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DEN VERGESSENEN OPFERN DES VERNICHTUNGSKRIEGES EIN GESICHT GEBEN

Den vergessenen Opfern Des vernichtungskrieges ein gesicht ......Stalag 326 VI K Senne (NordrheinWestfalen), die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain (Sachsen), die Gedenkstätte Lager

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  • Den vergessenen Opfern Des vernichtungskrieges ein gesicht geben

  • Das vorgelegte Projekt zur Errichtung eines Gedenk-ortes für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik im Berliner Tiergarten wurde 2013 initiiert. Es ist in einer Reihe von wissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen überprüft und begründet worden.

    Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur, der Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in Berlin- Brandenburg, die großen KZ-Gedenkstätten sowie zahlreiche andere Einrichtungen des Gedenkens unterstützen das Bestreben der Initiative.

    Inhaltsverzeichnis

    Warum dieser Gedenkort endlich errichtet werden muss 5

    Zum Konzept des Gedenkortes 7

    ■ Politische Entscheidung 7■ Dimension, Gestaltung und Kosten 7■ Bestimmung des Gedenkortes 8■ Mögliche Standorte 10 ■ Unterstützung der Forderung in Fachwissenschaft und Gedenkstätten 13■ Th ematisierung der deutschen Verantwortung in der Bundespolitik 14

    Historisches Memo 17

    Autoren: Dr. Peter Jahn, Historiker und Slawist, von 19952006 Leiter des DeutschRussischen Museums BerlinKarlshorst.Daniel Ziemer, Historiker und Kurator.

    Herausgeber: Initiative »Gedenkort für die Opfer der NSLebensraumpolitik«, Mai 2016. www.gedenkortlebensraumpolitik.deInitiative »Gedenkort für die Opfer der NSLebensraumpolitik«c/o KONTAKTEKOHTAKTbI e. V.Feurigstraße 68 | 10827 BerlinTel.: +493078 70 52 88 | Fax: +493078 70 52 89EMail: [email protected]

    Die Initiative wird unterstützt durch den Verein KONTAKTEKOHTAKTbI e. V.

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    Bis heute fehlt im Berliner Zentrum eine sichtbare Erinnerung an eine der größten Opfergruppen nationalsozialistischer Verbrechen. Bewohner Osteuropas wurden millionenfach ermordet und vertrieben, um Ernährung und »Lebensraum« für das Deutsche Reich zu gewinnen.

    Wir müssen an einem solchen Ort erinnern an 2,8 bis 3,3 Millionen sowjetische Kriegs gefangene, die in deutschem Gewahrsam ums Leben kamen.

    Wir müssen an einem solchen Ort erinnern an bis zu drei Millionen Frauen, Männer und Kinder, die in Polen und auf dem Gebiet von Belarus, der Ukraine oder Russlands starben, ■ als zivile Opfer der Mordaktionen gegen

    das polnische Bürgertum,■ als zivile Opfer der Blockade von Leningrad,■ als zivile Opfer der deutschen Hungerpolitik

    in der Sowjetunion,■ als zivile Opfer der mörderischen Wider

    standsbekämpfung in Dörfern,

    ■ als zivile Opfer der Niederschlagung des Warschauer Aufstands,

    ■ als zivile Opfer der Politik der »Verbrannten Erde«.

    Bisher ist das Schicksal dieser Menschen im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit kaum präsent.

    Mit der Errichtung eines zentralen Gedenkortes in Berlin, ergänzend zu den vier Denkmälern für die NSOpfergruppen am Tiergarten, gibt die Bundesrepublik Deutschland ein wichtiges Signal nach innen und nach außen.

    Der Gedenkort zeigt, dass auch diese Opfer nach einer langen Zeit des Verdrängens Teil der deutschen Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus sind – und dass die Bundesrepublik Deutschland zu dieser Verantwortung steht.

    Warum Dieser geDenkOrt enDlich errichtet WerDen muss

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    pOlitische entscheiDung

    Grundlage für die Errichtung eines solchen Gedenkortes sollte, wie bei den vier bereits entstandenen Denkmälern am Tiergarten für die großen Opfergruppen der NSVerbrechen, ein Beschluss des Deutschen Bundestages sein. Damit unterstreicht das Parlament, dass auch dieser Erinnerungsort die gesamtstaatliche Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für das Gedenken an die NSVerbrechen repräsentiert.

