt wird, Systemelemente in ihrem Entwicklungsprozess, d.h. beim institutionellen Lernen zu unterstützen, etwa Schulklassen oder Schulen. Dann ist die Gemeinschaft der Klassenlehrerinnen und -lehrer oder der ganze Lehrkörper einer Schule gefordert. Will man gar eine lernende Gesellschaft, so wäre Unterstützung durch die ganze Profession erforderlich (vgl. Fi-scher, 2013).

Literatur

Fischer, R. (2013). Professional, Selective, Intervening Community. In E. Christof & J. F. Schwarz (Hrsg.), Lernseits des Geschehens: Über das Verhältnis von Lernen, Lehren und Leiten (S. 101–102). Innsbruck: Studienverlag.

Fischer, R. (2017). Bildung (in) der Entscheidungsgesellschaft. In T. Altfelix, R. Aulke, H. Freter & R. Semler (Hrsg.), Sinnbildung als Bildungssinn. Franz-Fischer-Jahrbuch für Philosophie und Pädagogik 2015 (S. 199–208). Münster: LIT.

Schrittesser, I. (2013). Pädagogische Professionalität entfalten – eine neue Form des Lernens? In E. Christof & J. F. Schwarz (Hrsg.), Lernseits des Geschehens: Über das Verhältnis von Lernen, Lehren und Leiten (S. 85–100). Innsbruck: Studienverlag.

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Peter Posch

Learning Studies – eine Herausforderung für die Fachdidaktik

AbstractLearning Studies wie auch die inzwischen bekannteren Lesson Studies sind Varianten von Aktionsforschung, die auf der professionellen Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Leh-rern beruhen. In diesem Beitrag werden nach einer kurzen Darstellung des Lesson-Study-Konzepts die wichtigsten Unterschiede zwischen beiden Ansätzen beschrieben und im Ka-pitel 2 die theoretischen Grundlagen der Learning Studies, phänomenographische Befunde und die Variationstheorie skizziert. Im Kapitel 3 werden zentrale Elemente einer Learning Study – Lerngegenstand, kritische Merkmale, Relevanzstruktur und Variationsmuster – an-hand von Beispielen erläutert und ihre Relevanz für die fachdidaktische Forschung sichtbar gemacht. Kapitel 4 widmet sich den Wirkungen des Learning-Study-Konzepts, soweit dies anhand der verfügbaren Studien eingeschätzt werden kann. Den Abschluss bilden Überle-gungen zu dem vermutlich wichtigsten Problem, das sich der Nutzung dieser Innovation im deutschen Sprachraum entgegenstellt: die mangelnde Kultur der Zusammenarbeit innerhalb der Lehrerschaft.

Einführung

Learning Studies wie auch die inzwischen bekannteren Lesson Studies sind Varianten von Aktionsforschung, die auf der professionellen Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Lehrer beruhen. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen zwar die Learning Studies. Nachdem aber die Learning Studies organisatorisch aus den Lesson Studies hervorge-gangen sind, wird zunächst kurz das Konzept der Lesson Studies vorgestellt.

Lesson Studies sind in Japan seit etwa 100 Jahren üblich und sind inzwischen da-bei, sich weltweit zu verbreiten. Was sind die Eckpunkte der Lesson Studies (vgl. z.B. Dudley, 2015)?1. Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in kleinen Teams von meist drei bis sechs Perso-

nen zusammen.2. Sie wählen ein Unterrichtsthema aus, das den Beteiligten besonders wichtig er-

scheint oder üblicherweise den Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten bereitet.3. Sie bereiten gemeinsam eine Unterrichtsstunde vor, eine sogenannte Forschungs-

stunde.4. Eine Lehrperson der Gruppe hält den Unterricht in ihrer Klasse und die anderen

beobachten den Unterricht, meist die Lernaktivitäten von drei Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Sie sammeln Daten nicht nur durch Beobachtung, sondern auch mittels Eingangs- und Endtests und Interviews im An-schluss an den Unterricht.

