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Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaſten zu Leipzig Im Auſtrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaſten zu Leipzig herausgegeben von Pirmin Stekeler-Weithofer Heft 11 Denk Leipziger Universitätsverlag 2013 ströme

Denkstroeme- Journal der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Heft11

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  • Journal der Schsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig

    Im Auftrag der Schsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Pirmin Stekeler-Weithofer

    Heft 11Denk

    s t r m e

    Leipziger Universittsverlag 2013

    s t r m e

  • Gedruckt mit Untersttzung des Schsischen Staatsministeriums fr Wissenschaft und Kunst

    Wissenschaftlicher Beirat: Isolde Rske, Wilfried Hofmann, Wolfgang Huschner, Elmar Peschke, Hans Ulrich Schmid, Jrgen Tomas, Hans Wiesmeth, Christian Winter

    Redakteur: Agnes SilberhornRedaktion Denkstrme: Schsische Akademie der Wissenschaften zu LeipzigKarl-Tauchnitz-Str. 1, 04107 Leipzig, [email protected]

    Die Online-Ausgabe ist ber abrufbar. Dort finden sich auch alle Informationen zur Manuskripteinreichung.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet ber abrufbar.

    Jede Verwertung des Werkes auerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzu-lssig und strafbar. Dies gilt insbesondere fr bersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie fr die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. [Der voranstehende Eintrag bezieht sich nur auf die beim Leipziger Universittsverlag er schie nene Druckauflage. Die PDF-Dateien der Online-Ausgabe stehen unter der Crea-tive Commons BY-NC-ND-Lizenz . Fr weitergehende Nutzungen setzen Sie sich bitte mit den jeweiligen Autoren in Ver bindung.]

    2013 Schsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Verlag: Leipziger Universittsverlag

    Gestaltung und Satz: Barbara Zwiener, Schsische Akademie der Wissenschaften zu LeipzigDruck: druckhaus kthen GmbH

    Printed in Germany

    ISSN: 1867-6413

  • Inhaltsverzeichnis

    Editorial 5

    Beitrge

    Hans-Werner Fischer-ElfertMagische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient 9

    Peter DilsNous ne sommes tous que des coliers en fait d'hiroglyphes. Die Bedeutungsfindung des gyptischen Wortschatzes am Beispiel der Lehre fr Kagemni 28

    Tonio Sebastian RichterZwischen der Epoche der Pyramidenbauer und den Anfngen des Christenthums. Sprachwandel im gyptischen Wortschatz und das Leipziger Projekt Database and Dictionary of Greek Loanwords in Coptic (DDGLC) 67

    Christian Martin SchmidtGrenzenlos fortschrittlich Mendelssohns Gattungspoetik rund um das Oratorium 81

    Ralf WehnerZwischen ausgelassener Frhlichkeit und patriotischer Pflichterfl- lung. Zu einigen Mnnerchren von Felix Mendelssohn Bartholdy 87

    Klaus Martin Kopitz und Torsten OltroggeEin Dichter namens Louis du Rieux und Schumanns Mrchen- bilder op. 113. Annherungen an einen geheimnisvollen Verehrer des Komponisten 112

    Denkstrme. Journal der Schsischen Akademie der Wissenschaften | Heft 11 (2013)

  • Diskussionen

    Pirmin Stekeler-WeithoferZur Vornehmheit in der Kunst philosophischer Pbeleien 143

    Berichte & Notizen

    Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Neuerscheinungen

    Beitrag von Thomas Schmidt-Beste und Ralf Wehner 151

    Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe I, Abt. A: Kthen, Band 6

    Beitrag von Klaus Conermann, Andreas Herz und Gabriele Ball 154

    Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Band 7: August 1740 Oktober 1741

    Beitrag von Detlef Dring 158

    Autoren 163

    Inhaltsverzeichnis

  • 5Editorial

    Wissenschaft ist nicht einfach direkte empirische Erforschung von Material, sondern ein nicht immer blo freundliches Gesprch zwischen Wissenschaft-lern. Dass dabei hochspannende Ergebnisse entstehen, sowohl fr unser Ver-stndnis von Sprache und Literatur berhaupt als auch fr einen tiefen Blick in die Vergangenheit, zeigen gleich drei Beitrge zur gyptologie an der Uni-versitt Leipzig und an der Schsischen Akademie der Wissenschaften zu Leip-zig. Hans-Werner Fischer-Elferts medizinische und damit fachsprachliche Analyse einer romanhaften Autobiographie aus der Zeit des Mittleren Reiches (20.18. Jh. v. Chr.) fhrt uns vor, wie Wissen aus verschiedenen Bereichen, hier: zu verschiedenen Textsorten (wie dem Papyrus Ebers) durch Zusammenfh-rung unser Verstndnis weiterbringt. Sinuhe der gypter nicht zu verwech-seln mit der Hauptfigur eines populren historischen Romans unter diesem Titel von Mika Waltari aus dem Jahr 1945, in welcher er die Zeit Echnatons widerspiegeln mchte diagnostiziert in Fischer-Elferts Rekonstruktion seine eigenen seelischen Zustnde, wie z. B. solche ahnungsvoller Angst (bei Sinu-hes Flucht) oder angstvoller Ehrfurcht (bei seiner Rckkehr und Audienz beim Pharao).

    Noch deutlicher wird die dialektische Spannung der Methode der Wis-senschaft zwischen geduldiger eigener Forschung, genialischen Hypothesen und Entwrfen, sorgfltig-kritischen Prfungen und polemischer Kritik, also zwischen antagonistischem Wettbewerb und kooperativer Zusammenarbeit in Peter Dils wunderbarer Geschichte der bersetzung der Lehre fr Kagemni und der Darstellung der Probleme der allgemeinen und kurzen Normierung von Wortbedeutungen im blichen Format des Wrterbuches oder Lexi-kons. Genialische Protagonisten der Entwicklung der Wissenschaft werden dabei aus dem Blick des besseren Wissens spterer Zeit oft polemisch erinnert. Das mag immer auch ungerecht sein wie die gar nicht feine Verballhornung von Johannes Dmichen als dem Dmmlichen auch noch in einem Pseudo-Zitat bei Adolf Erman (S. 51) zeigt. In jedem Fall aber ist gerade die Lockerung des Hartnckigen, die Snftigung des Lebhaften, das Widersprechen und Er-tragen von Widerspruch das, was Wissenschaft voranbringt, wie die (auf S. 58)

  • 6

    zitierte Anekdote aus Ermans und Grapows Wrterbuch der gyptischen Spra-che schn vorfhrt.

    In seinem Beitrag zur Kontroverse zeigt auch Tonio Sebastian Richter, wie stabil sich die altgyptische Sprache im Koptischen erhalten hat und wie sich dies zu bestimmten Theorien der Ursachen des Sprachwandels verhlt. Wir sehen daran, erstens, dass gerade fr die Wissenschaftsentwicklung Kontro-versen und Hypothesen interessant sind, dass sie, zweitens, selten so sind, dass eine Partei einfach Recht hat oder behlt, und, drittens, warum Blicke ber den Tellerrand in andere Disziplinen hufig oder immer hilfreich sind. Insge-samt prsentieren die drei Texte die beeindruckenden Projekte der gyptolo-gie in Leipzig in Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

    Dass Musik nicht im leeren Raum entsteht, zeigen die Beitrge zu den mu-sikwissenschaftlichen Projekten unserer Akademie. Christian Martin Schmidt erarbeitet die bewussten Strategien zur innovativen berschreitung allzu enger Gattungsgrenzen durch Felix Mendelssohn Bartholdy, die dieser u. a. bei der Komposition seiner Oratorien verfolgt. Ralf Wehner analysiert auf hchst inte-ressante und amsante Weise Mendelssohns distanziertes Verhltnis zu Mn-nerchorkompositionen in einer Zeit, in welcher dieses Genre einen Boom er-lebt. Dass Robert Schumanns Mrchenbilder nicht, wie man vermuten knnte, etwas mit Grimms Mrchen zu tun haben, ist blo der Ausgangspunkt einer spannenden Geschichte um einen jungen Mann namens Louis du Rieux. Die-ser glhende Verehrer Schumanns schickt ihm ein formal ganz braves, nicht sehr inspiriertes Gedicht ber eine unglckliche Romanze, das der gleichnami-gen Komposition Schumanns zugrunde liegt. Die Lebensgeschichte des Louis du Rieux, als ewiger Student und Dichteranwrter, die Klaus Martin Kopitz und Torsten Oltrogge erzhlen, ist dann aber auch fr das sechste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hchst aufschlussreich, nicht zuletzt wegen der Beziehun-gen unseres Helden zu Fontane und der Zensurbehrde bzw. Zeitungsaufsicht in Preuen. Gerade Mitarbeiter einer solchen Behrde, weil sie besonders gut informiert sind, fllen auch besonders weitsichtige politische Urteile etwa zur Leibeigenschaft in Russland und Sklaverei in Amerika. Der Verdacht, dass ge-rade Inquisitoren und Zensoren liberal werden knnen, ist wohl selten ganz unbegrndet.

    Pirmin Stekeler-Weithofer

    Editorial

  • Beitrge

  • Hans-Werner Fischer-Elfert

    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient1

    Die Erzhlung um einen Helden namens Sinuhe gehrt zu den Juwelen alt-gyptischer Poesie.2 Zugleich markiert sie einen Wendepunkt in der Geschichte ihrer Gattung insofern, als sie die erste ihrer Art ist, die uns in Gestalt mehrerer Papyrushandschriften aus der Zeit des Mittleren Reiches (20.18. Jh.) vorliegt und auch danach noch ber viele Jahrhunderte hinweg studiert und kopiert wurde. Zitate daraus datieren bis mindestens in das 6. Jahrhundert. Der Lite-raturbetrieb im Alten gypten drfte allerdings erheblich lter als diese fr-hen Niederschriften sein, da grundstzlich mit einer mehr oder minder langen oral tradition bereits im 3. Jahrtausend zu rechnen sein wird. Echt narrative Passagen in sogenannten (Auto)biographien oder Selbstprsentationen von Schreibern und Beamten sind nmlich bereits in der 5. und 6. Dynastie (ca. 25002180) zu greifen.

    Diese andere Gattung der Biographien, von wem auch immer im Einzelnen komponiert, spielt auch im Falle der Sinuhe-Erzhlung eine konstitutive Rolle. Sie ist es, die die Geschichte ber Sinuhe an ihrem Anfang wie an ihrem Ende rahmt, bisweilen mitten im Plot dieser Geschichte Standardphrasen aus der Biographie aufgreift und inkorporiert. gyptologen sind sich deshalb bisweilen uneins ber die Frage, wie der Gesamttext nun eigentlich zu klassifizieren ist, ob als literarische bzw. fiktionale (Auto)biographie mit einem Subjekt in der 1. Person, das ber einen entscheidenden Abschnitt seines Lebens berichtet, oder als Erzhlung mit einem Helden als Erzhler. Sehen wir von der biogra-

    1 Alle chronologischen Angaben verstehen sich als solche vor der Zeitenwende. Einige der im Folgenden diskutierten gyptischen Begriffe werden zum Zwecke ihrer Les-barkeit auch in gyptologischer Umschrift gegeben. Fr kritische Lektre danke ich Pia Elfert, Susanne Radestock, Alexander Brawanski und Peter Dils sehr herzlich.

    2 Knappe, aber gebhrende Wrdigung erfhrt dieses Werk z. B. bei Elke Blumen-thal, Altgyptische Reiseerzhlungen, Leipzig 1982, S. 5359; Richard B. Parkinson, The Tale of Sinuhe and Other Ancient Egyptian Poetry 19401640 BC, Oxford 1997, S. 2153; ders., Poetry and Culture in Middle Kingdom Egypt. A Dark Side to Perfection, Oxford 2002, S. 149168; ders., Reading Ancient Egyptian Poetry. Among Other Histories, Oxford 2009, passim.

    Denkstrme. Journal der Schsischen Akademie der Wissenschaften | Heft 11 (2013), S. 927 9

  • Hans-Werner Fischer-Elfert

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    phisierenden Rahmung ab, dann wird der Rest des Textes durch narrative Pas-sagen geprgt, die ihrerseits mit zahlreichen Dialogen, aber auch Monologen seitens des Protagonisten, untersetzt sind.

    Soviel zum formalen Aspekt dieses Werkes. Kommen wir zum Inhalt der Geschichte. Protagonist ist ein Harimsbeamter unter Knig Amenemhet I (An-fang 20. Jh.) namens Sinuhe. Zusammen mit dem Kronprinzen Sesostris befin-det dieser sich auf einem Kriegszug gegen die Libyer am Westrand des Nildel-tas, als er eines Abends Ohrenzeuge der Botschaft an den Prinzen vom Tode des Knigs wird. Hals ber Kopf marschiert Sesostris sdwrts zur Residenz, Sinuhe flieht dagegen in stlicher Richtung, ohne eigentlich zu wissen, wer oder was ihn gepackt hat. Im Text ist mehrfach von einer vorherbestimmten Flucht die Rede, die einem nTr - Gott zugeschrieben wird, ohne dass dessen Identitt dem Flchtling bekannt wre oder ihm im Verlaufe der Erzhlung noch namentlich enthllt wrde.

