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Schweißen und Schneiden 65 (2013) Heft 9 645 Im Juni 1928 klingelte das Telefon im Atelier des Architekten Ludwig Mies van der Rohe, Am Karlsbad 24 in Berlin. Am Apparat war Heinrich von Schnitzler. Er sagte zu Mies: „Herr Mies, für die internationale Aus- stellung in Barcelona im nächsten Jahr be- nötigen wir einen Pavillon.“ Darauf Mies: „Pavillon, was ist denn das, was meinen Sie denn damit?“ Antwort von Herrn von Schnitzler: „Das wissen wir auch nicht, aber die anderen Nationen haben auch einen!“ (Zitat aus einem Interview mit Mies van der Rohe, ZDF 1986). Daraufhin entwarf Mies den Barcelona-Pavillon, der nach der Re- konstruktion in 1986 auch heute noch in Barcelona zu besichtigen ist. Mies war voll- kommen klar: In dieses elegante Gebäude konnte er kein voluminöses Fauteuil stellen. Deshalb entwickelte er den Pavillonsessel. Dieser Sessel war nicht so einfach zu bauen, wie es auf den ersten Blick scheint. Mies hat 1930 selbst gesagt: „Es ist schwie- riger, einen guten Stuhl zu bauen, als einen Wolkenkratzer!“ Deshalb lag es für mich als Werkstofftechnikerin nahe, zu versuchen herauszufinden, wie er es tatsächlich ge- macht hat. Bis zum 17. August 1969 hätte ich ihn, Bild 1, noch selbst fragen können, aber diese Chance habe ich leider verpasst. Ingenieurtechnische Untersu- chungen zur Klärung von Kon- struktionsdetails notwendig Die Rekonstruktion des Barcelona-Pa- villons zu Mies’ 100. Geburtstag im Jahr 1986 Der „Barcelona Chair“ von Ludwig Mies van der Rohe – Ein Designklassiker aus fügetechnischer Sicht habe ich aufmerksam verfolgt. Von den mehr als 300 dort aufgenommenen Fotos zeigt Bild 2 eines, das für Postkarten mit Son- derbriefmarken verwendet worden ist. Zu sehen ist der Hauptraum im rekonstruierten Bild 1 • Mies van der Rohe – *27. März 1886 in Aachen, 17. August 1969 in Chicago (Foto: Dirk Lohan, Enkel von Mies, Chicago 1966). Bild 2 • Barce- lona-Pavillon – Rekonstruktion 1986.

Der „Barcelona Chair“ von Ludwig Mies van der Rohe – Ein ... · (Zitat aus einem Interview mit Mies van der Rohe, ZDF 1986). Daraufhin entwarf Mies den Barcelona-Pavillon, der

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Page 1: Der „Barcelona Chair“ von Ludwig Mies van der Rohe – Ein ... · (Zitat aus einem Interview mit Mies van der Rohe, ZDF 1986). Daraufhin entwarf Mies den Barcelona-Pavillon, der

Schweißen und Schneiden 65 (2013) Heft 9 645

Im Juni 1928 klingelte das Telefon imAtelier des Architekten Ludwig Mies van derRohe, Am Karlsbad 24 in Berlin. Am Apparatwar Heinrich von Schnitzler. Er sagte zuMies: „Herr Mies, für die internationale Aus-stellung in Barcelona im nächsten Jahr be-nötigen wir einen Pavillon.“ Darauf Mies:„Pavillon, was ist denn das, was meinen Siedenn damit?“ Antwort von Herrn vonSchnitzler: „Das wissen wir auch nicht, aberdie anderen Nationen haben auch einen!“(Zitat aus einem Interview mit Mies van derRohe, ZDF 1986). Daraufhin entwarf Miesden Barcelona-Pavillon, der nach der Re-konstruktion in 1986 auch heute noch inBarcelona zu besichtigen ist. Mies war voll-kommen klar: In dieses elegante Gebäudekonnte er kein voluminöses Fauteuil stellen.Deshalb entwickelte er den Pavillonsessel. Dieser Sessel war nicht so einfach zubauen, wie es auf den ersten Blick scheint.Mies hat 1930 selbst gesagt: „Es ist schwie-riger, einen guten Stuhl zu bauen, als einenWolkenkratzer!“ Deshalb lag es für mich alsWerkstofftechnikerin nahe, zu versuchenherauszufinden, wie er es tatsächlich ge-macht hat. Bis zum 17. August 1969 hätteich ihn, Bild 1, noch selbst fragen können,aber diese Chance habe ich leider verpasst.

Ingenieurtechnische Untersu-chungen zur Klärung von Kon-struktionsdetails notwendig Die Rekonstruktion des Barcelona-Pa-villons zu Mies’ 100. Geburtstag im Jahr 1986

Der „Barcelona Chair“ von Ludwig Mies van der Rohe –Ein Designklassiker aus fügetechnischer Sicht

habe ich aufmerksam verfolgt. Von denmehr als 300 dort aufgenommenen Fotoszeigt Bild 2 eines, das für Postkarten mit Son-derbriefmarken verwendet worden ist. Zusehen ist der Hauptraum im rekonstruierten

Bild 1 • Mies van der Rohe – *27. März 1886 inAachen, † 17. August 1969 in Chicago (Foto:Dirk Lohan, Enkel von Mies, Chicago 1966).

Bild 2 • Barce-lona-Pavillon –Rekonstruktion1986.