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5. Die Daten werden anschließend gemeinsam analysiert und ein verbessertes Kon-zept der Stunde ausgearbeitet.

6. Eine andere Lehrkraft der Gruppe hält diesen Unterricht in ihrer Klasse und wie-der wird beobachtet.

7. In vielen Fällen folgt ein dritter Zyklus. D.h., es werden abermals Verbesserungen im Unterrichtskonzept durchgeführt, umgesetzt und beobachtet.

8. Ein wichtiger Teil des Ganzen ist die Weitergabe der Erfahrungen durch Präsenta-tionen und Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, nicht selten auch durch kleine Texte.

Lesson Studies sind in Japan im Pflichtschulbereich fast flächendeckend eingeführt, wobei jede Lehrkraft an zwei bis drei Lesson Studies pro Jahr beteiligt ist. Es gibt kei-ne gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung von Lesson Studies, sondern sie wer-den als selbstverständliche Form professioneller Weiterentwicklung angesehen. Bereits Junglehrerinnen und -lehrer werden bei Eintritt in den Schuldienst in eine Lesson-Study-Gruppe eingegliedert (Murata, 2011). Lesson Studies werden relativ großzügig von zentraler und kommunaler Seite und von den Lehrerverbänden unterstützt, so-dass die erforderlichen Supplierungen und das Einholen externer Beratung offenbar kein großes Problem darstellen. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Lesson Studies wird als sehr günstig angesehen, sodass sich dieses Konzept international sehr rasch verbreitet. Auch in Österreich gibt es an fast allen Pädagogischen Hochschulen und an einigen Universitäten bereits Bemühungen, Lesson Studies in der Lehrerbildung bzw. Lehrerfortbildung zu verankern.

1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Lesson und Learning Studies

Während Lesson Studies eine autochthone Entwicklung des asiatischen Raums, vor al-lem Japans, sind, handelt es sich bei den Learning Studies um eine von vielen Inno-vationen, die in Europa entstanden sind, im fernen Osten umgesetzt und weiterentwi-ckelt worden sind und nun wieder zurück nach Europa und in den Westen kommen. Der theoretische Kern der Learning Studies, die Variationstheorie, wurde in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Ference Marton u.a. an der Universität Göteborg in Schweden ausgearbeitet und an der Universität Hongkong von Mun Ling Lo und anderen pädagogisch umgesetzt und überprüft. Dabei wurde das Lesson-Stu-dy-Konzept als organisatorischer Rahmen übernommen und das Ganze Learning Stu-dies genannt.

Beide Ansätze haben Gemeinsamkeiten. Sie• basieren auf der Zusammenarbeit von Lehrpersonen, • beruhen auf der wiederholten Analyse und Revision von Unterrichtsstunden („For-

schungsstunden“),

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• verfolgen das Ziel, das Lernen von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler zu verbessern,

• folgen einem ähnlichen (zyklischen) Aufbau und• legen Wert auf die Dokumentation der Erfahrungen.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Lesson und Learning Studies:

Lesson Studies Learning Studies

In Aus- und Fortbildung eingesetzt In Aus- und Fortbildung eingesetzt

Fokus: Professionelle Entwicklung Fokus: Lernen und Lernforschung

Keine bestimmte theoretische Grundlage Theoretische Grundlage ist die Variationstheorie

Schwerpunkt liegt auf geeigneten Methoden des Lehrens und Lernens

Schwerpunkt liegt auf dem Lerngegenstand, seinen kritischen Aspekten und Merkmalen

Dokumentation und Austausch der Ergebnisse (meist im Kollegenkreis)

Dokumentation und Austausch (Publikation) der Ergebnisse auf breiter Ebene

Verbreitung: Ostasiatischer Raum, Japan (seit ca. 100 Jahren) und China; seit 2000 USA und westl. Europa

