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REZENSIONEN Rezension zu Gabi Elverich: Demokratische Schulentwicklung. Potenziale und Grenzen einer Hand- lungsstrategie gegen Rechtsextremismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 448 S. ISBN 978-3-531-17858-5. Preis: 39,95 . Wie die jüngste Verbreitung der sogenannten „Schulhof CD“ der NPD Anfang des Jahres 2013 gezeigt hat, sind Schulen nach wie vor mit Rechtsextremismus konfrontiert. Ebenso wies die im November 2012 der Öffentlichkeit vorgestellte Studie von Decker et al. (2012) „Die Mitte im Umbruch“ auf zunehmende rechte Einstellungen unter Jugendlichen hin (vgl. ebd., S. 42). Gleichzeitig sind Schulen durch ihren demokratischen Bildungsauftrag dafür verantwortlich, „(…) die politische Sozialisation von Jugendlichen gezielt durch die Vermittlung demokratischer Werte und politischer Inhalte zu beeinflussen“ (Elverich 2011, S. 46). Wie solch ein Prozess aussehen kann und welche Chancen und Herausforderungen damit verbunden sind, untersucht Gabi Elverich in ihrer Dissertation „Demokratische Schulentwicklung. Potenziale und Grenzen einer Handlungsstrategie gegen Rechts- extremismus“. Von 2002 bis 2005 begleitete sie das Modellprojekt „Demokratie in der Schule“, welches an einer (ostdeutschen) Sekundarschule in Kooperation mit einem externen Beratungsteam als Reaktion auf rechte Tendenzen in der Schülerschaft initiiert wurde. Damit greift die Autorin ein seit den 1990er Jahren existierendes Forschungsde- siderat nach systematischen und längerfristigen Forschungsaktivitäten zum Umgang mit Rechtsextremismus auf. Im Zentrum ihrer Analyse steht weniger die Frage, ob Demo- kratische Schulentwicklung geeignet ist, rechtem Denken und Handeln entgegenzuwir- ken (dazu verweist sie auf andere Untersuchungen, vgl. S. 111), sondern der Verlauf des Prozesses sowie die prozessfördernden und -hemmenden Kriterien, welche „(…) ihn im Zusammenspiel von Handeln und Strukturen beeinflussen“ (S. 15). Akteur_innen und der Fachöffentlichkeit wird damit Einblick in einen sonst nur von außen betrachtbaren Pro- zess gewährt. Z Erziehungswiss (2013) 16:659–662 DOI 10.1007/s11618-013-0371-7 Demokratische Schulentwicklung Anja Thiele Online publiziert: 10.08.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 A. Thiele () Schulpädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Schulentwicklungsforschung, Universität Leipzig, Dittrichring 5–7, 04109 Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected]

Demokratische Schulentwicklung

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Rezension zu

Gabi Elverich: Demokratische Schulentwicklung. Potenziale und Grenzen einer Hand-lungsstrategie gegen Rechtsextremismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 448 S. ISBN 978-3-531-17858-5. Preis: 39,95 €.

Wie die jüngste Verbreitung der sogenannten „schulhof CD“ der nPD Anfang des Jahres 2013 gezeigt hat, sind schulen nach wie vor mit Rechtsextremismus konfrontiert. ebenso wies die im november 2012 der Öffentlichkeit vorgestellte studie von Decker et al. (2012) „Die Mitte im Umbruch“ auf zunehmende rechte einstellungen unter Jugendlichen hin (vgl. ebd., s. 42). Gleichzeitig sind schulen durch ihren demokratischen Bildungsauftrag dafür verantwortlich, „(…) die politische sozialisation von Jugendlichen gezielt durch die Vermittlung demokratischer Werte und politischer Inhalte zu beeinflussen“ (Elverich 2011, s. 46).

Wie solch ein Prozess aussehen kann und welche Chancen und Herausforderungen damit verbunden sind, untersucht Gabi elverich in ihrer Dissertation „Demokratische schulentwicklung. Potenziale und Grenzen einer Handlungsstrategie gegen Rechts-extremismus“. Von 2002 bis 2005 begleitete sie das Modellprojekt „Demokratie in der schule“, welches an einer (ostdeutschen) sekundarschule in Kooperation mit einem externen Beratungsteam als Reaktion auf rechte Tendenzen in der schülerschaft initiiert wurde. Damit greift die Autorin ein seit den 1990er Jahren existierendes Forschungsde-siderat nach systematischen und längerfristigen Forschungsaktivitäten zum Umgang mit Rechtsextremismus auf. im zentrum ihrer Analyse steht weniger die Frage, ob Demo-kratische schulentwicklung geeignet ist, rechtem Denken und Handeln entgegenzuwir-ken (dazu verweist sie auf andere Untersuchungen, vgl. s. 111), sondern der Verlauf des Prozesses sowie die prozessfördernden und -hemmenden Kriterien, welche „(…) ihn im Zusammenspiel von Handeln und Strukturen beeinflussen“ (S. 15). Akteur_innen und der Fachöffentlichkeit wird damit einblick in einen sonst nur von außen betrachtbaren Pro-zess gewährt.