    Irgendwo auf dem Sinai berfllt ihn eine Durstattacke, die ihn erstma-lig an den Rand des Todes bringt. Nach weiteren Mrschen gen Nordosten, an Byblos und anderen Orten des heutigen Libanon vorbei, landet er zu guter Letzt bei einem Nomadenstamm. Dessen Clan-Chef nimmt ihn freundlich auf und verspricht ihm eine gesicherte Existenz, vermhlt ihn mit seiner ltesten Tochter und vertraut ihm Land und Vieh vom Besten zur eigenen Bewirtschaf-tung an. Alles geht eine Weile gut, bis ein Kraftprotz unseren Helden zum Zweikampf auf Leben und Tod herausfordert. Sinuhe besteht diesen dank ge-wiefter Strategie und Taktik. Diese Episode steht zu Recht im Verdacht, das literarische Vorbild fr den Kampf zwischen David und Goliath (1 Sam 17) abgegeben zu haben.3

    Doch aller Erfolg und alle Anerkennung reichen nicht hin, um das Heim-weh Sinuhes zu vertreiben, und so fgt es sich perfekt, als er eines Tages ein Knigsdekret von Seiten des Thronfolgers Sesostris (I) erhlt, in dem dieser ihn zur Rckkehr auffordert. berglcklich retourniert Sinuhe diesen nicht zu ignorierenden Befehl und bereitet sich auf die Heimkehr vor. Er vermacht allen Besitz seinem ltesten Sohn, seine Frau bleibt ungenannt und in der Fremde zurck, und dann zieht er gen gypten, an dessen Grenze er bereits von einem ppig ausgestatteten Empfangskomitee erwartet wird. Seine Nomadenbrder werden ordentlich belohnt, Sinuhe gelangt endlich an den Hof und erlebt dort eine Audienz, die ihm vor Glanz und Wucht der kniglichen Prsenz schier die Sinne raubt; er wird ohnmchtig und muss vom Knig und dessen Fami-

    3 Siehe dazu Andreas Kunz-Lbcke, Sinuhe und der Starke von Retjenu David und der Riese Goliat eine Skizze zum Motivgebrauch in der Literatur gyptens und Israels, in Biblische Notizen 119/120 (2004), S.90100.

  • 11

    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    lie regelrecht wiederbelebt werden. Aus einem Sanddurchwanderer und in Schafsfelle Gehllten wird qua Rekulturierungsmanahmen wieder ein gyp-tisch aussehender Hfling. Eine prachtvolle Villa wird ihm gestiftet, er selbst mit allem Luxus wie edelstem Leinen und duftenden Salben ausgestattet. Drei bis vier Mahlzeiten tglich sind die Regel, aber irgendwann kommt der Tag des Landens, d.i. der Moment der Bestattung und damit endet die Geschichte. Der Held ist nun vollkommen rehabilitiert, nachdem ihm der Knig versichert hat, dass es berhaupt keinen Grund fr seine Flucht aus gypten gegeben habe.

    I.

    Die erste Passage, in der Sinuhe ber seinen physischen und mentalen Zustand rsoniert, erfolgt unmittelbar auf die Kunde vom Tod des Knigs, seines di-rekten Vorgesetzten. Diese Nachricht hrt er wie gesagt whrend eines Feld-zuges des Kronprinzen, den er begleitet. Panik ergreift ihn, weil er befrch-tet, in ein Palastkomplott hineingezogen zu werden. Mit anderen Worten, die Mglichkeit eines natrlichen Ablebens wird gar nicht erst in Erwgung gezo-gen. Und in der Tat gibt es an sehr versteckter Stelle innerhalb der Erzhlung einen indirekten Hinweis auf ein Attentat bei Hofe.4 Hier nun Sinuhes bzw. des Dichters Worte zu dieser Panikattacke:

    pzx- ib=i zS-a.wy=i Mein Herz war in Unordnung, meine Arme ausge breitet;

    sdA-xr m-a. t-nb. t Zittern hatte alle Glieder befallen. (B23)5

    Auch wenn diese Schilderung einer Autodiagnose gleichkommt, so ist sie doch noch wenig von medizinischem Fachvokabular geprgt. Papyrus Ebers

    4 Siehe dazu Verf., Ammunenshi und die Tagewhlerei oder Der prsumtive To-destag Amenemhets I. (Sinuhe B4345 und R56), in ders. und Karola Zibelius-Chen (Hg.), Eine Frau von reichlich gyptischem Verstand. Festschrift fr Waltraud Guglielmi zum 65. Geburtstag, Philippika 11, Wiesbaden 2006, S. 2327.

    5 Die Striche zwischen den Lexemen markieren deren Zugehrigkeit zu einem me-trischen Kolon bzw. einer in sich geschlossenen Sprechgruppe mit einem expiratorischen Akzent. Diese Rekonstruktion geht auf diverse Arbeiten Gerhard Fechts zurck, siehe z. B. ders., Literarische Zeugnisse zur Persnlichen Frmmigkeit in gypten. Analyse der Bei-spiele aus den ramessidischen Schulpapyri (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1965, 1. Abhandlung), Heidel-berg 1965, S. 1338.

  • Hans-Werner Fischer-Elfert

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    (Nr.855g) aus dem 16. Jh., in der Leipziger Universittsbibliothek aufbewahrt, verzeichnet aber innerhalb seines Herz- und Gefbuches (Nr. 854855) ein Symptom des Herzens, das als ausgebreitet (zS sesch) beschrieben wird. Dieses Symptom verwendet Sinuhe nun in Bezug auf seine Arme, die wohl eine entsprechende Geste der Ratlosigkeit manifestieren, wie etwa in die Hhe geworfen oder an den Kopf gehalten. Ein laut Papyrus Ebers ausgebreitetes Herz (ib -zS ib-sesch) erfhrt in der dazugehrigen Glosse die Erklrung, wonach seine Gefe voller Verdauungsrckstnde seien. Diese merkwrdige Glosse basiert auf der Annahme, wonach nicht rechtzeitig ausgeschiedene Ex-kremente sich ber das Gefsystem des menschlichen Krpers ausbreiten und dadurch zu Krankheiten fhren knnen.6 Nun, das trifft auf Sinuhe glckli-cherweise nicht zu, dennoch ist die gleiche, wenn auch auf zwei metrische Kola verteilte, Kollokation der Lexeme ib ib Herz und sS sesch ausge-breitet bemerkenswert. sdA seda Zittern ist im medizinischen Corpus bislang nur von den Fingern belegt, so in Papyrus Ebers Nr. 6234, Papyrus Hearst Nr. 205 und zwei weiteren Belegen. Bei dem Verbum s:dA handelt es sich um ein sogenanntes Kausativ zum Simplex dA da, das gleichfalls zittern bedeutet und neben den Fingern auch Kopf, Beine und Arme befallen kann.7 Als unmittelbare Folge dieses Zitterns an allen Gliedern sucht sich Sinuhe ein nahes Versteck in einem Gebsch, um nicht entdeckt zu werden.

    II.

    Dem Beduinenscheich, der ihn warmherzig aufnimmt, Rede und Antwort ste-hend, stiehlt sich Sinuhe mit einer Halbwahrheit bezglich der Lage am K-nigshof aus der Affre. Kurz seine Teilnahme an dem Feldzug gegen die Libyer im Westdelta streifend, fhrt er sogleich mit der Bemerkung fort:

    6 Eine medizinische Vorstellung, die im Verdacht steht, die vorhippokratischen Me-diziner auf der gischen Insel Knidos beeinflusst und zu ihrer tiologie des perttma, des berschssigen, verleitet zu haben; siehe Robert O. Steuer und John Bertrand de Cu-sance Morant Saunders, Ancient Egyptian & Cnidian Medicine. The Relationship of Their Aetiological Concepts of Disease, Berkeley/Los Angeles 1959; John Bertrand de Cusance Morant Saunders, The Transitions from Ancient Egyptian to Greek Medicine, Lawrence 1963.

    7 Als Benennungsmotiv erscheint das auch kausativ verwendete Verbum s:dA dann in der Bezeichnung Zitterer = Reiher, der u.a. auch unter Einsatz seines Schnabels durch Erzitternlassen des Bodens darin seine Nahrung sucht; dazu P. Vernus, in ders. und Jean Yoyotte, Bestiaire des Pharaons, Paris 2005, S. 72 f. und S. 354.

  • 13

    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    ib=i-Ad HAty=i n -n t f m-X. t=i Mein ib-Herz war matt, mein haty-Herz [= Bewusstsein] war nicht [mehr] in meinem Leib! (B3839)

    Hier trifft der Held eine Aussage ber sein physisches ib-Herz, die ihre Erkl-rung erst wieder bei Nachschlagen im Papyrus Ebers (855d) findet. Laut dorti-gem Herz- und Gefbuch (Nr.854855) wird der Zustand oder das Symptom Ad ad beim Herzen so glossiert:

    ir-Ad xpr m-HAty Was [das Symptom] ad betrifft, das im haty-Herzen entsteht: Das bedeutet seine Auswl-bung [xAs=f] bis zur Angrenzung an Lunge und Leber. Dabei kommt heraus, dass ihm seine Gefe taub werden, indem sie gefallen sind infolge ihrer Hitze.8

    Hier wird das Symptom mit dem zweiten Begriff fr Herz verbunden, der nicht selten den eher psychologischen Aspekt des Organs reprsentiert. Das bedeutet doch, dass Sinuhe nicht nur nicht mehr Herr seiner Sinne ( ib-Herz) war, sondern dass sein zentrales Organ des Denkens, Fhlens und Planens gefhllos = taub gegen jegliche uere Einwirkung geworden war und er im Grunde genommen jegliche Kontrolle ber die Situation, in der er sich gerade befindet, verloren hat. Der Zustand ad seines ib-Herzens, der in der Fachlitera-tur einer Glosse bedarf, drfte kaum der Alltagssprache angehrt haben, eher dem damaligen medizinischen Soziolekt.

    Zwei Varianten zu dieser Textstelle haben statt des Terminus Ad die Le-sung Ahd ahed. Auch hierzu bietet Papyrus Ebers (855v) wieder eigens eine Glosse9:

    ir-xr-swS Hr-HAty=f Was betrifft: Eine Stauung ist10 gefallen auf sein haty-Herz

    xr-swS-pw n- tAw Hr-HAty=f Das bedeutet, dass eine Stauung von Hitze auf sein Herz gefallen ist.

    8 bersetzung in Anlehnung an Wolfhart Westendorf, Handbuch der altgyptischen Medizin, Bd. 1 und 2, Leiden/Boston/Kln 1999, hier Bd. 2, S. 693.

    9 Kurze Diskussion auch bei Jrgen Osing, Hieratische Papyri aus Tebtynis, The Carlsberg Papyri 2, Copenhagen 1998, S. 168.

    10 Diese m. E. bessere bersetzung von swS bernehme ich einem mndlich geuerten Vorschlag von Peter Dils.

  • Hans-Werner Fischer-Elfert

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    Ahd-pw aSA Das bedeutet oft Schwche / Koordinations-schwche. [].

    Hier glossiert der innerhalb der Sinuhe-Tradition variante Terminus Ahd ahed seinerseits den in primrer Position stehenden swS sewesch Stauung [von Hitze]. Ein heies Herz kann auf gyptisch sogar noch anders aus-gedrckt werden, nmlich mit einem Terminus (Smm schemem), der diverse Spielarten von Fieber benennt und z.B. in Bezug auf das Herz eines sich in Krmpfen und Zuckungen Windenden befallen kann.11 Was bedeutet das fr den Gesundheits- und Gemtszustand des Helden Sinuhe? Nun, dass sein Herz unter Einfluss von erhhter Temperatur in Wallung, in Panik gar, geraten ist und damit koordinationsunfhig wird, was sich hinter dem Terminus Ahd ver-bergen knnte.

    Aber damit noch nicht genug. Just diese kurze Textpassage bietet eine dritte Lesart hinsichtlich des Symptomspektrums seines Herzens. Eine weitere Handschrift nmlich tradiert anstelle von Ad resp. Ahd das Verbum hAmw hamu. Diese Version ist die unergiebigste von allen dreien, da die Semantik dieser Wurzel extrem schlecht bekannt ist. Am wahrscheinlichsten ist eine solch allgemeine wie Leiden wie noch in seinem spteren koptischen Auslu-fer xoome hme.

    III.

    In der Handschrift Papyrus Berlin P. 3022 folgt eine der sehr seltenen und des-halb umso berhmteren Passagen mit einer detaillierten Beschreibung von Al-tersgebrechen. Sinuhe wnscht sich an den Palast zurck und begrndet diesen Wunsch seinem Knig gegenber in einem Schreiben so:

    ix - rnpi-Ha. t=i Ach, mge sich mein Krper verjngen,nt . t -r=f - iAwy-hA.w denn das Alter ist hinabgestiegen.wgg As. n=f -wi Altersschwche, sie hat mich ereilt.ir. ty=i- dns a.wy=i-nw.w Meine Augen sind schwer geworden, meine

    Arme schlaff.rd .wy=i fx=sn-Sms- ib -wrd Meine Fe, sie haben aufgehrt, dem m-

    den Herzen zu folgen.