    Sinnvoll erscheint eine vorangehende ExpertenAnhörung im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages mit Historiker/innen und Vertreter/innen von Gedenkstätten. Thema sollte der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung sein, der sich vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt und seither deutlich differenziert hat, sowie der Stellenwert dieses Verbrechenskomplexes innerhalb des NSGewaltsystems. Schließlich ist dessen kaum präsente Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit zu thematisieren.

    DimensiOn Des Ortes

    Der Gedenkort sollte eine überschaubare Größe haben, vergleichbar mit den Gedenkorten für die ermordeten Sinti und Roma und für die »Euthanasie«Opfer. Wie letzterer sollte er als Grundlage der symbolischarchitektonischen Erinnerung zentrale Informationen zu den Opfern und zu den Zusammenhängen der Verbrechen bereitstellen. Er kann jedoch keine vergleichbar komplexe und ausführliche Wissensvermittlung leisten wie etwa der »Ort der Information« des Denkmals für die ermordeten Juden Europas.

    gestaltung

    Die architektonische und künstlerische Gestaltung des Gedenkortes sollte durch einen (offenen oder beschränkten) Wettbewerb entschieden werden.

    Die inhaltlichen Schwerpunkte sollte ein Expertengremium von Historiker/innen sowie Vertreter/innen von Gedenkstätten bestimmen. Verantwortlich für die Errichtung könnte die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas oder eine andere einschlägig thematisch verbundene Institution sein (z. B. Stiftung Topographie des Terrors, Deutsches Historisches Museum Berlin).

    kOsten

    Der Kostenrahmen für die Errichtung des Gedenkortes sollte sich in etwa an der – wenngleich sehr knappen – Kalkulation für den 2014 eröffneten Gedenk und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«Morde orientieren. Dieser Gedenkort wurde mit Gesamtkosten von 930.000 Euro (Ausstellung und Gestaltung des Umfeldes) realisiert.

    Der Gedenkort sollte nach seiner Fertigstellung von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas betreut werden, analog der Gedenkorte für die ermordeten Sinti und Roma, verfolgten Homosexuellen und »Euthanasie«Opfer.

    Plakataktion nach der Gedenklesung »Den vergessenen Opfern des Vernichtungskrieges eine Stimme geben« am 14. September 2014

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    Verweis auf dezentrale Gedenkstätten

    Der Gedenkort soll auch auf die schon vorhandenen dezentralen Gedenkstätten in Deutschland zu diesen Opfergruppen des Vernichtungskrieges aufmerksam machen, da sie vertiefende Informationen zum Thema ermöglichen. Besonders wichtig ist hier das DeutschRussische Museum BerlinKarlshorst, welches ausführliche und komplexe Informationen vor allem zum DeutschSowjetischen Krieg 1941–1945 eindringlich vermittelt.

    Daneben sollte auf mit meist geringen Mitteln arbeitenden Gedenkstätten an authentischen Orten verwiesen werden, etwa die Dokumentationsstätte Stalag 326 VI K Senne (NordrheinWestfalen), die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain (Sachsen), die Gedenkstätte Lager Sandbostel (Niedersachsen) oder der Gedenkort Hebertshausen bei Dachau (Bayern).

    bestimmung Des geDenkOrtes

    Das Denkmal soll an die Millionen Opfer der nationalsozialistischen Mordpolitik in Osteuropa erinnern und zugleich das Gedenken an sie dauerhaft wachhalten. Der Ort unterstreicht die Verantwortung der heutigen Bundesrepublik für dieses schwere historische Erbe. Er richtet sich, 70 Jahre nach dem Vernichtungskrieg, an die heutige Gesellschaft und soll ein breites Wissen und Bewusstsein dieser für die nationalsozialistische Herrschaft prägenden Verbrechen anstoßen. Zugleich soll er eine Stätte des Gedenkens für Angehörige und Nachkommen der Opfer sein.

    Angesichts der in Deutschland bisher kaum bekannten Dimension der Verbrechen gegen die nichtjüdische Bevölkerung Osteuropas muss der Gedenk ort über eine symbolische Aussage hinaus grund legende historische Informationen bereitstellen. Diese Informationsebene soll den ideologischen Zusammenhang der rassistischen Mordpolitik für »deutschen Lebensraum« ver deut lichen. Sie soll die tatsächliche Vielfalt der von den Nationalsozialisten gleichermaßen als »Slawen« verfolgten Opfergruppen aufzeigen. Und sie soll vor allem an das Schicksal der verfolgten Frauen, Männer und Kinder erinnern.