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Pavillon und zwei Pavillonsessel vor der freistehenden Wand aus Onyx d´oré. Die Ge-stelle dieser Sessel aus der Sonderserie vonKnoll International bestehen allerdings ausChrom-Nickel-Stahl. Die Auflagekissen sindaus weißem Rindleder und jedes durch Ke-dern und Polsterknöpfe in 5 × 4 Felder ge-teilt. Die Gestelle der Originale 1929 bestan-den aus Baustahl, waren verchromt und hat-ten anders gearbeitete Auflagekissen (De-tails weiter unten). Als ich 1998 die Werkstoffwoche in Mün-chen besuchte, fand dort gerade die vonWolf Tegethoff im Zentralinstitut für Kunst-geschichte (ZI) veranstaltete Ausstellung„Im Brennpunkt der Moderne: Mies van derRohes Haus Tugendhat“ statt. Das von Mies

für das Unternehmer-Ehepaar Fritz undGrete Tugendhat entworfene „Haus Tugend-hat“ wurde in Brünn, Tschechien etwa zurgleichen Zeit gebaut wie der Barcelona-Pa-villon und war ebenfalls mit Pavillonsesselneingerichtet worden. Aus den Gesprächenmit den in München versammelten Werk-stoffkollegen wurde schnell klar: Das Ge-heimnis der im ZI gezeigten Barcelona-Ses-sel würde sich nur mit teuren Methoden wieRöntgen und Computertomografie zur zer-störungsfreien Prüfung der Verbindungenlüften lassen. Eine unmittelbare Bestim-mung des Alters einzelner Sesselgestelledurch Werkstoffanalyse hätte an „Kaffee-satzleserei“ gegrenzt, weshalb folgende mit-telbare Kriterien herangezogen werden

mussten: Maße des Sesselgestells und desverwendeten Flachstahlbands, Art der Be-gurtung und Ausführung der Auflagekissen,Oberfläche und Güte des Stahls sowie Formder Kufen, Schweißverbindung des Knotensund der Verbindungen von Seitenteilen undStreben. Damit standen – wie für zweidimensio-nale Kunstwerke heute üblich – ingenieur-technische Untersuchungen an, um heraus-zufinden, wie der Barcelona-Sessel dennnun seit 1929 hergestellt worden ist und was(frei nach Goethes Faust) die Stahlkonstruk-tion im Innersten zusammenhält. Für die-sen technischen, aber zerstörungsfreienBlick auf Kunst und Design kamen mir mei-ne Mitgliedschaft im Deutschen Verbandfür Schweißen und verwandte Verfahren(DVS) seit 1999 und die Mitwirkung bei derSchweißtechnischen Ingenieurausbildungan der Bergischen Universität Wuppertal(BUW) ebenso zugute wie die seit 2004 be-stehende Kooperation mit der Bundesan-stalt für Materialforschung und -prüfung(BAM) in Berlin.

Das Fehlen der Originale lässt Fragen offen Zur Vorbereitung des von Helmut Reu-ter konzipierten und von der „Henry van deVelde Gesellschaft“ in Hagen im März 2007veranstalteten Symposiums „Mies’ Möbel-entwürfe und Innenraumkonzepte“ habeich im Jahr 2005 mit den technischen For-schungsarbeiten zu den Fertigungsdetailsdes Barcelona Chair begonnen. Die Ergeb-nisse dieser als „Pilotprojekt“ für das künf-tige Werkverzeichnis zu bezeichnenden Ta-gung sind als gewichtiges Buch „Mies unddas neue Wohnen“ im Jahr 2008 im HatjeCantz Verlag erschienen [1]. WeitergehendeForschungsergebnisse, insbesondere ausden Materialanalysen und werkstoff- sowiefertigungstechnischen Untersuchungen,wurden in der gemeinsam mit meiner Kol-legin Gerda Breuer kuratierten Ausstellung„Das Original – vom Prototyp zum Kultob-jekt. Der Barcelona Chair von Ludwig Miesvan der Rohe“ im Jahr 2009 in Wuppertalgezeigt. Die zwei in dem bekannten Fotoaus dem Jahr 1929 zu sehenden Pavillon-sessel, Bild 3 oben [2], hatten ein verchrom-tes Stahlgestell. Die Sitzkissen aus weißemZiegenleder waren nicht kassettiert, son-dern diagonal geheftet und lagen auf neunGurten auf, die zwischen die vordere undmittlere Strebe gespannt waren. Wenigerbekannt ist das Foto in Bild 3 unten [2], aufdem zu erkennen ist, dass es im Pavillon

Bild 3 • Die Originale des Pavillon-Sessels von 1929; oben: bekannte Aufnahme der Sessel mit ver-chromtem Gestell und weißem Bezug [2 – Bild 148, S. 147] (Foto (Ausschnitt): Berliner Bildbericht1929), unten: weniger bekannte Aufnahme weiterer Sessel, einige mit dunklen Bezügen [2 – Bild 165,S. 162] (Foto: Deutsche Bauzeitung, Berlin 1929).

Bild 4 • Risszeichnungdes Pavillon-Sessels –datiert 14. September1931 [2 – Bild 159, S.

158].