    11 Verf., Abseits von Maat. Fallstudien zu Auenseitern im Alten gypten (Wahrneh-mungen und Spuren des Alten gypten 1), Wrzburg 2005, Kap. II, passim.

  • 15

    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    tkn-wi s:wDA Das Hinscheiden ist mir nahe. (B168171)12

    Auch dieser Passus ist als autodiagnostisches Bulletin zu lesen, und dies vl-lig losgelst von der Tatsache, dass er durch die noch detailliertere literarische Vorlage am Beginn der Lehre des Wesirs Ptahhotep beeinflusst und komposito-risch deshalb nicht ganz autark ist. Es geht um das im Rahmen des poetischen Diskurses Bekanntmachen oder Ins-Bewusstsein-Rufen der Hinflligkeit des menschlichen Krpers und seiner Sinneswahrnehmungen. Das ist u. a. Auf-gabe der Literatur im engeren Sinne. Altersbeschreibungen in all ihren Details sind aus dem medizinischen Corpus bislang nicht bekannt, wenn man von der Nennung einiger altersbedingter Hautvernderungen in der Papyrus Edwin Smith Passage vs. 22.1114 einmal absieht (siehe den Verweis in Fn. 12).

    Wenn sein Alter laut Sinuhe hinabgestiegen ist, dann bedient er sich an dieser Stelle einer Vokabel, die eben dieses Alter dmonisiert. Denn besonders Dmonen steigen herab auf ihr Opfer, vornehmlich auf deren Nacken, weil sie auf diese Weise nicht gesehen werden knnen.13 Hinterhltigkeit ist eines ihrer Kennzeichen!

    IV.

    In seiner Replik auf das knigliche Dekret mit der erteilten Amnestie excul-piert Sinuhe sich abermals unter Hinweis auf sein Herz als movens fr seine unerklrliche Landesflucht. Er vergleicht seine Initiative mit einem Traum, in dem er sich an entgegengesetzte Orte versetzt whnt, wie ein Deltamann

    12 Siehe die bersetzung von Gnter Burkard, Die Lehre des Ptahhotep, in Weis-heitstexte 2; Weisheitstexte, Mythen und Epen; Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Gtersloh 1991, S. 195221; dort: S. 197; sowie seinen Aufsatz Ptahhotep und das Al-ter, in Zeitschrift fr gyptische Sprache und Altertumskunde 115 (1988), S. 1930. Man vgl. kontrastiv das Traktat Aus einem Alten wieder einen Jungen machen am Ende des mediko-magischen Handbuches des Papyrus Edwin Smith (Verso 21.922.10), siehe Verf., Aus alt mach jung: Medizinisches und Mentalittsgeschichtliches zum Alter im Pharaoni-schen gypten, in Axel Karenberg und Christian Leitz (Hg.), Heilkunde und Hochkultur 2. Magie und Medizin und Der alte Mensch in den antiken Zivilisationen des Mittelmeer-raumes, Mnster 2002, S. 221244. Vgl. hiermit Sinuhes Wunsch, sein Krper mge sich verjngen (B168), welche Bemerkung auf Seiten des Dichters durchaus die Kenntnis des Smith-Textes voraussetzen knnte.

    13 Siehe hierzu besonders Wolfhart Westendorf, Beitrge aus und zu den medizini-schen Texten, in Zeitschrift fr gyptische Sprache und Altertumskunde 96 (1970), S. 145151; dort S.147; siehe auch Yvan Koenig, Le Papyrus Boulaq 6 (Bibliothque dtude T. 87), Le Caire 1981, S. 41 Anm. (b).

  • Hans-Werner Fischer-Elfert

    16

    [= Norden], der sich in Elephantine [= Sden] sieht. Er habe sich keinerlei Verleumdungen zuschulden kommen lassen, auch wre sein Name nicht im Munde des Berichterstatters zu hren gewesen (B227/8). Er fhrt dann, den letzten Satz zu Ende fhrend, fort:

    wpw-Hr-n f n -Ddf -Haw=i abgesehen von jenem Schlottern meines Krpers,

    rd .wy=i Hr-hwhw meine Fe davoneilend,ib=i Hr-xrp mein Herz mich lenkend,nTr SA-war. t - tn Hr-sTA=i ein gttliches Wesen, das diese Flucht be-

    stimmte, war dabei, mich hinfort zu ziehen. (B228/9)

    Richard B. Parkinson hat die Traummetaphorik bereits mit solchen dieser zu-grundeliegenden Traumbchern verknpft, die wir zwar erst aus dem spten Neuen Reich kennen (ca. 13. Jh.), die es aber zu Zeiten der Komposition der Sinuhe-Erzhlung gegeben haben drfte.14 Ich mchte diesem seinem Intertext nur einen weiteren hinzufgen; dieser findet sich erneut in der Beschwrungs-literatur. Ausgehend von der Autodiagnose Ddf -Haw=i Schlottern meines Krpers sei auf die Existenz von entsprechenden Sprchen gegen angst- bedingtes, entsetztes Schlottern angesichts einer Gefahr in der Magie auf-merksam gemacht, die genau diese Symptomatik samt Lexik in ihrem Spruch-titel fhren und zugegeben noch nicht halb so lange wie der Sinuhe publi-ziert vorliegen. 1977 und 1979 haben Jean-Claude Goyon15 und Yvan Koenig16 zwei einschlgige Exemplare solcher Beschwrungen auf Papyrusamuletten aus Deir el-Medineh ediert, die beide so beginnen:

    Ddf -Haw n-NN Der Leib des/der NN schlottert vor Angst [].

    Es folgt eine historiola ber einen dem Sonnengott heiligen Fisch, der attackiert worden sei. Die dadurch ausgelste kosmische oder Makro-Katastrophe bildet die mythische Schablone fr die individuell-menschliche, allzu menschliche,

    14 Genauso wie die Tagewhlerei; siehe hier den in Fn. 4 verzeichneten Aufsatz des Verf.; vgl. Parkinson, Poetry and Culture (Fn. 2), S. 161.

    15 Un phylactre tardif: le papyrus 3233 A et B du muse du Louvre, in Bulletin de lInstitut Franais dArchologie Orientale du Caire 77 (1977), S. 4553 und Pl. XV.

    16 Un revenant inconvenant? (Papyrus Deir el-Mdineh 37), in Bulletin de lInstitut Franais dArchologie Orientale du Caire 79 (1979), S. 103119 mit Pl. XXXVIIIXXXIX.

  • 17

    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    Mikrokatastrophe. Der Dmon wird bedroht, und da man ihn im Milieu des Jenseits whnt, wird seinem Grab die Zerstrung angedroht fr den Fall, dass er sein Opfer nicht auf der Stelle verlsst bzw. dieses von seiner Besessenheit befreit.

    Das medizinische Corpus im engeren Sinne bietet keinerlei Hilfen fr sol-che Probleme, hier braucht es die Kunst der rhetorischen Bannung des wie ein Incubus in seinem Opfer weilenden und whlenden Dmons.

    Der Dichter des Sinuhe greift aufgrund seiner profunden intertextuellen Kenntnisse nicht nur auf die Traumliteratur zurck, sondern er greift buch-stblich in die Trickkiste der Magie durch die Einbettung eines fr diese ty-pischen Spruchanfangs gegen krperliches Schlottern, dies aufgrund von Angstzustnden, deren Ursache man sich nicht anders denn als numinos ver-ursacht oder von gttlich-dmonischer Natur vorzustellen vermag.

    V.

    Nach seiner Rckkehr an den Hof vor das Antlitz des Knigs gebracht, verliert Sinuhe die Kontrolle ber sich selbst und wird ohnmchtig:

    wn=ki-r=f dwn=kwi Hr-X. t=i Da lag ich nun ausgestreckt auf meinem Bauch,

    xm. n=i-wi m-bAH=f bewusstlos in [Anbetracht] seiner Prsenz.nTr-pn Hr-wSd=i xnm.w Dieser Gott [= Knig] begrte mich freund-

    lich.iw=i-mi-z iT.w m-axx .w Ich war wie ein Mann, von Dmmerung er-

    griffen,bA=i-zb.w Ha.w=i-Ad .w indem mein Ba17 fort war, mein Krper

    schwach,HAty=i n -n t f -m-X. t=i mein haty-Herz [= Bewusstsein], es war nicht

    mehr in meinem Leib,-rx=i-anx r-mwt Leben konnte ich nicht vom Tode unterschei-

    den. (B252256)

    17 Eine Art leibhaftiger Seele, die nach dem Tode frei beweglich ist und jederzeit zum Toten zurckkehren kann und soll. Sie ist zu unterscheiden vom Ka, welcher sich nicht ungehindert bewegen kann und eine generationenbergreifende Art Sozialseele verkrpert. Zu dieser Differenzierung siehe grundlegend Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten gyp-ten, Mnchen 2001, passim.

  • Hans-Werner Fischer-Elfert

    18

    Ist das Herz als Ort der Sinne nicht mehr im Leib oder fhlt es sich zumindest so an, dann schwindet alle Wahrnehmung und wieder einmal entgeht der Held nur knapp dem Tod.

    VI.

    Kehren wir nochmals zum Genre der Beschwrungen zurck, deren ganz berwiegende Funktion es war, psychische oder psychosomatische Leiden zu kurieren, die fremdinduziert in Gestalt von Dmonen jeglicher couleur evo-ziert gedacht wurden.18 Nun gab es im Altgyptischen nicht d a s eine Wort fr diejenigen Wesen, die wir gewhnlich grzisierend Dmonen zu nennen belieben. Die gyptischen Priester und Heiler differenzierten hier sehr genau, um welche Kategorie von Dmon es sich handelte oder handeln knnte.19 Bei Unsicherheit hinsichtlich der exakten Identitt belieen sie es in aller Re-gel mit einer mehr oder minder alle Kategorien abdeckenden Auflistung von Bezeichnungen, die in unseren Standardwiedergaben etwa lauten: O jeder Wiedergnger, jede Wiedergngerin [alias bser Totengeist], jeder Feind, jede Feindin, jeder Widersacher, jede Widersacherin etc.. Das Krzel etc. habe ich bewusst noch in Anfhrungszeichen gesetzt, weil ein altgyptischer Vor-lufer dieser sptestens seit dem 18. Jahrhundert gelufigen Abbreviatur tat-schlich bereits vorhanden war und so viel wie Kunst-des-Mundes bedeutete, im Sinne von nach Belieben fortzusetzen. Sie deckt das unbekannte Potential des Restbsen ab, das der Beschwrer nicht beim Namen kennt, das aber kei-nesfalls vergessen werden darf.

    Fremdinduktion von bel allgemein oder im Besonderen bedingt spe zielle Verfahren, eben dieses bel wieder zu eliminieren, buchstblich aus dem Leib des oder der Betroffenen. Dazu bedarf es der Rezitation und Applikation von Beschwrungen, die sich schon die Mhe geben, recht gezielt den Verursacher beim Schopfe zu packen und sich seiner bestenfalls auf ewig zu entledigen. Da-bei geht ein Magier mitunter nicht eben zimperlich vor und bedroht und be-schimpft auch schon mal seinen Feind oder Widersacher bzw. den seines Mandanten. Der Terminus Mandant ist hier auch durchaus am Platze, eignet

    18 Fr einen knappen berblick ber die Phnomenologie des Verursacherprinzips in den magisch-medizinischen Texten und Beschwrungen siehe Westendorf, Handbuch (Fn. 8), Bd. I, S. 360394.

    19 Vgl. hierzu die genuin gyptischen Klassifikationen lebender Wesen in Kategorien wie nTr / nTr. t Gott / Gttin, Ax .w [rituell verklrter] Totengeist; Ahne, rmT.w Menschen etc. je nach Quelle bzw. in diesem konkreten Fall je nach Onomastikon oder auch Lexikon (mit erklrenden Glossen).

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    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    den Beschwrungen doch just in dem Falle, dass sie nichts fruchten sollten, auch eine gehrige juristische Implikation. Ein scheiternder Magier oder einen Kunstfehler begehender Heiler knnten durchaus zur Rechenschaft gezogen oder zuknftig schlichtweg bergangen worden sein. Auch hierzu liefert der Alte Orient wieder erheblich mehr Informationen, um nur den berhmten Hammurabi-Kodex zu erwhnen.