Verbreitung: Hongkong, Schweden, zunehmend in den USA, Großbritannien, Australien

Learning Studies unterscheiden sich von Lesson Studies jedoch in zwei wesentlichen Punkten: Während die Reflexion der an einer Lesson Study beteiligten Lehrerinnen und Lehrer von den jeweiligen subjektiven Theorien und Erfahrungen geleitet wird, die die Lehrkräfte einbringen, liegt den Learning Studies eine spezielle Theorie des Lehrens und Lernens zugrunde: die Variationstheorie. Während es bei den Lesson Stu-dies um die methodische Optimierung des Unterrichts im weitesten Sinne des Wortes geht, liegt der Schwerpunkt der Learning Studies auf dem Lerngegenstand, seinen kri-tischen Aspekten und Merkmalen.

2. Phänomenographische Grundlagen der Variationstheorie

Die Variationstheorie stammt aus der phänomenographischen Forschung. Die Phä-nomenographie ist ein empirischer Forschungsansatz, mit dem herausgefunden wer-den soll, wie Phänomene erlebt werden. Durch phänomenographische Forschung wird beschrieben, auf welch unterschiedliche Weisen Personen einen Gegenstand oder ein Phänomen erleben (Marton, 1986, S. 31; Marton & Pang, 2008, S. 535). Lernen wird als Veränderung (Variation) der Art und Weise betrachtet, wie ein Phänomen oder Gegenstand des Lernens erlebt wird. Aus den phänomenographischen Studien erga-ben sich mehrere Erkenntnisse, die der Variationstheorie zugrunde liegen (Marton, Runesson & Tsui, 2004):

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a) Wir können nicht denken, ohne „etwas“ zu denken.b) Jedes Phänomen hat verschiedene Aspekte bzw. Merkmale (Größe, Form, Funktio-

nen). c) Wie ein Phänomen oder ein Inhalt erlebt wird, hängt von den Merkmalen ab, auf

die eine Person ihre Aufmerksamkeit richtet. D.h., wenn zwei Personen ihre Auf-merksamkeit auf verschiedene Aspekte richten, werden sie das Phänomen bzw. den Inhalt unterschiedlich erleben.

d) Worauf die Aufmerksamkeit gerichtet wird, wird auch von den Einstellungen und Vorerfahrungen der Person beeinflusst.

e) Wir können uns eines einzelnen Merkmals eines Phänomens oder Inhalts nur be-wusst sein, wenn wir uns der Unterschiede (der Variation) zwischen den Merkma-len bewusst sind: Ohne wahrgenommenen Unterschied kann es keine Erkenntnis geben; und es müssen mindestens zwei voneinander verschiedene Dinge gleichzei-tig wahrgenommen werden, damit ein Unterschied wahrgenommen werden kann. Zuerst muss also durch Nichtbeispiele ein Kontrast erlebt werden, bevor durch Bei-spiele eine Verallgemeinerung erfolgen kann.

Diese phänomenographischen Befunde bilden den lerntheoretischen Hintergrund von zwei wesentlichen Elementen einer Learning Study: dem Lerngegenstand als Aus-gangspunkt des Lernens und den kritischen Aspekten bzw. Merkmalen dieses Lernge-genstands, die durch kontrastierende Beispiele erkannt werden.

Die Variationstheorie beschreibt keine allgemeinen Unterrichtsmethoden, sondern grundlegende Bedingungen, wenn etwas Neues gelernt werden soll. Sie ist eine Theo-rie verständnisvollen Lernens und geht, kurz zusammengefasst, von zwei Annahmen aus (Thorsten, 2015, S. 275f.): • Wir nehmen ein Phänomen oder einen Lerngegenstand verschieden wahr, je nach-

dem welche Aspekte wir erkennen.• Wir können nur etwas erkennen, das variiert.