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Bild 5 oben [2], zeigt die Rückseiten vonzwei Pavillonsesseln, die zwar senkrechteLedergurte aufweisen, aber in unter-schiedlicher Anzahl von sieben bzw. neunGurten. Bei dem linken Sessel ist die Haar-fuge zwischen Seitenteil und Strebe desSesselgestells deutlich sichtbar. Diese bei-den – mit an Sicherheit grenzender Wahr-scheinlichkeit aus dem Haus Tugendhatstammenden – Sessel sind von MiroslavAmbroz in Brünn aufgespürt worden, Bild5 unten. Ich habe sie am 1. April 2011 imArchiv des Museums der Stadt Brünn inAugenschein genommen und anschlie-ßend detailliert – auch mittels Röntgen –untersucht. Die verchromten Gestelle dieser Pavil-lonsessel sind etwa 750 mm hoch undebenso breit und tief. Sie haben acht überSchnallen verstellbare Sitzgurte und neunbzw. sieben Rückengurte aus smaragdgrü-nem Rindleder. Sie bestehen aus je zweiSeitenteilen und drei Streben. Jedes Sei-tenteil besteht aus Flachstahlband – ein-facher Baustahl – mit etwa 35 mm × 13mm im Querschnitt. Die Kufenenden sindnicht gerundet. Jedes Seitenteil wiederumbesteht aus zwei miteinander verschweiß-ten Stücken, aus einem zu einem ¼-Kreis(Radius 750 mm) gebogenen und einemS-förmig gebogenen Stück. Sie sind beidejeweils an der Stelle, an der sie miteinanderverbunden sind und den Knoten bilden,in der Breite zur Hälfte ausgenommen und

Bild 5 • Pavillon-Sessel vom Haus Tugendhat, Brünn 1928 bis 1931, mit unterschiedlicher Gurtbe-spannung; oben: im Haus Tugendhat, Brünn [2 – Bild 166, S. 163] (Foto: Atelier de Sandalo 1931),unten: im Archiv des Museums der Stadt Brünn (Foto: Miroslav Ambroz 2011).

nicht nur die beiden oben genannten wei-ßen Sessel gab, sondern mindestens vierweitere Sessel mit zum Teil dunkleren Le-derkissen. An dem Pavillonsessel im Vor-dergrund sind deutlich vier waagrecht ge-spannte Rückengurte zu sehen. Ob es Le-der- oder Gummigurte waren, ist nicht be-kannt. Die so leicht und elegant aussehendenSessel im Barcelona-Pavillon von 1929 hat-ten ein Stahlgestell, das scheinbar aus einemStück besteht. Auf der Zeichnung aus demBüro von Mies, Bild 4 [2], ist jedoch eineHaarfuge zwischen Seitenteilen und waag-rechten Streben zu sehen. Die Zeichnungstammt allerdings erst vom 14. September1931. Ob die Stahlgestelle der Sessel, die tat-sächlich im Barcelona-Pavillon gestandenhaben, aus einem Stück gefertigt oder auszwei Seitenteilen und drei waagrechten Stre-ben zusammengesetzt waren, ist auf denOriginalfotos nicht erkennbar. Trotz inten-siver Bemühungen konnten bislang die Ori-ginalsessel nicht sicher nachgewiesen wer-den. Die Zeichnung aber kann der Fertigungder Sessel im Jahr 1929 nicht zugrunde ge-legen haben, weil sie zwar neun Sitzgurte,aber acht senkrechte Rückengurte vorsieht.

Modellvarianten der VorkriegsproduktionSessel aus dem Haus Tugendhat Das berühmte Foto aus dem 1928 bis1930 in Brünn erbauten Tugendhat-Haus,

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ineinander gesteckt, Bild 6. Diese Art der Ver-bindung wird Kämmung genannt. Sie machtnotwendig, vier Ecken lagenweise auszu-schweißen und zu verputzen, um den Knotenin der gewünschten Form und Größe zu er-halten. Der X-förmige Knoten hat die Abmes-sungen von etwa 46 mm waagrecht und 36mm senkrecht und ist handwerklich sorgfältiggearbeitet, wie aus den an der TechnischenUniversität Brünn gemachten Röntgenauf-nahmen erkennbar ist. Die drei waagrechtenStreben bestehen aus einem Messing-U-Profil

mit den Abmessungen 35 mm × 12 mm × 2mm, in das ein Vierkantstahl eingenietet ist,Bild 7. Bei dem Sessel mit neun Rückengurtensind diese Streben über in die Seitenteile ein-genietete Verbindungsstücke von der Sitzseiteher mit den Seitenteilen verschraubt. Zur Auf-nahme der Verbindungsstücke wurden dieSeitenteile auf der Schmalseite aufgebohrtund die verbliebenen Stege herausgeschlagen,siehe Röntgenaufnahme in Bild 7 unten. Diein das Messing-U-Profil eingelegten Stahlpro-file sind auf der Schmalseite in regelmäßigenAbständen zur Aufnahme der Gurtbefestigungaufgebohrt und mit Gewinden versehen.

Sessel im Grassi-Museum Bis zur Wiederentdeckung dieser Ses-sel galt als ältester bekannter Sessel das im

Grassi-Museum in Leipzig verwahrteExemplar, Bild 8 [1; 2]. Das mit einer aufden 27. Oktober 1933 datierten und sig-nierten Zeichnung inventarisierte Exem-plar (Inventar-Nr. 72.35) stand im ZI fürumfangreiche Untersuchungen im Jahr2007 zur Verfügung. Auffallend sind dieoriginalen, pompeijanisch roten neunSitz- und acht Rückengurte aus Leder. DieSitzgurte weisen auch hier unter ledernenZungen Schnallen auf. Das verchromteGestell dieses Pavillonsessels ist 755 mmhoch, 750 mm breit und 753 mm tief. Esbesteht aus zwei Seitenteilen und dreiStreben. Die Seitenteile sind aus Flach-band aus unberuhigt vergossenem Stahl(U-St 37-2) in den ungefähren Abmessun-gen 35 mm × 13 mm hergestellt. Die Ku-

Bild 6 • Knoten des Pavillon-Sessels aus demHaus Tugendhat (9 Rückengurte, Knoten 45,8mm × 36,4 mm); Ergebnis der Röntgenuntersu-chung (untere Bilder): Knoten gekämmt, ohneZulagen verschweißt (Foto: Miroslav Ambroz,Brünn; Röntgenaufnahmen: TU Brünn 2011).