    Aber gyptische Magier sind auf einen Trick verfallen, wie sie sich im Bedarfsfall den Kopf aus der Schlinge ziehen konnten. Auf eine Bedrohung diverser Gtter und Dmonen fr den Fall ihres Nichtverschwindens folgt stets ein Passus, der in modifizierter Form uns auch wieder zu Sinuhe zurckfhren wird:

    a) nn- ink - (is) i .Dd-sw Nicht ich bin es, der das [= die Gtterbedro-hung] gesagt hat,

    a) nn- ink - (is) i .wHm-sw nicht ich bin es, der das wiederholt hat!b) in -As. t i .Dd-sw Es ist [z.B.] Isis, die das gesagt hat,b) in -As. t i .wHm-sw es ist Isis, die das wiederholt hat.20

    Der amerikanische gyptologe Robert K. Ritner hat dieses Verfahren sehr tref-fend [ritual] blame shifting genannt21: Der Magier pldiert auf Nichtschuld bzw. -haftung im Falle des Ausbleibens des erstrebten Erfolgs, da er ja letztlich nur eine Rolle verkrpert habe. Diese Rolle ist die der genannten Gottheit im 3. und 4. Satz dieser Schutzklausel.22

    Findet sich nun bei Sinuhe tatschlich ein vergleichbares Statement? In der Tat, denn bei der Audienz mit seinem ihn amnestierenden neuen Knig ttigt er folgende uerung auf dessen Frage, warum er seinem Herrn nicht antworte:

    a) ir-wSb=i-s. t Wenn ich es beantworte,

    20 Z. B. in Papyrus Leiden I 348 vs. 11.7; Joris Frans Borghouts (Hg.), The Magical Texts of Papyrus Leiden I 348, Leiden 1971, pl. 15.

    21 Siehe seinen Artikel Egyptian Magical Practice under the Roman Empire: the De-motic Spells and their Religious Context, in Aufstieg und Niedergang der Rmischen Welt, Band II.18.5, Berlin / New York 1995, S. 33333379, dort S. 3370; Koenig, Le Papyrus Boulaq 6 (Fn. 13), S. 121 Anm. (h), spricht bereits ganz hnlich von phrases paratonnerres, also Blitzableiterphrasen.

    22 Die ganz hnlich auch schon wieder im Alten Orient, konkret in der frhen sume-rischen Magie zu finden ist; siehe Antoine Cavigneaux, Introduction la magie msopo-tamienne, in Yvan Koenig (Hg.), La Magie en gypte. la recherche dune dfinition, Paris 2002, S. 341369; dort S. 362 f.

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    20

    a) nn--Hr=i [dann] ist nicht an mir,b)+b) a n -nTr- is -pw sondern die Aktion-eines-Gottes/D-

    mons war es.c) Hr-pw wn.n=s m-X. t=i Blanker Terror wars, der in meinem

    Leib warc) mi-s:xpr-war. t -SAA. t wie vor dem, der / das die vorherbe-

    stimmte Flucht bewirkt hatte. (B261262)

    Mit anderen Worten, Sinuhe exculpiert sich mit dieser aus der Beschwrungs-literatur adaptierten Phrase und pldiert damit auf Nichthaftbarkeit fr sein Tun, meint: seine berstrzte und grundlose Flucht. In ihm waltet nicht ein Gott der Persnlichen Frmmigkeit23, sondern eine ihn steuernde und regel-recht besitzende numinose, genauer: dmonische Instanz, die sich hinter dem generischen Terminus a n -nTr ( a-en-netscher) verbirgt und die es zu exor-zieren gilt. Diese Instanz wird an dieser Stelle aber hinsichtlich ihrer dmoni-schen Provenienz respektive deren Aktionsart genannt: Aktion-[< Hand]-ei-nes-Gottes ist ein wohlbezeugter Ausdruck in der Beschwrungsliteratur und verweist auf die Einwirkung qua Hand, einen Schlag durch eine solche und in der sich der Besessene ab dann befindet.24 Robert K. Ritner hat hierzu das Einschlgige zusammengetragen und verweist auch erwartungsgem auf den Passus in der Lehre fr den Prinzen Merikare. Darin wird dem zuknftigen Knig klipp und klar gesagt, wozu der Schpfergott den Menschen die Potenz Hekau Zauber; Magie geschaffen habe:

    ir. n=f -n=sn HkA.w r-aHA.w Er hat ihnen den Zauber zur Waffe gemacht,r-xs f -a.w n-xpr.y t zur Abwehr des Schlages der Ereignisse.

    (E 136/7)

    23 So Elke Blumenthal, Sinuhes persnliche Frmmigkeit, in Irene Shirun-Grumach (Hg.), Jerusalem Studies in Egyptology (gypten und Altes Testament 40), Wies-baden 1998, S. 213231.

    24 Auch hier ist die zeitgenssische Beschwrungsliteratur des Alten Orients ergie-biger, in der die Hand der Gttin / des Gottes (bisweilen mit namentlichem Zusatz) eine kapitale Rolle spielt und bisweilen sogar als Hand der Gottheit (qati iltim) unter Ver-wendung des Abstraktums iltum erscheint; siehe Marten Stol, Epilepsy in Babylonia (Styx Monographs 2), Groningen 1993, S. 3338; dort: S. 34. Ganz nebenei bemerkt waren diese Konzepte auch im syrischen Einzugsgebiet mesopotamischer Heil- und Beschwrungs-kunst wohlbekannt, einer Region, in der Sinuhe bzw. sein Dichter nach eigenem Bekun-den vorbeigekommen sein will (siehe wieder Byblos etc.).

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    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    Dieser Schlag ist der gleiche, unter dem Sinuhe zeit seines Exils gelitten hat, und dass er gttlichen Ursprungs ist, sollte nicht verwundern. Nur ist es kein unbekannter (Hoch)gott aus der Sphre der sogenannten Persnlichen Frm-migkeit, die hier berhaupt keine Rolle spielt. Der Schlag bzw. die diesen auslsende a - Hand25 gegen Sinuhe demonstriert nur die Allmacht aller Mitglieder der Kategorie nTr gegenber dem Menschen.26 Wenn Pantalacci (und vor ihr schon Gerhard Fecht und Jrgen Osing) Recht hat, dann leitet sich

    25 Unter den in der Hand [ = Dr. t djeret] eines Gottes Befindlichen wurden einerseits u. a. auch Geisteskranke wie Manisch-Depressive und andererseits Epileptiker subsummiert. Das soll nicht heien, dass Sinuhe in diese Kategorie gesellschaftlich Stig-matisierter einzuordnen wre. Entscheidend ist aber das entliehene Vokabular und seine Adaption an die Bedrfnisse des Erzhlers.

    Ganz nebenbei verrt der Schreiber von B 261 an einer Stelle seine Vertrautheit mit einer Textsorte aus dem diagnostischen Segment der Medizinalliteratur, wenn er die Kon-ditionalpartikel ir- wenn mit dem Zeichen einer Buchrolle determiniert und damit dieses Lexem als Substantiv kategorisiert, das zugleich als Textterminus fungiert. Derar-tige Graphien sind typisch fr Glossare mit zustzlichen Erluterungen zu medizinisch-diagnostischen Befunden und verweisen auf eine eigenstndige Textgattung. Zustzlich zu den diagnostisch-therapeutischen Traktaten wie Papyrus Ebers und Edwin Smith z. B. gab es solche companions oder Ratgeber, fr die sogar ein eigenes Ressort im Haus der Schreibergttin Seschat reserviert war; ausfhrlich dazu Verf., Anfang eines iry.w-Traktats des wti-Umwicklers inclusive einer post-mortalen Thanatologie (Pap. UCL 32781 verso), in Chronique dgypte 88 (2013), S. 1534. Aus den genannten Grnden betrachte ich die Emendation in ir ohne diese Buchrolle durch William V. Davies, Readings in the Story of Sinuhe and Other Egyptian Texts, in Journal of Egyptian Archaeology 61 (1975), S. 249, als zumindest voreilig.

    26 Siehe wieder die einschlgigen Belege bei Ritner, op. cit., S. 56 f., Anm. 263. Dass seine Belege den Terminus a um das Prfix s . t - erweitern, tut der Vergleichbarkeit der Sin-uhe-, Merikare- und anderer Passagen berhaupt keinen Abbruch. s . t - ist ein mehr oder minder frei verfgbares Morphem, hnlich dem m:-Prfix zur Bildung von nomina loci und instrumenti oder dem rA- a- Prfix zur Angabe von Ttigkeiten, ganz hnlich dem s . t in s . t - a ; zu ersterem vgl. Otto Firchow, Zu den Wortverbindungen mit c . t, in Zeitschrift fr gyptische Sprache und Altertumskunde 79 (1954), S. 9194; dort: spez. S. 92 zu s . t - a-nTr etc.; unter den Standard head nouns verzeichnet bei Joris Frans Borghouts, Egyptian. An Introduction to the Writing and Language of the Middle Kingdom I Grammar, Syntax and Indexes, Leuven 2010, 83.b.2.(II); zu rA- a s. Gerhard Fecht, Wortakzent und Silbenstruktur. Untersuchungen zur Geschichte der gyptischen Sprache (gyptologische Forschungen 21), Glckstadt/New York 1960, 179 ff., sowie Laure Pantalacci, Remarques sur les composs du type a-, rA- ou rA- a devant racine verbale en gyptien ancien, in Orientalia Lovaniensia Periodica 16 (1985), S. 520; dort S. 14 f. ( 14). Man vgl. auch die zahlreichen Belege von s . t - a im medizinischen Corpus von Hildegard v. Deines und Wolfhart Westendorf, Wr-terbuch der medizinischen Texte II, Berlin 1962, S. 701 ff.; dort allzusehr vereinheitlichend mit Einwirkungsstelle bersetzt.

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    das Lexem a in der Verbindung a n -Verbum von der Wurzel wai ab, die Sin-gularitt signalisiert, einen einmaligen Akt des X. Die gleiche Einmaligkeit trifft aber auch auf die Kollokation a n -Substantiv zu; die Hand-eines-Gottes / einer Gottheit wre von einer Einmaligkeit, zugleich auch von einer nicht ter-minierten Dauer der Einwirkung und Sinuhe htte unter dieser Einwirkung einer/s G. lnger als nur kurzfristig zu leiden. Sinuhe ist ein im wahrsten Sinne des Wortes von dieser nTr Kategorie Besessener und dementsprechend ist er von diesem Fremdbewohner zu befreien. Papyrus Hearst, ein weiteres Hand-buch mit Rezepten gegen physische und psychische Leiden, bietet zunchst gleich drei Sprche zur Abwehr des s. t - a Schlages von Totengeistern bzw. Wiedergngern (Kol. V 10; 12 und 14), auf Kol. VI 2 und 7 dann solche zustz-lich gegen den eines nTr Gottes, einer nTr. t-Gttin.27

    Neben der Hand/Aktion eines Gottes bringt Sinuhe noch den Terror (Hr) mit ins Spiel, der die fatale Wirkung des Verursachers beim Namen nennt. Dieser Terror ist wiederum kein somatisches, sondern ein psychologi-sches Symptom, das fremdinduziert ist, u.a. durch Wiedergnger. Es steht auf einer Stufe mit den in Beschwrungen genannten Symptomen nrw neru Todesfurcht und nSny neschny Furor.

    * * * * *

    Es sind also nicht somatische Krankheiten, die Sinuhe an sich selbst notiert, sondern durchweg intensive Gemtszustnde bis hin zu Panikattacken. Seine Autodiagnosen bemhen zwar hier und dort medizinisches Vokabular, doch bei genauerer Betrachtung sind sie smtlich nicht krperlicher, sondern psychi-

    27 Pluralisch wird die Kategorie nTr dann als Quelle einer solchen a Attacke in den Oracular Amuletic Decrees auf Abstand gehalten. Es handelt sich bei diesen Orakelentschei-den um den von Gttern bescheinigten Schutz von Klein(st)kindern vor anderen Gttern. D.h., hier bieten nTr.w Wesen Mitgliedern ihrer gleichen ontologischen Kategorie Paroli. Ediert wurden diese Dekrete erstmals von Iowerth E.S. Edwards, Hieratic Papyri in the Bri-tish Museum. Fourth Series. Oracular Amuletic Decrees of the Late New Kingdom, Vol. III, London 1960. Nur ein Beispiel sei daraus hier zitiert: Wir [= die Schutzgtter] werden sie [= die Besitzerin des Amuletts] bewahren vor / erretten aus der Hand der Gtter, die eine a Attacke durchfhren, obwohl gar keine a Attacke existiert (Quelle T 2 vs. 8283). Drei weitere Exemplare dieser Dekrete wird der Verf. demnchst vorlegen in dem Band Magika Hieratika in Berlin, Hannover, Heidelberg und Mnchen (i. Dr.). Diese Schutztexte, am Hals zu tragen, sind zugegeben gut und gerne 1.000 Jahre jnger als die lteste Handschrift der Sinuhe-Erzhlung (B), aber dieser Umstand zeigt die Langlebigkeit solcher Vorstellungen und knnte umgekehrt bedeuten, dass Sinuhe bei weitem nicht den historisch frhesten Beleg dafr liefert.

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    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    scher Natur; noch dazu von einer solchen Intensitt, dass er sich mehrfach in Todesnhe whnt. Schon kurz nach Beginn seiner Hals-ber-Kopf-Flucht aus dem Kernland gyptens Richtung Sinai bemerkt er anlsslich einer heftigen Durstattacke in der dortigen Wste: Dies [also] ist der Geschmack des Todes (B23). Ein gypter kann den Tod schmecken, hier greift die wrtliche ber-setzung prziser als die von gyptologen gern abgeleitete Bedeutung erfahren.

