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Universität Zürich
Deutsches Seminar
Seminar: Grammatik und Pragmatik
Prof. Dr. Christa Dürscheid
FS/HS 14
Der adnominale possessive Dativ
in den Deutschschweizer Varietäten
abgegeben am:
31.10. 2014
von:
Nicole Zellweger
Inhaltsverzeichnis0 Einleitung..........................................................................................................................................11 Diachrone Entstehung des apDs........................................................................................................3
1.1 Genitivschwund.........................................................................................................................31.2 Entstehung des apDs: zwei Hypothesen....................................................................................4
1.2.1 Variante A...........................................................................................................................41.2.2 Variante B.........................................................................................................................12
2 Der apD in der deutschsprachigen Schweiz....................................................................................142.1 Ergebnisse des Projektes Dialektsyntax...................................................................................15
2.1.1 Quantitative Verbreitung des apDs...................................................................................162.1.2 Räumliche Verbreitung des apDs.....................................................................................162.1.3 Weitere Possessivkonstruktionen.....................................................................................18
3 Fazit.................................................................................................................................................22 Bibliographie.....................................................................................................................................25 Abbildungsverzeichnis......................................................................................................................27
0 EinleitungLange Zeit wurden Konstruktionen des Typs der Mutter ihr Kind in den Grammatiken
der deutschen Sprache entweder ganz verschwiegen oder fristeten ein
„Paarzeilendasein“ als nicht-standardsprachliche Variante des 'korrekten'
Genitivattributs (Ágel 1993:1). Dabei hat selbst Schiller in Wallensteins Lager
geschrieben: „Auf der Fortuna ihrem Schiff ist er zu Segeln im Begriff“ (vgl.
Grammatik-Duden 2009:827). Erst in den letzten Jahrzehnten avancierte der
adnominale possessive Dativ (apD), wie die Konstruktion offiziell heisst, zu einem
Klassiker einer stärker an der Sprachverwendung orientierten Grammatik- und
Syntaxforschung. Im Vordergrund standen dabei die diachrone Entstehung dieser
rätselhaften Struktur sowie die Diskussion über ihre Konstituentengliederung; eine
Frage, die insbesondere in der Generativen Grammatik intensiv diskutiert wurde. Den
Ausgangspunkt bildete die Erkenntnis, dass der Dativ „offensichtlich stark semantisch-
pragmatisch […] gesteuert“ wird und sozusagen an der Schnittstelle zwischen der
Autonomie der Syntax und dem allgemeinen Kognitionssystem steht (vgl. Ogawa
2003:2). Dadurch wurden Konstruktionen wie der apD besonders interessant für
sprachtypologische und funktionalistische Untersuchungen (vgl. Ogawa 2003:3).
Oberflächenstrukturell betrachtet, besteht der Fortuna ihr Schiff aus einer Dativ-
Konstituente1 (der Fortuna), die den Possessor benennt, und einem femininen
Possessivum in der 3. Person Sg. (ihr-), das dem den Besitz bezeichnenden Kopf-
Substantiv (Schiff) vorangeht (vgl. Zifonun 2003:97). Die Besonderheit des apDs liegt
in der adnominalen Verwendung der Dativ-Konstituente der Fortuna. Diese nimmt
nämlich die Position eines Attributs zum Kopfsubstantiv Schiff ein. Da der Dativ in der
heutigen Standardsprache jedoch vor allem adverbal verwendet wird2, „sprengt“ diese
Konstruktion auf den ersten Blick den strukturellen Rahmen der deutschen Syntax
(Ágel 1993:1).
1 Zur Besetzung der Dativposition vergleiche ausführlich Zifonun (2003:98-100).2 Damit soll nicht gesagt werden, dass der Dativ nicht auch häufig adnominal verwendet wird. Ogawa
(2003:3) schreibt dazu: „Zugleich ist der der Dativ aber kein ,kategorienspezfischer‘ [...] Kasus, so dass er nicht nur als Komplement eines Verb(alkomplexe)s, sondern auch als Komplement weiterer Kategorien funktionieren zu können scheint. Dazu denke man z.B. an den Dativus ethicus [...], den adnominalen possessiven Dativ [...] oder den appositiven Dativ [...]. Die anderen Kasus im Deutschen scheinen im Wesentlichen ,kategorienspezifischer‘ zu sein: Der Nominativ wird durch ,Flexion‘, der Genitiv durch das (Kopf-)Nomen, und der Akkusativ durch das Verb jeweils vergeben [...].“
1
Ágel (1993:1f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer „kasuellen Arbeitsteilung“:
„Die adverbalen Kasusformen sind Nominativ, Akkusativ und Dativ, die adnominale Kasusform ist der Genitiv. Dementsprechend treten Nominativ, Akkusativ und Dativ im adnominalen Bereich nur als Sonderformen auf, die eigens motiviert werden müssen.“ (Hervorhebungen N.Z.)
Dies ist bei weitem nicht die einzige Eigentümlichkeit des apDs. Mit dem Possessivum
(sein-/ihr-) wird der Possessorausdruck (der Fortuna) wieder aufgenommen, und zwar
innerhalb der Phrasengrenzen. Der Possessorausdruck und das Possessivum sind also
nicht nur koreferent, sondern auch höchst redundant. Dennoch ist es dem apD gelungen,
das syntaktisch 'korrekte' Genitivattribut in den verschiedenen Bereichen nicht-
standardsprachlicher Kommunikation weitgehend zu ersetzen: in den Dialekten, in den
regionalen Umgangssprachen sowie im Substandard (vgl. Fleischer/Schallert 2011:84f.,
Zifonun 2003:98). Eine Ausnahme – eine Art 'linguistischen Sonderfall' – bilden die
südlichen Regionen der Schweiz, in denen höchstalemannische Mundarten gesprochen
werden. Anders als in den übrigen deutschsprachigen Gebieten ist es dem apD hier nicht
gelungen, den adnominalen Genitiv zu verdrängen.
In der vorliegenden Arbeit soll deshalb in einem ersten Schritt untersucht werden, wie
sich die Entstehung sowie die weite Verbreitung und Attraktivität des apDs erklären lässt,
obwohl die Konstruktion aus Sicht der Grammatik einen syntaktischen Sonderfall
darstellt und redundante Teile enthält (vgl. Zifonun 2003:122). Danach soll in einem
zweiten Schritt die Verbreitung der verschiedenen Possessivkonstruktionen in der
Schweiz dargestellt und das Spannungs- oder Konkurrenzverhältnis, in dem der apD zu
anderen Konstruktionen steht, analysiert werden.
Den ersten Teil der Arbeit bildet das Kapitel zur Entstehung des apDs (Kapitel 1). Zuerst
wird auf den Genitivschwund eingegangen, in den die Genese des apDs eingebettet ist
(Kapitel 1.1.). Danach folgen zwei Forschungshypothesen zur Entstehung der
Konstruktion (Kapitel 1.2.). Im zweiten Teil der Arbeit soll anhand der Daten aus dem
Projekt 'Dialektsyntax' die Verbreitung des apDs in der Schweiz aufgezeigt werden
(Kapitel 2.1.). Im Fokus steht dabei, inwiefern der apD arealbildend ist (2.1.2.).
Ausserdem stellt sich die Frage nach seinen Konkurrenten im Bereich der adnominalen
Possessivkonstruktionen (2.1.3.). Im Fazit (Kapitel 3) vergleiche ich die Erkenntnisse zu
Entstehung und Struktur des apDs mit der arealen Distribution der Konstruktion in der
Schweiz und gebe einen Ausblick auf mögliche Entwicklungstendenzen.
2
1 Diachrone Entstehung des apDsDer apD ersetzt in den deutschen Dialekten und der Umgangssprache das Genitiv-
Attribut der Standardsprache. Um die Entstehung des apDs zu verstehen, müssen wir
deshalb zuerst einen Blick auf den bereits im Althochdeutschen einsetzenden und bis
heute anhaltenden Genitivschwund werfen. Danach folgen zwei unterschiedliche
Hypothesen, wie sich der adnominale possessive Dativ herausgebildet haben könnte.