z erziehungswiss (2013) 16:659–662Doi 10.1007/s11618-013-0371-7

Demokratische Schulentwicklung

Anja Thiele

Online publiziert: 10.08.2013 © springer Fachmedien Wiesbaden 2013

A. Thiele ()schulpädagogik unter besonderer Berücksichtigung von schulentwicklungsforschung, Universität Leipzig, Dittrichring 5–7, 04109 Leipzig, Deutschlande-Mail: [email protected]

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nach einer umfassenden einführung in die Thematik und den aktuellen Forschungs-stand um Rechtsextremismus und schule wird deutlich, dass die Arbeit an dieser Disserta-tion circa acht Jahre in Anspruch genommen hat. Die informationen zum Thema und zum Forschungsstand sind gleichwohl – zumindest für den zeitraum des erscheinungsdatums 2011 – sehr aktuell und umfassend. Den Ausführungen zu aktuellen entwicklungen des Phänomens, vor allem der schulrelevanten erscheinungs- und Präventionsformen, ist deutlich anzumerken, dass Gabi elverich über die Grenzen ihrer Arbeit hinaus über eine beachtliche expertise verfügt. ihre Tätigkeit als Referentin für politische Bildung sowie die weiteren Erfahrungen mit der Institution Schule tragen zu einer reflektierten Vorstel-lung des Bildungsauftrages von schule sowie der damit einhergehenden implikationen für schulische Rechtsextremismusprävention bei. nach der Darstellung verschiedener Ansätze in diesem Bereich stellt sie ausführlich das von 2002 bis 2007 existierende Pro-gramm „Demokratie lernen und leben“ der Bund-Länder-Kommission vor. Dabei setzt sich die Autorin kritisch mit dem darin angestrebten Partizipationsansatz auseinander, bevor sie abschließend schulentwicklung im Allgemeinen und demokratische schulent-wicklung im Besonderen theoretisch diskutiert. insgesamt bietet sie im ersten Viertel des Buches eine fundierte und kritische theoretische Verortung ihres Forschungsthemas. Bemerkenswert ist dabei ihre Präsentationsform, die auch Personen ohne umfassende Vorkenntnisse an die Relevanz des Themas und den Kontext der schulentwicklungsfor-schung heranzuführt, ohne sich dabei in einzelnen Mikrokosmen zu verlieren.

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den Fragestellungen und Forschungsper-spektiven ihrer Dissertation. zunächst wird dazu der strukturelle Ablauf des von ihr unter-suchten Modellprojekts „Demokratie in der schule“ vorgestellt, bevor sie intensiv die „Theorie der reflexiven Strukturierung“ von Antohny Giddens erläutert, da diese von ihr als Analyserahmen für die Untersuchung angewendet wird. Darauf aufbauend formuliert sie die Forschungsfragen für ihre Arbeit und lenkt den Fokus auf den Prozessverlauf der Untersuchung. Die große Herausforderung ihrer Arbeit ist es, ein prozessorientiertes Ver-fahren zur erforschung längerfristiger Veränderungsprozesse zu entwickeln und zu erpro-ben, in das auch unerwartete entwicklungen im Prozessverlauf integriert werden können.

Methodologisch handelt es sich bei Gabi elverichs Forschungsarbeit um eine explora-tive einzelfallstudie, die in der qualitativen schulbegleit- und evaluationsforschung ver-ortet werden kann. Dem Wissenschaftsverständnis des interpretativen Paradigmas sowie der Forschungslogik der Grounded Theory folgend versucht sie die Prozessdynamik zu rekonstruieren und die Perspektiven der Beteiligten sowie deren Wissensbestände und interaktionen nachzuvollziehen, anstatt (generalisierte) Annahmen zu überprüfen. Dazu wählt sie ein mehrperspektivisches Vorgehen: Teilnehmende Beobachtung, Dokumenten-analyse sowie Problemzentrierte interviews mit ausgewählten expertinnen und experten des Prozessgeschehens. Die Kapitel zu den Forschungsperspektiven und zum Untersu-chungsdesign erfüllen den wissenschaftlichen Anspruch der Forschungsarbeit und setzen beim Leser Grundkenntnisse empirischer sozialforschung voraus. Gleichzeitig lohnt sich die Lektüre der Kapitel, da sie es schafft den sozial- bzw. politikwissenschaftlichen Anspruch ihres Vorgehens verständlich mit der Praxis des schulentwicklungsprozesses zu verknüpfen. Dazu arbeitet sie kontinuierlich mit Visualisierungen, um den Überblick über die involvierten Personengruppen oder auch die Verbindung von Theorie und Praxis herzustellen, was – meiner Meinung nach – jedoch nicht immer ersichtlich wird.