    Diese seine hufigen Wahnvorstellungen von der unmittelbaren Nhe des eigenen und nicht rituell begleiteten! Todes bringen den Helden zudem in eine gefhrliche literarische Nhe zu den unter ihren lebensfeindlichen Arbei-ten leidenden Handwerkern und Tagelhnern. gyptische Schreiber waren alles andere als frei von Standes- und Bildungsdnkel und gerieren sich gerne ihresgleichen gegenber als ihren illiteraten Zeitgenossen haushoch berlegene Elite. Diese Hybris hat zur Ausprgung einer eigenen Literaturgattung gefhrt, die in der gyptologie seit ihrem Entdecker Peter Seibert28 Charakteristik genannt wird. Solche Charakteristiken haben in stark schwarzwei-malender Rhetorik vornehmlich solche Gewerke auerhalb des Schreiberstandes, dane-ben auch ethische Typen wie den Wissensverweigerer, Toren und besonders den Schwtzer zum Gegenstand ihres beienden Spottes. Des Weiteren sind es Reprsentanten nicht-gyptischer Ethnien wie der levantinische Nomade im Nordosten, der barbarische, weil nur stammelnde ( Aaa u. .) Nubier tief im Sden. Sie alle sind aufgrund ihrer Arbeits- und Lebensweise und ihrer nicht-gyptischen Idiome die Auslnder par excellence, nicht zuletzt auch infolge ihres unwirtlichen Lebensraumes permanent vom Tode bedroht. Sinuhe wird zeitweise, zumindest whrend der Dauer seiner Flucht und des Herumirrens durch ihm unbekannte Regionen selbst zu einem solchen Nomaden,29 der sich nicht nur auerhalb der eigenen Landesgrenzen aufhlt und durchschlgt, sondern auch auerhalb der von ihm einzig akzeptierten gyptischen Kultur-zone und -grenzen. Das durch den ihm unbekannten Gott zunchst ver-ordnete Vagabundieren stellt ihn fr diesen Zeitraum nicht nur auf eine harte Probe, sondern auch auf eine Stufe mit eben diesen Charakterisierten.30

    28 Peter Seibert, Die Charakteristik. Untersuchungen zu einer altgyptischen Sprech-sitte und ihren Ausprgungen in Folklore und Literatur. T. 1: Philologische Bearbeitung der Bezeugungen (gyptologische Abhandlungen 17), Wiesbaden 1967, Einleitung.

    29 Unter geflissentlichem Verschweigen dessen, was er in diesen Zeitrumen ontolo-gisch eigentlich darstellt, nmlich einen SmA Wanderdmon im Gefolge der zornigen Gttin Sachmet, nur mit dem Unterschied, dass Sinuhe selbst keine Krankheiten ins Land schickt. Zur Erwhnung der Sachmet in dem ersten Dialog mit dem Beduinenscheich Am-munenschi siehe die Lit. o., Fn. 4.

    30 Jemand, der sich kraft Amtes permanent in der Zone des Todes aufhlt wie z. B. ein Handwerker beim Ausschachten von Grbern , darf whrend der Menstruations-

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    Hans-Werner Fischer-Elfert

    Auch wenn der Poet unseren Helden in dessen finstersten Momenten nicht ber somatische Leiden reflektieren,31 vielmehr ihn seine mentalen und see-lischen Befindlichkeiten zur Sprache bringen lsst, dann legt er ihm durchaus eine Wortwahl in den Mund, die ein Nachschlagen in der zeitgenssischen Me-dizinalliteratur durchaus lohnt, wie wir das im Vorangehenden bereits getan haben. Es mag Liebhabern altgyptischer Poesie eventuell nicht behagen, einen solch dezidiert-klinischen Blick in das Seelenleben unseres Helden zu werfen und ihn damit seines unzweifelhaft poetischen Zaubers ein wenig zu entklei-den. Angesichts der Bandbreite an Gattungen und Fachvokabularien, die alt-gyptische Poeten von Rang in ihre Kompositionen einzubetten pflegten, sollte es eigentlich nicht verwundern, auch in dem Exilroman eines Sinuhe lexika-lische und phraseologische Anleihen aus Feldern auerhalb der eigentlichen Narrativik anzutreffen.

    Es kommt aber noch ein entscheidender Punkt hinzu, wenn wir schon die medizinischen Fachbcher bemhen und uns fragen, in welcher rhetorischen Art und Weise diese ihren Wissensstoff vermitteln. Wir haben es in jedem Falle mit gesprochenen bzw. zu rezitierenden Texten zu schaffen. Ein Heiler spricht in seiner Eigenschaft als Lehrer zu einem maskulin-singularischen Du als seinem Rezipienten bzw. Auditorium. Dieses Auditorium ist zumindest in je-dem Falle rein sprachlich ein einzelnes Individuum, keine Gruppe von Schlern oder Studenten. Der Meister sagt z. B. Wenn Du dieses / jenes Symptom findest, [], dann sollst Du dazu sagen: [] [][] . Er redet ber den Symptom-befund, eine Krankheit und seinen zumeist mnnlichen Patienten, allein der Patient selbst kommt so gut wie nie selbst zu Wort! Eine einzige Ausnahme im Gynkologietraktat eines Papyrus aus Illahun (12. Dyn.) ist zu vermelden.32

    phasen seiner Frau oder Tochter nicht auf seine Baustelle. Dadurch knnten er und sie die weibliche Fruchtbarkeit generell gefhrden. Umgekehrt ist auch die weibliche Men-struation kontagis bzw. fhrt zu Unreinheit auf Seiten des Mannes, der whrend die-ser Zeitspanne nicht den sakralen Boden eines auch nur im Entstehen begriffenen Gra-bes betreten darf. Sogenannnte Absentenlisten in der Verwaltung der Handwerkerschaft von Deir el-Medineh (gegenber dem heutigen Luksor) legen davon ein beredtes Zeug-nis ab; siehe zum Konnex Menstruation Unreinheit Paul J. Frandsen, The Men-strual Taboo in Ancient Egypt, in Journal of Near Eastern Studies 66 (2007), S. 81 106.

    31 Ausgenommen sei der oben zitierte, nicht akute, sondern eher chronisch gewor-dene Zustand des Alters in B168171.

    32 Interessanterweise ist die einzige Stimme des Patienten in der frhen Medizin (Beginn des 2. Jahrtausends) weiblich, wenn die an einem wandernden Uterus Leidende gefragt wird, was sie denn rieche: Ich rieche Gegrilltes.; Beleg bei Westendorf, Handbuch (Fn. 8), Bd. I, S. 413 (Kah 2 [1,58]).

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    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    Anamnesen mag es ja durchaus gegeben haben, nur werden sie uerst spar-sam textualisiert.33

    Altgyptische Patienten, und das scheint mir ein recht bemerkenswerter Befund, sprechen nur auerhalb des medizinischen Corpus, in vllig ande-ren Textsorten ber ihre Leiden. Rein historisch wie auch literaturgeschicht-lich tun sie das innerhalb der oben schon genannten Gattung der sogenannten (Auto)biographie oder Selbstprsentation an die Adresse der Nachwelt in ihrem Grab. Schon in solchen Quellen aus dem Alten Reich (ca. 25002180) notieren wir Bemerkungen bis hin zu ganzen Schilderungen von Beamten und Priestern, wie sie an ihre Krankheiten erinnern und diese Bulletins buchstblich in den Stein gravieren lassen. Wenn auch nur sparsam przisiert, woran konkret es ihnen gebricht,34 so verdient die unverhllte Erwhnung oder Andeutung doch immerhin einige Aufmerksamkeit. Ein gyptischer Knig wrde dergleichen niemals tun, und das unterscheidet ihn z. B. grundlegend von seinen hethiti-schen Kollegen.

    Um den Bogen endlich zu Sinuhe als literarischer Figur zurckzuschla-gen, so knnen wir festhalten, dass es offensichtlich zur Lizenz eines Poeten gehrte, seinen Helden auch ber solch unangenehme Begleiterscheinungen einer menschlichen vita nicht verstummen zu lassen.35 Anders gesagt, es ist die Poesie und die literarisierte Selbstdarstellung qua (Auto)biographie, die dem altgyptischen Patienten eine Stimme verleiht, nicht aber der medizinische Diskurs selbst. Dessen Lehr- bzw. Sprechsituation signalisiert die physische Absenz des Patienten, dieser ist whrend des verschrifteten Redeaktes nicht leibhaftig prsent, was sich an dem aufflligen Mangel an auf ihn verweisen-den Demonstrativa manifestiert. Anders gesagt, er ist rein sprachlich selbstver-stndlich prsent in der gegebenen Lehrsituation, schlielich ist er der Rede-gegenstand bzw. das Referenzobjekt des Lehrvortrages par excellence und ber ihn wird mittels des generischen Lexems zi /s Mann resp. z . t / s . t gehandelt. Genau umgekehrt ist die Sprechsituation bei solchen Beschwrun-gen, die zur tatschlichen Anwendung auf ein Individuum gelangen. Hier ist die Zahl der Demonstrativa, insbesondere solche auf Krperteile des Mandan-

    33 Siehe die Belege in Papyrus Ebers 833 (97.17) und 861 (105.816)34 Dabei wird ein recht generischer Terminus fr Krankheit; Leiden (mn. t) ver-

    wendet, der keine Spezifikation unsererseits erlaubt; zu den relevanten Passagen siehe Nicole Kloth, Die (auto-)biographischen Inschriften des gyptischen Alten Reiches: Unter-suchungen zu Phraseologie und Entwicklung (Studien zur Altgyptischen Kultur, Beihefte Band 8), Hamburg, 2002, S. 149 ff.

    35 Es sei an dieser Stelle auch nochmals ausdrcklich auf den Untertitel von R. B. Parkinsons Meisterwerk Poetry and Culture (Fn.2) erinnert, der da lautet: A Dark Side to Perfection.

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    ten verweisende, exorbitant hoch. Handlungspraktisch wird man sich diese Differenz so vorstellen drfen, dass die verwendeten Demonstrativa zum Zwe-cke ihrer Treffgenauigkeit mit Gesten einhergingen, mit welchen der Magier seine Rezitation begleitet.36

    * * * * *

    Abschlieend sei hier noch kurz der Bogen von der Sinuhe-Geschichte zum Projekt Altgyptisches Wrterbuch an der Schsischen Akademie der Wis-senschaften zu Leipzig gespannt. Das am Ende des Jahres 2012 ausgelaufene Unternehmen hatte es sich zur vorrangigen Aufgabe gemacht, Texte der soge-nannten Schnen Literatur in digitaler Form und in Transkription, berset-zung und grammatischer wie morphologischer Annotation ins Netz zu stellen. Diese Aufgabe ist auch voll und ganz bewerkstelligt worden. Zu dem Textcor-pus literarischer Texte gehrt natrlich auch die Erzhlung des Sinuhe in all ihren einzelhandschriftlichen Tradierungen.37

    Das neue bzw. im Januar 2013 angelaufene Projekt Strukturen und Trans-formationen des Wortschatzes der gyptischen Sprache. Text- und Wissens-kultur im Alten gypten widmet sich in seiner Leipziger Arbeitsstelle den sogenannten Wissenstexten. Medizin und Magie oder Heilkunde allgemein, Mathematik, Astronomie und Astrologie, Onomastik, Biologie und Minera-logie stehen auf der Agenda fr die kommenden 22 Jahre. Allein mit Blick auf die Quellen zur Heilkunde wird es darum gehen zu ermitteln, ob diese einen eigenstndigen Jargon gepflegt haben, dieser ber lngere zeitliche Distanzen wir reden hier von mehreren Jahrtausenden Vernderungen unterworfen war und wenn ja, welchen. In welchem Verhltnis steht der Fachjargon zum Allgemeinwortschatz, bei dem er sich mglicherweise unter semantischer Spe-zifizierung des Entlehnten bedient, oder an den er seinerseits unter Umstnden umgekehrt abgibt.

    Wir haben am Beispiel des Sinuhe, und dies ist wohlgemerkt ein Lite-raturwerk, das auch als solches goutiert werden wollte, gesehen, wes Geistes

    36 Derartige Zeigegesten mit dem Ziel, den potentiellen Gefahrenherd zu bannen, sind z. B. auf zahlreichen Grabwnden des Alten Reiches zu sehen.

    37 Siehe die Bearbeitung der hier benutzten B-Version von Sinuhe durch Frank Fe-der unter: http://aaew.bbaw.de/tla/servlet/GetTextDetails?u=gast&f=0&l=0&tc=148&db=0 (12.8.2013). Die Ironie der Projektgeschichte will es, dass die Bearbeitung dieses Werkes an der Schsischen Akademie der Wissenschaften begonnen, schlielich an der Berlin-Bran-denburgischen Akademie vollendet wurde. Siehe ferner http://aegyptologie.unibas.ch/file-admin/aegypt/user_upload/redaktion/PDF/sinuhebibliographie/b250299.pdf (12.8.2013) mit weiteren bibliographischen Angaben zur Diskussion dieser Passage.

