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© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Beton- und Stahlbetonbau Spezial 2013 43 DOI: 10.1002/best.201380001 Lorenzo Brino, Elena Luchetti, Alain Chabert, Marco Rettighieri FACHTHEMA Der Basistunnel Lyon-Turin: Technische Aspekte eines großen grenzübergreifenden Projekts Das Unternehmen Lyon-Turin Ferroviaire (LTF), an dem die italienische Eisenbahn-Netzgesellschaft Rete Ferro- viaria Italiana (RFI) und die französische Eisenbahn- Netzbetreibergesellschaft Réseau Ferré de France (RFF) zu gleichen Teilen beteiligt sind, wurde im Oktober 2001 gegründet. Die LTF ist für den gemeinsamen franko-italie- nischen Teil der neuen Eisenbahnverbindung Lyon-Turin zuständig, die zusammen mit den anderen langen Alpen- tunneln, wie dem Brenner Basistunnel, dem Gotthard Basistunnel und dem Lötschberg-Basistunnel, als eines der größten Infrastrukturprojekte des 21. Jahrhunderts gilt. Der grenzüberschreitende Abschnitt umfasst das ehr- geizigste Bauvorhaben des Projekts, nämlich die zukünfti- ge Errichtung eines internationalen und über 57 km lan- gen Tunnels, der unter den Alpen zwischen den Regionen Piemont und Savoie hindurchführen soll (Bild 1). 1 Einführung Die neue Eisenbahnverbindung Lyon-Turin wird Handel und Verkehr in Europa, und hier vor allem im Alpenge- biet, im Rahmen des transeuropäischen Eisenbahnnetzes erleichtern. Die neue Eisenbahnverbindung wird es als Herzstück des Mittelmeerkorridors innerhalb des Pro- jekts European Core Infrastructure Network (Bild 2) au- ßerdem möglich machen, dass ein wesentlicher Teil des Warenverkehrs von der Straße auf die Schiene verlegt werden kann. So wird die neue Strecke in Zukunft zur Reduktion der Luftverschmutzung und somit zum Um- weltschutz beitragen. Ziel der LTF ist es, die geologischen Studien und Erhe- bungen durchzuführen, um den Regierungen der beiden Länder so die endgültige Form der Bauvorhaben, ihre Lo- kalisierung und die entsprechenden Umsetzungsmetho- den vorlegen zu können. Die vorbereitenden Arbeiten sind auf französischer Seite mittlerweile abgeschlossen, wobei im Maurienne-Tal drei Abfahrtsrampen über eine Gesamtlänge von mehr als 9 km errichtet wurden. Die Grabungsarbeiten für die über 4 km lange Abfahrtsrampe Villarodin-Bourget/Modane wurden Anfang November 2007 abgeschlossen (Bild 3). Dabei konnte erstmals die Tiefe des zukünftigen internationalen Tunnels erreicht werden. Die Abfahrtsrampe La Praz (2,5 km) wurde im Jänner 2009 fertig gestellt, die Bauarbeiten zur Abfahrts- rampe Saint-Martin-La-Porte (2,4 km) hingegen wurden im Juni 2010 vollendet. Am 18. Dezember 2007 hat der französische Premierminister die Widmungsverfügung für den französischen Teil des grenzüberschreitenden Ab- schnitts unterzeichnet. Nun muss im Rahmen des Konsul- tationsprozesses, der von der italienischen Regierung in- Der grenzüberschreitende Abschnitt der neuen Eisenbahnver- bindung Lyon-Turin umfasst das ehrgeizigste Bauvorhaben des Projekts, die zukünftige Errichtung eines internationalen und über 57 km langen Tunnels, der unter den Alpen zwischen den Regionen Piemont und Savoie hindurchführen soll und auch drei spezielle Sicherheitsbereiche beinhaltet. Am 18. Dezember 2007 hat der französische Premierminister die Widmungsver- fügung für den französischen Teil des grenzüberschreitenden Abschnitts unterzeichnet, während die Festlegung des neuen Streckenverlaufs im Susatal im Rahmen des Einreichprojekts noch ausgearbeitet und mit den örtlichen Vertretern abgespro- chen wird. Er müsste im Jahr 2013 von der italienischen Regie- rung beschlossen werden. Die vorbereitenden Erkundungs- arbeiten wurden auf französischer Seite im Jahr 2010 abge- schlossen, wobei drei Abfahrtsrampen über eine Gesamtlänge von mehr als 9 km im Maurienne-Tal errichtet wurden. Auf ita- lienischer Seite haben Ende 2012 die Grabungsarbeiten für den 7,5 km langen Maddalena-Erkundungsstollen begonnen. The New Lyon-Turin Line Base Tunnel: the technical aspects of a large cross-border project The cross-border section of the new Turin-Lyon line involves the most important work of the project, which is the future con- struction of an international tunnel between Savoy and Pied- mont that stretches more than 57 km beneath the Alps, includ- ing three underground safety stations. The French Prime Minister signed the Declaration of Public Utility for the French part of the cross-border section on De- cember 18, 2007, though the definition of the new alignment through the Susa Valley is still being discussed. The final de- sign is in the development phase and should be approved by the Italian government during 2013. Preliminary works on the French side were completed in 2010 with the construction of three access tunnels totaling more than 9 km in the Maurienne Valley. Excavation of the 7.5-km survey tunnel of Maddalena just began. The mission of LTF, promoter of the joint French-Italian part of the international section under the Treaty of January, 29 2001, is to carry out studies and drive geotechnical surveys in order to provide the two governments with details about the scope of the work, its location and the methods to be employed.