Beide Entwicklungen – Genitivschwund sowie die Entstehung des apDs – stehen dabei
in einer Wechselwirkung: Der Genitivschwund bietet den allgemeinen Rahmen, der die
Präferenz der Sprecher für die dativische Ersatzkonstruktion sozusagen 'gefördert' haben
dürfte, als Genitivattribut und apD in der Umgangssprache noch in direkter Konkurrenz
standen. Gleichzeitig beförderte der apD den Genitivschwund, da durch ihn eine
Ersatzkonstruktion für den adnominalen Genitiv bereitstand.
1.1 Genitivschwund3
In den meisten deutschen Dialekten findet sich vollständiger Genitivschwund, d.h. davon
betroffen sind sowohl adverbaler als auch adnominaler Genitiv. Fleischer/Schallert
(2011:90) deuten dieses vollständige Fehlen des Genitivs in fast allen Dialekten als
Hinweis darauf, dass der Rückgang in den Mundarten und der „volkstümlichen“ Sprache
begann und sich dann auf die (schriftliche) Standardsprache ausweitete. Für den
Rückgang des adverbalen Genitivs machen Fleischer/Schallert zwei Gründe aus: Verben,
die den Genitiv regieren, können entweder ganz verschwinden oder ihre Rektion ändern,
indem an die Stelle des Genitivobjekts ein Akkusativ-, Präpositional- oder in seltenen
Fällen auch ein Dativobjekt tritt: z.B. ich entbehre seines Rates / seinen Rat. In
althochdeutscher Zeit dürften es eher sprachinterne (semantische) Unterschiede gewesen
sein, die diese Variation steuerten. Im Mittelhochdeutschen waren mit Stil und Textsorte
sprachexterne Faktoren für die Wahl des Objekttyps verantwortlich: Während der
adverbale Genitiv in den Dialekten immer mehr abgebaut wurde, blieb er in schriftlichen
Texten (zumindest teilweise) erhalten. So wurde der Genitiv immer mehr zu einem
Stilmittel der gehobenen und schriftlich fixierten Sprache, bis er schliesslich ganz aus
dem Inventar der an der Mündlichkeit orientierten Dialekte fiel. Dies zeigt sich darin,
3 Auf die Ursachen, die den Genitivschwund ausgelöst haben könnten, wird hier nicht weiter eingegangen. Siehe dazu Behaghel (1923:479f.) sowie Fleischer/Schallert (2011:99f.)
3
dass volkstümliche Texte wie Predigten, Gebetsliteratur, Briefe, Pestschriften und Lieder
besonders wenige Genitivobjekte aufweisen. Bevor es zu einem solchen Genitivverlust
resp. definitiven Objektwechsel kam, bestand wahrscheinlich für eine gewisse Zeit eine
Konkurrenzsituation, bei der Genitivobjekt und andere Objekttypen variierten (vgl.
Fleischer/Schallert 2011:83-89).
Analog dazu schwand in den meisten Dialekten auch der adnominale Genitiv, bis er
schliesslich komplett durch Ersatzkonstruktionen ersetzt wurde. Anders als beim
Schwund des adverbalen Genitivs ist es jedoch schwierig zu bestimmen, zu welchem
Zeitpunkt diese Ersatzkonstruktionen oder Periphrasen mit dem Genitivattribut zu
konkurrieren begannen und es schliesslich ganz verdrängten, da sie der gesprochenen
Sprache angehören und auf der schriftlichen Ebene an ihrer Stelle der adnominale
Genitiv verwendet wurde. Als Konsequenz dieser Entwicklungen verfügen die
hochdeutschen Dialekte, zu denen auch die Deutschschweizer Varietäten gehören, heute
nur noch über ein Drei-Kasus-System.4 In den niederdeutschen Dialekten gibt es neben
dem Nominativ lediglich einen weiteren Objektkasus. Anders als in den Dialekten hat in
der Standardsprache zumindest der adnominale Genitiv dem Genitivschwund getrotzt, so
dass der Genitiv heute im Wesentlichen ein standardsprachlicher und adnominaler Kasus
ist (vgl. Fleischer/Schallert 2011:84, 94).
1.2 Entstehung des apDs: zwei Hypothesen
1.2.1 Variante A
Die meisten Sprachwissenschaftler5 gehen heute davon aus, dass der apD im Deutschen
aus dem adverbalen Dativ entstanden ist. Grundannahme dieser Hypothese ist, dass
erstens aus einer zweiteiligen Konstruktion durch syntaktische Reanalyse6 eine einzige
Konstituente wurde und zweitens eine Grammatikalisierung des Possessivums
sein-/ihr- stattfand, was eine engere Bindung dieses Konnektors an die Dativ-Phrase
(den Possessor) bewirkte.
4 Eine Ausnahme bilden die höchstalemannischen Mundarten.5 Ich verwende im Folgenden der besseren Lesbarkeit halber das generische Maskulinum.6 Terminologie Zifonun (2003) und Fleischer/Schallert (2011), Ogawa (2003) spricht von syntaktischer
Umdeutung, Wegener (1985) benutzt den Ausdruck syntaktische Umstrukturierung. In den meisten Fällen verstehen die Autoren unter dem Begriff Reanalyse zweierlei Prozesse, die hier nach Zifonun (2003) in Reanalyse und Grammatikalisierung aufgeteilt werden.
4
Reanalyse
Unter Reanalyse versteht man
„[...] ein Wandelphänomen, das die Veränderung der hierarchischen (Konstituenten-) Struktur eines Ausdrucks (bzw. einer Ausdrucksklasse) (mit-)beinhaltet, ohne die Realisierungsform des Ausdrucks und die semantische Autonomie seiner Teile zu verändern.“ (Zifonun 2003:118)
Bei der Veränderung der Konstituenten-Struktur handelt es sich um eine direkte Folge
von hörerseitigen Verstehensprozeduren resp. Verstehensstrategien, die nicht graduell,
sondern abrupt verlaufen (vgl. Zifonun 2003:118). Der Hörer versucht, die Bedeutung
einer Äusserung zu rekonstruieren und zwar so, dass die Äusserung kontextbezogen Sinn
ergibt (vgl. Zifonun 2003:118). Eine solche Verstehensstrategie ist beispielsweise dann
von Nöten, wenn ein adverbaler Dativ ambig zu interpretieren ist. Dies kann der Fall
sein, wenn auf die Nominalphrase (NP) im Dativ eine NP folgt, die durch ein
Possessivum eingeleitet wird: Ich habe dem Mann seinen Hut genommen
(Fleischer/Schallert 2011:96). Je nach Kontext kommt es zu einer syntaktischen
Ambiguität, bei der sowohl eine adverbale als auch eine adnominale Lesart möglich sind
(vgl. Fleischer/Schallert 2011: 96f., Ogawa 2003:156f.).