Beide Annahmen haben Auswirkungen auf die Planung und auf die Analyse von Un-terricht. Der „Was-Aspekt“ des Unterrichts wird als wichtiger erachtet als der „Wie-As-pekt“ (Marton & Runesson, 2015, S. 104). Es schwingt hier der Vorwurf mit, dass zu viel Aufmerksamkeit auf die Unterrichtsmethoden gelenkt wird und zu wenig auf den Lerninhalt und wie im Unterricht damit umgegangen wird (Elliott, 2015, S. 159).

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3. Zentrale Elemente einer Learning Study: Lerngegenstand, kritische Merkmale, Relevanzstruktur und Variationsmuster

Wie läuft eine Learning Study ab? Im Wesentlichen sind es folgende Phasen:• Wahl eines vorläufigen Lerngegenstands• Planung des Unterrichts

– Identifikation der kritischen Aspekte/Merkmale, Erhebung der Lernvorausset-zungen und Präzisierung des Lerngegenstands

– Überlegungen zur Motivation: „Aufbau einer Relevanzstruktur“ aus der Pers-pektive des Fachs und aus der Perspektive der Lernenden

– Gestaltung von Variationsmustern und ihre methodische Einbettung • Durchführung des Unterrichts und begleitende Datensammlung (Beobachtung der

Lernprozesse, Schülerinterviews, Leistungsüberprüfung) • Analyse der Daten und Revision der Stunde• Unterricht der revidierten Stunde in einer anderen Klasse mit Beobachtung und

Analyse (meist zwei bis drei Zyklen)• Dokumentation und Austausch, oft auch Publikation der Ergebnisse

Die zentralen Merkmale werden im Folgenden etwas genauer erläutert.

3.1 Der Lerngegenstand als Fokus der Variationstheorie

Was ist ein Lerngegenstand? In einer ersten Annäherung ist damit der Inhalt, die Fä-higkeit oder eine Werthaltung gemeint, die die Lernenden erwerben sollen (Marton et al. 2004, S. 5, zit. bei Runesson, 2005, S. 71), z.B. Verständnis für den Zusammenhang von Angebot und Nachfrage bei der Preisbildung, Entwicklung von Empathie für Per-sonen anderer Kulturen usw. Learning Studies betreffen das ganze Spektrum von Wis-sen, Kompetenzen und Einstellungen bzw. Werthaltungen.

In diesem Zusammenhang werden zwei Unterscheidungen getroffen: a) Unterscheidung zwischen dem direkten und dem indirekten Lerngegenstand (Lo,

2015, S. 29, S. 52): • Der direkte Lerngegenstand bezieht sich auf den Inhalt, die Thematik, den Sach-

bereich, der im Unterricht vermittelt werden soll.• Der indirekte Lerngegenstand bezieht sich auf die Fähigkeit (Kompetenz, Fertig-

keit, Werthaltung), die durch das Lernen des direkten Lerngegenstands entwi-ckelt werden soll.

Themen brauchen Legitimation. Dies soll an einem Beispiel illustriert werden (Lo, 2015, S. 61f., S. 90f.):

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1) Direkter Lerngegenstand: indexikalische Ausdrücke (kontextuelle Hinweise, mit denen man die Bedeutung unbekannter Wörter aus einem Text erschließen kann), wie z.B. sonst, aber, andererseits, deshalb).

2) Indirekter Lerngegenstand: die Fähigkeit, die Bedeutung neuer Wörter aus dem Kontext mit Hilfe solcher Ausdrücke zu erschließen. Das längerfristige Ziel ist, die Lesefertigkeit zu verbessern und Interesse am Lesen zu steigern.