Der Basistunnel Lyon-Turin: Technische Aspekte eines großen grenzübergreifenden Projekts

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Page 1: Der Basistunnel Lyon-Turin: Technische Aspekte eines großen grenzübergreifenden Projekts

© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Beton- und Stahlbetonbau Spezial 2013 43

DOI: 10.1002/best.201380001

Lorenzo Brino, Elena Luchetti, Alain Chabert, Marco Rettighieri FACHTHEMA

Der Basistunnel Lyon-Turin: Technische Aspekte eines großen grenzübergreifenden Projekts

Das Unternehmen Lyon-Turin Ferroviaire (LTF), an demdie italienische Eisenbahn-Netzgesellschaft Rete Ferro-viaria Italiana (RFI) und die französische Eisenbahn-Netzbetreibergesellschaft Réseau Ferré de France (RFF)zu gleichen Teilen beteiligt sind, wurde im Oktober 2001gegründet. Die LTF ist für den gemeinsamen franko-italie-nischen Teil der neuen Eisenbahnverbindung Lyon-Turinzuständig, die zusammen mit den anderen langen Alpen-tunneln, wie dem Brenner Basistunnel, dem Gotthard Basistunnel und dem Lötschberg-Basistunnel, als einesder größten Infrastrukturprojekte des 21. Jahrhundertsgilt. Der grenzüberschreitende Abschnitt umfasst das ehr-geizigste Bauvorhaben des Projekts, nämlich die zukünfti-ge Errichtung eines internationalen und über 57 km lan-gen Tunnels, der unter den Alpen zwischen den RegionenPiemont und Savoie hindurchführen soll (Bild 1).

1 Einführung

Die neue Eisenbahnverbindung Lyon-Turin wird Handelund Verkehr in Europa, und hier vor allem im Alpenge-biet, im Rahmen des transeuropäischen Eisenbahnnetzeserleichtern. Die neue Eisenbahnverbindung wird es alsHerzstück des Mittelmeerkorridors innerhalb des Pro-jekts European Core Infrastructure Network (Bild 2) au-

ßerdem möglich machen, dass ein wesentlicher Teil desWarenverkehrs von der Straße auf die Schiene verlegtwerden kann. So wird die neue Strecke in Zukunft zurReduktion der Luftverschmutzung und somit zum Um-weltschutz beitragen.