Einerseits ist eine adverbale Lesart denkbar, die besagt, dass ein freier Dativ vom
Prädikat abhängt und das Possessivverhältnis allein vom Possessivum hergestellt wird
(vgl. Fleischer/Schallert 2011:96, Ogawa 2003:156). Allerdings ist in der Grundstruktur
des Deutschen auch bereits eine adnominale Lesart angelegt, denn die Possessor-
Interpretation kann nicht nur mithilfe von Possessiva hergestellt werden, sondern ist auch
adverbal möglich. Diese adverbale Possessor-Interpretation besteht z.B. bei Verben wie
jemandem gehören, wo die Verbvalenz einen solchen Possessor fordert, aber auch dort,
„[…] wo kein festes in der Valenz verankertes Argument vorliegt, sondern ein ,freier‘ bzw. ,freierer‘ [...] Dativ. So schlägt ein freier Dativ, der durchaus als Dativus commodi gelesen werden kann, in eine Possessor-Dativ-Lesart um, wenn zwischen dessen Denotat und einem Argument eine enge Zugehörigkeit (z.B. als Bestandteil oder Körperteil) besteht […]. Auch wenn man den Dativ adverbal versteht, hat er neben commodi-Lesart eine Possessor-Lesart.“ (Zifonun 2003:115)
Dat+Poss ist somit im Gesamtsystem fest verankert. Dieses (implizite) Struktur-Wissen
bietet die Grundlage dafür, dass die Hörer die Konstituente [dem Mann] possessiv und
dadurch adnominal zu [seinen Hut] interpretieren. Dadurch kommt es zu einer
syntaktischen Umstrukturierung, bei der aus den beiden Konstituenten eine einzige wird,
bestehend aus der NP [dem Mann seinen Hut]. Diese Konstruktion bezeichnen wir heute
als adnominalen possessiven Dativ (vgl. Wegener 1985:10):
5
adverbale Lesart: a) ich habe [dem Mann] [seinen Hut] genommen
Reanalyse
adnominale Lesart: b) ich habe [[dem Mann] [seinen Hut]] genommen
An die Stelle zweier Konstituenten (adverbale Lesart) tritt somit nach der Reanalyse eine
einzige, wenngleich komplexere Konstituente, in der die dativische NP dem Vater ein
Attribut zur Kern-NP (seinen) Hut ist (vgl. Fleischer/Schallert 2011:96, Ogawa
2003:156). Für den Hörer macht es hierbei keinen Unterschied, ob er die Äusserung
adverbal oder adnominal interpretiert, denn das real-weltliche Ereignis ist in beiden
Fällen identisch (vgl. Zifonun 2003:118).
Belege für ambige Kontexte lassen sich laut Fleischer/Schallert (2011:97f.) bereits in
sehr archaischen althochdeutschen Texten wie den Merseburger Zaubersprüchen
nachweisen:
du uuart demobalderes uolon sinuuoz birenkict (2. Merseburger Zauberspruch 5-6)
da wurde dem Balders Fohlen sein Fuss berenkt
Doch solche ambig interpretierbaren Sätze bilden noch keinen Beweis dafür, dass
tatsächlich eine syntaktische Reanalyse stattfindet. Erst wenn diese jüngere, adnominale
Lesart durch Extension auf andere, nicht ambige Kontexte ausgedehnt wird, lässt sich die
Reanalyse auch belegen (vgl. Fleischer/Schallert 2011:96f.). Fleischer/Schallert
(2011:97) nennen zwei Indizien7, anhand derer sich feststellen lässt, ob an die Stelle der
alten, zweiteiligen Struktur der apD getreten ist:
- Dativ-NP und Kernsubstantiv lassen sich gesamthaft ins Vorfeld verschieben8:
dem Mann seinen Hut habe ich genommen
7 Weitere Argumente dafür, dass eine Reanalyse stattgefunden hat und die dativische NP nicht mehr abhängig vom Prädikat ist, sondern als Attribut „endozentrisch“ zum Kernsubstantiv gehört, liefert Ogawa (2003157f.):
e) dem Onkel seinem Freund sein Auto f) Dem Peter sein Auto imponiert mir. (Wegener 1985:49)
Die NP in e) zeigt die rekursive Anwendbarkeit des apDs, was eine Parallele zum adnominalen Genitiv ist (das Auto des Freundes des Onkels), der ebenfalls Attribut und endozentrisch dem Nominalkomplex zugehörig ist. Und da mit mir bereits ein adverbaler Dativ vorliegt, kann in Beispielf) die dativische NP dem Peter nicht als adverbale Ergänzung des Prädikats gedeutet werden (vgl. Ogawa 2003: 157f.), ansonsten käme es zu einem Verstoss der „single-case-condition“ von Haider (1985:91), die besagt, dass jeder Kasusindex nur einem Argument zugewiesen werden kann (vgl. Wegener 1991:73).
8 Zur Eindeutigkeit dieser Vorfeld-Verschiebeprobe siehe auch Fleischer/Schallert (2011:97 FN 10).6
- Das Verb, mit dem die dativische NP im Satz auftritt, besitzt keine Dativrektion:
a) auf dem Tisch liegt [[dem Mann sein] Hut]
→ *dem Mann liegt sein Hut auf dem Tisch
b) ich sehe [[dem Mann seinen] Hut]
→ *dem Mann sehe ich seinen Hut
c) die Kinder spielen [[mit dem Mann seinem] Hut]
→ * dem Mann spielen die Kinder mit seinem Hut (Ogawa 2003:57)
Allerdings ist es schwierig, den genauen Zeitpunkt auszumachen, zu dem diese
syntaktische Reanalyse stattfand und aus einem eigenständigen Satzglied ein Attribut
wurde. In älteren Texten finden sich kaum eindeutige Belege für den apD. Dies liegt vor
allem darin begründet, dass dieser als gesprochen-sprachliches Phänomen in den
Dialekten und der Volkssprache verankert war (und ist), die wenig oder kaum in
schriftlichen Dokumenten überliefert sind. Dazu kommt, dass der pränominale Genitiv in
der Schriftsprache erhalten blieb und deshalb auch kein Bedürfnis nach einer neuen
Konstruktion bestand. Eindeutige Belege finden sich ab dem 12. Jahrhundert, kommen
aber, wenn überhaupt, in volkstümlichen Texten vor (vgl. Fleischer/Schallert 2011:98).
Als Grund für die grosse Beliebtheit und Verbreitung des apDs nennt Zifonun (2003:122)
seine strukturelle Ähnlichkeit zum pränominalen Genitiv der deutschen Standardsprache.
Die pränominale Position entspricht dabei sprachübergreifenden Prinzipien: Erstens wird
durch Voranstellung der Artikel eingespart, was dem Ökonomieprinzip entspricht (vgl.
Zifonun 2003:123). Zweitens dient Voranstellung als effektiver und früher „referentieller
Anker“ für wichtige Informationen:
„Bevor überhaupt der semantische Nukleus durch das Kopfsubstantiv genannt wird, ist bereits klargestellt, auf welcher referenzbezogenen Information dieser Nukleus operieren kann. Dabei sind eindeutig zu identifizierende Possessoren besonders geeignete 'referentielle Anker' [...].“ (Zifonun 2003:122)
Besonders eindeutig zu identifizieren sind belebte Possessoren, weshalb sowohl in der
heutigen Standardsprache beim pränominalen Genitiv als auch beim apD in den
Mundarten (fast) nur belebte Possessoren auftreten.9 Wegener (1985:156f.) sieht in der
pränominalen Position des Possessors beim apD ein Kennzeichen dafür, dass die
9 Die Belebtheitsbeschränkung ist jedoch nicht unumstritten: Zifonun (2003:102) schreibt dazu: „Während also für den Possessor keine Definitheits-Restriktion gegeben ist, besteht sehr wohl eine Belebtheits-Beschränkung. [...] Allerdings scheint mir diese Restriktion sehr viel durchlässiger als derAusschluss von 1. und 2. Person. Vorkommen wie Dem Auto seine Stossstange war demoliert erscheinen mir nicht ganz ausgeschlossen. Dabei ist auch zu bedenken, dass die prototypische Possessor-Relation ohnehin einen menschlichen Possessor fordert.“
7
Sprecher mit dem apD am präspezifizierenden SOV-Typus des Deutschen festhalten,
wogegen nachgestelltes Genitivattribut (das Haus meines Vaters) oder von-Konstruktion
(das Haus von meinem Vater) auf einem Wandel hin zum SVO-Typ deuten würden.
Grammatikalisierung
Als direkte Folge der Reanalyse vom adverbalen zum adnominalen Dativ und der daraus
resultierenden Zusammenfassung der Dativ-NP und des Kopfsubstantivs (inkl.