    Biografischer Schwerpunkt

    Sinnvoll erscheint eine Orientierung an einzelnen Biographien von Opfern der NSVerbrechen. Sie geben den vergessenen Opfern des Vernichtungskrieges ein Gesicht und eine Geschichte. Damit öffnen sie einen empathischen Zugang zu den Schicksalen der mehrheitlich fern der heutigen Grenzen Deutschlands verfolgten und ermordeten Menschen.

    Die Initiative Gedenkort für die Opfer der NSLebensraumpolitik hat bereits im Herbst 2014 erstmals mit einer Plakataktion an der Straße des 17. Juni, gegenüber dem Sowjetischen Ehrenmal, auf die vergessenen Opfer aufmerksam gemacht. Die Porträts von fünf Personen waren auf großformatigen Tafeln zu sehen, die exemplarisch für verschiedene Opfergruppen der nationalsozialistischen Verfolgung standen: von einem polnischen Geistlichen über ein Mädchen im belagerten Leningrad und eine weißrussische Dorfbewohnerin bis zu zwei sowjetischen Kriegsgefangenen.

    Stelen mit den Namen von 7683 Kriegsgefangenen auf dem Friedhof Jacobsthal, 2014. Bildnachweis: Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain.

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    stanDOrt

    Ohne andere Standorte auszuschließen, eignen sich drei Plätze im Berliner Zentrum konzeptionell für die Einrichtung eines solchen Gedenkortes.

    Möglicher Standort am Lustgarten auf der Museumsinsel

    Der Lustgarten war 1942 Standort der nationalsozialistischen PropagandaAusstellung »Das Sowjetparadies«. Die rassistische Argumentation der Ausstellung sollte den Krieg gegen die Sowjetunion und die brutale Härte des Vorgehens rechtfertigen. Vorteile: Historischer Bezug zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg. Repräsentativer Ort im Stadtzentrum.

    Nachteile: Weitere Entfernung zu den anderen Gedenkorten der großen NSVerbrechen.

    Möglicher Standort an der Gertrud-Kolmar-Straße

    Am historischen Ort der Reichskanzlei sowie des »Führerbunkers«, unweit des heutigen Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Vorteile: Räumlicher Bezug zu den Planungsstätten des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges. Direkte Nähe zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Dies unterstreicht den inhaltlichen Zusammenhang von Holocaust und Ideologie des »Lebensraumes im Osten«.

    Menschenmenge vor dem Eingang der

    nationalsozialis tischen Propaganda-Ausstellung

    »Das Sowjetparadies« im Jahr 1942 am Berliner Lustgarten;

    Bildnachweis: Deutsches Historisches Museum/Oskar

    Dahlke, BA008773.

    Blick von der Südostseite des Denkmals für die ermordeten

    Juden Europas auf die Gertrud-Kolmar-Straße, April 2016.

    Berliner Dom

    Altes Museum Spree

    Zeughaus

    BaustelleBerliner Stadtschloss

    Schlossbrücke

    LustgartenHanna

    h-Arendt-Stra

    ße

    Denkmal für die ermordeten Juden

    E uropas

    Gertrud-Kolmar-Straße

    Eber

    tstra

    ße

    In den Ministergärten

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    Möglicher Standort im Tiergarten an der Straße des 17. Juni Mit räumlichem Bezug zum Sowjetischen Ehrenmal, das 1945 in Erinnerung an die im Kampf um Berlin gefallenen Soldaten der Roten Armee errichtet wurde. Wie bei anderen Ehrenmälern der Nachkriegszeit waren die sowjetischen Kriegsgefangenen nicht einbezogen.

    Zwei mögliche Standorte:

    ■ Südseite der Straße, direkt gegenüber dem Ehrenmal.■ Nordseite der Straße, seitlich neben dem Ehrenmal in Richtung

    Brandenburger Tor.

    Vorteile: Der direkte Bezug zum sowjetischen Ehrenmal trägt dazu bei, dessen Monumentalität zu relativieren und zugleich seine Existenz in Berlin verständlich zu machen. Räumliche Nähe zu den vier anderen Gedenkorten.