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im zweiten Drittel des Buches erfolgt die Darstellung des Prozessgeschehens sowie dessen Analyse. Dazu widmet die Autorin allen Phasen des schulentwicklungsprozes-ses ein Unterkapitel, wobei jedes dem gleichen Aufbau folgt: zunächst beschreibt sie den Prozess und analysiert im Anschluss die Perspektiven aller Akteurinnen und Akteure (schulleitung, Beratung, eltern, schülerschaft, Lehrkräfte), bevor es am ende jedes Unterkapitels eine zwischenbilanz bzw. zusammenfassung und ein Fazit gibt. Vor dem Hintergrund des interpretativen Paradigmas ist es nur folgerichtig, dass dies so ausführlich geschieht. Die zwischenbilanzen ermöglichen dem Lesenden jedoch auch eine Abkür-zung der Analyse, da sich der erkenntnisgewinn der ausführlichen Akteursperspektiven in Grenzen hält. Gleichwohl besitzt die nahezu dokumentarische Darstellung des Pro-zessgeschehens auch einen gewissen Unterhaltungswert, da die Prozessdynamik unvor-hersehbare Wendungen nimmt. Der empirische Teil der Forschungsarbeit vermag es, in den Darstellungen der einzelnen Prozessphasen ein aufschlussreiches Bild über einen exemplarischen Verlauf eines Prozesses demokratischer schulentwicklung zu vermitteln. Darüber hinaus enthalten die zwischenbilanzen und das abschließende Prozessbilanzka-pitel zu den förderlichen und hinderlichen Einflussfaktoren auf den Umsetzungsprozess viele Hinweise für die praktische Umsetzung eines solchen Prozesses und sind somit von besonderem Wert.

in Kap. 6 gelingt der Autorin eine Abstrahierung und wissenschaftliche einbettung der Prozesspraxis in die wissenschaftliche Theorie und Literatur. Die vertiefende Analyse der strukturellen Bedingungen und der kommunikativen zusammenhänge im implemen-tierungsprozess ermöglichen Aufschlüsse zur Übertragbarkeit dieser einzelfallstudie auf weitere schulentwicklungsprozesse und bietet viele praktische Hinweise für die Umset-zung. Der Bezug zu den Potentialen und Grenzen des Prozesses als Handlungsstrategie gegen Rechtsextremismus ist jedoch schwer, da es während des Prozessverlaufs ihrer Untersuchung eine inhaltliche Wandlung weg vom Thema „Rechtsextremismus“ hin zum Thema „schulqualität“ gab. Gabi elverich diskutiert diese Frage trotzdem, auch wenn der erkenntnisgewinn hierbei leider unbefriedigend bleibt.

Vor dem Hintergrund ihrer ergebnisse und erfahrungen scheut sich die Autorin nicht, in ihrem das Buch abschließenden Fazit eine nüchterne und konstruktive Bilanz des Pro-zesses zu ziehen, Forderungen zu formulieren und Forschungslücken zu benennen.

obgleich es mittlerweile vergleichsweise viele Veröffentlichungen zum Thema „Demo-kratiepädagogik“ und einige Literatur über Maßnahmen von schulen zum Umgang mit Rechtsextremismus gibt, ist die verbindende Betrachtung beider Themen ein Alleinstel-lungsmerkmal. Durch den persönlichen erfahrungsschatz der Autorin liest sich die theo-retische Argumentation stets reflektiert und nachvollziehbar. Auch wird die Arbeit von Gabi elverich den zielgruppen (schulische und außerschulische Praktikerinnen und Prak-tiker sowie interessiertes Fachpublikum) gerecht. ihr schreibstil ist verständlich und wis-senschaftlich, ohne zu überfordern. Fraglich bleibt für mich, ob die Quantität des Textes der Qualität der erkenntnisse gerecht wird, auch wenn es dem Buch gelingt, die Chancen und Herausforderungen des Prozesses demokratischer schulentwicklung konstruktiv zu analysieren.

Was die studie nicht leistet, ist eine allgemeine Beschreibung der Möglichkeiten und Grenzen schulischen Handelns gegen Rechtsextremismus oder ein Überblick über das breite Feld eines möglichen Vorgehens gegen rechte Tendenzen an einer schule. Wer

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sich jedoch für die Frage danach, wie schulen unter bestimmten institutionellen Voraus-setzungen die Aufgabe demokratischer schulentwicklung umsetzen können, interessiert oder wissen möchte, wie die zusammenarbeit mit externer Beratung dabei funktionieren kann bzw. worauf dabei zu achten ist, dem sei das Buch sehr empfohlen.

Literatur

Decker, o., Kiess, J., & Brähler, e. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Bonn: Dietz.