  • 27

    Magische Poesie Der altgyptische Sinuhe als sprechender Patient

    Kind sein Dichter in manchen Passagen ist. Sein Spezialvokabular, die damit verbundene Phraseologie und die durch sie geprgten Passagen lassen sich am adquatesten erst dann verstehen, wenn auch die vorhandenen Quellen bzw. Handbcher aus dem Bereich der Heil- und Beschwrungsliteratur zu Rate ge-zogen werden. In diesem Punkt scheint mir das Potential an Spendertexten noch bei Weitem nicht ausgeschpft.

    Der Sinuhe ist zweifellos ein frher und narratologisch nicht wieder er-reichter Hhepunkt der Schnen Literatur des heidnischen gypten. Er ist ein Stck Poesie, die den Menschen als Geschpf der Gtter in all seinen und damit auch ihren Defiziten zum Thema nicht nur eines echt literarischen, sondern auch anthropologisch-philosophischen Diskurses erhebt, und dies mindestens 1200 Jahre vor Homer, aber wiederum auch mehrere Jahrhunderte nach einem Gilgamesch. Literatur im hier verstandenen Sinne beginnt be-kanntlich schon lange nicht mehr erst mit dem einen oder anderen Homer, sondern in Sumer und gypten.

    Zugleich aber, und das war einer der Auslser fr diesen kleinen Beitrag, bietet dieses Stck Poesie ein noch immer nicht ganz ausgeschpftes Reservoir an Themen, Motiven, Stichwrtern und Phrasen, deren der Dichter sich auf uerst raffinierte Art und Weise bedient und welches es unsererseits noch hier und dort zu entdecken gilt. Ziel war es an dieser Stelle, den Text als Lite-raturwerk und Gegenstand des abgeschlossenen Projektes des Altgyptischen Wrterbuches an der Schsischen Akademie der Wissenschaften mit dem An-liegen des neuen, sich um Wissenstexte bemhenden Nachfolgeunternehmens zu verknpfen und auf diese Weise eine Art Brckenkopf zu bilden, von dem aus zuknftig weiteroperiert werden kann, rckblickend auf bereits Erarbeite-tes wie vorausschauend auf noch zu Leistendes.

  • 28 Denkstrme. Journal der Schsischen Akademie der Wissenschaften | Heft 11 (2013), S. 2866

    Peter Dils

    Nous ne sommes tous que des coliers en fait dhiroglyphes.Die Bedeutungsfindung des gyptischen Wortschatzes am Beispiel der Lehre fr Kagemni

    1. Einfhrung

    Das Wrterbuch der gyptischen Sprache, dessen fnf Hauptbnde zwischen 1926 und 1931 im Auftrag der Deutschen Akademien der Wissenschaften von Adolf Erman (18541937) und Hermann Grapow (18851967) verffentlicht wurden, ist bis heute das unverzichtbare Arbeitsinstrument fr eine wissen-schaftliche Bearbeitung altgyptischer Texte. Die Autoritt der beiden Her-ausgeber, vor allem die von Adolf Erman als Begrnder und Gallionsfigur der streng positivistischen Philologie der cole de Berlin,1 war und ist dermaen gro, dass sich kaum jemand fragt, wie Erman und Grapow zu ihren Bedeu-tungsanstzen gekommen sind bzw. wie sicher, przise oder vollstndig diese sind. Fnfundsiebzig Jahre gyptologischer Forschung seit der Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-Franois Champollion im Jahr 1822 wurden beim Anfang des Wrterbuchprojekts 1897 durch Erman, der tabula rasa mit den Arbeiten seiner Vorgnger machen wollte, vllig ausgeblendet. Und doch sttzte sich Ermans eigene erste Wortschatzsammlung auf das Glossar zum medizinischen Papyrus Ebers, das 1875 durch Ludwig Stern erstellt worden war.2

    Selbstverstndlich ist ein gedrucktes Wrterbuch, das die Informationen stark verdichtet wiedergeben muss, nicht der geeignete Ort, um die Bedeu-tungsfindung zu errtern, aber auch die bis 1963 erschienenen Zusatzbnde zum Wrterbuch der gyptischen Sprache liefern als Begrndung fr die Wortbedeutungen nur die eindeutigsten Belegstellen, nicht die gedanklichen Argumentationen, die zu diesen Bedeutungen fhrten. Die Angabe u. ./o. .

    1 Siehe jetzt Thomas L. Gertzen, cole de Berlin und Goldenes Zeitalter (18821914) der gyptologie als Wissenschaft. Das Lehrer-Schler-Verhltnis von Ebers, Erman und Sethe, Berlin/Boston 2013.

    2 Papyros Ebers. Das hermetische Buch ber die Arzeneimittel der alten gypter in hieratischer Schrift, herausgegeben, mit Inhaltsangabe und Einleitung versehen von Georg Ebers, mit einem hieroglyphisch-lateinischen Glossar von Ludwig Stern, Bd. II, Leip-zig 1875.

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    hinter einem Bedeutungsansatz, der man auf Schritt und Tritt im Wrterbuch begegnet, ist ein klares Indiz dafr, dass den Wrterbuchautoren bewusst war, dass ihr monumentales und epochales Werk kein Endpunkt der lexikographi-schen Arbeit darstellte.

    Die Arbeit wurde mit dem Akademieprojekt Altgyptisches Wrterbuch an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (19922012) und an der Schsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (19992012) wieder aufgenommen. Hauptziel war es, alte und neue Texte nach dem heu-tigen Kenntnisstand mittels eines neuartigen Forschungsinstruments, einer digitalen Textdatenbank, lexikographisch zu erschlieen. Das Hauptergebnis dieses Projekts ist die Textdatenbank Thesaurus Linguae Aegyptiae (TLA) mit ca. 1,1 Millionen Textwrtern, die im Internet frei zugnglich ist, und die es erlaubt, ein beliebiges altgyptisches Wort in seinem Satz- und Textkontext abzufragen. Von Leipziger Seite wurden die altgyptischen literarischen Texte erschlossen. Seit 2013 wird an den beiden Akademien mit dem neu bewillig-ten gemeinsamen Projekt Strukturen und Transformationen des Wortschat-zes der gyptischen Sprache. Text- und Wissenskultur im alten gypten die Organisation des Wortschatzes in seiner diachronen Dimension erforscht. In diesem auf 22 Jahre bemessenen Projekt werden in Leipzig schwerpunkt-mig die Wissenstexte mit ihren Fachsprachen und Fachwortschtzen analy-siert. Parallel dazu laufen am gyptologischen Institut der Universitt Leipzig zwei weitere lexikographische Projekte zum gyptisch-Koptischen. Das eine Projekt, Database and Dictionary of Greek Loan Words in Coptic, erforscht die sehr zahlreichen griechischen Lehnwrter in der sptesten Sprachstufe des gyptischen, dem Koptischen. Und das andere Projekt, Altgyptische Wrterbcher im Verbund, untersucht, wie die gyptologische Wortforschung des 19. Jahrhunderts sich in den damaligen Wrterbchern nieder geschla- gen hat.

    Im vorliegenden Beitrag soll anhand eines im abgeschlossenen Leipziger Akademieprojekt behandelten Literaturwerkes der Frage der Bedeutungsfin-dung der Wrter exemplarisch nachgegangen werden, von den frhesten ber-setzungsversuchen bis in die heutige Zeit. Als Beispiel dient das Literaturwerk mit dem modernen Titel Die Lehre fr Kagemni. Es gehrt zu der Gattung der Weisheitstexte und ist in einer einzigen Handschrift, dem Papyrus Prisse, ber-liefert. Der auf uns gekommene Teil des Textes ist kurz, wurde schon frh der Wissenschaft zugnglich und ist seitdem zahlreiche Male bersetzt worden. Er enthlt sowohl sehr seltenes als auch beraus hufiges Vokabular, hat einen normativen und einen narrativen Abschnitt und ist teils metrisch, teils in Prosa formuliert.

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    2. Der Papyrus Prisse und die Lehre fr Kagemni

    Die Lehre fr Kagemni steht auf den ersten beiden Kolumnen des Papyrus Prisse, der von Emile Prisse dAvennes (18071879) im Mrz 1843 in Kairo an-gekauft wurde.3 Der ausgebildete Ingenieur, der von 1827 bis 1836 Topogra-phie, Hydrologie und Festungsbau an gyptischen Militrschulen im Auftrag des gyptischen Staates lehrte, wandte sich anschlieend als Privatmann der Archologie und der Architektur- und Kunstgeschichte der pharaonischen wie arabisch-islamischen Zeit zu. Prisse erwarb den Papyrus in Kairo von einem Fellah, d. h. einem Bauern, der zuvor bei seinen Grabungen auf dem theba-nischen Westufer ttig gewesen war. Ob der Papyrus aus seiner eigenen Gra-bung gestohlen wurde, wie Prisse behauptet, oder anderswo in der thebani-schen Nekropole gefunden wurde, lsst sich leider nicht mehr ermitteln. Prisse schenkte den Papyrus der Kniglichen Bibliothek in Paris, heute die Pariser Nationalbibliothek, und besorgte selbst die Faksimile-Edition des Papyrus, die 1847 erschien.4

    Der Papyrus Prisse ist 7,05 m lang, 14,5 bis 15 cm hoch und in ausgezeichnetem Erhaltungszustand.5 Er war ursprnglich mit einem anderen Text beschriftet,

    3 Fr die Herkunfts- und Erwerbsgeschichte des Papyrus siehe Michel Dewachter, Nouvelles informations relatives lexploitation de la ncropole royale de Drah Aboul Neggah, in Revue dgyptologie 36 (1985), S. 5966 und vor allem seine Prsizierungen Lapparition du Papyrus Prisse (pBN 183194), in Revue dgyptologie 39 (1988), S. 209210. Fr die Biographie von Prisse dAvennes siehe Bibliothque Nationale de France (Hg.), Visions dgypte. mile Prisse dAvennes (18071879), Paris 2011; Mercedes Volait (Hg.), mile Prisse dAvennes. Un artiste-antiquaire en gypte au XIXe sicle (Bibliothque dtude 156), Le Caire 2013.

    4 mile Prisse dAvennes, Fac-simil dun papyrus gyptien en caractres hiratiques, trouv Thbes, donn la Bibliothque Royale de Paris et publi par E. Prisse dAvennes, Paris 1847.

    5 Fr die Beschreibung des Papyrus siehe zuletzt Fredrik Hagen, An Ancient Egyp-tian Literary Text in Context. The Instruction of Ptahhotep (Orientalia Lovaniensia Analecta

    Abb.1: Kol. 12 des Papyrus Prisse. Abb. nach Jquier, Le papyrus Prisse et ses variantes (Fn.5), Tf.I.

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    der abgewaschen/abgescheuert wurde (Palimpsest). Daraufhin wurde er mit der Lehre fr Kagemni (Kol. 12), mit einem zweiten Text ber einer Lnge von 137 cm (Kol. 3) und schlielich mit der Lehre des Ptahhotep, die den Rest des Papyrus fllt (Kol. 419), neu beschriftet. Der zweite Text wurde spter eben-falls ausradiert. Obwohl die erste erhaltene Kolumne des Papyrus vollstndig ist vielleicht wurde der meistens lchrige Papyrusanfang vom Verkufer vor-her abgeschnitten , ist der Beginn der Lehre fr Kagemni nicht berliefert. Eine solche Lehre besteht typischerweise aus einer Rahmenerzhlung, die einen normativen Teil mit Verhaltensregeln umschliet. In der Rahmenerzhlung werden der Autor sowie die Umstnde und der Grund, weshalb er die Lehre verfasst hat, eingefhrt. Nach dem Mittelteil mit den Verhaltensvorschriften setzt die Rahmenerzhlung wieder ein. Das anvisierte Publikum wird ange-sprochen und die Vorteile des Befolgens der Regeln werden dargestellt, ebenso die Ehrungen, die dem Autor zuteilwerden. Der berlieferte Text der Lehre fr Kagemni setzt irgendwo mitten in den Verhaltensregeln ein und endet mit der (hinteren) Rahmenerzhlung. Wie viel am Anfang verloren ist, lsst sich nicht einschtzen. Der Name des Autors ist, anders als bei der viel lngeren und be-rhmteren Lehre des Ptahhotep, nicht auf uns gekommen.

    Da die beiden Literaturwerke des Papyrus Prisse vorgeben, sich im gypti-schen Alten Reich in der Zeit der groen Pyramiden unter den Knigen Huni und Snofru (ca. 27002600 v. Chr.) bzw. unter Knig Isesi (ca. 2400 v. Chr.) abzuspielen, galt der Papyrus eine Zeit lang als le plus ancien manuscrit connu dans le monde entier6 bzw. als le plus ancien livre du monde.7 Und er wird

    218), Leuven/Paris/Walpole 2012, S. 135142. Er gibt eine Papyruslnge von 6,40 m an; die Lnge von 7,05 m nach Gustave Jquier, Le Papyrus Prisse et ses variantes, Paris 1911, S. 6. Andere Publikationen nennen eine Lnge von 7,01 m und einen ausradierten Bereich (Text 2) von 163 cm (z. B. http://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ead.html?id=FRBNFEAD000012921 [17.8.2013]). Letzteres schliet die obere Hlfte von Kol. 4, die ebenfalls ausradiert wurde, mit ein. Dabei nicht bercksichtigt ist jedoch das Ende von Kol. 2, das ebenfalls entfernt wurde. Der ausradierte zweite Text kann eine Lnge von fnf kompletten Kolumnen gehabt haben, vorausgesetzt die Kolumnen hatten eine mit Kol. 1 und 2 vergleichbare Lnge.