    Zahlreiche Fachwissenschaftler haben bereits 2013 einen Aufruf für einen Ort der Erinnerung an die Opfer der NSLebensraumpolitik in Osteuropa unterzeichnet, darunter Prof. Stefanie SchülerSpringorum, Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, die NSForscher Prof. Michael Wildt und Prof. Peter Steinbach sowie Prof. Stefanie Endlich, Expertin für Gedenkkultur im öffentlichen Raum. Auch Personen der Öffentlichkeit wie Stephan Kramer, Lea Rosh, Egon Bahr und Walter Momper unterzeichneten den Aufruf.

    Prof. Johannes Hürter, Leiter der Abteilung Zeitgeschichte im Institut für Zeitgeschichte MünchenBerlin, unterstrich in einer gemeinsamen Veranstaltung des Instituts mit der Initiative Gedenkort im September 2015 seine Unterstützung der Einrichtung eines Gedenkortes.

    Der Arbeitskreis der NSGedenkstätten in BerlinBrandenburg fordert in einer Resolution vom Dezember 2014 einen Gedenkort für die Opfer der deutschen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Dem Arbeitskreis gehören unter anderem das Deutsche Historische Museum, das Jüdische Museum Berlin, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam an.

    Seitdem ist die Resolution bundesweit von zahlreichen NSGedenkstätten unterzeichnet worden, darunter den KZGedenkstätten Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Neuengamme und Sachsenhausen sowie dem NSDokumentationszentrum München.

    Bei der Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages im Mai 2015 zur Frage der Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener betonte u.a. die Sachverständige Prof. Dr. Beate Fieseler von der Universität Düsseldorf:

    »Im Bereich der Memorialkultur ist sicher immer noch diese große Leerstelle vorhanden, dass an diverse Opfergruppen gedacht wird, aber die sowjetischen Kriegsgefangenen, die nach den Juden die zweitgrößte Opfergruppe sind, die haben dort keinen Platz. Ich würde mir schon wünschen, dass – auch, wenn der Deutsche Bundestag sich entschließen sollte, diese symbolische finanzielle Anerkennung zu leisten – dass es auch noch etwas gibt, was längere Nachhaltigkeit entfaltet. Denn eine solche Aktion wird nach einer gewissen Zeit aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden sein.«

    Blick vom Tiergarten über die Straße des 17. Juni zum

    Sowjetischen Ehrenmal, April 2016.

    Podiumsdiskussion in der Topographie des Terrors unter dem Titel »Erobern und Vernichten (1939 – 1945). ›Slawen‹ – Eine verdrängte Opfergruppe?« am 20. Mai 2014.

    unterstützung Der fOrDerung Durch fachWissenschaft unD geDenkstätten

    Reichstag

    Scheidemannstraße

    Tiergarten

    Denkmal für die ermordeten Sinti und

    Roma Europas

    Tiergarten

    Sowjetisches Ehrenmal

    Straße des 17. Juni

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    thematisierung Der Deutschen verantWOrtung in Der bunDespOlitik

    Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zu sowjetischen Kriegsgefangenen am 6. Mai 2015 in Schloß Holte-Stukenbrock

    Hier in Schloß HolteStukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg: Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden – sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch nach Kriegsvölkerrecht und inter nationalen Verabredungen in der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen. [...]

    Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen – Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjetunion gehörten. […]

    Für uns bleibt festzuhalten, dass der millionenfache Tod derer, die unter der Ver antwortung der Deutschen Wehrmacht starben, ›eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs‹ gewesen ist. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht.

    Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen – es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten.

    Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zur Belagerung Leningrads am 27. Januar 2014 im Deutschen Bundestag

    Der rassenideologische Raub und Vernichtungskrieg, dessen erklärter Zweck die ›Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen‹ war, bediente sich einer weiteren Waffe: des Hungers. Sie erwies sich dort am brutalsten, wo es kein Entkommen gab: im eingeschlossenen Leningrad und in den Kriegsgefangenenlagern.