Possessivum) zu einer Konstituente verlor das Possessivum seine Funktion als
referentieller Ausdruck sowie seine Bindung an das Kopfsubstantiv (vgl. Zifonun
2003:115). Bei diesem Prozess handelte es sich laut Zifonun (2003:118, 120) nicht um
Reanalyse, sondern um Grammatikalisierung:
„'Grammatikalisierung' [wird] im Wesentlichen als ein Wandelphänomen begriffen, das ohne Veränderung der hierarchischen Struktur eines Ausdrucks, aber unter Verlust an semantischer Autonomie/Substanz […] verläuft. Sie ist ihrem Wesen nach graduell und ein Effekt des Sprachgebrauchs.“ (Zifonun 2003:118)
Zifonun (2003:120) führt vier Merkmale an, anhand derer sich zeigen lässt, wie beim
Possessivum in Dat+Poss Grammatikalisierung stattgefunden hat:
1. Verlust der Referenzfunktion: Das Possessivum bezeichnet im apD zusammen mit
der dativischen NP den Possessor oder Verfügungsberechtigten (vgl. Wegener 1985:49),
es ist also zum Possessor koreferent. Durch die adnominale Lesart sind Antezedens und
referentieller Ausdruck in einer einzigen Konstituente zusammengefasst. Der Possessor
wird bereits durch die Dativ-NP benannt, wodurch der im Possessivum inkorporierte
Possessor redundant wird. Als unmittelbare Folge der Reanalyse vom adverbalen zum
adnominalen Dativ wird das Possessivum also semantisch entleert und von einer
lexikalischen zu einer grammatischen Einheit bzw. einem Funktionswort, das die
Relation zwischen der Dativ-NP und dem Kopfsubstantiv indiziert. Diese neue Funktion
des Possessivums ermöglicht es der Dativ-NP, zum Kopfsubstantiv in eine
Attributsstellung zu treten, die ihr sonst aus strukturellen Gründen verwehrt bleiben
würde (vgl. Zifonun 2003:107). Der Dativ ist hier also nicht mehr ein adverbaler Kasus,
wie es die Struktur vorsehen würde, sondern ein adnominaler Kasus, was seine Existenz
als Dativ-Attribut ermöglicht.
8
2. Verlust an paradigmatischer Variabilität: Als Folge der Reanalyse wurde das
Possessivum zu einem zwingenden Bestandteil des apDs; steht an seiner Stelle ein
Definit-, Indefinit- oder Nullartikel, so liegt laut Ogawa (2003:158) kein apD vor: *dem
Vater das Auto/ein Auto/Autos. Zum Verlust an paradigmatischer Variablität gehört auch,
dass das Possessivum im apD nur in der 3. Person Singular/Plural vorkommen kann.
Umstritten ist in der Forschung, ob referenzsemantische Gründe für diese Einschränkung
verantwortlich sind, sprich ob mir mein Hut redundanter ist als dem Lehrer sein Hut.10
3. Verlust an syntagmatischer Variabilität: Die Anordnung Dat+Poss+Kopf ist
unveränderlich, siehe dazu die mit * gekennzeichneten Beispiele unter 1.2.1.
4. Zunahme an Gebundenheit: Ein strittiges Thema innerhalb der Generativen
Grammatik ist, wie sich die Existenz der Dativ-NP innerhalb der Gesamt-NP erklären
lässt. Standardsprachlich ist ein Dativ in der NP nämlich nur möglich, wenn die NP
entweder ein präpositionales Attribut mit einer dativregierenden Präposition (z.B. der
Hut auf seinem Kopf) oder aber ein adjektivisches/partizipales Attribut mit Dativrektion
(z.B. der seiner Frau treue Ehemann/der seiner Arbeit verfallene Workaholic) enthält
(vgl. Zifonun 2003:102).11 Da der apD keine dieser beiden Voraussetzungen zu erfüllen
scheint, geht die grosse Mehrheit der Sprachwissenschaftler davon aus, dass die Dativ-
NP stattdessen vom Possessivum regiert wird, das als eine Art 'Relator' zwischen dem
Possessor und dem Possessum fungiert. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, welcher
Wortart das Possessivum in diesem Fall zuzurechnen ist und ob es – je nachdem, wie die
Antwort auf diese erste Frage ausfällt - strukturell zur dativischen NP (Dependens) oder
zum Kopfsubstantiv (Head) gehört12.
Grundsätzlich lassen sich in der Literatur drei verschiedene Interpretationen der apD-
Struktur feststellen, eine flache (0) sowie zwei binäre (a und b):
0) [[dem Vater] sein Hut] : flache Struktur
a) [[dem Vater] [sein Haus]] : rechtsverzweigend
b) [[dem Vater sein] Haus] / [[[dem Vater] sein] [Haus]] : linksverzweigend
10 Zifonun (2003:101) vertritt den Standpunkt, dass referenzsemantische Gründe auszuschliessen sind. Anderer Meinung ist beispielsweise Oslen (1996:131), die die Meinung vertritt, dass „die erste und zweite Person (mein, dein) klare Bezüge aufweisen“ (Olsen 1996:131) und deshalb in der apD-Phraseüberflüssig wären.
11 Ausnahme: Satzeinbettungen wie Relativsatz.12 Vergleiche dazu Olsen (1996).
9
Die flache, nicht-binäre Struktur [D + Poss + H] wird in der jüngeren Forschung kaum
noch als Beschreibungsansatz herangezogen. Die meisten Sprachwissenschaftler
plädieren für eine binäre Struktur, wenngleich Uneinigkeit darüber herrscht, wie die
hierarchische Gliederung einer solchen Struktur aussieht (vgl. Zifonun 2003:106).
Befürworter einer rechtsverzweigenden Struktur [D +[Poss + H]], die das Possessivum
dem Kopfsubstantiv [Haus] zuweist, ist u.a. Bhatt (1990). Diese Variante hat den Vorteil,
dass keine für ein Pronomen/Determinativ ungewöhnliche Erweiterung zu einer
Determinativ-Phrase stattfindet, wie dies bei Linksverzweigung der Fall ist (vgl. Zifonun
2003:103). Wenn bei dieser Struktur jedoch weiterhin davon ausgegangen wird, dass die
Dativ-NP durch das Possessivum regiert wird, so wäre dies Rektion über Phrasengrenzen
hinweg. Am ehesten liesse sich dies laut Zifonun (2003:103) mit einer Struktur erklären,
in der das Possessivum in seiner Funktion als Determinativ Kopf der Gesamtphrase ist.
Eine zweite Möglichkeit, die Dativ-Rektion bei Rechtsverzweigung zu erklären, besteht
laut Zifonun (2003:103) darin, die Rektion nicht vom Possessivum, sondern von der
phrasalen Konstituente [sein Haus] ausgehen zu lassen. Diese Lösung wirft jedoch
wieder die Problematik auf, inwiefern eine Erweiterung zu einer Determinativ-Phrase
überhaupt möglich ist und ob sie als solche Regens sein kann (vgl. Zifonun 2003:103).
Mit Blick auf die Sprachgeschichte vertritt Koptjevskaja-Tamm (2003:673, 676) deshalb
die Meinung, dass Rechtsverzweigung, also Kopf-Assoziation des Possessivums, die
gemeinsame Ausgangsstruktur aller Sprachen (mit apD) gewesen ist, danach im
Deutschen aber eine graduelle Reanalyse in Richtung Linksverzweigung stattgefunden
habe. Diese Linksverzweigung [[D + Poss]+ H] oder dependent marking ist bei den
germanischen Sprachen die einzig mögliche Markierungsform, was für eine Anpassung
des apDs an die Gesamtstruktur des Deutschen spricht. So sind auch die
standarddeutschen adnominalen Possessorkonstruktionen (synthetischer Genitiv und von-
Phrase) dependens-markierend (vgl. Zifonun 2003:116).
In vielen jüngeren Publikationen wird Linksverzweigung nicht nur aus
sprachhistorischen Gründen als der plausibelste Lösungsansatz präsentiert.13 Bei der
Linksverzweigung wird die Dativ-NP durch das Possessivum, das gleichzeitig als Kopf
angesehen wird, zu einer Determinativ-Phrase erweitert: [dem Vater sein] oder [[dem
13 Olsen (1996), Ogawa (2003), Zifonun (2003).10
Vater] sein]. Diese erweiterte Determinativ-Phrase steht wiederum in der Specifier-
Position des Kopfes [Haus]. Bleibt man bei der Grundannahme, dass der Dativ vom
Possessivum selegiert wird, so bietet Linksverzweigung gegenüber der
Rechtsverzweigung den Vorteil, dass die Rektion innerhalb der Phrasengrenze stattfindet.