Deutlich wird hier der enge Zusammenhang zwischen Lerngegenstand und Ziel. Der indirekte Lerngegenstand soll die Aufmerksamkeit auf die langfristigen Ziele des Un-terrichts richten. Die Qualität der Lernergebnisse hängt in hohem Maße von der Wahl des indirekten Lerngegenstands ab. Dies dürfte stark von der japanischen Tradition der Lesson Studies beeinflusst sein, in der die langfristigen Ziele und ihre Beziehung zu kurzfristigen Zielen einen sehr hohen Stellenwert haben (vielleicht einer der Grün-de für das gute Abschneiden japanischer Schülerinnen und Schüler bei anspruchsvol-len Aufgaben).

b) Unterscheidung zwischen intendiertem, realisiertem und erlebtem Lerngegenstand (Marton et al., 2004):

• Der intendierte Lerngegenstand ist das Ergebnis der Unterrichtsplanung, also die konkreten (schriftlich fixierten) Intentionen der Lehrkraft (genauer: des Teams), die (das) den Unterricht vorbereitet.

• Der realisierte Lerngegenstand ist das Ergebnis der Umsetzung des Plans, also die konkrete Unterrichtspraxis. Es bietet den Schülerinnen und Schülern den Raum, etwas zu lernen, es macht das Erlernen einer Sache „möglich“. Auch die beste Lehr-person kann Lernen nur möglich machen.

• Was die Schülerinnen und Schüler jedoch tatsächlich gelernt haben, hängt davon ab, was sie während der Unterrichtsstunde erlebt haben, d.h. vom erlebten Lernge-genstand, also von der Passung zwischen der/dem Lernenden mit ihren/seinen Vor-aussetzungen und dem Gegenstand, so wie sie/er ihm begegnet. Hier liegt der Fokus der Learning Studies. Was gelernt werden kann, muss nicht identisch mit dem sein, was tatsächlich gelehrt wird (Pang & Marton, 2003). Schülerinnen und Schüler können dieselbe Situation qualitativ unterschiedlich erleben, wodurch für jede/n Lernende/n unterschiedliche Erfahrungen mit demselben Lerngegenstand generiert werden und Unterschiedliches gelernt wird.

Diese Fokussierung auf den Lerngegenstand hebt Learning Studies von zwei vorder-gründig konkurrierenden, in Wirklichkeit aber ergänzenden didaktischen Ansätzen ab (vgl. Runesson, 2005, S. 73):a) Konstruktivistische Ansätze, bei denen der Fokus nicht primär auf den Inhalt, son-

dern auf die kognitiven Lernaktivitäten der/des Lernenden gelegt wird. Wissen als Ergebnis konstruktiver Leistungen der/des Lernenden.

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b) Interaktionistische Ansätze, bei denen der soziale Rahmen des Unterrichts und die Gestaltung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden im Vordergrund des Interesses stehen. Wissen als Ergebnis sozialer Interaktion.

Learning Studies erweisen sich dabei als ein genuin fachdidaktisches Thema. Im Vor-dergrund steht die Beziehung zwischen Lerngegenstand und Lernenden, also die Fra-ge, wie ein Lerninhalt gestaltet sein muss, damit Lernende Zugang finden und ihn ver-stehen.

3.2 Kritische Aspekte bzw. Merkmale1

Kritische Aspekte sind Merkmale von Inhalten, die Schülerinnen und Schüler lernen müssen, um eine angestrebte Fähigkeit zu erlangen (Elliott, 2015, S. 155). Um einen Lerngegenstand auf bestimmte Weise zu sehen, muss sich der/die Lernende bestimm-ter Aspekte bzw. Merkmale des Lerngegenstands gleichzeitig bewusst sein. Anders ge-sagt: Welche Aspekte der/die Lernende gleichzeitig erkennt und wie diese Aspekte zu-sammenhängen, bestimmen, wie er oder sie den Gegenstand sieht oder versteht.

Da jeder Lerngegenstand viele Merkmale hat, müssen die Lernenden ihre Auf-merksamkeit auf jene Merkmale fokussieren, die für das Verständnis zentral sind. In der Terminologie der Variationstheorie sind das die „kritischen Merkmale“ eines Lerngegenstands.