    Die menschlichen Tragödien, die sich in der belagerten Millionenmetropole abspielten, sind uns heute völlig unvorstellbar. Lange Zeit waren sie, zumindest im Westen Deutschlands, auch wenig bekannt. Die Erinnerung an den Russlandfeldzug war in der jungen Bundesrepublik von der Tragödie bei Stalingrad in ihrer besonderen deutschen Wahrnehmung dominiert; die Belagerung Leningrads und die dem Hunger preisgegebenen Zivilisten fanden im Mythos einer vermeintlich ›sauberen Wehrmacht‹ keinen Platz.

    Rede von Gernot Erler, Russland-Beauftragter der Bundesregierung, zu bela russischen Opfern des Nationalsozialismus am 4. Mai 2015 in Minsk

    Der Vernichtungsort Trostenez steht stellvertretend für die deutschen Verbrechen in Belarus. Hier in Trostenez fielen während der deutschen Besatzungszeit Angehörige der belarussischen Zivil bevölkerung, Häftlinge, belarussische Partisanen und sowje tische Kriegsgefangene deutschen Kriegsverbrechen zum Opfer. Belarussische und auch west europäische Juden wurden hier Opfer des NSRassenwahns. Im Namen der Bundes regierung und auch persönlich für meine Person bitte ich um Vergebung für die von Deutschen in Belarus begangenen Verbrechen und ich verneige mich vor den Opfern.

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    Vernichtung des polnischen Bürgertums und der Intelligenz

    Die Nationalsozialisten verfolgten seit Kriegsbeginn das erklärte Ziel der Zerstörung einer polnischen Identität durch die Verhaftung und Ermordung der Führungsschicht. Bereits bis Ende 1939 waren 40 000 Polen ermordet worden. Parallel begann die Vertreibung polnischer Bevölkerung aus Westpolen im Namen »deutschen Lebensraumes«. Über 800 000 Menschen wurden mit den nur in ersten Ansätzen verwirklichten Deportationsplänen vertrieben.

    Der Führer hat mir gesagt: […] Was wir jetzt an Führungsschicht in Polen festgestellt haben, das ist zu liquidieren, was wieder nachwächst, ist von uns sicherzustellen und in einem entsprechenden Zeitraum wieder wegzuschaffen.

    Hans Frank, Generalgouverneur des besetzten Polens, auf einer Polizeisitzung am 30. Mai 1940, in: Immanuel Geiss/Wolfgang Jacobmeyer, Deutsche Politik in Polen 1939–1945. Aus dem Diensttagebuch von Hans Frank, Opladen 1980, S. 71.

    Nach dem Willen des Führers soll in kürzester Zeit aus dem polnisch bestimmten Pommerellen ein deutsches Westpreußen entstehen. Zur Durchführung dieser Aufgaben machen sich nach übereinstimmender Ansicht aller zuständigen Stellen folgende Maßnahmen notwendig:1. Physische Liquidierung aller derjenigen polnischen Elemente, diea) In der Vergangenheit auf polnischer Seite irgendwie führend hervorgetreten sind oderb) In Zukunft Träger eines polnischen Widerstandes sein können. 2. Aussiedlung bzw. Umsiedlung aller »ansässigen Polen« … aus Westpreußen

    Aus dem Lagebericht des Leiters des SDEinsatzkommandos 16, SSSturmbannführer Franz Röder vom 20. Oktober 1939, Zst. Ludwigsburg, 203 AR – Z 313/59, hier Dok. 22 Js 156/61, S. 5.

    histOrisches memO: zielsetzungen unD methODen Der ns-lebensraumpOlitik in pOlen unD Der sOWjetuniOn 1939 bis 1945

    Kertsch auf der Halbinsel Krim, Januar 1942, Trauer um getötete Angehörige (Dmitrij Baltermanz, Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Kinofotodokumentov, Krasnogorsk)

  • 1918

    Deutsche Planung eines Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion

    Mit der Kriegsplanung gegen die Sowjetunion reagierte die deutsche Führung nicht nur auf die Kriegslage, sondern wollte damit zugleich ein zentrales Ziel der NSIdeologie – die Eroberung von Lebensraum in Osteuropa und dessen deutsche Besiedlung unter Vernichtung und Verdrängung der Bevölkerung – verwirklichen.

    Der Krieg gegen Russland ist ein wesentlicher Abschnitt im Daseinskampf des deutschen Volkes. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitischasiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus.Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russland zum Ziele haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden. Jede Kampfhandlung muss in Anlage und Durchführung von dem eisernen Willen zur erbarmungslosen völligen Vernichtung des Feindes geleitet sein. Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger des heutigen russischbolschewistischen Systems.