Ziel der LTF ist es, die geologischen Studien und Erhe-bungen durchzuführen, um den Regierungen der beidenLänder so die endgültige Form der Bauvorhaben, ihre Lo-kalisierung und die entsprechenden Umsetzungsmetho-den vorlegen zu können. Die vorbereitenden Arbeitensind auf französischer Seite mittlerweile abgeschlossen,wobei im Maurienne-Tal drei Abfahrtsrampen über eineGesamtlänge von mehr als 9 km errichtet wurden. DieGrabungsarbeiten für die über 4 km lange AbfahrtsrampeVillarodin-Bourget/Modane wurden Anfang November2007 abgeschlossen (Bild 3). Dabei konnte erstmals dieTiefe des zukünftigen internationalen Tunnels erreichtwerden. Die Abfahrtsrampe La Praz (2,5 km) wurde imJänner 2009 fertig gestellt, die Bauarbeiten zur Abfahrts-rampe Saint-Martin-La-Porte (2,4 km) hingegen wurdenim Juni 2010 vollendet. Am 18. Dezember 2007 hat derfranzösische Premierminister die Widmungsverfügung fürden französischen Teil des grenzüberschreitenden Ab-schnitts unterzeichnet. Nun muss im Rahmen des Konsul-tationsprozesses, der von der italienischen Regierung in-

Der grenzüberschreitende Abschnitt der neuen Eisenbahnver-bindung Lyon-Turin umfasst das ehrgeizigste Bauvorhaben desProjekts, die zukünftige Errichtung eines internationalen undüber 57 km langen Tunnels, der unter den Alpen zwischen denRegionen Piemont und Savoie hindurchführen soll und auchdrei spezielle Sicherheitsbereiche beinhaltet. Am 18. Dezember2007 hat der französische Premierminister die Widmungsver -fügung für den französischen Teil des grenzüberschreitendenAbschnitts unterzeichnet, während die Festlegung des neuenStreckenverlaufs im Susatal im Rahmen des Einreichprojektsnoch ausgearbeitet und mit den örtlichen Vertretern abgespro-chen wird. Er müsste im Jahr 2013 von der italienischen Regie-rung beschlossen werden. Die vorbereitenden Erkundungs -arbeiten wurden auf französischer Seite im Jahr 2010 abge-schlossen, wobei drei Abfahrtsrampen über eine Gesamtlängevon mehr als 9 km im Maurienne-Tal errichtet wurden. Auf ita-lienischer Seite haben Ende 2012 die Grabungsarbeiten für den7,5 km langen Maddalena-Erkundungsstollen begonnen.

The New Lyon-Turin Line Base Tunnel: the technical aspectsof a large cross-border projectThe cross-border section of the new Turin-Lyon line involvesthe most important work of the project, which is the future con-struction of an international tunnel between Savoy and Pied-mont that stretches more than 57 km beneath the Alps, includ-ing three underground safety stations.The French Prime Minister signed the Declaration of PublicUtility for the French part of the cross-border section on De-cember 18, 2007, though the definition of the new alignmentthrough the Susa Valley is still being discussed. The final de-sign is in the development phase and should be approved bythe Italian government during 2013.Preliminary works on the French side were completed in 2010with the construction of three access tunnels totaling morethan 9 km in the Maurienne Valley. Excavation of the 7.5-kmsurvey tunnel of Maddalena just began.The mission of LTF, promoter of the joint French-Italian part ofthe international section under the Treaty of January, 29 2001,is to carry out studies and drive geotechnical surveys in orderto provide the two governments with details about the scope ofthe work, its location and the methods to be employed.

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folge des starken Widerstands durch die lokale Bevölke-rung beschlossen wurde, noch der neue Streckenverlaufim Susatal endgültig festgelegt werden. Nach der im August 2011 erfolgten Verabschiedung des Vorprojektslaufen jetzt die Studien im Rahmen des Einreichprojekts,das im Jahr 2013 verabschiedet werden soll.