Bild 7 • Querverbindung des Pavillon-Sessels ausdem Haus Tugendhat (9 Rückengurte): Messing,verchromt, U-Profil (35 mm × 12 mm × 2 mm)mit eingenietetem Vierkantprofil; Seitenteil aus-gebohrt, Flacheisen eingesteckt und vernietet(Fotos: Miroslav Ambroz, Brünn; Röntgenauf-nahme: TU Brünn 2011).

Bild 8 • Sessel aus dem Grassi-Museum (um1930) [1 – Bild 131, S. 132; 2 – Bild 133, S.144].; oben: Gestell mit originaler Gurtbespan-nung (Foto: Margit Behrens, ZI München), Mitte:Knoten aus Vorder- und Hinterteil mit einge-schweißtem Flacheisen (Zeichnung MathiasWinkler, München 2008), unten: Röntgenauf-nahme, seitliche Ansicht (SLV München 2007).

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Bild 9 • Querverbindung des Sessels aus dem Grassi-Museum; oben: Verbindung des Querholms mitdem Seitenstück, Mitte Konstrukti-onsskizze (Zeichnung: MathiasWinkler, München 2008), unten:Röntgenaufnahme (SLV München2007).

fenenden sind nicht gerundet. Je-des Seitenteil wiederum bestehtaus zwei C-förmig gebogenenStücken, die als Vorder- und Hin-terteil über ein eingeschweißtesStück Flachstahl miteinanderverbunden sind. Der Knoten hatdie Abmessungen 37 mm waag-recht und 34 mm senkrecht. DieArt der Konstruktion ist erstaun-lich, weil das Stahlband in derWaagrechten an der Außenkantestark gedehnt und an der Innen-kante stark gestaucht ist. Ande-

rerseits mussten nur oben und unten dieSchweißnähte verputzt werden. Die dreiwaagrechten Streben bestehen aus einemMessing-U-Profil mit den Abmessungen35 mm × 12 mm × 2 mm, in das ein Flach-eisen von 10 mm × 8 mm eingenietet ist,Bild 9. Diese Streben sind über in die Sei-tenteile eingesteckte und vernietete Ver-bindungsstücke aus Stahl angeschlossenund von der Sitzseite sichtbar verschraubt.Für die Verbindungsstücke wurden die Sei-tenteile auf der Schmalseite aufgebohrtund die verbliebenen Stege herausgeschla-gen. Die in das Messing-U-Profil eingeleg-ten Stahlprofile sind in regelmäßigen Ab-ständen zur Aufnahme der Gurtbefesti-gung aufgebohrt und mit Gewinden ver-sehen. Die Angaben von Mathias Winklerin [3] für das Flachstahlband und das Mes-sing-U-Profil nebst Stahleinlage erwiesensich bei nochmaliger Inaugenscheinnah-me im Grassi-Museum in Leipzig im Jahr2011 als zu groß.

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Sessel von James Johnson Sweeney Aus dem Nachlass von James JohnsonSweeney stand ein weiterer Pavillonsesselfür eingehende Untersuchungen zur Ver-fügung. James Johnson Sweeney war einmit Mies befreundeter Kunstkritiker und -sammler. Er war Kurator des Salomon-R.-Guggenheim-Museums in New York undhatte sich in den 1930er Jahren seine NewYorker Wohnung mit Möbeln von Miesausstatten lassen. Das verchromte Gestelldieses Pavillonsessels ist 752 mm hoch, 750mm breit und 755 mm tief. Es hat nur sie-ben Sitzgurte und auch acht Rückengurte.Es besteht ebenfalls aus zwei Seitenteilenund drei Streben. Die Seitenteile aus Flach-stahlband mit etwa 35 mm × 13,5 mm imQuerschnitt sind auch aus unberuhigt ver-gossenem Stahl (U-St 37-2) hergestellt. DieKufenenden sind auch hier nicht gerundet.Jedes Seitenteil wiederum besteht aus zweimiteinander verschweißten Stücken, Bild10, und entspricht in der Ausführung denSesseln aus dem Tugendhat-Haus inBrünn. Vorteilhaft ist hierbei eine günsti-gere Beanspruchung des Werkstoffs alsbeim Grassi-Exemplar. Der Knoten ist mit34 mm waagrecht und 25 mm senkrechtziemlich klein, aber handwerklich äußerstsorgfältig gearbeitet, wie die Röntgenauf-nahmen in Bild 10 belegen. Die drei waag-rechten Streben bestehen wie beim Gras-si-Modell aus einem Messing-U-Profil mitden Abmessungen 35 mm × 12 mm × 2mm, in das ein Vierkantstahl von 20 mm× 8 mm eingenietet ist, Bild 11. Diese Stre-ben sind über in die Seitenteile eingelöteteVerbindungsstücke von der Sitzseite hermit den Seitenteilen verschraubt. ZurAufnahme der Verbindungsstücke wur-den die Seitenteile auf der Schmalseiteaufgebohrt und die verbliebenen Stegeherausgeschlagen. Die in das Messing-U-Profil eingelegten Stahlprofile sindin regelmäßigen Abständen zur Auf-nahme der Gurtbefestigung aufgebohrtund mit Gewinden versehen. Auch hierstimmen die von Mathias Winkler in[3] angegebenen Maße für Flachstahl-band und Messing-U-Profil mit Stahl-einlage nicht.