Innerhalb der Determinativ-Phrase [dem Vater sein] steht die Dativ-NP wiederum in der
Specifier-Position des Possessivums, wodurch sich laut Olsen (1996:131f.) die
Kongruenz zwischen dem Possessivum und seinem Spezifikator (der Dativ-NP) erklären
lässt: dem Felix sein, der Anna ihr.
Die Annahme, dass sein-/ihr- den Dativ selegiert, setzt jedoch eine genauere Analyse des
Possessivums voraus: Da es sich bei den Possessiva sein- und ihr- weder um
Präpositionen noch um Adjektive oder Partizipien handelt, stellt sich die Frage, wie die
Dativrektion durch ein Possessivum erklärbar ist. Zifonun (2003) vertritt zusammen mit
Ogawa (2003) u.a. die These, dass im Falle des apDs eine „adjektivische Umdeutung“
(Ogawa 2003:160) des Possessivums vorliegt.14 Unter dieser Annahme würde das
Possessivum, analog zu Adjektiven wie treu, fakultativ den Dativ selegieren. Diese These
wird gestützt durch die lineare Position15 und die Korrespondenzverhältnisse16, die beim
apD mit dem adjektivischen Fall übereinstimmen (vgl. Zifonun 2003:102). Analog zu
solchen adnominalen Adjektiven, die durch eine regierte NP zu einer Adjektiv-Phrase
erweitert werden, wird hier das Possessivum durch eine regierte NP zu einer
Possessivum-Phrase erweitert (vgl. Zifonun 2003:103). Dies entspricht der üblichen
Annahme, dass der Dativ seine Zuweisung nicht in einer strukturellen Konfiguration
erhält, sondern einen lexikalischen Zuweiser hat (vgl. Werlen 1994:62). Anders als
'normale' Adjektive, die den Dativ selegieren können, variiert das Possessivum im Falle
14 Ein weiterer interessanter Erklärungsansatz bezieht sich auf die Valenztheorie und stammt von Zifonun (2003:108). Um den apD nicht als semantische und syntaktische Abweichung deuten zu müssen, schlägt sie vor, die Komplementbeziehung zwischen dem Dativ und dem Possessivum als Argumentbeziehung zu deuten. Gesamtsprachlich gesehen, argumentiert Zifonun, wäre demnach das Possessivum ein Ausdruck mit einer fakultativen Komplementstelle, die im Falle des nicht-standardsprachlichen apDs vom Possessor-Ausdruck besetzt wird. Allerdings würde es sich somit bei der standardsprachlichen Verwendung des Possessivums um die um eine Komplementstelle reduzierte, sozusagen „defekte“ Variante des apDs handeln. Ausserdem verlieren bei dieser Interpretation die Possessiva ihren eigentlichen Bestimmungszweck, nämlich als anaphorische Pronomina den Possessor-Ausdruck vertreten. Auch wenn also in dieser Theorie Standard- und Nicht-Standard-Muster aus Sicht der Valenztheorie konsistent erklärt werden können, plädiert Zifonun dennoch dafür, die Possessiva als semantische und syntaktische Abweichung im Sinne einer adjektivähnlichen Verwendung zu deuten.
15 Dativkonsituente steht vor dem Kopfsubstativ: der Frau treue Gatte und der Frau ihr Gatte.16 Die Flexionsendung des Possessivums korrespondiert bezüglich Genus, Kasus und Numerus mit dem
Kopfsubstantiv.11
des apDs jedoch auch im Stamm. Es verfügt über ein Stammgenus und einen
Stammnumerus (Singular: mask./neutr. sein, fem.: ihr; Plural: ihr), die durch das
Antezedens, also den Possessor-Ausdruck bestimmt werden (vgl. Zifonun 2003:102).
Eine Ausnahme bilden gewisse regionale Varietäten, in denen die Genuskongruenz
zwischen Antezedens und Possessivum aufgehoben ist: der Mutter sein Haus.17
1.2.2 Variante B
Eine weitere, jedoch weniger verbreitete Hypothese zur Entstehung des apDs stammt von
Ramat (1986). Ramat vermutet den Ursprung des apDs in vorangestellten und
syntaktisch desintegrierten Possessorausdrücken: der Hans, seine Schwester hat
geheiratet.
Diese Hervorhebung durch Linksverzweigung oder Topikalisierung ist laut Zifonun
(2003:114) sprachübergreifend nachweisbar und spielt auch im Deutschen auf der
mündlichen und informellen Ebene eine wichtige Rolle als Mittel der „Thematisierung“.
Unter Vernachlässigung der fehlenden Dativmarkierung des topikalisierten Possessors
und der prosodischen Struktur kann man in dieser Struktur eine Art Vorgänger oder
„Wiedergänger“ des apDs sehen: Der Possessor steht (vorerst) syntaktisch unverbunden
vor Possessivum + Kopfsubstantiv, wobei das Possessivum den desintegrierten
Possessorausdruck syntaktisch und semantisch wieder aufnimmt (vgl. Zifonun
2003:114). In der Ramatschen Hypothese wird dieser syntaktisch desintegrierte Topik-
Ausdruck in Anlehnung an adverbale Dative, die ebenfalls eine Pertinenzbeziehung
ausdrücken können, dativisch markiert und dadurch in die Possessivum-NP integriert
(vgl. Zifonun 2003:115): dem Hans seine Schwester hat geheiratet.
Sofern die Hypothese von Ramat zutreffend ist, muss diese syntaktische Integration
durch Kasusmarkierung des ehemals topikalisierten Possessorausdrucks bereits auf einer
sehr frühen Stufe stattgefunden haben. Denn bereits in den ältesten vorhandenen
germanischen Dokumenten findet sich die Struktur Dat+Poss und nicht mehr ein
syntaktisch desintegrierter, kasuell unmarkierter und topikalisierter Possessorausdruck
(vgl. Zifonun 2003:114f.). Da auch bei dieser Hypothese eine zweiteilige
Ausgangsstruktur angenommen wird, liegt wie bei Variante A zunächst eine Kopf-
17 Ogawa (2003:160f.) vergleicht deshalb das Possessivum aus semantischer Perspektive mit dem Adjektiv eigen. Da kasusregierende Adjektive wie treu oder eigen nicht wie Possessiva im Stamm variieren, kann diese Gleichsetzung mit dem Adjektiv eigen erklären, weshalb in gewissen regionalenVarietäten die Genuskongruenz aufgehoben ist.
12
Assoziation des Possessivums vor. Übereinstimmung herrscht also zwischen beiden
Hypothesen in der Annahme eines Grammatikalisierungsschrittes, der weg von der Kopf-
Assoziation und hin zur Dependens-Assoziation geführt hat (vgl. Zifonun 2003:117).
Gestützt wird Ramats These einerseits dadurch, dass in der desintegrierten Topik-
Position bevorzugt definite Bezeichnungen für Belebtes stehen, genauso wie die im
Dativ stehenden Possessoren der apD-Konstruktion definit und vorwiegend belebt sind
(vgl. Zifonun 2003:14). Ausserdem findet sich diese „pragmatisch orientierte Struktur“
(Zifonun 2003:114) auch in Kreolsprachen: mo frer so madam (Mauritius)
(Koptjevskaja-Tamm 2003:670). Weitere Unterstützung erhält Ramat durch die beiden
Indogermanisten Gamkrelidze/Ivanov (1995:241), die sich auf Erkenntnisse zum
Hethitischen stützen:
„Before the possessive genitive arose, possessive relations were presumably expressed by constructions of the type 'man his-son'.“
Zifonun (2003:117) wendet jedoch ein, dass Ramats Hypothese trotz allem als „recht
spekulativ und keineswegs zwingend“ anzusehen ist. Denn im Vergleich zu Variante A
ist diese Hypothese komplexer, da sie mit zwei verschiedenen Vorbildstrukturen (Topik-
Konstruktion und adverbale Konstruktion) arbeitet. Deswegen wird Variante A von den
meisten Sprachwissenschaftlern bevorzugt.