Der grenzüberschreitende Abschnitt der neuen Eisen-bahnverbindung Lyon-Turin soll laut dem Abkommenvom 30. Jänner 2012, das zurzeit von den nationalen Par-lamenten geprüft wird, als erstes gebaut werden. Er er-streckt sich zwischen der Stadt Susa im Piemont undSaint-Jean-de-Maurienne in der französischen RegionSavoie. An den beiden Enden sind Sicherheits- und War-tungseinrichtungen sowie Verbindungen zur bereits beste-henden Strecke vorgesehen. Der Basistunnel dringt imGemeindegebiet Susa in den Berg ein und tritt nach rund57 km Tunnelstrecke in Frankreich unmittelbar östlichvon Saint-Jean-de-Maurienne wieder ans Tageslicht.

Die definitive Festlegung des Streckenverlaufs auf italie-nischem Gebiet erfolgte im Rahmen eines Konzertie-rungsverfahrens mit den örtlichen Vertretern, das mit Er-nennung eines außerordentlichen Kommissars und derSchaffung der Beobachtungsstelle für die neue Verbin-dung Lyon-Turin im Jahr 2006 von der Regierung ins Le-

ben gerufen wurden. In fast sechs Jahren wurden von derBeobachtungsstelle mittlerweile mehr als 200 Arbeitssit-zungen abgehalten.

Der Basistunnel besteht aus zwei eingleisigen Tunnelröh-ren, die in einem Abstand von rund dreißig Metern paral-lel zueinander verlaufen. Die Tunnelröhren sind alle333 m durch Querschläge miteinander verbunden, wo-durch man von einer Röhre in die andere gelangen kannund alle grundlegenden Sicherheits- und Wartungsanfor-derungen erfüllt werden. Im Zentrum des Basistunnels,auf Höhe der Rampe Villarodin-Bourget/Modane, befin-den sich wichtige Tiefbauarbeiten: die Überholgleise, aufdenen die langsameren Züge halten können, um dieschnelleren Züge überholen zu lassen; die Überstellver-bindungen, über die ein Zug von einer in die andere Röh-re überfahren kann, beispielsweise um Wartungsarbeitendurchzuführen; ein Sicherheitsbereich, der für die Evaku-ierung der Passagiere (bis zu 1 200 Personen im Falle vondoppelten Personen zügen auf beiden Gleisen) sowie fürdie Abwicklung von Unfällen oder Brandfällen an Borddes Zuges ausgestattet ist.

Das Sicherheitssystem des Basistunnels wird durch zweiweitere Standorte unter Tage verstärkt, die in regelmäßi-gem Abstand (weniger als die von den Technischen Spezi-

Bild 1 Der grenzüberschreitende Abschnitt der neuen Eisenbahnverbindung Lyon-TurinThe cross-border section of the New Turin Lyon Line

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L. Brino, E. Luchetti, A. Chabert, M. Rettighieri: The New Lyon-Turin Line Base Tunnel: the technical aspects of a large cross-border project

fikationen zur europäischen Interoperabilität empfohle-nen 20 km Abstand zueinander) angeordnet sind undebenfalls zur Aufnahme und Evakuierung der Passagieresowie zur Betreuung havarierter Züge ausgestattet sind(Bild 4). Die drei Sicherheitsbereiche sind über große(10 m breite und 6 bis 7 m lange) befahrbare Zufahrtstun-

nel, die sogenannten „Abfahrtsrampen“, mit einer Nei-gung von 12 % von der Oberfläche aus direkt zu errei-chen. Diese verfügen auch über Schächte zur Zufuhr vonFrischluft und zur Ableitung von Rauchgasen.

Der Innendurchmesser der Tunnelröhren wurde mit8,40 m festgelegt, um den Zügen der Autostrada Ferrovia-ria bis zu einer Höhe von 5,20 m die Durchfahrt zu er-möglichen. Die Personenzüge haben natürlich ein gerin-geres Lichtraumprofil. Auf der anderen Seite wird derLuftwiderstand im Tunnel (der sogenannte „Kolben -effekt“) umso wichtiger, je höher die Geschwindigkeit desZuges ist. Um dieser Schwierigkeit auszuweichen, wurdedie Höchstgeschwindigkeit der Personenzüge auf220 km/h begrenzt. Über die beiden Gehsteige an beidenSeiten der Gleisstrecke können die Passagiere im Be-darfsfall evakuiert werden und das Wartungspersonalkann sich im Inneren des Tunnels bewegen.