Bemühungen um Produktionskosten-senkung in den Berliner Herstellwer-ken Die Stahlgestelle der vorgestelltenPavillonsessel, sowohl der Tugendhat-wie des Grassi- und des Sweeney-Exem-plars sind mit an Sicherheit grenzender

Wahrscheinlichkeit von der Firma „Berli-ner Metallwerkstätten Josef Müller“ bzw.„Bamberg Metallwerkstätten“ im BerlinerStadtteil Neukölln, Lichtenrader Straße 33hergestellt worden. Die Firma Bambergwar die Nachfolgefirma der Firma JosefMüller und stellte Stahlmöbel in Serie her.Sie bot 1930 den Pavillonsessel als ModellMR 90 in der verchromten Ausführung mitSchweinslederkissen für 520 Reichsmarkan, was in etwa dem zwei- bis dreifachenMonatslohn eines Facharbeiters entsprach.Die Konstruktionsweise der Pavillonsesselist also schon in der kurzen Zeit zwischen1929 und 1933 verändert worden, umdurch Rationalisierung die Kosten für dieHerstellung zu senken. Dieter Noack, des-sen Urgroßvater Carl Wilke wahrscheinlich1929 die ersten Gestelle des Pavillonsesselsin einer Kunstschmiede in Berlin-Neuköllnhandwerklich als Einzelstücke hergestellthat, berichtete mir, wie aufwändig es war,die Seitenteile zu produzieren. Der Flach-stahl musste stückweise erwärmt und ge-bogen, eingekämmt, verschweißt, geschlif-fen, poliert, verkupfert, vernickelt und ver-chromt werden. Von Anfang an diktiertedas Gebot der Rationalisierung die Pro-duktionsweise der Sesselgestelle, damit dieKosten für den Sessel wenigstens einiger-maßen erschwinglich blieben. Die unter-schiedliche Herstellungsweise spiegelt alsodie Bemühungen wider, die Kosten zu sen-ken.

Die Nachkriegsfertigung – die Produktion wird international Auch die Gestelle des Barcelona-

Sessels, die nach dem Krieg von der Fir-ma Knoll International vertrieben wur-den, zeigen in ihren unterschiedlichenAusführungen das Bemühen, die Pro-duktion so kostengünstig wie möglichzu gestalten, ohne von der ästhetischenKonzeption von Mies auffällig abzuwei-chen. Die äußerste Reduktion auf daskonstruktiv Notwendige war das Anlie-gen von Mies. Ihm ging es um eine ehr-liche Konstruktion mit der Reduzierungauf „Haut und Knochen“. Billig aller-dings durfte der Sessel nicht aussehen. Im Jahr 1946 hatte der aus einerStuttgarter Tischler- und Postermeis-terfamilie stammende Hans G. Knoll(1914 bis 1955) in New York, zusammenmit seiner Ehefrau Florence, geboreneSchust, die Knoll Ass. Inc. gegründet.

Die Innenarchitektin Florence Knoll hatte1947 von ihrem Lehrer Mies die Erlaubnis

Bild 11 • Querverbindung des Sessels aus demNachlass von James Johnson Sweeney; (Zeich-nung: Mathias Winkler, München 2008).

Bild 10 • Sessel aus dem Nachlass von JamesJohnson Sweeney; oben: Knoten (schematisch),gekämmt, ohne Zulagen verschweißt, Mitte undunten: Röntgenaufnahmen (SLV München 2007).

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erhalten, die Barcelona-Sessel zu produzie-ren. Einem eigenen Geschäftsmodell fol-gend stellte die Firma Knoll Internationaldie Barcelona-Sessel nicht selbst her, son-dern beauftragte damit mittelständischeBetriebe in verschiedenen Ländern. Im Jahr1947 begann die Zusammenarbeit zwi-schen Hans G. Knoll Ass. Inc. New York mitder Vergabe der Lizenz an die WohnbedarfAG (Zürich) für die Herstellung von Wohn-möbeln von Knoll International für dieSchweiz. Ein Auftrag des amerikanischenDepartment of State, 90 Häuser amerikani-scher Beamter in Deutschland einzurich-ten, war Anlass für die Gründung der FirmaKnoll International GmbH am 20. Novem-ber 1951 in Stuttgart. Dort wirkte unter derLeitung von Toby E. Rodes, dem Präsiden-ten des europäischen Bereichs der KnollAss. Inc., ein kleiner Planungs- und Verwal-tungsstab.

Von Meili in der Schweiz gefertigte Sessel Im Auftrag des Geschäftsführers derWohnbedarf AG Zürich fertigte Walter Meilietwa 1949 ein Gestell für einen Barcelona-Sessel aus nichtrostendem Stahl. DiesesSesselgestell, Bild 12, besteht aus zwei Sei-tenteilen und drei Streben. Die aufstehen-den Kufenenden sind gerundet. Jedes Sei-tenteil besteht aus drei Stücken Flachstahl-profil mit dem Querschnitt 30,4 mm × 12,4mm. An den zu einem Viertelkreis geboge-nen, durchgehenden Rückenfuß sind imKnoten die Sitzleiste und der Fußbogenüber einfache Kappnähte angeschweißt.Der Knoten ist mit 29 mm waagrecht und21 mm senkrecht auf ein Minimum redu-ziert. Die drei Streben bestehen aus 680 mmlangem Flachstahlband von 30,2 mm × 12,4mm im Querschnitt. Die Gewindebohrun-gen in den Schmalseiten dienen zur Befes-tigung der Gurte. An den Enden sind dieStreben durch eine Fase für die Verschwei-ßung mit den Seitenteilen vorbereitet, so-dass schließlich ein Sesselgestell aus einemStück entsteht. Nach dem Schleifen und Po-lieren wird also galvanisch nicht nachbe-handelt, das heißt keine Chromschicht auf-gebracht. In Deutschland beauftragte die FirmaKnoll International die Firma WaldemarStiegler in Marbach am Neckar mit derHerstellung der Barcelona-Sessel. Hierwurden von 1954 bis 1976 die Metallge-stelle für den Barcelona-Sessel als „Modell250“ auf der Grundlage einer ZeichnungNr. 239/6 der Firma Knoll Ass. Inc. vom 13.September 1951 gefertigt. Die ledernen