    6 Emmanuel de Roug, Mmoire sur linscription du tombeau dAhms, chef des nau-toniers (Mmoires prsents par divers savants lAcadmie des Inscriptions et Belles-Lettres de lInstitut de France. Premire Srie. Sujets divers druditon. Tome III), Paris 1851 (= 1853), S. 76.

    7 Franois Joseph Chabas, Le plus ancien livre du monde: tude sur le Papyrus Prisse, in Revue archologique 15 (1858), S. 125; Louis Leblois (Hg.), Le plus ancien livre du monde. Les Sentences de Kakemni, gouverneur sous le roi dgypte Snefrou (plus de 2000 ans avant Mose). Texte et traduction, Strasbourg 1874; Battiscombe G. Gunn, The Instruction of Ptah-hotep and the Instruction of Kegemni: The oldest books in the world (The Wisdom of the East), New York 1906 (= 1910).

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    beschrieben mit den Worten: rien ngale la largeur et la beaut de ce ma-nuscrit, qui provient dun personnage nomm Ptah-Hotep.8 In Wirklichkeit gehrt das Manuskript aus palographischen und sprachhistorischen Grnden in die 12. Dynastie des Mittleren Reiches (ca. 19501750 v. Chr.) und auch die handschriftliche Schnheit wurde jngst in Frage gestellt. Ein weiteres Prdi-kat fr den Papyrus lautete ce terrible manuscrit.9 Diesmal geht es nicht um die materielle Beschaffenheit des Dokuments, sondern um die bersetzungs-schwierigkeiten. Denn die Texte des Papyrus Prisse wurden im 19. Jh. wegen ihres moralischen Inhalts und ihrer Form als das Schwierigste, was die pharao-nische Kultur an Schriftzeugnissen vorzuweisen hatte, eingestuft.10

    Dank des Thesaurus Linguae Aegyptiae (TLA) sind gewisse Zahleninfor-mationen heute ganz leicht ermittelbar. Die Lehre fr Kagemni enthlt nach der Lemmatisierung des TLA 294 Wrter, die sich ber 170 verschiedene Lemma anstze verteilen. Blo 47 Wrter kommen im Text mehr als einmal vor, 26 Wrter sind insgesamt beraus selten oder sogar nur hier berliefert. In der metrischen bersetzung von R. Parkinson besteht der Text aus 45 Versen, 29 im normativen und 16 im narrativen Teil.11

    Zum besseren Verstndnis des Zusammenhangs der spter aufgefhr-ten Beispiele folgt hier eine bersetzung des grten Teiles des Literatur- werkes:

    [Der ganze vordere Bereich des Textes fehlt.]

    Wohlbehalten ist der Ehrfrchtige;gepriesen ist der Zuverlssige/Gemigte.Offen ist das Zelt des Schweigenden;gerumig ist der Platz des Ruhigen.

    8 de Roug, Mmoire sur linscription du tombeau dAhms (Fn.6), S.76. 9 Franois Joseph Chabas, Le Papyrus Prisse. Lettre Mr. le Directeur du Journal

    gyptologique de Berlin, propos de la difficult que prsente la traduction de ce docu-ment, in Zeitschrift fr gyptische Sprache und Alterthumskunde 8 (1870), S.8185 und S.97101, hier S.99.

    10 Vgl. noch 1911 Jquier, Papyrus Prisse (Fn.5), S.6: Les principes moraux contenus au papyrus Prisse constituent le texte littraire gyptien le plus difficile traduire.

    11 Richard B. Parkinson, The Tale of Sinuhe and other ancient egyptian poems 19401640 BC (Oxford Worlds Classics), Oxford 1998, S. 291292. Es gibt noch immer keine Einigkeit ber die Gestaltung des gyptischen Versbaus, weshalb auch andere Verszahlen fr die Lehre fr Kagemni vorliegen: vgl. Hellmut Brunner, Altgyptische Weisheit. Lehren fr das Leben, Darmstadt 1988, S.134136: 53 Verse (38+15) und Pascal Vernus, Sagesses de lgypte pharaonique, Paris 2001, S.5658: 51 Verse (35+16).

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    Rede nicht! Scharf sind die Messergegen den, der vom [rechten] Weg abkommt.Es gibt kein Eilen, ausgenommen beim [richtigen] Anlass [wrtl.: zu seinem Fall].Wenn du mit einer Menschenmenge [beim Essen] sitzest,dann hasse das Brot, das du liebst [d. h. verzichte auf die Nahrung, die du bevor-zugst]![Denn] das Herz [d. h. der Sitz des Verlangens] zu bezwingen dauert nur einen kurzen Augenblick.[Aber] Schlemmerei[?] ist Snde [oder: Fresslust ist etwas Abscheuliches]; man zeigt mit dem Finger darauf.

    Ein Becher Wasser, der lscht den Durst.[Und] ein Mundvoll [einfaches] Sww-Gemse, das festigt das Herz.Etwas Gutes reicht fr das Gute [im Allgemeinen].[Und] irgendeine Kleinigkeit reicht fr das Groe.

    Einer mit gierigem Bauch ist ein elender Kerl.So wie die Zeit [des Essens?] vorbergeht, da hat er vergessen:[Nur] zu Hause hat der Bauch freie Bahn [d.h. sind dem Appetit keine Schranken gesetzt].

    Wenn du mit einem Schlemmer/Gefrigen [beim Essen] sitzt, dann sollst du [erst] essen, wenn sein Heihunger vorber ist.Wenn du mit einem Zecher/Trunkenbold trinkst,dann sollst du annehmen; da ist sein Herz befriedigt.

    Strze dich nicht auf das Fleisch neben einem Gierigen!Nimm an, wenn er dir [etwas] gibt!Lehne es nicht ab! Das ist, was [ihn] freundlich stimmen wird.

    []

    Mache nicht [ber]gro dein Herz [d. h. sei nicht hochmtig oder bermtig] wegen der Muskelkraft[die vorhanden ist] inmitten deiner Nachkommen/Rekruten!Hte dich, dich zu widersetzen! [Denn] man wei nicht, was geschehen kannoder was der Gott [d.h. der Knig?] tut, wenn er bestraft.

    ***

    Dann veranlasste der Wesir, dass seine Kinder gerufen wurden,nachdem er sich mit dem Wesen der Menschen vertraut gemacht hatteund ihr Verhalten ihm verstndlich wurde [wrtl.: ber ihn kam].

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    Schlielich sagte er zu ihnen:Was all dieses angeht, das auf dieser Papyrusrolle geschrieben steht:hrt darauf/gehorcht ihm, wie ich es gesagt habe!Geht nicht ber das hinaus, was festgelegt/vorgesehen ist!

    Dann warfen sie sich auf dem Bauch.Dann lasen/rezitierten sie es so, wie es auf Papier [wrtl.: Schrift] stand.Dann war es besser ihrer Meinung [wrtl.: ihrem Herzen] nach als irgend etwas [anderes] in diesem ganzen Land.Dann gestalteten sie ihr Leben [wrtl.: standen sie auf und setzten sich] entspre-chend.

    Da ist die Majestt des Knigs von Ober- und Untergypten Huni entschlafen [wrtl.: angelandet].Da wurde die Majestt des Knigs von Ober- und Untergypten Snefru als wohl-ttiger Knig ber dieses ganze Land aufgestellt.Da wurde Kagemni zum [Haupt-]Stadtvorsteher und Wesir eingesetzt.

    3. Die ersten bersetzten Wrter und Stze

    Die ersten Wrter, die identifiziert wurden, waren Knigsnamen. Prisse dAvennes selbst, der kein Philologe war, erkannte die Kartusche des Snofru sowie die des Isesi, der ihm als Besitzer einer Pyramide in Saqqara bekannt war.12 Drei Kartuschen, von denen mindestens eine aus der Zeit der groen Pyramiden stammte (Prisse wusste damals noch nicht, dass Snofru der Vater des Cheops war), machten den Papyrus fr seinen Kufer natrlich noch umso wertvoller, denn in den 40er Jahren des 19. Jh. lag ein Forschungsschwerpunkt auf der Rekonstruktion der Chronologie des alten gypten und der Reihen-folge der Pharaonen.13 Prisse begab sich im Frhjahr 1843 erneut auf die Spuren

    12 Brief von Prisse dAvennes an Champollion-Figeac vom 20. Mrz 1843: Dewachter, Nouvelles informations (Fn. 3), S. 209.

    13 Christian Karl Josias von Bunsen (17911860) und Karl Richard Lepsius (18101884) versuchten eine Weile gemeinsam die altgyptische Chronologie zu rekonstruieren, konnten sich jedoch nicht auf eine gemeinsame Linie einigen und verffentlichten getrennt ihre Ergebnisse. In der Rezension zu Bunsen, Aegyptens Stelle in der Weltgeschichte (Fn. 16), erwhnt Emmanuel de Roug schon den Namen von Pharao Isesi nach dem Papyrus Prisse (in Annales de Philosophie chrtienne 13 [1846], S. 174; vgl. Gaston Maspero, Oeuvres divers, Paris 1904 S. 10, Anm. 1), whrend Bunsen nur den Beleg der chambre des anctres kennt. Auch Prisse erstellte seine eigene Knigsliste, bei der die Knigsliste aus der chambre des anctres eine wichtige Rolle spielt (Delange, in Visions dgypte [Fn. 3], S. 2122).

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    der Knige Snofru und Isesi, nun in der sogenannten chambre des anctres des Amuntempels von Karnak. Diese Kapelle mit der Darstellung von zahl-reichen Vorgngerknigen Thutmosis III. lie Prisse demontieren und nach Paris verschicken, sehr zum Leidwesen von Richard Lepsius, der die Reliefs im gleichen Jahr fr Berlin hatte sichern wollen.

    Es ist kein Zufall, dass der erste komplett bersetzte Satz der Lehre fr Kagemni aus dem narrativen Teil stammt und eine Kartusche enthlt. Der sprachbegabte Emmanuel de Roug (18111872),14 der sich seit 1836 mit der Hieroglyphenschrift beschftigte, nachdem ihm die in eben diesem Jahr pos-tum erschienene Grammaire gyptien von Jean-Franois Champollion in die Hnde gefallen war, konnte im Mai 1849 als erster eine berzeugende bersetzung eines lngeren historischen Textes in der Acadmie des Inscrip-tions et Belles-Lettres vorlegen. In der 1851 erfolgten Drucklegung dieser Vor-lesung ber die Biographie des Schiffsoffiziers Ahmose, einem Meilenstein in der gyptologischen Forschungsliteratur, zitierte er auch eine Passage aus der Lehre fr Kagemni.15 De Roug arbeitete damals in der gyptischen Abteilung des Louvre, spter wurde er Professor fr gyptologie am Collge de France.

    Die bersetzung und ausfhrliche Kommentierung der Biographie des Ah-mose durch Emmanuel de Roug war eine groartige Leistung, denn Champol-lion war 1832 gestorben, ohne einen Schler ausgebildet oder eine ausfhrliche Sprachbeschreibung hinterlassen zu haben. Die aus dem Nachlass 1836 erstellte Grammaire gyptien und das 1841 erschienene Dictionnaire gyptien reichten nicht aus, um fortlaufende Texte zu bersetzen.16 De Roug beschreibt seine Vorgehensweise folgendermaen: Je me suis occup surtout complter la Grammaire et le Dictionnaire [i.e. von Champollion] en rendant plus rigoureuse

    14 Eine biographische Skizze bei Gaston Maspero, Notice biographique du Vicomte Emmanuel de Roug, Paris 1908; auch erschienen als Einfhrung zu den gesammelten Schriften von de Roug: Gaston Maspero, Notice biographique du Vicomte Emmanuel de Roug, in ders. (Hg.), Emmanuel de Roug. Oeuvres diverses, Tome premier (Bibliothque gyptologique contenant les oeuvres des gyptologues franais, 21), Paris 1907, S. iclvi.

    15 de Roug, Mmoire sur linscription du tombeau dAhms (Fn.6); die Kagemni-Stelle auf S. 7677.

    16 Christian Karl Josias Bunsen, Aegyptens Stelle in der Weltgeschichte. Geschichtliche Untersuchung in fnf Bchern, Erstes Buch, Hamburg 1845, S. 322. Er schtzt die Zahl der bis dahin entzifferten Wrter auf etwa 500. An anderer Stelle (S. 317) schreibt er: Etwa dreihundert Wrter der altgyptischen Sprache, auf jene Weise urkundlich gefunden, hat er [i. e. Champollion] in derselben [gemeint ist die Grammaire] aufgefhrt, und eine be-deutend grere Anzahl liegt in dem eben jetzt (Febr. 1844) vollstndig erschienenen gyp-tischen Wrterbuche vor. An anderer Stelle scheint Bunsen die Zahl von 685 Wrtern erwhnt zu haben (vgl. Heinrich Brugsch, Hieroglyphisch-demotisches Wrterbuch, Bd. IV, Leipzig 1868, S. viii).