2 Betriebs- und Sicherheitsstudien

Oberstes Ziel der Betriebsstudien ist es, die gleichzeitigeNutzung der Strecke durch Hochgeschwindigkeitsperso-nenzüge sowie durch die um einiges langsameren Güter-züge und die Züge der Autostrada Ferroviaria so abzu-

Baltic - Adriatic Corridor

Dublin - London - Paris - Brussels Corridor

Antwerp - Lyon - Basel Corridor

Atlantic Corridor

Helsinki - Valletta Corridor

Genova - Rotterdam Corridor

Hamburg - Lefkosia Corridor

Mediterranean Corridor

Warsawa - Berlin - Amsterdam Corridor

Seine - Danube Corridor

1)

2)

3)

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5)

6)

7)

8)

9)

10)

Bild 2 Europäisches HauptinfrastrukturnetzEuropean core infrastructure network

Bild 3 9. November 2007: Abschluss der Grabungsarbeiten für die Abfahrts-rampe Villarodin-Bourget/Modane9 november 2007: end of the excavation of the Villarodin-Bourget/Modane access tunnel

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stimmen, dass die Kapazität der neuen Verbindung maxi-mal genutzt werden kann. Darüber hinaus können durchdiese Studien bestimmte Verkehrslasten zwischen derneuen und der bereits bestehenden Strecke aufgeteilt wer-den. So könnte die bereits bestehende Strecke trotz ihrergeringeren Leistungsfähigkeit weiterhin für bestimmteZüge (zum Beispiel leere Züge oder Nachtzüge) verwen-det werden. Die Sicherheit eines solchen Bauvorhabensmuss auf einheitlichen und kohärenten Konzepten basie-ren, weshalb man sich nicht nur ausschließlich auf natio-nale Regelungen stützen darf, die gewissen Aspekten teilsnicht gerecht werden. Darüber hinaus wurden diese Nor-men für Projekte von allgemeinem Ausmaß erstellt undsind somit auf besonders lange Tunnel nicht direkt an-wendbar.

Daher sind vertiefende Sicherheitsstudien nötig, die aufspezifischen Sicherheitskriterien basieren und im Falledes gemeinsamen Streckenabschnitts der neuen Verbin-dung Lyon-Turin von einer regierungsübergreifendenKommission definiert werden. Mithilfe dieser Studienkönnen die Unfallrisiken und ihre Konsequenzen bewer-tet und die geeigneten Maßnahmen festgelegt werden, umdie Personensicherheit zu garantieren. Auf dieser Grund-lage wurden funktionale Vorgaben erarbeitet, an die sichdie technische Projektplanung ebenso zu halten hat wiedie Betriebs- und Sicherheitsverfahren. Die dazu erlasse-nen Vorschriften sind strenger als die jüngeren Techni-schen Spezifikationen zur europäischen Interoperativitätfür die Sicherheit langer Eisenbahntunnel.

Schon im Projektentwurf wird jedes Risiko einer fronta-len Kollision (die im Eisenbahnverkehr häufigste Unfall-ursache) beseitigt, indem der Verkehr für beide Richtun-gen klar getrennt wird. Abgesehen von den zuvor er-wähnten Sicherheitsbereichen verfügt der Tunnel überzahlreiche Sicherheitseinrichtungen für die Belüftung,

den Abzug von Rauchgasen, die Branderkennung, dieBrandbekämpfung, usw. (Bild 5).