Bild 12 • Barcelona-Sessel für die Wohnbedarf AG, Zürich, gefertigt etwa 1949 von Walter Meili(Fotos: Friederike Deuerler, Iserlohn 2011; Röntgenaufnahme: SLV Duisburg 2011).

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Gurte und Auflagekissen wurden von derFirma Möller, Marbach beigestellt. Die Fir-ma Stiegler produzierte die Sessel in ver-schiedenen Versionen hinsichtlich derVerbindung von Seitenteil und Streben so-wie der Ausführung des Knotens. Zur Bie-gung der Seitenteile entwickelte ein Mit-arbeiter eine spezielle Horizontalbiege-maschine.

Der Sessel von Lucius D. Clay im Archivder Stiftung Bauhaus Dessau Das im Archiv der Stiftung BauhausDessau verwahrte Sesselgestell, Bild 13 ausdem Büro des Hochkommissars der Alli-ierten Streitkräfte, Lucius D. Clay, wurdeaus blank gezogenem Flachstahl der GüteSt 37 K (Baustahl) hergestellt. Das ver-chromte Metallgestell aus zwei Seitentei-len und drei Streben entspricht der zuvorgenannten Zeichnung in ihrer ursprüng-lichen Fassung. Es ist mit neun Sitzgurtenund acht Rückengurten bespannt. Die auf-stehenden Kufen sind gerundet. Jedes Sei-tenteil besteht aus zwei Stücken Flach-stahlprofil mit dem Querschnitt 30 mm ×12 mm. Beide Teile sind gekämmt, inei-nander gesteckt und im Knoten nach derursprünglichen Fassung der Zeichnungüber einfache Kappnähte miteinander ver-schweißt. Der Knoten ist mit 30 mm waag-recht und 20,6 mm senkrecht sehr klein.An die Seitenteile sind 85 mm lange StückeFlachstahl mit einer Dicke von 4 mm an-geschweißt. Die Streben sind an ihren En-den jeweils korrespondierend abgesetztund ergänzen sich mit den angeschweiß-

Bild 13 • Der im Archiv der Stiftung Bauhaus,Dessau, verwahrte Sessel von Lucius D. Clay(etwa von 1954/55; Fotos: Friederike Deuerler;Röntgenaufnahmen: Bernhard Redmer, BAMBerlin 2008); oben links: Seitenteil, oben rechts:Streben mit originalen Ledergurten, Mitte links:Seitenteil mit Überblattung (Schlagzahl 44),Mitte rechts: Knoten, unten links: Röntgenauf-nahme des Knotens (Seitenansicht), untenrechts: Röntgenaufnahme des Knotens (Ansichtvon oben).

Bild 14 • Wenig ansprechende Konstruktionslö-sung mit Stabilitätsproblemen: Barcelona-Sesselmit Ecküberblattung (Fotos oben: Christoph Be-cker, Wuppertal 2009; Fotos unten: FriederikeDeuerler, München 2008); 1) Gestell, 2) DetailEcküberblattung, 3) Verbindung obereStrebe/rechtes Seitenteil (von oben), 4) Verbin-dung vordere Strebe/rechtes Seitenteil (vonoben).

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ten Stücken zu einer vollständigen Strebevon 12 mm Dicke. Streben und ange-schweißte Stücke sind über je zwei Schrau-ben von der Sitzfläche her miteinanderverbunden. Um sicherzustellen, dass inder Serienfertigung Streben und Seitentei-le nach der Endbearbeitung wieder richtigzusammengesetzt werden konnten, befin-den sich in den StrebenüberblattungenSchlagzahlen. Diese Konstruktionsweisezeigt die Grenzen der Rationalisierung, dadurch die Art der Verbindung zwischenStreben und Seitenteil die Stabilität desSessels begrenzt ist. Der Sessel ist bei ei-nem Umzug vom Lastwagen gefallen. Beidiesem Unfall sind die Laschen verbogenund teilweise sogar abgerissen. Deshalbkonnte der Sessel nicht wieder zusammen-geschraubt werden. Bei dem zweitenExemplar aus dem Bestand der US-Armyist der Zielkonflikt zwischen ästhetischerReduktion und statischer Notwendigkeitgelöst worden, indem die kritischen Ver-bindungsstellen verstärkt wurden.