Wenn Lehrende wollen, dass Lernende einen Lerngegenstand genauso sehen wie sie, müssen die Lernenden ihre Aufmerksamkeit auf dieselben Merkmale des Lernob-jekts richten wie sie.

Merkmale sind kritisch, weil Lernende damit Probleme haben (können), und ver-schiedene Lernende können verschiedene Probleme haben. Lehrerinnen und Lehrer müssen also auch wissen, wie ihre Lernenden einen Gegenstand verstehen und wel-ches Vorverständnis erforderlich ist, wenn sie ihre Art, den Gegenstand oder das Phä-nomen zu sehen, verändern wollen (Lo & Marton, 2012, S. 9). Was ein kritisches Merkmal ist, hängt also vom Lerngegenstand, aber auch von den Voraussetzungen der Lernenden ab.

Die Identifikation der kritischen Merkmale eines Lerngegenstands gehört nach dieser Theorie zu den wichtigsten Aufgaben der Lehrpersonen. Marton und Runesson (2015, S. 107f.) unterscheiden potentielle und aktuelle kritische Merkmale:

1 Kritische Aspekte und kritische Merkmale werden hier als austauschbar behandelt. Streng genommen ist dies allerdings nicht richtig (Lo, 2015, S. 67f.). Kritische Aspekte sind Dimensionen von Variati-on, während kritische Merkmale die Ausprägungen der jeweiligen Dimension sind. Kritischer Aspekt ist z.B. der Begriff „Farbe“, während kritische Merkmale ihre Ausprägungen „rot“, „grün“, „gelb“ usw. sind. Jede Ausprägung kann aber selbst zu einem kritischen Aspekt (einer Dimension von Variati-on) werden. Z.B. wird die Farbe „rot“ zu einem kritischen Aspekt, wenn die kritischen Merkmale die unterschiedlichen Arten von „rot“ sind, wie „zinnoberrot“, „purpurrot“, „karminrot“ usw. Kritische Aspekte und kritische Merkmale hängen eng zusammen. Für die Gestaltung von Variationsmustern ist diese Unterscheidung allerdings nicht von großer Bedeutung, sodass sie hier vernachlässigt wird.

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• Potentielle kritische Aspekte (bzw. Merkmale) sind Ergebnisse fachlicher und fach-didaktischer Analysen des Lerngegenstands. Sie lassen sich also getrennt von der Lernsituation finden und sind daher in gewissem Sinne verallgemeinerbar. Wenn es z.B. um das Erlernen von Bruchzahlen geht, sind Einheit und Vereinheitlichen kritische Merkmale (Lo, 2015, S. 74). Wenn es um das Thema Relativpronomen im Englischunterricht geht, ist ein kritisches Merkmal, dass die Bedeutung des Sat-zes durch die Position des Relativpronomens beeinflusst wird. Wenn es um das Geschichtenerzählen in der Grundschule geht, ist der Aufbau aus Anfang, Mitte (Entwicklung) und Schluss ein kritisches Merkmal und in jeder dieser Phasen sind Zeit, Ort, Personen, Ereignisse weitere kritische Merkmale.

• Aktuelle kritische Aspekte (bzw. Merkmale) sind jene, die bestimmte Lernende noch nicht erkannt und daher zu lernen haben. Diese müssen von der Lehrper-son erst empirisch herausgefunden werden, weil sie jeweils bestimmte Schülerin-nen und Schüler betreffen.

Es gibt verschiedene Methoden, um kritische Merkmale eines Lernobjekts herauszu-finden. Um potentielle kritische Merkmale herauszufinden:• Tiefgehende Fachkenntnis und Auseinandersetzung mit diesem Wissen• Erfahrungsaustausch unter Lehrenden• Literaturstudium (vor allem fachlicher und fachdidaktischer Literatur) Um aktuelle kritische Merkmale herauszufinden:• Beobachtung des Unterrichts• Interviews mit Lernenden • Durchführung diagnostischer Prä- und Post-Tests und Analyse der Ergebnisse

Nach Marton und Runesson (2015) „sind kritische Aspekte Schlüsselelemente des Ler-nens. Der Erfolg von Bemühungen, anderen beim Lernen zu helfen, hängt in hohem Maße davon ab, dass die kritischen Aspekte gefunden werden und der Unterricht auf sie abgestimmt wird“ (S. 107).