Mit den Belüftungsanlagen kann die Bewegung derRauchgase in Zukunft kontrolliert werden, um die Passa-giere eines havarierten Zuges so unter optimalen Sicher-heitsbedingungen evakuieren zu können. Die Passagieregelangen über die alle 333 m angeordneten Querschlägerin die andere Röhre (wo der Verkehr mittlerweile unter-brochen wurde), und ihre großzügige Bemessung(120 m²) bietet im Bedarfsfall einen provisorischen Auf-enthaltsraum für die Passagiere eine havarierten Zuges.Speziell ausgebildete Rettungsteams stehen zum Einsatzbereit.

3 Bodenstudien und Bauverfahren

Der Basistunnel wird in einem geologisch gesehen beson-ders komplexen Alpengebiet errichtet und viele verschie-dene Gesteinsarten durchqueren (Bild 6). Seit rund fünf-zehn Jahren werden nun bereits verschiedene vertiefendeStudien durchgeführt, die sich auf diverse Untersuchun-gen stützen. Es wurden mittlerweile mehr als 50 km Er-kundungsbohrungen ausgeführt. Zusammen mit den über9 km reichenden Abfahrtsrampen, die im bergmänni-schen Verfahren auf der französischen Seite gegrabenwurden, spielten sie eine geologisch gesehen wichtigeRolle für die Ausarbeitung des Projekts.

Ein Erkundungsstollen auf italienischer Seite, der über7,5 km lange Maddalena-Tunnel, der mit einer Tunnelvor-triebsmaschine von 6 m Durchmesser gegraben wurde,macht die Erhebung vollständig. Dieser Tunnel wird esnicht nur ermöglichen, das geologische, geomechanischeund hydrogeologische Wissen über die wichtigste Streckedes gesamten Basistunnels (fast 2500 m Tiefe) zu erwei-

Bild 4 Basistunnel: Allgemeines Layout mit Abfahrtsrampen und geognostischem TunnelGeneral layout of the Base Tunnel, with position of the four exploratory tunnels

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tern, sondern er wird es auch ermöglichen, dass ein me-chanisierter Vortriebstest im Maßstab 1:2 durchgeführtwerden kann. Die Ergebnisse daraus werden nicht nur fürdie Planung, sondern auch für die Unternehmen von Nut-zen sein, die den Basistunnel in Zukunft mit analogenTechnologien errichten werden.

Die Studien ermöglichten die Ausarbeitung eines umfas-senden geologischen Modells des durchquerten Gesteins,die Bestimmung der mechanischen Eigenschaften für jedeGesteinsart (Widerstand, Rissbildung, Spannungen, Tem-peratur, usw.) und die Bewertung der Vortriebs- und Tra-

gebedingungen. Auf Grundlage dieser Daten wurden dieVerfahren für den Bau des Tunnels festgelegt. Die Bauar-beiten zum Basistunnel werden an fünf verschiedenenAngriffsstellen an den beiden Enden des Tunnels (Susaund Saint-Jean-de-Maurienne) sowie am Fuß der dreifranzösischen Abfahrtsrampen begonnen (von wo aus derVortrieb in beide Richtungen weitergehen kann).

Grundsätzlich werden zwei Vortriebsverfahren verwen-det. Das sogenannte bergmännische Verfahren, bei demdas Gestein durch Explosion oder Teilschnittmaschinenabgetragen wird, wird aufgrund möglicher Bergwasseran-

Bild 5 Basistunnel: Allgemeines Layout mit den drei SicherheitsbereichenGeneral layout of the Base Tunnel, with position of the three underground safety stations

Bild 6 Geologisches Profil des BasistunnelsBase Tunnel, simplified geological profile

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fälle für den Vortrieb nach unten bevorzugt. Für den Vor-trieb nach oben wurde die Verwendung von Tunnelbohr-maschinen vorgesehen, wie es mittlerweile bei Bauarbei-ten mit Vortrieb über mehrere Kilometer üblich ist. Eshandelt sich dabei um komplexe Vollschnittmaschinen,ausgestattet mit Geräten zum Lösen des Gesteins, wobeiNachläufer über hunderte von Metern verschiedene logis-tische Funktionen, wie vor allem den Abtransport desAushubmaterials, erfüllen. Dieses wird über Förderbän-der nach draußen transportiert, die im Falle von zwi-schengelagerten Angriffsstellen auch die Abfahrtsrampenbenutzen.