Nach qualitativem Tiefpunkt ökonomische und ästhetisch ansprechende Lösung Die Firma Knoll International hat wegender Unzulänglichkeiten der nach der Zeich-nung 239/6 gefertigten Gestelle folgendeKonsequenzen gezogen: Es wurde dickeresFlachstahlband (Querschnitt 30 mm × 14mm) verwendet und der Knoten der Seiten-teile wurde entsprechend dem handschrift-lichen Nachtrag in der Zeichnung durch dasEinschweißen von Zulagen vergrößert (40mm × 35 mm). Diese Maßnahme ist meinesErachtens jedoch nicht ausschließlich auftechnische Anforderungen zurückzuführen.Vielmehr sind dafür im Wesentlichen ästhe-tische Gründe maßgebend. Damit ent-spricht der Knoten äußerlich wieder der ur-sprünglichen Version des Pavillonsessels.Die Spitze der Rationalisierungsbemühun-gen, bei der die Grenze zur Billigkeit danntatsächlich erreicht wird, stellt eine Bauartder Sesselgestelle dar, wie sie in den Jahren1955 bis 1958 gefertigt worden ist. Die Ver-bindungen zwischen Seitenteilen und Stre-ben wurden als sogenannte Ecküberblat-tungen, Bild 14, ausgeführt. Zwar sind dieSeitenteile der Sesselgestelle wie zuvor jedesaus zwei Teilen gekämmt, ineinander ge-steckt und über Zulagen miteinander ver-schweißt, aber Seitenteile und Streben sindmiteinander verbunden, indem die Strebenan ihren Enden zur Hälfte der Dicke abge-setzt sind und die Seitenteile zur Aufnahme

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BERICHTE

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dieser Strebenenden korrespondierend ab-gefräst wurden. Die Ecküberblattungen wa-ren durch den Einsatz von Fräsmaschineneinfach und kostengünstig herstellbar.Durch diese Art der Verbindung ließ sichaber eine erhöhte Stabilität der Gestellenicht erzielen, wenn nicht äußerst exakt ge-arbeitet wurde. Eine genaue Fertigung aberhob einen Teil des Rationalisierungseffektswieder auf. Auch die diagonale Anordnung

der Schrauben in den Eckverbindungen ver-hinderte nicht, dass sich die Gestelle bei er-höhter Belastung zu einem Parallelogrammverschoben. Abgesehen davon überzeugendie ins Auge springenden Ecküberblattun-

gen nicht. Allein der Preisvon 795,- DM für einenBarcelona-Sessel in derListe von Knoll Internatio-nal im Jahr 1957 ist alsokein Grund für die unbe-friedigende Ästhetik.

Ab etwa 1958 wurdevon der Firma Stiegler ei-ne Version des Sesselge-stells entwickelt, dieschließlich alle techni-schen und ästhetischenForderungen weitgehenderfüllte und danebennoch kostengünstig her-zustellen war. Währenddie Ausführung des Kno-tens zunächst weitgehendunverändert blieb, wurdedie Verbindung von Sei-tenteilen und Streben ge-ändert. Die Seitenteile er-hielten angeschweißteGewindestücke, Bild 15,die an ihren Enden zurHälfte der Breite um 34mm (Fertigungszeich-nung 173) abgefräst wa-ren. Korrespondierenddazu wurden die Strebenan ihren Enden ausge-nommen, Fertigungs-zeichnung 172, 16. Stre-ben und Gewindestückewurden durch eine Inbus-schraube verbunden. DerKopf der Inbusschraubeverschwand in der Strebeund alle diese Stufenver-bindungen wurden vonden ledernen Spanngur-ten überdeckt. Die Her-stellung der Streben undGewindestücke war mitBohr- und Fräsmaschinenerleichtert und erzielte

Bild 15 • Sesselgestell mit Stufenverbindung; oben: Ferti-gungszeichnung (Firma Stiegler, Marbach 1970), Mitte undunten: Seitenteil mit oberem bzw. vorderem Gewindestück(Fotos: Ernst Schauf, Essen 1998).

Bild 16 • Streben des Sesselgestells mit Stufenverbindung;oben: Fertigungszeichnung (Firma Stiegler, Marbach 1970),unten: Streben mit Gurtbefestigungen (Fotos: Ernst Schauf,Essen 1998)

Bild 17 • Röntgenaufnahme eines Kno-tens aus Ober- und Unterteil, ge-

schweißt mit zwei Zulagen (Foto: JensMeisner, SLV Duisburg 2010).

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befriedigende Ergebnisse bezüglich derGenauigkeit und damit der Stabilität. In der bis 1976 gefertigten Versionaus Flachstahl (30 mm × 14 mm) wurdendann die Seitenteile aus einer unterenund oberen Hälfte zusammengesetzt. DieUmstellung der Produktion kann nichtvor dem Jahr 1970 dokumentiert werden.Die Fertigung der Seitenteile aus Ober-und Unterteil, Bild 17, senkte die Produk-tionskosten weiter, weil bereits mit demBiegen der Stahlabschnitte zwei fertigeEcken in den Kreuzungspunkten entstan-den und nur noch die beiden anderenEcken ausgefüllt und nachgearbeitet wer-den mussten. Diese Vereinfachung be-ansprucht den Werkstoff wegen der grö-ßeren Biegeradien weniger als bei demGrassi-Exemplar aus Vorder- und Hin-terteil und ist wegen der werkstoffgerech-ten Konstruktion besser. So wie die FirmaStiegler die Sesselgestelle bis 1976 gefer-tigt hat, werden sie auch heute noch welt-weit produziert. Allerdings wurden dieMaße des Flachstahlbands und des Kno-tens reduziert. Es wurden von Knoll In-ternational offensichtlich auch Barcelo-na-Sessel für Hunde gefertigt, Bild 18,vermutlich nicht nur für Windhunde.Dem jeweiligen Eigentümer oder Besit-zer war die Konstruktion sicher herzlichegal.