13
2 Der apD in der deutschsprachigen Schweiz18
Wie bereits erwähnt, fand in den letzten Jahrzehnten eine rege Forschungstätigkeit zum
apD statt, insbesondere in Bezug auf seine Struktur und Konstituentengliederung.
Allerdings fehlten in diesen Betrachtungen meist konkrete und vor allem systematische
Untersuchungen zur Syntax der unterschiedlichen Dialekte. Bis vor kurzem zeigte die
Dialektologie wenig Interesse an der Syntax der deutschen Dialekte. Selbst bei
Überblicken zur deutschen Dialektsyntax wie jenem von Beate Henn (1983) handelt es
sich lediglich um eine historische und kontrastive Zusammenstellung von Einzelstudien
zu einzelnen Ortsdialekten. Anstelle empirischer Daten finden sich meist nur
Mutmassungen über die areale Distribution bestimmter Phänomene. Um das gesamte
deutsche Sprachgebiet in syntaktische Areale einteilen zu können, mangelte es lange an
synchronen und grossflächigen dialektgeographischen Ansätzen (vgl. Werlen 1994:49-
51, Glaser 2003:39).
Um diesen Missstand für die deutschsprachige Schweiz zu beheben, läuft seit dem 1.
Januar 2000 an der Universität Zürich das Projekt 'Dialektsyntax' unter der Leitung von
Prof. Dr. Glaser. Ziel des Projektes ist, mithilfe einer grossflächigen Materialerhebung
die sprachgeographische Gliederung der deutschsprachigen Schweiz im Bereich der
Syntax zu erfassen.19 Einer der untersuchten morphosyntaktischen Phänomenbereiche
sind die adnominalen Possessivkonstruktionen, zu denen der hier behandelte apD
gehört.
In den Jahren 2000 bis 2002 wurden in ca. 380 Orten der deutschsprachigen Schweiz
ortsfeste Personen schriftlich zu morphosyntaktischen Strukturen befragt.20 Bei der
Auswahl der Orte orientierten sich die Forscher am Ortsnetz des SDS. Pro Ortspunkt
wurden immer mehrere Personen befragt.
18 Im Fokus dieser Arbeit steht die heutige Verwendung und Verbreitung des apDs in der Deutschschweiz, weshalb auf ältere Sekundärliteratur verzichtet wird. Eine Zusammenfassung der Sekundärliteratur zum Thema Possessivkonstruktionen im Schweizerdeutschen findet sich bei Bart (2006).
19 Das Projekt ist als Ergänzung zum Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) gedacht, der die entsprechenden Untersuchungen bereits in den Bereichen Lexik, Morphologie und Phonologie geleistet hat.
20 An der Befragung, die vier Fragebogen mit insgesamt 118 Fragen umfasste, nahmen 3186 Gewährspersonen teil (vgl. Bart 2006:28). Alle vier Fragebogen wurden von 2773 Gewährspersonen ausgefüllt, wobei die Gesamtzahl der gültigen Antworten von Frage zu Frage variiert (vgl. Glaser 2006:85f.).
14
2.1 Ergebnisse des Projektes DialektsyntaxIm Rahmen des Dialektsyntax-Projektes interessierte u.a., wie die Gewährspersonen in
ihrem Dialekt Possessivverhältnisse realisieren. Für die vorliegende Arbeit ist die
Übersetzungsaufgabe
0. Wie heisst es in Ihrem Dialekt für „der Hund des Lehrers“?
relevant, da es sich um eine adnominale/attributive Possessivkonstruktion handelt,
standardsprachlich durch ein postnominales Genitivattribut realisiert. Die
Gewährspersonen konnten dabei entweder zwischen drei Antwortoptionen
a) Leerers Hund
b) em Leerer sin Hund
c) s’Leerers sin Hund
auswählen, bei denen es sich um drei pränominale Konstruktionen handelt, oder eine
weitere, eigene Option handschriftlich notieren (Akzeptanz). Danach sollten sie ihre
bevorzugte Variante angeben (Präferenz). Bart (2006:47) zählt 2917 verwertbare
Antwortbogen, die insgesamt neun verschiedene Antwortoptionen enthalten:
A (s) Leerers Hund Attributiver/adnominaler possessiver Genitiv (mit oder ohne Artikel)
B em Leerer sin Hund Attributiver/adnominaler possessiver Dativ+ Possessivum
C em Leerer de Hund21 Attributiver possessiver Dativ + bestimmter Artikel
D de Hund vom Leerer Präpositionalphrase mit von + Dativ (PP nachgestellt)
E vom Leerer de Hund Präpositionalphrase mit von + Dativ (PP vorangestellt)
F vom Leerer sin Hund Mischform: Präpositionalkonstruktion mit von + Dativ + Possessivum
G em Leerers Hund Mischform: adnominaler possessiver Dativ und Genitiv gemischt
H s’Leerers sin Hund Attributiver/adnominaler possessiver Genitiv + Possessivum
I a Leerers Hund Attributiver/adnominaler possessiver Genitiv (unbestimmt)
In einem ersten Schritt interessieren hier die quantitative (Kapitel 2.1.1.) und räumliche
(Kapitel 2.1.2.) Verbreitung der Variante B, des 'reinen' apDs. In einem zweiten Schritt
soll dargelegt werden, welche weiteren adnominalen Possessivkonstruktionen in der
Deutschschweiz geläufig sind und in welchem (Spannungs-)verhältnis sie zum apD
stehen (Kapitel 2.1.3.).
21 Lediglich ein Proband aus Muotathal SZ gab an, den adnominalen possessiven Dativ mit dem bestimmten Artikel em Leerer de Hund zu verwenden (vgl. Bart 2006:48). Aus diesem Grund wurde darauf verzichtet, näher darauf einzugehen.
15
2.1.1 Quantitative Verbreitung des apDs
Die Auswertung bei Bart (2006:48) zeigt, dass der 'reine' apD em Leerer sin Hund am
weitaus häufigsten, nämlich 2378 Mal, genannt wurde. Bart (2006:48f.) berechnet in
ihrer Arbeit den Anteil des apDs an allen gegebenen Antwortoptionen (insgesamt 3602)
und kommt auf einen Anteil von 67%. Rechnet man jedoch die 2378 Nennungen des
apDs auf die 2917 gültigen Fragebogen resp. Gewährspersonen auf, so zeigt sich, dass
81.5% der Befragten den reinen apD in ihrem Dialekt verwenden.22 74% der Probanden
gaben an, der apD sei ihre bevorzugte Variante (vgl. Bart 2006:50).
2.1.2 Räumliche Verbreitung des apDs
Der apD ist laut Bart (2006:52) eine „nicht-alpine“ Variante. Die Verbreitung des apDs
erstreckt sich über das gesamte Untersuchungsgebiet mit Ausnahme des Wallis, wo
keine oder nur vereinzelte Nennungen vorkommen (vgl. Bart 2006:52):
Abb. 1
Ausserdem wird der apD fast ausschliesslich in nicht-alpinen Regionen zu 100%
akzeptiert. Eine Ausnahme bilden das westliche und mittlere Berner Oberland (vgl. Bart
2006:52):
22 Berechnung N.Z.16
Abb. 2
Die einzige akzeptierte Variante und somit obligatorisch ist der apD in folgenden Orten:
Abb. 3
17
Das Gebiet, in dem der apD anderen Konstruktionen gegenüber präferiert wird, umfasst
den gesamten nördlichen Teil der Schweiz (vgl. Bart 2006:52):
Abb. 4
Der apD ist somit die häufigste adnominale Possessivkonstruktion in der
Deutschschweiz. Er findet sich im ganzen Untersuchungsgebiet, mit Ausnahme jener
Areale, wo noch immer der Genitiv im Gebrauch ist.
2.1.3 Weitere Possessivkonstruktionen
Mischformen mit dem apD
Unter den neun Varianten finden sich neben dem 'reinen' apD em Leerer sin Hund auch
noch eine Mischform zwischen adnominalem possessiven Dativ und Genitiv: em
Leerers Hund. 45 der 2917 Befragten gaben an, diese Variante in ihrem Dialekt zu
gebrauchen. Bei der geographischen Verbreitung zeigt sich, dass sie arealbildend zu sein
scheint: Sie ist – mit wenigen Ausnahmen in den Kantonen St. Gallen und Bern – nur
für den Kanton Freiburg belegt, wo sie von den Sprechern auch präferiert wird (vgl.