4 Die Umweltstudien

Der grenzüberschreitende Abschnitt verläuft auf rund90 % seiner gesamten Länge unter Tage, wodurch die Ein-flüsse auf die umliegende Umwelt stark eingeschränktwerden. Dennoch bleiben auch unter Tage bestimmteUmwelteinflüsse möglich. Beispielsweise werden alleinbeim Aushub des Basistunnels mehr als 17 Millionen m³Aushubmaterial anfallen (mehr als sechsmal das Volu-men der Cheopspyramide!). Ein Großteil dieses Materials(fast 45 %) wird im Rahmen desselben Bauvorhabens inForm von Zuschlagstoffen für Beton (5 Millionen m³)oder Schüttungen (3 Millionen m³) verwertet und wieder-verwendet, während das restliche Aushubmaterial für dieRückgewinnung von degradierten Standorten, wie zumBeispiel aufgelassenen Steinbrüchen, verwendet oder an-deren Projekten zur Verfügung gestellt wird, die einen Be-darf an Zuschlagstoffen haben.

Die größten Einflüsse werden in den Bereichen an derOberfläche erkennbar sein, wozu vor allem der Lärm zäh-len wird. Um diesen einzudämmen, bestehen die Gleiseaus langen geschweißten Schienen, die das typische „Tak-Tak“-Geräusch der alten Eisenbahnlinien verhindern.Entlang der Gleise sind außerdem maßgebliche Lärm-schutzvorrichtungen vorgesehen und es wurden vertie-fende Studien durchgeführt, um deren Effizienz zu ver-bessern und die restlichen Einflüsse auf die Täler einer-seits auf ein Minimum zu reduzieren sowie die Eingliede-rung ins Landschaftsbild andererseits zu verbessern,wobei auch neue Technologien, wie Solarmodule, zur An-wendung kommen.

5 Architektur- und Landschaftsstudien

Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft den städtebaulichenBereich, vor allem in Saint-Jean-de-Maurienne am westli-chen Ende des Basistunnels. Die neue Verbindung wurdeso nah wie möglich an die alte Strecke gelegt, die durchdie Stadt führt, um das Gebiet so wenig wie möglich zubelasten. Da jedoch neue Einrichtungen nötig sind (neuesStationsgebäude, Wartungsbereich, Rettungseinrichtun-gen, Elektroanlagen, usw.), mussten auch neue städtepla-nerische Überlegungen angestellt werden, die in Partner-schaft mit der Gemeindeverwaltung durchgeführt wur-

den. Die Gemeindeverwaltung hat der Gemeinde die Ge-nehmigung erteilt, einen neuen Master-Plan zu entwi-ckeln (Bild 7).

Ein analoger Ansatz wurde in Susa, am anderen Ende desBasistunnels, verfolgt, wo die Strecke neben der Fréjus-Autobahn verläuft: Vorhandensein und Eingliederungderselben Anlagen, die auch in Saint-Jean-de-Mauriennevorgesehen sind, einschließlich eines neuen Internationa-len Bahnhofs zur Förderung des Tourismus im Tal, wur-den in der Vorprojektphase behandelt, und zwar mittelseiner gemeinsamen Architektur- und Landschaftsplanungwie auf französischer Seite. Der Bahnhof wird zwischender bereits bestehenden Strecke Turin-Susa und der neu-en Strecke Lyon-Turin errichtet werden, was ein funktio-nales Zusammenspiel zwischen regionalem sowie natio-nalem und internationalem Verkehr ermöglicht. DerBahnhof wird außerdem mit einem multimodalen Kno-tenpunkt ausgestattet, um den Wechsel zwischen Stra-ßen- und Schienenverkehr sowie privatem und öffent -lichem Transport als auch sanfter Mobilität zu erleich-tern.