Die Bemühungen um die Identifikation kritischer Merkmale verweisen auf die zen-trale Bedeutung des Feedbacks von den Lernenden zu den Lehrenden. Hattie (2009) hat in seiner Metaanalyse herausgefunden, dass diese Art von formativem Feedback die wichtigste Einzelmaßnahme zur Verbesserung des Lernens darstellt. Erst eine ge-nauere Kenntnis der Voraussetzungen der Lernenden ermöglicht es, die kritischen Merkmale und damit den „endgültigen“ Lerngegenstand festzulegen. Weil die Voraus-setzungen der Lernenden sehr verschieden sein können, ist dies keine einfache Auf-gabe, und manchmal können kritische Merkmale des Lernobjekts sogar erst im Ver-lauf des Unterrichts angesichts von Äußerungen von Lernenden entdeckt werden. Der Grund dafür besteht darin, dass Merkmale eines Lerninhalts für die Lehrperson so selbstverständlich sein können, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, dass sie für be-stimmte Lernende eine Hürde darstellen können und daher für sie kritisch sind.

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29Learning Studies – eine Herausforderung für die Fachdidaktik

Potentielle und aktuelle kritische Aspekte bilden gemeinsam den Lerngegenstand für den konkreten Unterricht. Einen Inhalt zu verstehen, bedeutet in diesem Sinne, gleichzeitig seine kritischen Aspekte zu erkennen.

Nach Marton und Runesson (2015, S. 105) umfasst ein Lerngegenstand mehr und ist differenzierter als ein Lehrplaninhalt oder ein Bildungsstandard. Sie gehen dabei von folgender Überlegung aus:• Jede Fähigkeit, die in einem Bildungsziel oder einer Fähigkeit zum Ausdruck

kommt (z.B. einem Bildungsstandard), besteht aus verschiedenen Komponenten.• Zu einem bestimmten Zeitpunkt beherrschen einige Schülerinnen und Schüler ei-

ner Altersgruppe bestimmte Komponenten, andere wiederum andere Komponen-ten.

• Jede Schülerin/Jeder Schüler muss jene Komponenten lernen, die er/sie noch nicht beherrscht, d.h., verschiedene Schülerinnen und Schüler müssen demnach ver-schiedene Dinge lernen. Diese Komponenten sind die „kritischen Aspekte“ eines Lerngegenstands. Sie sind im Unterschied zu Lehrplaninhalten, Kompetenzen und Standards auf einer Mikroebene angesiedelt.

3.3 Motivation: Aufbau einer „Relevanzstruktur“

Überlegungen zur Motivation sind wichtige Aufgaben bei der Planung des Unterrichts. Sie wird allerdings bei dieser Theorie recht stiefmütterlich behandelt (Posch, 2015). Motivation im Sinne der Variationstheorie entsteht, wenn eine Beziehung der Ler-nenden zum Gegenstand des Lernens (eine sogenannte „Relevanzstruktur“) aufgebaut wird: Der Lerngegenstand muss den Lernenden relevant erscheinen, d.h., er muss für sie Sinn ergeben und Bedeutung haben (Marton & Booth, 1997, S. 143; Lo, 2015, S. 116). Dazu soll in erster Linie die Herausarbeitung der kritischen Merkmale des Lern-gegenstands (vor allem der aktuellen kritischen Merkmale) beitragen, damit die Ler-nenden einen Zusammenhang zu ihren eigenen Vorkenntnissen herstellen können (vgl. dazu auch Elliott, 2015, S. 321).