Bart 2006:53).
18
Adnominaler possessiver Genitiv
Anders als die nördlichen Regionen der Schweiz sind die südlichen, alpinen und
abgelegenen Regionen, wo höchstalemannische Mundarten gesprochen werden, vom
Genitivschwund nicht betroffen und das Genitiv-Attribut (s) Leerers Hund findet hier
noch rege Verwendung. Im Unterschied zur heutigen Standardsprache wird es jedoch
nicht nur bei Eigennamen, sondern auch bei Gattungsnamen wie dem Leerer
pränominal verwendet.
Zu 100% akzeptiert wird der adnominale possessive Genitiv im Kanton Wallis, was laut
Bart (2006:51) für dessen „relikthaften und archaischen Charakter“ spricht. Im Wallis
ist der possessive Genitiv auch die präferierte Variante. Weitere häufigere Nennungen
finden sich in den Kantonen Bern, Schwyz, Glarus, St. Gallen und Graubünden.
Interessant ist hier das Berner Oberland, wo wie im Wallis besonders häufig der
adnominale possessive Genitiv als einzige mögliche Variante angegeben wurde. Bart
(2006:51f.) verweist diesbezüglich auf die Nähe dieser Region zum Lötschental und die
in der Wissenschaft diskutierte These einer Migrationsbewegung vom Lötschental ins
Berner Oberland und wieder zurück.
Doch auch wenn das Kerngebiet in den südlichen, alpinen Gebieten liegt, so ist der
adnominale possessive Genitiv weit in die nördliche Schweiz hinein bekannt und
akzeptiert (vgl. Bart 2006:51). So finden sich beispielsweise in den Kantonen Bern,
Freiburg, Thurgau und Zürich noch viele Einzelnennungen. Allerdings wird er in der
nördlichen Schweiz kaum noch präferiert. Dies spiegelt sich auch in der Statistik wider.
864 Mal wurde der possessive Genitiv in der Umfrage als akzeptierte Variante
angegeben, wodurch er 24% aller Antworten ausmacht (vgl. Bart 2006:48f.). Somit ist
der possessive Genitiv für knapp 30% der Gewährspersonen eine akzeptable Variante
innerhalb ihres Dialekts.23 Allerdings wird der adnominale possessive Genitiv von
lediglich 19% der Befragten als präferierte Variante angegeben (vgl. Bart 2006:49f.).
Darin unterscheidet sich der adnominale possessive Genitiv vom adnominalen
possessiven Dativ, bei dem die Präferenz (81%) weniger von der Akzeptanz (74%)
abweicht.
Dass der adnominale possessive Genitiv noch bis weit in nördliche Gebiete hinein
zumindest akzeptiert, jedoch nicht mehr präferiert wird, kann nach Wolfensberger
(1967:191-193), der sich mit dem Wandel der Stäfner Mundart beschäftigte, als
23 Berechnung N.Z.19
„Variationsbreite“ gesehen werden, die jedem Sprachwandel zwingend zugrundeliegt.
Denn bevor die vollständige Funktionsübernahme durch die Ersatzkonstruktionen
eintritt, existiert jeweils noch eine Phase, während der „ein funktionsloses
Nebeneinander von älteren und jüngeren Formen herrscht“ (Wolfensberger 1967:192).
Diese Konkurrenzsituation sowie bestimmte „Genitivreste“ (Schobinger 2001:49) in
den nördlichen, hochalemannischen Dialekten stützen also die gängige These eines
Genitivschwundes, in dessen Folge Ersatzkonstruktionen die genitivischen Funktionen
übernahmen.
Die Verbreitung des apDs in den nördlichen und jene des possessiven Genitivs in den
südlichen Gebieten entspricht einer grundlegenden Raumstruktur der
schweizerdeutschen Varietäten, der sog. Nord-Süd-Staffelung. Die Phänomene, die sich
in diese Staffelung fügen, sind hauptsächlich lautlicher, aber auch morphosyntaktischer
Natur, wie hier der apD. Mithilfe der Nord-Süd-Staffelung lassen sich das
Hochalemannische des Mittellandes und das Höchstalemannische der (höchst)alpinen
Gebiete unterscheiden, wobei je nach Phänomen die Trennlinie nördlicher oder
südlicher liegt (vgl. Bucheli Berger 2006:91). In den letzten Jahren liess sich zwar
beobachten, dass höchstalemannische Formen immer stärker von nördlichen Formen
zurückgedrängt wurden (vgl. Bucheli Berger 2006:91), aber beim possessiven Genitiv
scheint dies nicht der Fall zu sein.
Mischform mit dem possessiven Genitiv
Aufgrund älterer Sekundärliteratur, die für die Kantone Freiburg und Luzern eine
Mischform von pränominalem possesivem Genitiv und Possessivpronomen (wie beim
apD) erwähnt, wurde die Variante s’Leerers sin Hund als dritte suggerierte
Antwortoption in den Fragebogen aufgenommen (vgl. Bart 2006: 54). Allerdings haben
in der Umfrage nur 14 Gewährspersonen die Konstruktion als mögliche Variante
angekreuzt. Des Weiteren zeigt die Konstruktion auch kein einheitliches Raumbild, so
dass Bart (2006:53) zum Schluss kommt, dass diese Mischform mittlerweile ausser
Gebrauch ist und die vereinzelten Nennungen damit zu erklären sind, dass die Form im
Fragebogen suggeriert wurde.
von-Periphrase
Die nachgestellte von-Phrase de Hund vom Leerer ist nach dem apd und dem apG die
20
dritthäufigste Antwortoption. Insgesamt macht sie 8% aller Antworten aus und ist somit
deutlich häufiger als die weiteren Konstruktionen, die jeweils auf maximal 1% kommen
(vgl. Bart 2006:48f.). Ein kleines Areal mit vorangestellter von-Phrase findet sich im
Oberwallis (vgl. Bart 2006:53, 78). Die nachgestellte von-Phrase de Hund vom Leerer
ist die einzige Konstruktion, bei der der Possessor nach dem Possessum steht, also kein
früher referentieller Anker zur Identifizierung des Hauptakteurs bereitgestellt wird.
Ausserdem ist das häufige Vorkommen der Konstruktion insofern bemerkenswert, als
dass die von-Phrase von den Verfassern der Befragung nicht suggeriert wurde, sondern
von den Gewährspersonen selbst hingeschrieben werden musste. Es ist deshalb
durchaus möglich, dass die Erhebungsmethode einen (negativen) Einfluss auf das
quantitative Vorkommen dieser Konstruktion hatte.
Die von-Phrase wird im gesamten Untersuchungsgebiet als mögliche Konstruktion
genannt: Im Wallis tritt sie (vor- oder nachgestellt) als Alternative zum adnominalen
possessiven Genitiv auf (vgl. Bart 2006:78), findet sich jedoch kaum in abgelegenen
Tälern, was laut Bart (2006:54) für eine sprachliche Neuerung spricht. In der nördlichen
Schweiz findet sich die von-Phrase als Hauptalternative zum adnominalen possessiven
Dativ. Gehäuft findet sich die Konstruktion in den Kantonen Wallis, Freiburg, Glarus,
Appenzell a.R. und i.R. sowie Graubünden (vgl. Bart 2006:52). Nicht überall, wo die
von-Phrase notiert wurde, ist sie auch die präferierte Variante (vgl. Bart 2006:50).
Dennoch stimmen das Raumbild der notierten und präferierten Varianten überein und
unterscheiden sich lediglich in der Dichte der Antworten (vgl. Bart 2006:52). Ebenfalls
überraschend ist in Bezug auf die Beliebtheit der von-Phrase, dass es sich beim Leerer
um einen belebten Possessor handelt. Dies sprengt die ältere Aufgabenteilung in den
Dialekten der Nordschweiz, die besagt, dass bei belebten Possessoren der apD und bei
unbelebten die von-Phrase mit Dativ zu verwenden sei (vgl. Bart 2006:27, Reese
2007:51, Zifonun 2003:123). Die von-Periphrase scheint sich also auf Kosten des apDs
auf unbelebte Possessoren auszubreiten (vgl. Reese 2007:51).