In der aktuellen Phase des Einreichprojekts wurde ein in-ternationaler Architekturwettbewerb für den Entwurf desStationsgebäudes und seines Verkehrsknotens ausge-schrieben, auch um mit Blick auf eine neue Gestaltungdes Gebiets infolge der vorgesehenen regionalen Verän-derung Überlegungen über die urbanistische Entwicklungder Stadt Susa zuzulassen. An der ersten Auswahlphasedes Wettbewerbs haben 170 Agenturen teilgenommen,die sich zu 49 internationalen Projektgruppen aus dreiKontinenten zusammengeschlossen haben. Sie alle zeich-nen sich durch ein hohes interdisziplinäres Tätigkeitspro-fil aus: Architektur, Städteplanung, Ingenieurwesen (Bau-wesen, Anlagenbau, Geotechnik, usw.), Wirtschaft, Um-welt, Energie, Transport, Verkehr und Landschaft.

Die Expertenjury, die sich aus Vertretern der Institutio-nen, der Kultur und der einzelnen Berufsgruppen zusam-

Bild 7 Bahnhof Saint-Jean-de-MaurienneThe Saint-Jean-de-Maurienne Station

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mensetzt, hat fünf Gruppen ausgewählt und sie dazu ein-geladen, ein Vorprojekt des Bahnhofs zu erstellen. DenWettbewerb gewonnen hat das Projekt einer französisch-japanischen Arbeitsgruppe unter der Leitung des Archi-tekten KENGO KUMA aus Tokio. Das Bahnhofsprojekt,das von den Gewinnern derzeit ausgearbeitet wird(Bild 8), besteht aus mehreren Ebenen. Auf der unterenEbene ist der Bahnhof für die bereits bestehende sowiedie neue Strecke angeordnet, die voneinander unabhän-gig sein und sich doch unter einem großen gemeinsamenDach befinden werden. Die beiden Bahnhöfe werdenüber einen Kiss-and-Ride-Zugang verfügen, wodurch siemit privaten als auch öffentlichen Verkehrsmitteln direkterreichbar sein werden. Auf den oberen Ebenen des Ge-bäudes werden sich multifunktionale Bereiche befinden,die auch dem umliegenden Gebiet zugute kommen:Mehrzwecksaal, Ausstellungsraum, Cafeteria,… DieSchaffung eines zweistöckigen überdachten Parkplatzeswird nicht nur den modularen Austausch verfügbar undbequem machen, er wird auch die Nutzung der Service-leistungen erleichtern. Außerdem kann damit die Struk-tur des Ortes neu gestaltet werden. Derzeit befindet sichhier ein komplexes Autobahnkreuz, das aufgewertet wer-den wird. So werden der Öffentlichkeit mit den nahe lie-genden Gemeindesportstätten Grünflächen und Erho-lungsraum besser zugänglich gemacht.

Der Bahnhof präsentiert sich als spiralförmiges Gebäude,mit einer freiliegenden begehbaren Rampe, die am Dachentlangführt und so über die dem Verkehr gewidmeteEbene weiter bis zu einer Aussichtsterrasse mit Caféführt. Das Dach übernimmt dabei das Motiv der charak-teristischen Schieferdächer des Susatals, wobei die typi-

schen Steindächer auf moderne Art und Weise neu inter-pretiert werden: eine technologisch hochentwickelte„Metallhaut“, die sich in Sachen Energieeinsparung(Kontrolle des Wärmeverlustes, maximale Lichtzufuhr,natürliche Belüftung), Energieerzeugung (Integration vonPhotovoltaikpaneelen) und Regenwassernutzung überausleistungsstark zeigt.

Autoren

LTF sas Piazza Nizza 46 10126 Torino, Italien

Ing. Alain Chabert [email protected]

Ing. Marco Rettighieri [email protected]

Ing. Lorenzo Brino [email protected]

Ing. Elena Luchetti [email protected]

Bild 8 Das Siegerprojekt beim Wettbewerb für den Internationalen Bahnhof SusaThe project winner of the architecture competition for the new Susa International Station