    Anlage Nr. 2 zur Aufmarsch und Kampfanweisung »Barbarossa« der Panzergruppe 4 (General Hoepner) vom 2. Mai 1941, in: BundesarchivMilitärarchiv, LVI.A.K., 17 956/7a.

    1.) Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. 2.) Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.

    Aktennotiz über eine Besprechung von mehreren Staatssekretären und führenden Wehrmachtsoffizieren am 2. Mai 1941 zu den kriegswirtschaftlichen Konsequenzen des geplanten »Unternehmens Barbarossa« , in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 31, Nürnberg 1948, S. 84 (Dok. 2718PS).

    Hungertod der Leningrader Bevölkerung

    Im September 1941 war die Frontlinie der Wehrmacht an die Millionenstadt Leningrad herangerückt. Nach verschiedenen Überlegungen fiel der politische Beschluss, die Stadt nicht zu besetzen, sondern abzuriegeln und die drei Millionen Einwohner dem Hungertod preiszugeben. Auch wenn die Blockade nicht lückenlos war, starben aufgrund unzureichender Versorgung in den zweieinhalb Jahren der Belagerung 800 000 bis 1.000 000 Einwohner der Stadt, vor allem Frauen und Kinder.

    Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass insbesondere Leningrad verhungern muss, denn es ist unmöglich, diese Stadt zu ernähren. Aufgabe der Führung kann es nur sein, die Truppe hiervon und von den damit verbundenen Erscheinungen fern zu halten.

    Generalquartiermeister Eduard Wagner auf einer Chefbesprechung der Armeeoberbefehlshaber am 13. November 1941 in Orscha, in: Staatsarchiv Nürnberg, NOKW1535.

    Flächendeckende Hungerpolitik gegen sowjetische Städte und Regionen

    Die deutsche Besatzungspolitik war in den verschiedenen Regionen der Sowjetunion und Polens keineswegs einheitlich. In vielen Regionen sowie vor allem in den großen Städten nahm die systematische Unterversorgung der Bevölkerung lebensbedrohliche Ausmaße an. Die Dimension der Opferzahlen dieser Hungerpolitik ist bisher nur vage einzuschätzen. Allein in Charkow gab es im Laufe eines Jahres 12 000 Hungertote. Auch die ländliche Bevölkerung wurde in vielen Regionen ausgeraubt (»Kahlfraßzonen«) und damit dem Hungertod preisgegeben. Die geschätzte Dunkelziffer all dieser Opfer liegt mindestens im hohen sechsstelligen Bereich.

    Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob beim Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur soweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.

    Rede des Reichsführers SS Heinrich Himmler auf der SSGruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 29, Nürnberg 1948, S. 118 u. 122.

  • 2120

    Mord und Hungertod der sowjetischen Kriegsgefangenen

    Durch anfängliche militärische Erfolge der Wehrmacht gerieten 1941 drei Millionen Soldaten der Roten Armee in deutsche Gefangenschaft. Von ihnen war im Mai 1942 nur noch eine Million Kriegsgefangene am Leben. Die große Mehrheit verhungerte unversorgt in deutschen Lagern, die sich von der Ukraine bis in den Westen des Deutschen Reiches erstreckten. Darüber hinaus waren an die 100 000 Soldaten als mögliche politische Feinde oder wegen körperlicher Schwäche erschossen worden, darunter bis zu 10 000 Politoffiziere der Roten Armee. Die Hungerpolitik gegenüber den Kriegsgefangenen 1941–42 erfolgte zielgerichtet.

    Nach dem Scheitern des Blitzkriegsplans wurden Kriegsgefangene zunehmend als Arbeitskräfte gebraucht, zugleich galten sie unter den rassistischen Prämissen des Nationalsozialismus weiterhin als große Gefahr. Trotz etwas verbesserter Ernährung blieb die Sterblichkeit unter den Gefangenen hoch, von 1942 bis 1945 verlor eine weitere Million sowjetischer Kriegsgefangener das Leben.

    Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare.Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine hasserfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten. […]2.) Die Urheber barbarischasiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. Gegen diese muss daher sofort und ohne weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden.Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen.