3.4 Variationsmuster

Wenn Lerngegenstand und kritische Merkmale geklärt sind, müssen diese durch Va-riationsmuster im Unterricht sichtbar gemacht werden. Wie schon erwähnt, hält Mar-ton die verbreitete Auffassung, dass Lernen durch Induktion, d.h. anhand von aus-schließlich zutreffenden Beispielen erfolgt, für falsch. Ein neuer Begriff wird vielmehr durch Kontrast gebildet. Variationsmuster erlauben den Lernenden, kritische Aspek-te eines Lerngegenstands zu erkennen. Damit ein Lerngegenstand von seinem Kon-text und von anderen Objekten unterschieden und damit erkannt werden kann, muss er variiert werden. Ein Variationsmuster zeigt an, welche Merkmale eines Lerngegen-stands variieren, also verändert werden, und welche unverändert bleiben (Marton &

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Pang, 2008, S. 539; Lo & Marton, 2012, S. 10). Die zentrale Aufgabe der Lehrperson besteht also darin, Lernsituationen zu gestalten, die den Schülerinnen und Schülern helfen, mithilfe von Variationsmustern die kritischen Aspekte eines Lerngegenstands zu erkennen (Marton & Pang, 2008, S. 541).

Ich möchte das an einem Beispiel näher ausführen. Das Beispiel ist zwar ziemlich trivial, lässt aber die Idee deutlicher sichtbar werden: Nehmen wir an, der Lerngegen-stand besteht darin, ein Dreieck als solches zu erkennen (d.h., es von anderen geome-trischen Figuren zu unterscheiden). Eine Lehrperson, die induktiv vorgeht, wird den Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Arten von Dreiecken zeigen (rechtwinkli-ge, gleichschenklige usw.), um zu zeigen, was verschiedene Arten von Dreiecken ge-meinsam haben. Die Lehrperson lässt dabei das kritische Merkmal „Dreieck als geo-metrische Figur“ unverändert und variiert andere nicht kritische Merkmale (z.B. die Arten des Dreiecks, seine Größe usw.). Das ist eine Art von Lernen am Modell (Thors-ten, 2015, S. 282).

Der Variationstheorie zufolge sollte die Lehrperson das Gegenteil tun und den Be-griff durch Kontrast nahebringen, d.h., sie sollte das kritische Merkmal (geometrische Figur) variieren und nicht kritische Merkmale (verschiedene Arten von Dreiecken) in-variant halten, etwa indem sie ein z.B. rechtwinkliges Dreieck mit einem Rechteck, ei-nem Fünfeck usw. vergleicht.

1. Variationsmuster

Nicht variiert Variiert Kritisches Merkmal, das zu erkennen war

Art des Dreiecks Geometrische Figuren (darunter Dreieck, Quadrat, Gerade etc.)

Dreiecke unterscheiden sich von anderen geometrischen Figuren durch Seitenzahl und Winkelsumme

Dabei wird eine „Variationsdimension“ eröffnet, d.h. ein Begriff (in diesem Fall „geo-metrische Figur“), der mehrere Ausprägungen hat, von denen eine das Dreieck ist. Die Ausprägung Dreieck kann dadurch zu anderen Ausprägungen in Kontrast gesetzt werden, wodurch die unterscheidenden Merkmale des Dreiecks (Seitenzahl und Win-kelsumme) wahrnehmbar werden. In der Terminologie der Variationstheorie bedeutet dies, dass der fokussierte Aspekt (die geometrische Form) variiert wird, während die nicht fokussierten Aspekte (also z.B. die Art von Dreieck) unverändert bleiben. Es ist zumindest eine andere Ausprägung der Variationsdimension (geometrische Figur) er-forderlich, damit die Schülerinnen und Schüler einen Unterschied wahrnehmen kön-nen. Eine neue Bedeutung gewinnt man nicht durch Gleichheit (Induktion), sondern durch Unterschiede (Kontrast). Das ist eine zentrale These der Variationstheorie (Mar-ton & Pang, 2013).