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    la mthode dinvestigation. Pour se croire certain du sens dun mot, il faut que ce sens vous rende raison de tous les passages o vous le trouvez employ. Cest l un genre de preuve long et pnible, que ne se sont point impos suffisamment MM. Birch et Lepsius, qui sont nos deux grands rivaux ltranger; aussi les voyons-nous trs souvent obligs de revenir sur des sens quils ont publis, et sur des lectures de caractres nouveaux quils ont donnes comme certaines, sans noncer leurs preuves. Il faut procder avec plus de svrit [].17

    Die Methode, die de Roug hier beschreibt, ist genau die, mit der auch Adolf Erman spter sehr erfolgreich sein wird: die Regeln der Grammatik erschlieen und eine mutmaliche Wortbedeutung an mglichst vielen Textstellen ber-prfen, um die Bedeutung abzusichern. Aus diesem Grund zitiert de Roug fr eine bestimmte Wendung in der Biographie des Ahmose die Lehre fr Ka-gemni. Aus dem gleichen Grund trgt sowohl das abgeschlossene als auch das aktuelle gemeinsame Akademieprojekt von Berlin und Leipzig mglichst viele Texte in der Textdatenbank Thesaurus Linguae Aegyptiae zusammen.

    17 Antwortschreiben von Emmanuel de Roug an Franois Joseph Chabas vom 22.3.1852, nachdem Chabas ihn fr seine angehenden gyptisch-Studien konsultiert hat: Frdric Chabas und Philippe Virey, Notice biographique de Franois-Joseph Chabas, Paris 1898, S. 910.

    Abb. 2: De Rougs drei Stufen der Entschlsselung: Der gleiche Satz im Hieratischen, um-gewandelt in Hieroglyphen, in einer (veralteten) wissenschaftlichen Transliteration und in lateinischer bersetzung (alles von rechts nach links geschrieben in Anlehnung an das hiera tische Original). Aus: de Roug, Mmoire sur linscription du tombeau dAhms (Fn. 6), S. 76.

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    Emmanuel de Roug setzte zuerst den hieratischen Papyrustext in Hie-roglyphen um, wie es auch heute der besseren Lesbarkeit halber noch immer gemacht wird. Allein das war schon eine Leistung. Zwar hatte Champollion 1821, d. h. ein Jahr bevor er den entscheidenden Schritt zur Entzifferung der Hieroglyphenschrift machte, nachgewiesen, dass das Hieratische eine Kursiv-form der Hieroglyphenschrift war, aber dies bedeutete nicht, dass man einen hieratischen Text ohne weiteres lesen konnte.18 Die Hilfsmittel, wie palogra-phische Listen, Anthologien von hieratischen Spezimina und Wrterbcher, die heute zur Verfgung stehen, gab es damals alle nicht. Man musste mhsam die hieroglyphischen und hieratischen Versionen des gyptischen Totenbuchs miteinander vergleichen, um auf diesem Wege das Hieratische nach und nach zu meistern. Fr das Hieratische des Papyrus Prisse kam noch hinzu, dass es typologisch deutlich lter und anders war als die jngeren hieratischen Toten-bcher und dass es damals noch keine Texte mit vergleichbarem hieratischen Duktus gab.

    De Roug entschied sich, seine Satzbersetzungen auf Lateinisch zu bie-ten, obwohl seine ganze Studie franzsisch geschrieben ist. Latein spielte in der gyptologie als Wissenschaftssprache kaum eine Rolle. Abgesehen von Dissertationen und einigen wenigen Monographien, darunter solche der irre-geleiteten Leipziger Hieroglyphenentzifferer Friedrich August Wilhelm Spohn (17921824) und Gustav Seyffarth (17961885), war Latein nur wichtig fr das Koptische, die spteste Sprachstufe des gyptischen, in der vor allem frh-christliche Texte geschrieben sind. Das damals wichtigste koptische Wrter-buch, das Lexicon linguae copticae von Vittorio Amadeo Peyron aus dem Jahr 1835, war auf Latein und die frhen gyptologen haben, als sie koptische Wrter zitierten, hufig eine lateinische bersetzung des Wortes hinzugefgt, whrend sie fr ltere gyptische Wrter eine bersetzung in einer modernen Sprache whlten. Franz Joseph Lauth lieferte 1869 fr seine Bearbeitung der Lehre fr Kagemni sowohl eine deutsche als auch eine lateinische bersetzung, und Philippe Virey, der die bersetzungen seiner Vorgnger zitierte, benutzte seinerseits 1887 die lateinische und nicht die deutsche Version.

    Der Satz, den de Roug behandelte, lautet in moderner Transliteration und bersetzung: aHa. n s aHa Hm n (. j) nsw-bj. t j (n frw)| m nsw mnx m tA pn r-Dr=f: Dann wurde die Majestt des Knigs von Ober- und Untergypten

    18 Jean-Franois Champollion, De lcriture hiratique des anciens gyptiens, Grenoble 1821. Er nennt auf S. 2 das Hieratische eine tachygraphie hiroglyphique. Fr den Beitrag von Champollion zur Entzifferung des Hieratischen vgl. Georges Posener, Champollion et le dchiffrement de lcriture hiratique, in Comptes rendus des sances de lAcadmie des Inscriptions et Belles-Lettres 116 (1972), S. 566573.

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    Snofru aufgestellt [d. h. erhoben, inthronisiert] als vorzglicher/wohlttiger K-nig in diesem ganzen Land. De Rougs lateinische bersetzung ecce surrexit majestas regis superiorum et inferiorum regionum Senofre sicut rex beneficus in regione ista ipsa(?). kommt dem schon ziemlich nahe.

    Aus seiner Publikation erfhrt man, wie er zu seiner bersetzung gelangt ist. Er hat erkannt, dass aHa. n oft vor einem Verb steht, und erklrte es zu einer Partikel. Er bersetzte es mit siehe!, weil er einen lautlich vielleicht plausiblen und doch falschen Zusammenhang zwischen aHa. n und koptisch () : siehe! annahm. Die meisten brigen Wrter dieses spezifischen Satzes waren schon Champollion bekannt, aber whrend letzterer nicht mehr dazu gekom-men ist, seine Wortbersetzung zu begrnden, war gerade dies ein bewuss-tes Anliegen de Rougs. Das Verb s aHa erklrte der Entzifferer der Hierogly-phenschrift als eine transitive Konjugationsform des Verbs aHa, dem 2. und 4. Stamm der arabischen Konjugation hnlich,19 was wir heute eine Kausativ-bildung mit s-Prformans nennen. Da Champollion fr aHa die Bedeutung placer, tablir, mettre, (Lat.) collocare, erigere erschlossen hatte, implizierte dies, dass s aHa faire placer war. Allerdings dachte er noch, dass der Schiffs-mast als , zu lesen sei. De Roug konnte letzteres korrigieren durch die Identifizierung des koptischen Nachfahren , : stehen. Er fgte hinzu, dass die Bedeutung stehen auerdem durch viele Belege abgesichert ist, u. a. durch die Opposition mit Hmsi, kopt. : sitzen, sich setzen. Des Weiteren erwhnte er den Stein von Rosette, auf dem einmal s aHa und einmal rDi aHa dem griechischen Infinitiv (von : aufrichten, aufstellen; sich hin-stellen) entspricht. Die Wortgruppe Hm n nsw-bj t j kannte Champollion auch schon als einen Knigstitel, die auf dem Stein von Rosette entsprach, wo er an einer Stelle als ausgeschrie-ben ist. Die spezifische bersetzung von Hm als Majestt geht ebenfalls auf Champollion zurck und hat sich bis heute gehalten, obwohl die Argumen-tation vllig falsch und auch der Bedeutungsaspekt Majestas/Hoheit nicht vorhanden ist.20 Die Bedeutung von mnx war dank der Bezeichnung von K-nig Ptolemaios Euergetes als nTr mnx oder griechisch : wohl-ttiger Gott gegeben. Das Wort tA entspricht koptisch : Land, Erde, Welt, nur r-Dr=f konnte De Roug mit le pays qui est donc lui, d. h. le pays par

    19 Jean-Franois Champollion le Jeune, Grammaire gyptienne, ou principes gnraux de lcriture sacre gyptienne, Paris 1836, S. 439.

    20 Die Argumentation lautet, dass die verwendete Hieroglyphe eine Vase und ein Symbol der Heiligkeit sei, weshalb sie auch im hchsten Priestertitel verwendet sein sollte. Die Hieroglyphe ist allerdings keine Vase, sondern ein Bleuel zum Wschewaschen. Heute zieht man fr Hm die Bedeutung die Person oder die Leiblichkeit des Knigs in Erw-gung.

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    excellence (das Land schlechthin) nicht korrekt erklren. Aber sptestens 1858 wusste Franois Joseph Chabas, dass das ganze Land gemeint war, vermut-lich weil er in Dr das koptische = ganz erkannt hat.

    De Roug verwendete fr die Bedeutungsfindung folgende Methoden:

    Identifizierung der koptischen Nachfahren der altgyptischen Wrter; Innergyptische Wortmorphologie/-bildung (s-aHa); Wortkontext: mit Satzpartikel vor Verbum (aHa.n) und Antonymen (aHa/

    Hmsi); Identifizierung des griechischen quivalents in zweisprachigen Texten; Interpretation des Klassifikators am Wortende (nicht im angefhrten Bei-

    spiel).

    Essentiell war fr ihn die Untermauerung einer mglichen Bedeutung durch zahlreiche weitere Textstellen, die hufig aus dem gyptischen Totenbuch stammen, dem grten Corpus an zusammenhngenden Texten, das damals dank der Edition eines Turiner Exemplars 1842 durch Richard Lepsius verfg-bar geworden war.

    4. Die Lehre fr Kagemni in der 2. Hlfte des 19. Jahrhunderts

    4.1. Dunbar Isidore Heath, oder die biblisch inspirierte bersetzung

    Nachdem Prisse dAvennes 1847 den Papyrus durch seine Faksimile-Edition der ffentlichkeit zugnglich gemacht hatte, lieferte der englische Geistliche Dunbar Isidore Heath (18161888) im Jahr 1856 die erste vollstndige ber-setzung des Papyrus Prisse, die er zwei Jahre spter separat drucken lie.21 Ein Jahr zuvor hatte er schon zweifelhaften Ruhm erworben mit einer berset-zung von Texten aus den Miscellanies-Papyri von London, in denen er die Ge-schehnisse des Exodus wiederzufinden behauptete.22 Das einzige Verdienst des

    21 Rev. Dunbar Isidore Heath, On a manuscript of the phoenician King Assa, ruling in Egypt earlier than Abraham, in The (London) Monthly Review, and Record of the Lon-don Prophetical Society, July 1856 [Auflsung des Zeitschriftentitels unsicher; Abkrzung: Monthly Review]; A Record of the Patriarchal Age, or, the Proverbs of Aphobis [or rather, of Pta h-Hetep]: B. C. 1900, now first fully translated by Rev. Dunbar I. Heath, London 1858.

    22 Rev. Dunbar I. Heath, The Exodus Papyri, with a Historical and Chronological Introduction by Miss Fanny Corbaux, London 1855 (URN: nbn:de:bsz:16-diglit-5481, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heath1895 [17.8.2013]).

  • Peter Dils

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    Amateurs Heath war, dass er die gyptologen Franois Joseph Chabas, Samuel Birch und Charles Goodwin zwang, sich zu dem Papyrus Prisse bzw. den Mis-cellanies zu uern.23 Zumindest scheint er den Tenor der Lehre des Ptahhotep erkannt zu haben, denn er nennt den Text the Proverbs of Aphobis. Obwohl er den Namen Ptahhotep lesen konnte, nannte Heath ihn Aphobis, weil er ihn mit Knig Apophis/Aphobis aus der Knigsliste von Manetho identifizierte, da-mit er ihn mit einem der Hirtenknige/Hyksos fr ihn waren dies die Juden aus dem biblischen Buch Exodus gleichstellen konnte.24 Chabas schreibt ber den bersetzungsversuch von Heath, dass dieser se flatte de donner la tra-duction dune partie notable du papyrus, mais il ma t impossible de le suivre dans ses interprtations hardies; les rsultats auxquels je suis arriv sont tout fait diffrents.25 An anderer Stelle vermerkt Chabas: En effet, lexamen des premires lignes de la traduction montre que le traducteur, au lieu de dtermi-ner le sens des phrases daprs une connaissance pralablement acquise du sens des mots, attribu aux mots des valeurs exiges par les phrases quil devinait ou imaginait tout dune pice.26 Battiscombe Gunn ist 1906 noch unbarmher-ziger in seinem Urteil: This version [gemeint ist die bersetz