21
3 FazitZu Beginn dieser Arbeit stand die Frage, wie sich die Existenz und insbesondere die
Attraktivität des adnominalen possessiven Dativs in den nicht-standardsprachlichen
Varietäten erklären lässt. Ausgangspunkt war dabei die Annahme, dass der apD ein
'eigens motivierter' syntaktischer Sonderfall ist, der ausserhalb der 'normalen'
grammatischen Struktur des Deutschen steht. Des Weiteren sollte anhand der Daten aus
dem Projekt 'Dialektsyntax' die areale Distribution der verschiedenen
Possessivkonstruktionen in der Schweiz aufgezeigt und das Verhältnis, in dem sie
zueinander stehen, analysiert werden.
Im ersten Teil der Arbeit zeigte sich, dass der apD ein gutes Beispiel für die bei Ogawa
(2003) erwähnte „Schnittstelle“ zwischen Syntax und allgemeinen Kognitionssystemen
ist. Sowohl die Entstehung als auch seine Beständigkeit in den verschiedenen nicht-
standardsprachlichen Bereichen lassen sich durch ein komplexes Zusammenspiel von
ausser- und innersprachlichen Faktoren erklären: Zu den aussersprachlichen Faktoren
zählen der bereits in althochdeutscher Zeit einsetzende und bis heute anhaltende
Genitivschwund sowie die hörerseitigen Verstehensstrategien, die für die Entstehung
des apDs verantwortlich sein dürften. Bei dieser Entwicklung spielten jedoch auch
innersprachliche und strukturelle Faktoren eine Rolle. Wichtig war zweifellos, dass die
Verbindung zwischen Besitz und Dativ in der Struktur der deutschen Sprache bereits
angelegt war und von den Sprechern zur Analogiebildung herangezogen werden konnte.
In der Einleitung wurde festgehalten, dass der apD den normalen strukturellen Rahmen
der deutschen Sprache zu sprengen scheint. Die Diskussion innerhalb der Generativen
Grammatik hat jedoch gezeigt, wie sich die Konstituentengliederung des apDs aus
diachroner Perspektive verändert hat und inwiefern hier aus struktureller Sicht
Anpassungen an das Gesamtsystem der deutschen Syntax stattgefunden haben.
Beispiele für eine solche Anpassung sind die Verschiebung der Phrasengrenzen sowie
die adjektivische Umdeutung des Possessivums. Eine weitere strukturelle Ähnlichkeit
zur Standardsprache findet sich in der pränominalen Stellung des apDs, die einerseits
für den präspezifizierenden SOV-Typus des Deutschen typisch ist und andererseits
sprachübergreifenden Prinzipien entspricht: Aus Sicht der Pragmatik bietet dieser frühe
22
referentielle Anker für den Hörer den Vorteil, den Possessor und vermutlichen
Hauptakteur der Aussage möglichst schnell identifizieren zu können. Dies ist
insbesondere in der 'flüchtigen' mündlichen Kommunikation von Vorteil, was sich
wiederum im zweiten Teil der Arbeit zeigte: Mit einer Ausnahme ist bei allen vom
Projekt 'Dialektsyntax' erfassten adnominalen Possessivkonstruktionen der Possessor
dem Possessum vorangestellt. Zudem kommt auch das Genitivattribut in den
höchstalemannischen Dialekten nur pränominal und nicht postnominal vor. Damit
unterscheiden sich die Deutschschweizer Dialekte klar von der deutschen
Standardsprache, wo die Voranstellung beim Genitivattribut mittlerweile nur noch bei
Eigennamen gebräuchlich ist, nicht jedoch bei Gattungsnamen wie Lehrer. Dennoch
geht die grösste Gefahr sowohl für den apD als auch für den pränominalen possessiven
Genitiv in der Schweiz von der nachgestellten von-Phrase aus. Die ursprüngliche
semantische Beschränkung, die den apD analog zum pränominalen Genitiv für belebte
und die nachgestellte von-Phrase für unbelebte Possessoren vorsah, ist nicht mehr
eindeutig.
Der Blick auf die Schweizer Dialektlandschaft zeigte ausserdem, dass der apD in der
Schweiz die häufigste und am weitesten verbreitete adnominale Possessivkonstruktion
ist. Er findet sich im ganzen Untersuchungsgebiet, mit Ausnahme der südlichen, alpinen
und abgelegenen Regionen des Wallis und Graubündens, wo höchstalemannische
Mundarten gesprochen werden und der Genitiv weiterhin in Gebrauch ist. Hier ist der
pränominale possessive Genitiv auch die präferierte Variante, wogegen er in der
nördlichen Schweiz teilweise noch akzeptiert, jedoch kaum noch präferiert wird. Der
possessive Genitiv ist damit immer noch die zweithäufigste Possessivkonstruktion in
der Deutschschweiz. Spannend ist, dass es kaum Gebiete gibt, wo neben dem
possessiven Genitiv der apD auftritt und umgekehrt. Diese Feststellung stützt die
gängige These eines Genitivschwundes, in dessen Folge der apD als Ersatzkonstruktion
die genitivischen Funktionen übernahmen. Die areale Distribution des apDs respektive
des pränominalen Genitivs fügt sich insgesamt in die Nord-Süd-Staffelung, anhand
derer sich das Höchstalemannische vom Hochalemannischen unterscheiden lässt.
Da das Hauptziel des Projekts Dialektsyntax darin lag, eine verlässliche Basis zur
Beurteilung der synchronen Verbreitung syntaktischer Phänomene zu schaffen, fehlen
zur Zeit noch Untersuchungen zu Variation, Entstehung und Wandel der
23
nachgewiesenen Konstruktionen sowie zur Rolle aussersprachlicher Parameter wie Alter
oder Geschlecht der Sprecher. Mit Blick auf den Faktor 'Alter' stellt sich beispielsweise
die Frage, ob der pränominale Genitiv bei Eigennamen durch die wachsende Präsenz
der SMS- und (Online-)Chatkommunikation wieder den Weg zurück ins
Hochalemannische finden wird. Denn Chat-Unterhaltungen werden zwar schriftlich
geführt, orientieren sich jedoch stark an der mündlichen Kommunikation
(konzeptionelle Mündlichkeit). Das bedeutet, dass Unterhaltungen oftmals in Dialekt
oder einer hybriden Mischform geführt werden. Die Verwendung des pränominalen
Genitivs hätte gegenüber dem apD den Vorteil, dass Andrés Mueter deutlich kürzer ist
als em André sini Mueter. Zurzeit handelt es sich hierbei jedoch lediglich um eine vage
Hypothese meinerseits, gestützt auf Hör- und Schreibbelege Dritter. Inwiefern also die
von-Phrase und eventuell auch der pränominale Genitiv in der deutschsprachigen
Schweiz auf dem Vormarsch sind, müsste mithilfe einer spezifisch auf diese Fragen
zugeschnittenen Erhebung untersucht werden.
24
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26
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Karte 32 aus: Bart, Gabriela (2006): "Ds Grossvattersch Brilla" oder "di Brillavam Grossvatter": zu den Possessivkonstruktionen im Schweizerdeutschen. Zürich.
Abb. 2: Karte 33 aus: Bart, Gabriela (2006): "Ds Grossvattersch Brilla" oder "di Brillavam Grossvatter": zu den Possessivkonstruktionen im Schweizerdeutschen. Zürich.
Abb. 3: Karte 34 aus: Bart, Gabriela (2006): "Ds Grossvattersch Brilla" oder "di Brillavam Grossvatter": zu den Possessivkonstruktionen im Schweizerdeutschen. Zürich.
Abb. 4: Karte 35 aus: Bart, Gabriela (2006): "Ds Grossvattersch Brilla" oder "di Brillavam Grossvatter": zu den Possessivkonstruktionen im Schweizerdeutschen. Zürich.
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