    »Kommissarbefehl«, Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht vom 6. Juni 1941, in: BundesarchivMilitärarchiv, RH 2/2082.

    Grigorij Fomenko, geboren am 15. April 1915 im Gebiet Krasnodar, Arbeiter. Am 28. Juni 1941 als Unteroffizier der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft gefallen. Im Lager »Stalag 307« versuchte Grigorij Fomenko dem tausendfachen Sterben durch Hunger und Seuchen zu entkommen und wurde am 9. August 1941 bei einem Flucht versuch erschossen. Mehr als drei Millionen sowjetische Soldaten wurden in deutscher Gefangenschaft durch Hunger oder Erschießen getötet.

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    Vernichtung der ländlichen Bevölkerung großer Regionen in Sowjetunion und Polen im Partisanenkampf

    Der Partisanenwiderstand in der Sowjetunion und in Polen wurde für die Nationalsozialisten zum Vorwand für flächendeckende Mordaktionen gegenüber der Zivilbevölkerung. Hunderte Dörfer wurden allein in Weißrussland vernichtet. Die völlige Zerstörung der Dörfer samt der demonstrativen Ermordung ihrer Bewohner stellte nicht eine schreckliche Ausnahme wie in den besetzten Ländern West und Mitteleuropas dar (beispielhaft Lidice, Oradour, Sant’Anna di Stazzema), sondern wurde in Osteuropa zum Regelfall. Auch für diese dezentral verübten Verbrechen liegen keine annähernd exakten Zahlen vor.

    Der ganze Krieg im Osten entsetzlich, allgemeine Verwilderung. Ein junger Offizier erhielt den Befehl, 350 in einer großen Scheune zusammengetriebene Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, niederzumachen, weigerte sich zunächst, … und tat es schließlich, indem er mit einigen Leuten Maschinengewehrfeuer durch das geöffnete Scheunentor in die Menge prasseln ließ und die noch Lebenden mit Maschinenpistole niederknallte. Er war davon so erschüttert, dass er, später leicht verwundet, den festen Entschluss fasste, nicht wieder an die Front zu gehen.

    Tagebuchaufzeichnung des Botschafters a. D. Ulrich v. Hassell vom 18. August 1941, in: Die HassellTagebücher 1938–1944, 3. Aufl., Berlin 1989, S. 265.

    Massenmord und Deportation der Warschauer Bevölkerung

    In den ersten Tagen des Warschauer Nationalaufstandes im August 1944 verübte die WaffenSS in mehreren Stadtteilen Massaker an der unbewaffneten Zivilbevölkerung. Vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens 63 000 Opfern aus. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurden 350 000 bis 550 000 überlebende Stadtbewohner in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit deportiert.

    Herzzerreißende Szenen spielen sich in den brennenden Straßen ab. Die Bevöl kerung sitzt in den Kellern und wird bei den Räumungsaktionen auf die Straße getrieben, Männer, Frauen und Kinder. Gestern wurden nur die Männer, tags zuvor auch Frauen und Kinder getötet. […] Es soll Befehl von Himmler sein, alle Männer umzubringen. Aussage eines Polizeioberleutnants.

    Tagebucheintrag des deutschen Hauptmanns Wilm Hosenfeld als Augenzeuge des Warschauer Aufstands am 8. August 1944, in: Wilm Hosenfeld. »Ich versuche jeden zu retten«, hrsg. von Thomas Vogel, München 2004, S. 824.

    Wanda Jaskewitsch, geboren 1924, lebte bei den Eltern im weißrussischen Dorf Chatyn. Nach einem Gefecht mit Partisanen am 22. März 1943 verbrannten oder erschossen SS und deutsche Polizei 149 Dorfbewohner in einer Scheune – unter ihnen Wanda Jaskewitsch. Nur sechs Menschen überlebten das Massaker. Chatyn war einer von hunderten Orten in Polen, Belarus, der Ukraine und Russland, die samt ihren Einwohnern durch deutsche Einheiten vernichtet wurden.

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    Initiative »Gedenkort für die Opfer der NSLebensraumpolitik«c/o KONTAKTEKOHTAKTbI e. V. | Feurigstraße 68 | 10827 Berlin

    Tel.: +493078 70 52 88 | Fax: +493078 70 52 89 [email protected] | www.gedenkortlebensraumpolitik.de