Originale aus Barcelona noch gesucht Ich bin schon oft gefragt worden, wasmich an dem Barcelona-Sessel so fasziniert.Trotz aller Begeisterung für die Technik istes mir nicht gelungen, die Barcelona-Sesselzum Sprechen zu bewegen und so über dieEntstehungsgeschichte des Möbels Auskunftzu erhalten. Nach dem Motto von Wilhelmvon Humboldt „Im Grunde sind es immerdie Verbindungen mit Menschen, die demLeben seinen Wert geben“, habe ich die zahl-reichen Begegnungen mit sehr interessantenMenschen als große Bereicherung empfun-den. Die vorgestellte Forschungsarbeit wärenicht möglich gewesen ohne die Hilfe fol-gender Personen, bei denen ich mich aus-drücklich bedanke: Edwin Burkhardt hat seit1999 mit Engelsgeduld und viel Herzblut allemeine Fragen zum Barcelona-Sessel uner-müdlich beantwortet. Reinhold Frick hat diehier gezeigten Fertigungspläne gezeichnetund Werner Halbgewachs die wirtschaftli-chen Gesichtspunke der Knoll-Produktionerläutert. Ich danke weiterhin Herrn WalterFranoscheck, ehemaliger Vertriebsleiter der

Firma Knoll International Stuttgart und HerrnToby E. Rodes († 21. April 2013), ehemaligerManager von Knoll International Europa. Tat-kräftige Unterstützung erfuhr ich bei den kos-tenträchtigen Werkstoffanalysen und Rönt-genuntersuchungen durch: Prof. Cord-Chris-toph Vogt von der FH Schweinfurt, BernhardRedmer von der BAM, Berlin sowie Dr. Mar-kus Holthaus, Jens Meißner und Prof. Rein-hardt Winkler von der SLV Duisburg. Detail-lierte Auskünfte erhalten habe ich unter an-derem von: Dr. Miroslav Ambroz, Brünn/Cz,Rüdiger Messerschmidt von der Stiftung Bau-haus Dessau, Serge Mauduit und AndreasNutz vom Vitra Design Museum, Weil amRhein und last but not least Caterina Valenteaus Lugano. Liebe Leserinnen und Leser, nunwissen Sie, auf was Sie achten müssen, wennSie das nächste Mal auf den Dachboden, in

die Garage, die Waschküche oder dieRumpelkammer gehen. Denn auf die mitletzter Sicherheit als Originale zu bestim-menden Pavillonsessel von 1929 wartenwir noch. Falls Sie irgendwo etwas Inte-ressantes in Sachen Barcelona-Sessel ent-decken, benachrichtigen Sie mich bitte([email protected]). Der Betreuer meiner Doktorarbeit (einPhysiker) hat mir den Picasso-Spruch„Kunst wäscht den Staub des Alltags vonder Seele“ ans Herz gelegt. Falls Sie malein solches Bedürfnis haben und dieRaumwirkung des Barcelona Chair in deroriginalen Umgebung, Bild 19, ansehenwollen, besuchen Sie doch einfach dasam 29. Februar 2012 nach der umfang-reichen Rekonstruktion wiedereröffneteTugendhat-Haus in Brünn.

Prof. Dr.-Ing. Friederike Deuerler, Wuppertal

Literatur[1] Reuter, H., u. B. Schulte (Hrsg.): Mies

und das neue Wohnen – Räume, Möbel,Fotografie. ISBN 978-3-7757-2220-9,Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008.

[2] Tegethoff, W.: Der Pavillonsessel – DieAusstattung des Deutschen Pavillons inBarcelona 1929 und ihre Bedeutung. In:Mies und das neue Wohnen – Räume,Möbel, Fotografie (Hrsg. H. Reuter u. B.Schulte), S. 144/73. ISBN 978-3-7757-2220-9, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern2008.

[3] Winkler, M.: Untersuchungen zum frühenBarcelona-Sessel – Untersuchungsreihe imRahmen von „Möbel und MöbelentwürfeMies van der Rohes“. In: Mies und das neueWohnen – Räume, Möbel, Fotografie (Hrsg.H. Reuter u. B. Schulte), S. 174/83. ISBN 978-3-7757-2220-9, Hatje Cantz Verlag, Ostfil-dern 2008.

[4] Deuerler, F., u. H. Deuerler: Die Produktiondes Barcelona-Sessels in Deutschland nach1945. In: Mies und das neue Wohnen –Räume, Möbel, Fotografie (Hrsg. H. Reuteru. B. Schulte), S. 184/93. ISBN 978-3-7757-2220-9, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008.

[5] Deuerler, F.: Der Barcelona-Sessel von LudwigMies van der Rohe – Eine Design-Ikone imRöntgenfokus. BUW.Output Nr. 6/Winterse-mester 2011/12, Forschungsmagazin der Ber-gischen Universität Wuppertal, S. 24/31.

[6] Deuerler, F.: Mies van der Rohe´s Barcelonachair – A design icon in X-ray close-up.http://www.buw-output-archiv.uni-wup-pertal.de/ausgabe6/deuerler/index-en.html.

[7] Deuerler, F.: Mit dem Röntgenblick auf dieDetails – Neuere Methoden der Werkstoff-prüfung beim Barcelona-Sessel helfen beider Frage nach der Originalität. In: Mies –Tot oder Lebendig? (ISBN 978-3-935053-55-6), Mies Haus Magazin 7 (2011), H. 8, S.64/71.

Bild 18 • Barcelona-Sessel mit Windhund, (Werbe-prospekt der Firma Knoll International, Stuttgart.

Bild 19 • Tugendhat-Haus in Brünn.

DANKSAGUNGDie Arbeit wird im Rahmen des DFG-Projekts„Kommentiertes Werkverzeichnis der Möbelund Möbelentwürfe Ludwig Mies van der Ro-hes“ gefördert (Kennzeichen DE 756/3-1).